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Die sieben Dinge, die unsere Welt prägen – ein inspirierender Blick auf die faszinierenden Geschichten hinter Nagel, Faden, Rad, Linse, Magnet, Feder und Pumpe
Ohne die antike Pumpe keine Herz-Lungen-Maschine, ohne Rad kein Helikopter. Seit Jahrtausenden macht der Mensch Erfindungen und entwickelt sie weiter. Roma Agrawal beleuchtet die 7 Dinge, die die Basis unserer Welt ausmachen: Nagel, Faden, Rad, Linse, Magnet, Feder und Pumpe. Jedes Objekt eröffnet einen tiefen Einblick in die Historie menschlicher Innovationskraft. Gleichzeitig erzählt Roma Agrawal ihre eigene Familiengeschichte zwischen Indien und Europa und zeigt, wie technische Entwicklungen die menschlichen Schicksale prägen. Ein Buch, das den Blick auf die Welt verändert und beweist, dass das Rad eben doch immer wieder neu erfunden wird.
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Seitenzahl: 425
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Die sieben Dinge, die unsere Welt prägen — ein inspirierender Blick auf die faszinierenden Geschichten hinter Nagel, Faden, Rad, Linse, Magnet, Feder und PumpeOhne die antike Pumpe keine Herz-Lungen-Maschine, ohne Rad kein Helikopter. Seit Jahrtausenden macht der Mensch Erfindungen und entwickelt sie weiter. Roma Agrawal beleuchtet die 7 Dinge, die die Basis unserer Welt ausmachen: Nagel, Faden, Rad, Linse, Magnet, Feder und Pumpe. Jedes Objekt eröffnet einen tiefen Einblick in die Historie menschlicher Innovationskraft. Gleichzeitig erzählt Roma Agrawal ihre eigene Familiengeschichte zwischen Indien und Europa und zeigt, wie technische Entwicklungen die menschlichen Schicksale prägen. Ein Buch, das den Blick auf die Welt verändert und beweist, dass das Rad eben doch immer wieder neu erfunden wird.
Roma Agrawal
Nägel mit Köpfen
7 Erfindungen, die die Welt bis heute verändern
Aus dem Englischen von Ursula Held
Hanser
Endlich und endgültig für dich, mein Flirtman.
Vor mir lag ein Haufen zerbrochener Malkreiden. Ich seufzte. Was für ein enttäuschendes Ergebnis.
Ich war vielleicht fünf Jahre alt und wohnte damals, in den 1980er-Jahren, mit meinen Eltern und meiner Schwester in Upstate New York. Ich hatte mehrere große Brotdosen, in denen sich normalerweise Butterbrote und Snacks und eine Trinkflasche befanden. Vor mir auf dem Tisch lag meine Lieblingsdose, mit den Muppets auf dem Deckel. Darin war jedoch kein Essen, sondern eine Riesensammlung Malkreiden. Lange, kurze, dicke, dünne, in allen Farben. Wie die meisten Kinder trieb mich die Neugier, und ich hatte beschlossen, das Innere meiner Stifte zu erkunden. Ich löste das Papier ab, mit dem sie umwickelt waren, und brach einen nach dem anderen an der scharfen Kante meiner Brotdose entzwei. Meine Vorfreude wurde ziemlich gedämpft, als ich feststellen musste, dass die Kreidemaler eben wirklich nur aus Kreide bestanden. Und doch machte ich — sehr zum Missfallen meiner Schwester — zielstrebig weiter.
Als ich ein bisschen älter war und anfing, mit einem Bleistift das Schreiben zu üben, drehte ich die Stifte im Anspitzer und machte lange Spitzabfallspiralen, weil ich wissen wollte, ob diese dünne graue Stange, die ich aufs Papier drückte, wirklich durch das gesamte Innere des Stifts lief. Und so war es. Danach machte ich mich an Kugelschreiber und Füllfederhalter, die ich auseinandernahm, um nun wirklich spannende Innenleben offenzulegen. Anders als die enttäuschenden Malkreiden meiner frühen Kindheit enthielten sie schlanke Minen und Spiralfedern, die von einem zu verschraubenden Ober- und Unterteil zusammengehalten wurden.
Um meine Neugier zu stillen, zerlegte ich nicht nur selbst Dinge, sondern beobachtete auch gerne, wenn andere das taten. Als Kind in Indien durfte ich zuschauen, wie unser alter Fernseher auseinandergenommen wurde, weil das Bild von schwarzen Streifen durchzogen war. Dabei kamen verblüffende Teile zum Vorschein, mit deren Bedeutung ich erst nach meinem Physikstudium etwas anfangen konnte. Für dieses Studienfach entschied ich mich eben aus dem Wunsch heraus, die Bausteine unseres Universums verstehen zu wollen. Gegen Ende meiner Schulzeit begeisterte ich mich für Atom- und Teilchenphysik. Mich faszinierte die Vorstellung, dass das einst für unteilbar gehaltene Atom wiederum aus Elektronen, Protonen und Neutronen bestand — und dass Letztgenannte, nachdem sie zu den »Grundbausteinen der Materie« gekürt worden waren, von ihren noch kleineren Bestandteilen, den Quarks, abgelöst wurden. Ob ich mir dessen bewusst war oder nicht: Ich hatte mich dem Projekt verschrieben, den Dingen und ihrer Entstehung auf den Grund zu gehen.
Ganz gleich, ob es sich um die Materie unseres Universums handelt, um biologische Lebewesen oder um von Menschenhand geschaffene Gegenstände — komplexe Gebilde bestehen aus kleineren und einfacheren Teilen. Ich habe das Glück, dass ich meine kindliche Neugier am Auseinandernehmen von Dingen mit in meinen Beruf nehmen konnte. Als Ingenieurin interessiert und begeistert mich, wie unsere Maschinen, unsere Gebäude und Alltagsgegenstände aufgebaut sind und was sie im Kern ausmacht. Dieser Faszination, die sicher viele meiner Leserinnen teilen, will das vorliegende Buch Ausdruck geben.
Gebaut und konstruiert wird oft im großen Rahmen, dabei sind viele bedeutende Errungenschaften des Ingenieurwesens von eher kleinem Maßstab. In allen von Menschen geschaffenen Dingen stecken elementare Bausteine, ohne die es unsere komplexen Maschinerien gar nicht geben würde. Auf den ersten Blick erscheinen diese vielleicht uninteressant. Doch die oftmals winzigen und manchmal verborgenen Bestandteile sind in Wahrheit Meisterleistungen der Ingenieurskunst, die spannende und Hunderte, wenn nicht Tausende Jahre alte Geschichten in sich tragen. In der Renaissance sprachen Wissenschaftler und Ingenieurinnen von sechs »einfachen Maschinen«, die als Grundlage für komplexere Zusammenbauten dienen. Zu diesen zählen: Hebel, Rad, Flaschenzug, schiefe Ebene, Keil und Schraube. Heute aber erscheint diese Aufzählung veraltet und unzureichend, daher lasse ich manche Elemente aus und füge andere hinzu. Es bleiben sieben Dinge übrig, die meiner Ansicht nach den Ausgangspunkt der Moderne bilden. Angesichts ihres wissenschaftlichen Prinzips, der von ihnen berührten Technikbereiche und der Bandbreite der durch sie ermöglichten Apparaturen haben sie vielfältige Innovationen angeregt.
Die von mir gewählten Gegenstände — Nagel, Rad, Feder, Magnet, Linse, Schnur und Pumpe — sind allesamt erstaunliche Konstruktionen, die verschiedene Abwandlungen und Formen durchlaufen haben und weiter durchlaufen. Gleich mit ihrem ersten Auftauchen wurden sie unentbehrlich. In dem Maße, in dem diese sieben Dinge weiterentwickelt und neu kombiniert wurden, steigerte sich die Komplexität der von uns ersonnenen Maschinen quasi in einem Schneeballeffekt, der auch Unerwartetes hervorbrachte. Jedes dieser Dinge hat uns als Individuen geprägt: Ohne sie wäre unser Leben ein anderes. Sie haben unsere Technik ermöglicht und verändert, zugleich aber haben sie auch großen Einfluss auf unsere Geschichte, unsere Gesellschaft, unsere politische Ordnung und unsere Machtstrukturen, auf Biologie, Kommunikation, Verkehr, Kunst und Kultur genommen.
Auf meine Auswahl an Objekten bin ich 2020 während des ersten Corona-Lockdowns in Großbritannien gekommen. Aufgrund der Pandemie war ich in den eigenen vier Wänden gefangen, meine Gedanken aber schweiften in alle möglichen Richtungen. Ich betrachtete die Dinge in meiner Wohnung und die Dinge draußen vorm Fenster und zerlegte sie im Kopf (und manchmal auch mit den Händen), um ihr Innenleben vor Augen zu haben. Ich nahm mir nochmals einen Kugelschreiber vor und stellte fest, dass er aus einer Feder, einer Schraube und einer beweglichen Kugel bestand. Der Pürierstab, mit dem ich das Essen für mein Baby zubereitete, lief mit Zahnrädern. Während der Stillzeit hatte auch mein Mann unserer Tochter zu trinken geben können, weil wir eine Milchpumpe benutzten. Die künstliche Befruchtung, die das Embryo hervorgebracht hatte, aus dem meine Tochter entstand, war, ebenso wie die Forschung zur Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen, auf eine Linse angewiesen, die Dinge im Zellmaßstab sichtbar macht. Die medizinischen Schutzmasken, die wir bei unseren kurzen Spaziergängen trugen, bestanden aus einem Gewebe aus unzähligen Fäden. Der Lautsprecher meines Telefons, durch den ich die Stimmen meiner Familie und Freunde hören konnte, funktionierte dank eines Magnets — genauso wie die LAN-Buchse, die mir den Zugang zum Internet ermöglichte.
Auch als ich über größere und aufwendigere Objekte nachdachte — Bagger, Hochhäuser, Fabriken, Tunnel, Stromnetze, Autos, Satelliten und so weiter —, kam ich immer wieder auf die sieben grundlegenden Erfindungen. Wir verbinden Dinge durch einen Nagel. Wenn wir etwas benötigen, das sich dreht oder rotiert, nehmen wir ein Rad. Brauchen wir eine Vorrichtung oder Technik, mit der sich Kraft speichern lässt, nutzen wir Batterien, aber ursprünglich auch Federn. Magnetismus und Elektrizität ermöglichen uns, über weite Strecken hinweg auf Dinge einzuwirken. Mit einer Linse lenken wir den Weg des Lichts. Fäden und Schnüre dienen uns als stabiles und zugleich flexibles Material. Wollen wir Wasser bewegen und Leben erhalten, bauen wir Pumpen.
Die Erfindung oder Entdeckung jeder dieser sieben technischen Errungenschaften beinhaltete ein ständiges Scheitern und Verbessern. Es gab Bedarf nach einem bestimmten Gegenstand oder einer besonderen Technik, und man probierte daraufhin verschiedene Materialien und Formen aus, bis man das Gewünschte erhielt. Um ein Beispiel zu nennen: Gebäude, Brücken, Fabriken, Traktoren, Autos, Telefone, Schlösser, Uhren und Waschmaschinen — eigentlich die meisten Dinge, die durch Metallstücke miteinander verbunden sind — werden von Nägeln, Schrauben, Nieten und Schraubverbindungen (aus Mutter und Schraube) zusammengehalten. Ursprünglich diente der Nagel dazu, Holzteile miteinander zu verbinden, wodurch sich robustere Schiffe und Möbel bauen ließen. Die Haltekraft des Nagels wurde später durch die Schraube beträchtlich verbessert, obwohl diese viel schwieriger herzustellen war. Sobald man Bleche wirtschaftlich produzieren konnte, waren weder Nagel noch Schraube zweckmäßig, stattdessen kam der Niet auf. Aus kleinen Nieten an Kochgefäßen wurden immer größere und stärkere Niete, die dann gar zum Zusammenbau von Flugzeugen, Schiffen und Brücken dienten. Bald darauf erfanden Ingenieure die Schraube-Mutter-Verbindung, eine Kombination aus Niet und Schraube, mit der man Teile noch fester und auch einfacher verbinden konnte. The Shard, der höchste Turm Westeuropas, an dessen Errichtung ich sechs Jahre lang als Bauingenieurin beteiligt war, wird durch solche Schraubverbindungen zusammengehalten und stabilisiert.
All diese Weiterentwicklungen bedeuten jedoch nicht, dass der ursprüngliche Nagel überflüssig geworden wäre. Tatsächlich sind Nägel und ihre zahlreichen Abwandlungen neben Schrauben und Nieten in Gebrauch, und jedes Teil kommt dort zum Einsatz, wo es am besten geeignet ist. Dabei verändert sich die Gestalt von Erfindungen auf zweierlei Weise: Manchmal nutzen wir jahrhundertelang dieselbe Technik, bis wir auf einmal ein neues Material oder ein neues Verfahren entdecken und feststellen, dass die vorhandene Technik entsprechend angepasst werden muss. Oder es ist umgekehrt: Wir entdecken ein neues technisches Produkt (zum Beispiel die extrem feste Faser Kevlar) und finden erst im Anschluss eine Anwendung (in diesem Fall kugelsichere Westen). Manche Erfindung, etwa das Rad, hat sich in verschiedenen Teilen der Erde unabhängig, aber in nahezu gleicher Gestalt entwickelt, während andere Erfindungen, wie etwa die Wasserpumpe, ganz unterschiedliche Formen annahmen. Diese Dinge wurden also erfunden oder entdeckt und dann individuell verändert oder weiterentwickelt, sodass sie oftmals unerwartete Anwendungen und eine über ihren ursprünglichen Zweck hinausgehende Bedeutung erhielten.
Mag das Ingenieurwesen in unserer Vorstellung auch von leblosen Objekten und komplizierten Konstruktionen geprägt sein, die uns unverständlich oder gar fremd sind, so stecken dahinter doch immer Menschen: Menschen, die Dinge erfinden oder erschaffen; Menschen, die diese Dinge benötigen oder benutzen; und Menschen, die (manchmal unabsichtlich) zu ihrer Entwicklung beitragen. Da sind die Näherin in Delaware, die sich Gedanken über Neil Armstrongs Unterhose machte; der Arzt, der elektrischen Strom durch seine Hände leitete; der Stoffhändler, der sich sein Sperma unter dem Mikroskop anschaute; und der erste Mensch, dem ein Schweineherz implantiert wurde. Da sind der indische Universalgelehrte, der Radiowellen durch den Körper eines Gouverneurs leitete; die immigrierte Chemikerin, die dachte, sie hätte einen Fehler gemacht, dabei aber etwas Unglaubliches erfunden hatte; der islamische Gelehrte, der unser Sehen veränderte; und die Hausfrau, die sich über zerbrochenes Porzellan ärgerte. Dabei wurde das Ingenieurwesen jahrhundertelang, vor allem im Westen, von den Reichen und Gebildeten beherrscht und lag historisch gesehen zumeist in den Händen von Männern. Die Geschichten, Geräte und Erfindungen, die ich in diesem Buch vorstellen möchte, stammen aus verschiedenen Epochen und aus allen Teilen der Welt. Dabei widme ich mich oftmals versteckten oder unbeachteten Beiträgen von Personen, die dem professionellen Ingenieurwesen fernstanden und deren Arbeiten daher nicht dokumentiert oder patentiert wurden.
Auf den folgenden Seiten möchte ich zeigen, dass das Ingenieurwesen ein Zusammenspiel von Wissenschaft, Formgebung und Geschichte ist. Es geht darum, einem bestimmten Bedarf mit Einfallsreichtum nachzugehen. Darum, Probleme zu erkennen und geeignete Lösungen zu finden, indem man auch bisher Unversuchtes ausprobiert. Ziel ist die Verbesserung unseres Lebens — jedoch mit dem Wissen, dass eine missbräuchlich eingesetzte Erfindung desaströse Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann. Ich möchte verdeutlichen, wie eng das Ingenieurwesen im Grunde mit unserem Alltagsleben und dem Menschsein allgemein zusammenhängt. Ich hoffe, dass ich kindliche Neugier wachrufen und meine Leserschaft anspornen kann, der immer komplexer werdenden Ingenieurtechnik auf den Grund gehen zu wollen, um so die Bausteine unserer Welt besser zu begreifen.
»Rot? Noch nicht heiß genug!«, übertönt Rich den Lärm der Werkstatt.
In der bloßen Hand halte ich das obere Ende einer dünnen Stahlstange, die etwa die Länge meines Arms hat. Ihre Spitze lag bis eben in glühendem Koks, der bei über tausend Grad Celsius in einem Steinofen brennt. Ein Ventilator bläst Luft hinein, damit die Flamme noch heißer wird. Der Stab glüht wütend rot, aber Rich, der Schmied, sagt mir, das reiche noch nicht. Also schiebe ich ihn zurück ins Feuer, bis er ein sengendes Orangegelb angenommen hat. Jetzt kann ich versuchen, aus dem leuchtenden Stück Stahl einen Nagel werden zu lassen.
Dafür benötige ich Werkzeuge. Vor mir steht ein Amboss — der traditionelle wuchtige Stahlblock, bis heute unverzichtbar in jeder Schmiede. Ganze 102 Kilo schwer, wie die Gravur an der Seite angibt. Ich lege das glühende Stabende auf seinen flachen Teil und schlage mit einem schweren Hammer darauf, bis das Metall flacher wird. Noch ein paar Schläge, dann drehe ich das Werkstück um neunzig Grad und bearbeite es weiter. Doch bald darauf wird das Stabende dunkler, und ich spüre, wie der Hammer abprallt. Die Schläge werden härter. Das Metall hat sich abgekühlt. Also zurück ins Feuer damit, bis es wieder orangegelb glüht. Und dann nochmals hämmern, drehen, wieder aufheizen. Ich brauche drei Durchgänge, um eine halbwegs gelungene Spitze herauszuarbeiten. (Rich schafft es in einem.) Doch irgendwann nimmt das Stabende die Form eines Nagels an.
Als Nächstes stecke ich einen Meißel, die »Abschrot«, mit dem scharfen Ende nach oben in ein Vierkantloch im Amboss, die »Gesenkaufnahme«. Ich lege den glühenden, nun spitz zulaufenden Stab über die Klinge des Meißels und schlage von beiden Seiten Kerben hinein, damit ich das bearbeitete Stück leichter abtrennen kann. Das letzte Werkzeug, das ich benötige, ist das Locheisen: eine Metallplatte mit Griff, die mit unterschiedlich großen Löchern versehen ist. Ich wähle ein Loch, das die Stabspitze bis auf ein kleines Kopfstück aufnimmt. Mit einer kräftigen Drehung breche ich meinen nahezu fertigen Nagel vom Stab ab. Jetzt hängt die Spitze des Nagels nach unten durch das Loch, wobei das restliche Stabstück etwa ein Zentimeter oben herausschaut. Die Spitze des Nagels versenke ich in einem kreisförmigen Ausschnitt im Amboss, dann schlage ich schnell auf das herausstehende Ende und stauche es zu einem Nagelkopf.
Zum Schluss wird »gelöscht«: Ich tauche den immer noch im Locheisen steckenden Nagel in einen Wassertrog, worauf es ordentlich zischt und dampft. Dann ziehe ich ihn heraus, klopfe ihn mit einem sanften Hammerschlag aus der Form, und er fällt mit einem hübschen Pling! zu Boden. Ich halte einen etwas groben, noch leicht warmen fertigen Nagel in der Hand.
Nägel mögen nicht wie ein Meisterstück der Ingenieurskunst daherkommen, aber wenn wir uns mal umblicken, entdecken wir sie nahezu überall. Wenn ich von dem Tisch aufschaue, an dem ich diese Seiten schreibe, sehe ich Bilder, die an Nägeln hängen, und Regale, die mit Nägeln zusammengebaut sind. Auch der Tisch und selbst die Schuhe, die ich unter ihm abgeworfen habe, würden ohne sie auseinanderfallen. Die Wände aus verputzten Holzpaneelen, der von Holzbalken gestützte Boden — all das wird durch Nägel verbunden. Die meisten dieser Nägel kann ich gar nicht sehen, da sie in Holz, Leder oder Mauersteinen stecken, aber ich weiß um ihr stilles und beruhigendes Vorhandensein.
Nägel ermöglichen uns, Dinge miteinander zu verbinden. Das hört sich nicht großartig an, doch brachte ebendiese Möglichkeit einen radikalen Wandel. Fast alles Menschengemachte, das uns umgibt, ist eine Zusammenfügung verschiedener Teile und Materialien — ein Umstand, über den wir heute nicht mehr nachdenken. Das war nicht immer so. Vor vielen Jahrtausenden bestand die Schaffung von etwas Neuem darin, einem Material eine zweckgerichtete Form zu geben: Unsere Vorfahren gruben eine Höhle in einen Fels, sie spitzten Steine, um sie als Werkzeug zu gebrauchen, oder sie legten einen Baumstamm als Brücke über einen Fluss. All das waren wichtige und nützliche technische Entwicklungen. Für komplexere Behausungen aber, Speere mit Steinspitze oder eine Brücke, die länger war als ein Baumstamm, mussten Teile verbunden werden — was eine enorme Differenzierung der vom Menschen geschaffenen Dinge erlaubte.
Natürlich kann man eine Brücke auch mit Steinstapeln stützen. Oder Dinge mit Seilen oder Lederriemen verbinden. (Seit geraumer Zeit auch mit Klebstoff.) Aber Nägel und ihre Abkömmlinge — Niete, Schrauben und Garnituren aus Mutter und Schraube — ermöglichten die stabile Verbindung von verschiedenen Materialien, und zwar auf ganz unkomplizierte, für jeden zugängliche Art und in allen möglichen Größenordnungen: Pfosten und Balken zimmerte man zu Häusern zusammen, aus verbundenen Holzplanken entstanden Boote, später aus Stahlblechen Schiffe. Aus zusammengefügten Teilen wurden Skulpturen, Schlösser, Uhren. Eine Welt ohne Nägel ist kaum vorstellbar: Wir können schließlich nicht mit Schnüren zusammengebundene Satelliten ins All schicken oder die beweglichen Teile von Uhren zusammenkleben.
*
Meinen Nagel habe ich in dem Dorf Much Hadham in Hertfordshire geschmiedet. Die dortige Schmiede ist seit 1811 in Betrieb. Das Ergebnis meiner Bemühungen war ziemlich kantig, dick und schief, außerdem hatte es mich ordentlich Kraft gekostet. Vom Hämmern hatte ich Blasen an den Händen und Muskelzittern in den Armen. Heutzutage werden die allermeisten Nägel natürlich maschinell hergestellt, aber über Tausende Jahre, angefangen bei den Ägyptern und Römern, haben die Menschen sie so wie ich in Much Hadham handgeschmiedet.
Dass mir das Werkstück so viel Mühe gemacht hat, hängt mit der Formbarkeit des Materials zusammen. Zur Geschichte des Nagels gehört die Geschichte des Metalls. In seltenen Fällen kann es von Vorteil sein, Nägel aus anderen Materialien wie Holz herzustellen, doch erst der Eisennagel brachte den Umschwung. Metall hat zwei Eigenschaften, deren Zusammenspiel es zum unübertroffenen Material für die Nagelherstellung macht. Zum einen ist es fest genug, um mit Hammerschlägen in andere Materialien getrieben zu werden. Und zum anderen kann es in eine spitze Form gebracht werden, da Metalle eine kristalline Struktur haben, die ihnen eine besondere »Duktilität« oder Zähigkeit verleiht. Die Kristalle können sich nämlich bis zu einem gewissen Grad übereinanderschieben. Aus diesem Grund können wir eine Büroklammer auseinanderbiegen, ohne dass sie zerbricht. (Duktilen Werkstoffen stehen spröde oder brüchige Werkstoffe gegenüber, welche bei Krafteinwirkung leicht bersten — wie etwa Glas.)
Metall wird durch hohe Temperaturen verformbar. Die Hitze des Schmiedefeuers regt die schwebenden Elektronen und die Atome in der kristallinen Struktur an, sodass sie in heftige Bewegung geraten. Da Metalle gute Wärmeleiter sind, verteilt sich die zugeführte Energie rasch. Die verschiedenen Metalle unterscheiden sich bezüglich ihres Schmelzpunkts und ihrer Leitfähigkeit, doch immer gilt: Je heißer das Metall wird, desto mehr gleiten die Atome und Elektronen übereinander und lassen das Material weich und geschmeidig werden, sodass es in Form gehämmert werden kann. Erstaunlicherweise verändert sich durch die Hitze und die Hammerschläge auch die eigentliche Struktur des Metalls, da die großen, groben Kristalle in kleinere, regelmäßigere Kristalle umgewandelt werden: Auf diese Weise erhält man beim Abkühlen ein festeres, härteres und beständigeres Material.
Schon in der Steinzeit, also vor rund 8000 Jahren, begannen Menschen mit der Bearbeitung von Gold. Im Anschluss entdeckten sie Kupfer, Silber und Blei. Die meisten dieser Metalle sind zu weich, als dass man Nägel aus ihnen herstellen könnte, doch Kupfer war das erste in dieser Hinsicht vielversprechende Material. Einfallsreiche Köpfe unter unseren Vorfahrinnen fanden heraus, wie man aus einer Mischung aus Kupfer und Blei Bronze fertigen konnte, und schufen damit ein Material, aus dem sich haltbarere Werkzeuge, Waffen, Rüstungen und Nägel herstellen ließen.
Die ältesten Bronzenägel stammen aus der Zeit um 3400 v. Chr. und wurden in Ägypten gefunden. Sie ähneln erstaunlich den heute handgeschmiedeten Stahlnägeln, doch haben die vergangenen 5000 Jahre sie verkrustet, verfärbt und stumpf werden lassen. Die Ägypter waren Meister in der Bronzeverarbeitung und verzierten das Metall mit Intarsien aus Edelsteinen, Emaille und Gold, nutzten es aber auch für praktische Dinge wie Nägel, die ihnen zum Zusammenbau ihrer Boote und Streitwagen dienten.
In den darauffolgenden tausend Jahren wurden Nägel aus Kupfer und Bronze gefertigt, obgleich Bronze die weniger wirtschaftliche oder praktikable Lösung darstellte, da man das hierfür benötigte Kupfer und Blei selten an einer Stelle antraf. Um 1300 v. Chr. entdeckten Metallhandwerker in Indien und Sri Lanka, wie man Eisen herstellt (das etwa so hart wie Bronze und härter als Kupfer ist). Damit begann im Osten die Eisenzeit, und Bronze wurde schnell durch den neuen Werkstoff ersetzt. Um 1200 v. Chr. brach die Bronzeverarbeitung dann endgültig ein, da es im Nahen Osten zu politischen Unruhen kam, in deren Folge Handelswege unterbrochen wurden und sich die Herstellung von Blei (und damit Bronze) enorm verteuerte. Später ging auch die Nutzung von Eisen zurück, nachdem man entdeckt hatte, dass man durch die Beimischung von ein wenig Kohlenstoff Legierungen wie Stahl erhielt, mit denen sich viel härtere und stabilere Nägel schmieden ließen.
Die Römer erlangten große Fertigkeit in der Verarbeitung von indischem Eisen, das sie auf viele Weisen nutzten — von der Herstellung von Waffen bis zur Massenproduktion von Nägeln im gesamten Römischen Reich, darunter in Britannien. In den 1960er-Jahren entdeckte man auf einem Feld im schottischen Perthshire eine große Ansammlung römischer Nägel. An dem Ort hatte sich das Legionslager Inchtuthil befunden, in dem rund 5000 Soldaten der 20. Legion stationiert waren, bis es 86 n. Chr. nach nur wenigen Jahren aufgegeben wurde. Der Stützpunkt war so kurz in Gebrauch, dass die sonst üblichen Bäder und Aquädukte zur Wasserversorgung noch nicht fertiggestellt waren, doch legten archäologische Ausgrabungen faszinierende Einblicke in den Festungsbau und die Handwerkskunst der Römer frei.
Die Anlage war riesig. Sie bedeckte gut 20 Hektar (das sind 28 Fußballfelder) und enthielt 64 Mannschaftskasernen, ein Lazarett, Getreidekammern und, was uns an dieser Stelle am meisten interessiert: eine fabrica oder Schmiede. In einem ihrer Gebäudeflügel fand man eine Schmiedeesse, in einem anderen eine versiegelte Grube. Nachdem sie sich vorsichtig durch zwei Meter Kies gegraben hatten, stießen die Archäologen überraschend auf einen Schatz: verschieden große Eisennägel, 875.428 an der Zahl, die meisten in fast makellosem Zustand. Die außen liegenden Nägel waren verrostet und hatten dadurch eine undurchdringliche Schicht gebildet, die den Rest vor Korrosion schützte: Die zwei Jahrtausende alten Nägel waren glänzend und scharf wie am ersten Tag.
Vor der fabrica trugen die Straßen ausgeprägte Furchen, was darauf hindeutet, dass dort schweres Material hin und her transportiert wurde. Es ist denkbar, dass die Schmiede von Inchtuthil Nägel an andere Siedlungen lieferte. Die Größe des Stützpunkts legt außerdem nahe, dass der römische Statthalter von Britannien, Senator Julius Agricola, den Bau zusätzlicher Festungen weiter nördlich plante, bis er dann plötzlich nach Rom zurückbeordert wurde, da sich die militärische Planung auf Europa konzentrierte. Vor ihrem Rückzug brannten die Legionäre die Festung nieder und vergruben an die zehn Tonnen Nägel, da man befürchtete, die Kaledonier könnten sie sonst einschmelzen und zur Waffenherstellung nutzen.
Die Ausgrabung von Inchtuthil beförderte sechs verschiedene Nagelsorten ans Licht, die offenbar jeweils anderen Zwecken dienten. Am häufigsten fanden sich kleine, bis zu fingerlange Nägel mit rundem Kopf, die wohl zum Möbelbau oder zum Anbringen von Wand- und Fußbodendielen gebraucht wurden. Einige weit längere (etwa ellenlange) Nägel werden die Römer zum Befestigen schwerer Balken verwendet haben: Sie tragen pyramidenförmige Köpfe, die auch fortgesetztes Hämmern aushalten. Die meisten Nägel haben einen vierkantigen Schaft, doch unter den anderen Sorten befinden sich auch 28 Stück mit rundem Schaft, abgeflachtem Kegelkopf und meißelförmiger Spitze: Diese wurden offenbar in Mauerwerk gehämmert, da ein eckiger Schaft den Stein splittern lässt.
Die römischen Nägel waren von hoher und gleichbleibender Qualität in Bezug auf Form, Größe und Material. Die größeren der in Inchtuthil gefundenen Nägel enthalten mehr Kohlenstoff als die kleineren — was nahelegt, dass die römischen Schmiede ihr Rohmaterial vor der Verarbeitung prüften. Die Spitzen der Nägel waren härter als ihre Köpfe, da sie wahrscheinlich anders erhitzt, behämmert und gelöscht wurden. Offensichtlich haben wir es hier mit den Arbeiten überaus kunstfertiger Handwerker zu tun. Wie ich selbst erfahren durfte, ist das Handschmieden von Nägeln eine schwierige und anstrengende Angelegenheit. Man muss wissen, wie und wann das Metall die ideale Temperatur erreicht, man muss die Hammerschläge mit der richtigen Kraft, aus dem richtigen Winkel ausführen — und das alles sehr schnell, solange das Metall noch heiß genug ist. Die Schmiede der Antike konnten nicht messen, welche Temperatur ihr Werkstück erreichte, daher orientierten sie sich an dessen Farbe. Stahl wird bei etwa 700 bis 900 Grad Celsius glühend rot und lässt sich dann gut biegen, bei aufwendigerer Bearbeitung kann das Metall jedoch brechen. Bei noch heißeren Temperaturen wird es noch biegsamer und nimmt eine orange Farbe an wie die Abendsonne. Erhitzt man es dann noch weiter, auf über 1300 Grad Celsius, so wird es grellweiß. Bei diesen Temperaturen kann man Metallteile zusammenschweißen und es sprühen weiße Funken vom Werkstück ab. (Heißes Metall hat eine ganz eigene hypnotische Anziehung. Für die Recherchen zu diesem Buch habe ich mit der Hufschmiedin und Künstlerin Agnes Jones gesprochen, die außergewöhnliche organische Skulpturen aus Stahl erschafft. Agnes entdeckt im weiß glühenden Stahl eine surreale Schönheit, da eine dünne Schicht an der Oberfläche schmilzt und die Konturen verwischt, so wie die oberste Schicht eines Sandstrands an einem windigen Tag.) Die grellweiße Hitze ist das Maximum, das ein Schmied erreichen will. Geht man über diesen Punkt hinaus, brennt der Stahl wie eine Wunderkerze.
1000 bis 1200 Grad Celsius sind also der ideale Bereich für das Schmieden von kohlenstoffarmem Stahl (wobei die genaue Temperatur von der spezifischen Zusammensetzung des Metalls abhängt). In diesem Bereich leuchtet das Metall sommernachmittagssonnengelb und zeigt an, dass der Stahl weich genug geworden ist, um ihn zu schmieden. Hat man die gewünschte Form herausgearbeitet, kühlt man die Stange abrupt ab, indem man sie in kaltes Wasser taucht. Durch das »Löschen« des Materials erhöhen sich seine Festigkeit und Formstabilität.
Auch nach dem Untergang des Römischen Reiches war die Herstellung von Nägeln in Europa über Jahrhunderte eine geschätzte Fertigkeit. Im Mittelalter stellten »Nagler« (der Beruf hat sich als Nachname erhalten) Nägel für Hufeisen, Tischlerarbeiten und den Hausbau her. Es ist heute schwer vorstellbar, aber in dieser vorindustriellen Ära, in der Materialien und Fachkräfte nicht ohne Weiteres verfügbar waren, waren Nägel so kostbar, dass die Briten die Ausfuhr in ihre Kolonien verboten — auch nach Nordamerika, wo Holzhäuser weit verbreitet waren. Dort wurden Nägel schließlich derart rar, dass manche gar ihr Haus in Brand setzten, bevor sie auszogen, um dann die kostbaren Nägel aus der Asche zu bergen. 1619 wurde im Staat Virginia ein Gesetz erlassen, um dieses Vorgehen zu unterbinden, indem man den Hausbesitzern einen Ersatz anbot:
Wenn jemand seine Siedlung wie oben erwähnt aufgibt, soll es nicht rechtmäßig sein, die auf ihnen befindlichen, notwendigen Häuser niederzubrennen, sondern es sollen stattdessen zwei unparteiische Männer berechnen, wie viele Nägel für die Siedlung vonnöten waren, und diese zur vollen Genugtuung des Betreffenden ausgegeben werden …
Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1776 war Amerika bestrebt, die Fertigung von Nägeln selbst in die Hand zu nehmen, um so einer stetig wachsenden Wirtschaft und dem steigenden Wohnbedarf gerecht zu werden. Thomas Jefferson, Gründervater der Vereinigten Staaten, rief eins der größten Unternehmen dieser Art ins Leben. Sieben Jahre bevor er 1801 Präsident wurde, richtete er auf seiner Farm Monticello in Charlottesville, Virginia, eine Gießerei ein. Auf dem Landgut mit über 2000 Hektar großer Plantage arbeiteten zu Jeffersons Lebenszeit über 400 Sklaven. Einer von ihnen, Joe Fosset, schuftete ab dem Alter von zwölf Jahren in der Nagelschmiede. Zusammen mit anderen Jungen fertigte er tagtäglich 8000 bis 10.000 Nägel, von deren Absatz sich Familie Jefferson finanzieren konnte, wenn die ausgelaugten Felder des Gutes brachlagen. Fosset wurde versklavter Vorarbeiter des Betriebs. Nach seiner Freilassung gründete er eine eigene Nagelschmiede, mit deren Erlös er seine Frau und seine zehn Kinder freikaufen konnte.
Jefferson war stolz auf seine Nagelfertigung. Dem französischen Politiker Jean-Nicolas Démeunier schrieb er, Nagelfabrikant zu sein sei für ihn ein »Adelstitel«. Als wenige Jahre darauf der Preis für Eisen sank und Nägel breiter verfügbar wurden, da die Briten den Export schließlich wiederaufnahmen, schrieb Jefferson 1796 mit einiger Begeisterung an einen Freund, er hoffe, seine Produktion durch eine neue »Schneidemaschine« zu erhöhen.
Diese Maschine, die Jefferson von einem Mr. Burral in New York erwarb, war der Beginn der mechanisierten Nagelherstellung. Zwar waren bereits um 1600 Apparaturen zur Nagelfertigung aufgetaucht, doch waren diese nicht sehr beliebt; sie waren schwerfällig in der Bedienung und bearbeiteten jeweils nur einen Nagel. Jeffersons Maschine schnitt kleine »Fourpenny«-Nägel (hundert Nägel dieser Größe hatten im mittelalterlichen England vier Penny gekostet) aus dünnen Eisenstreifen, die eigentlich als Fassreifen verwendet wurden. Hierzu kam wahrscheinlich ein Paar senkrechter Klingen zum Einsatz, die von einer manuell gedrehten Welle angetrieben wurden. Jeffersons Maschine war offenbar nicht geeignet, den Nägeln auch Köpfe zu verpassen, andere Maschinen aus dieser Zeit jedoch verwendeten eine Reihe von Hebeln zum Stauchen und Abflachen des breiten Nagelendes. So wurde zwar die schwere körperliche Arbeit erleichtert und die Herstellung beschleunigt, dennoch stellte dies keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit dar. Die frühen maschinell gefertigten Nägel waren eckig und recht klobig und hatten mehr mit ihren handgefertigten Vorgängern gemein als mit den perfekt abgerundeten Nägeln von heute.
Während des gesamten 19. Jahrhunderts blieb Großbritannien führend in der Herstellung von Nägeln. Ein geschickter Nagelschmied konnte einen Nagel in einer Minute oder gar noch kürzerer Zeit fertigstellen. Es war üblich, dass schon siebenjährige Kinder in Nagelschmieden arbeiteten, um mit ein paar Pennys zum Familieneinkommen beizutragen. Die Nagelfabrikation florierte vor allem im Black Country in Mittelengland, wo Eisen und Kohle verfügbar waren. Es arbeiteten besonders viele Frauen in den Werkstätten und kamen so an Geld für das Nötigste. Männer, die im Bergbau oder als Eisenhändler arbeiteten, suchten sich oft eine solche »Naglerin« zur Frau, die neben Haushalt und Kindern etwas dazuverdienen konnte.
Doch wie so oft, wenn Frauen eigenes Geld verdienen, kam es zu Widerständen — damals in Form der Schmiedezunft, welche die Frauenarbeit in der Nagelfertigung einschränken wollte. Doch die Fabrikanten, denen die Frauen als billige Arbeitskraft dienten, wehrten jegliche Maßnahme in dieser Richtung ab. Manche Frauen trotzten den Umständen und gewannen auf eigenen Wegen Erfolg. Eliza Tinsley zum Beispiel, die als »The Widow« bekannt wurde und die Nagelfabrikation ihres Mannes übernahm, als dieser 1851 starb. Die Witwe hatte zu diesem Zeitpunkt fünf überlebende Kinder im Alter von unter elf Jahren, und es gelang ihr, den Familienbetrieb zum größten Nagel- und Kettenhersteller im County Staffordshire auszubauen, mit Warenhäusern in sieben anderen Regionen. Eliza Tinsley, die eine gerechte und menschenfreundliche Arbeitgeberin gewesen sein soll, reiste durch das gesamte Vereinigte Königreich, um ihre Kundschaft zu treffen. Als sie 1882 im Alter von neunundsechzig Jahren starb, hatte ihre Firma mehr als 4000 Angestellte. Sie existiert noch heute und trägt weiterhin den Namen Tinsley, genau wie jedes Päckchen Nägel, das den Betrieb verlässt.
Noch zu Eliza Tinsleys Lebenszeit wurde die Metallverarbeitung jedoch durch zwei Entwicklungen revolutioniert. Zum einen entdeckte man die Präzision der Massenfertigung, also die Möglichkeit, Dinge in großer Stückzahl und mit immer gleichen Maßen herzustellen. So erfand der 1771 geborene englische Ingenieur Henry Maudslay die erste praktikable Metalldrehbank. Vor ihr wurden kleine Maschinenteile von Hand gefertigt und erreichten damit keine absolute Gleichförmigkeit. Maudslays Maschine stellte Teile mit gleichbleibenden, genauen Maßen her und eröffnete so die Welt der standardisierten Ersatzteile. Nun konnten Komponenten in riesigen Mengen hergestellt werden, und das mit der Gewissheit, dass jede passend eingesetzt werden konnte. Die Durchsetzung der maschinellen Massenproduktion war grundlegend für die industrielle Revolution und ermöglichte die Herstellung von Kleinteilen wie Schrauben, Zahnrädern, Federn und Drähten.
Hinzu kam die Entdeckung, wie man Stahl schnell und billig herstellen konnte. Bei dem Versuch, die Qualität des für die Waffenherstellung verwendeten Eisens zu verbessern, erkannte ein weiterer Henry, nämlich Henry Bessemer (geboren 1813), dass Eisen auf viel höhere Temperaturen erhitzt werden konnte, wenn man heiße Luft darüber blies, anstatt brennende Kohle zu verwenden. Das neue Verfahren brannte die Verunreinigungen im Eisen wirkungsvoll ab, woraufhin die passende Menge an Kohlenstoff zugegeben werden konnte, um Stahl zu erzeugen. Stahl ist fester und härter als reines Eisen, er hält der Abnutzung viel länger stand und ist wenig flexibel. Das macht ihn zu einem idealen Material für Nägel.
Diese Fortschritte ermöglichten die schnell laufenden Pressen und Stanzen des 19. Jahrhunderts und führten schließlich dazu, dass man große Trommeln mit Stahldraht herstellen konnte, der dann zur Produktion billiger Nägel verwendet wurde.
Diese Drahtnägel waren dünn und rund und fanden zunächst keinen Anklang bei gelernten Tischlern, da sie weniger Halt boten als Vierkantnägel. Schließlich setzten sie sich jedoch angesichts ihres bedeutend niedrigeren Preises durch, und die Produktion stieg sprunghaft an. Im Jahr 1886 waren zehn Prozent der Nägel in den Vereinigten Staaten aus Draht geschnitten. Im Jahr 1913 waren es schon neunzig Prozent.
Heutzutage wirft eine Drahtstiftpresse über 800 Metallnägel pro Minute aus. Dabei sind verschiedene Sorten von Nägeln erhältlich: glatte Drahtnägel (die am üblichsten sind), beschichtete Nägel (die zum Schutz vor Korrosion beispielsweise verzinkt sind) und Ankernägel mit kleinen Widerhaken oder Rillen. Sie alle beginnen als auf eine Trommel aufgewickelter Stahldraht, genauso wie ihre Vorgänger aus dem frühen 20. Jahrhundert. Der Drahtdurchmesser beträgt üblicherweise sechs Millimeter, was zu breit ist, daher muss er über mehreren Walzen in die Länge gezogen werden. Anschließend wird er in kurze Stifte geschnitten. Und aus diesen wird ein Nagel, indem Schneiden die Spitze stanzen und eine weitere Maschine das andere Ende mit hohem Druck zum Nagelkopf zusammenstaucht. Und das war es auch schon. Um Nägel mit Köpfen zu machen, sind Glut und Hammerschläge nicht mehr vonnöten.
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Was steckt alles in einem Nagel? Für Fachleute ist so ein Nagel kein fester, unbeweglicher Gegenstand, sondern Objekt verschiedener auf ihn einwirkender Kräfte. Genauer gesagt handelt es sich um Schlag-, Druck-, Zug- und Scherkräfte, und die müssen und mussten Ingenieure unbedingt im Auge behalten, damit Nägel Dinge stabil verbinden und dauerhaft zusammenhalten.
Wenn man einen Nagel setzt, treibt man ihn mit kraftvollen Schlägen in ein Material. Die Nagelspitze sorgt dafür, dass die Oberfläche durchdrungen wird, ohne größeren Schaden anzurichten. Denn je kleiner der Bereich ist, auf den die Kraft einwirkt, desto größer ist der Druck, und die Spitze leitet die Schlagenergie wirkungsvoll weiter. (Dasselbe Phänomen tritt übrigens ein, wenn man mit Pfennigabsätzen über einen Rasen läuft …)
Neben der Kraft, die durch den Nagel auf das aufnehmende Material einwirkt, ist auch der Nagel selbst bestimmten Kräften unterworfen. Das letzte Mal, als ich ein Bild aufhängen wollte, verbog sich der Nagel beim Einhämmern in die Wand. Nun könnte man vermuten, dass ich den Nagel nicht gerade genug eingeschlagen habe und die Kräfte ihn daher nicht geradlinig durchliefen. Aber das war nicht das einzige Problem. Denn ich habe den Nagel vor allem nicht kraftvoll genug eingeschlagen — und hier zeigt sich eine weitere Eigenschaft von Metall, durch die es zu einem besonders geeigneten Material für Nägel wird. Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig: Der Nagelschaft müsste sich doch eigentlich eher verbiegen, wenn größere Kraft auf ihn einwirkt. Bauteile verbiegen sich tatsächlich, wenn das Gewicht großer Gebäude oder Brücken über lange Zeit auf der Konstruktion lastet. Ein Nagel aber verhält sich anders, und zwar abhängig davon, wie die Kraft auf ihn einwirkt und wie er auf diese Krafteinwirkung reagiert. Hierbei geht es nicht um lange Zeiträume. Wenn wir einen Nagel einschlagen, entstehen enorme Druckkräfte, er wird von Schockwellen durchlaufen, die Dauer der Belastung aber beträgt nur den Bruchteil einer Sekunde. Schlägt man fest genug auf den Nagel, hat er keine Zeit, sich zu verbiegen. Das liegt zum Teil an dem seltsamen Verhalten von Metallen unter Belastung. Denn ob sie sich verformen oder nicht, kann davon abhängen, wie schnell die Belastung aufgebracht wird: Je schneller sie aufgebracht wird, desto mehr Kraft kann ein Metall aushalten, ohne zu versagen.
Ist der Nagel einmal eingeschlagen, wird er durch Reibung an seinem Platz gehalten. Reibung ist der Widerstand, der auftritt, wenn zwei sich berührende Körper gegeneinander bewegt werden. Wenn man versucht, zwei zusammengenagelte Holzstücke auseinanderzuziehen, haften die Holzfasern am Nagelschaft. Der Nagel erfährt eine Kraft, die versucht, ihn längs auseinanderzureißen. Diese Kraft nennen wir Zugspannung. Der Versuch kann nun auf zwei Arten scheitern: Entweder dehnt sich der Nagel und bricht, weil die Zugspannung zu groß ist, oder der Nagel löst sich, weil die Reibungskraft überwunden wird. Die Kraft, die vonnöten wäre, um den Nagel zu dehnen, ist viel größer als die Reibungskräfte an seiner Oberfläche, daher müssen wir uns um Erstere keine großen Sorgen machen. Für uns sind die Reibungskräfte entscheidend.
Auf einen Nagel einwirkende Kräfte
Die Menge an Reibung zwischen Nagel und Holzstück hängt von der Größe und Beschaffenheit der sich berührenden Oberflächen ab. Holz ist ein unbeständiges Material. Bäume wachsen, sie werden höher und dicker, sie tragen Jahresringe, sie verlieren Blätter und treiben sie wieder aus. Wird ein Baum zu Holz verarbeitet, so ist dessen Qualität von der Temperatur und Feuchtigkeit seines Standorts, von der Härte seiner Schichten, von Wassergehalt und Maserungsrichtung abhängig. All diese Einflüsse sind veränderlich, und die unterschiedlichen Eigenschaften des Holzes beeinflussen die Stärke der Reibung. Wie wir noch sehen werden, haben wir uns durch die Erfindung der Schraube von diesen Unwägbarkeiten unabhängig gemacht.
Ein Nagel erfährt zudem Scherkräfte. Wenn das untere Holzstück unbewegt bleibt, das obere sich aber seitwärts verschiebt, kann sich der Nagel verbiegen — nämlich unter Einfluss der Scherkraft. Wie viel Scherspannung ein Nagel aushalten kann, hängt von seinem Material und von der Größe des gescherten Bereichs ab — je stärker das Material und je größer die Fläche, desto scherfester ist der Nagel.
Die Zähigkeit bzw. Duktilität von Stahl bewirkt, dass es diese Zug- und Scherspannungen gut toleriert. Andere Materialien, die vor Stahl zum Einsatz kamen, zeigten hier weniger geeignete Eigenschaften: Schmiedeeisen war zu weich, Gusseisen zu spröde, sodass sie, wenn sie oben genannten Kräften ausgesetzt waren, verbogen oder barsten. Dennoch erfüllten Nägel aus diesen Materialien jahrhundertelang ihre Aufgabe, einfach weil sie dick genug waren und deswegen nicht versagten. Damit auch dünne Drahtnägel diesen Belastungen standhielten, musste erst Stahl erfunden werden.
An einem kleinen Nagel, der in eine Wand geschlagen wird, um ein Bild aufzuhängen, lässt sich gut veranschaulichen, mit welchen Kräften Ingenieurinnen tagtäglich zu tun haben. Die Stahlseile, die die Fahrbahn einer großen Brücke wie der Golden Gate Bridge halten, werden durch das Gewicht der Fahrbahn und der darüberfahrenden Autos belastet, was zu Zugspannungen führt. Und die Balken der Brückenplatte erfahren durch ihr eigenes Gewicht und das von ihnen getragene Gewicht Scherspannungen. Unabhängig von der Größe eines Bauwerks hat das Ingenieurwesen mit den gleichen grundlegenden Kräften zu tun.
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Es gibt ein imposantes Bauwerk, das die auf Nägel wirkenden Kräfte und die Lösungen, die Ingenieure fanden, um diesen entgegenzuwirken, sehr schön illustriert: das 600 Tonnen schwere Kriegsschiff Mary Rose — eins der Lieblingsschiffe des mehrfach verheirateten englischen Königs HeinrichVIII. Im Jahre 1545 sank es während der Schlacht am Solent und lag mehrere Jahrhunderte auf dem Meeresgrund, bis man es entdeckte, barg und in Portsmouth, an der Südküste Englands, ausstellte. Ein großer Teil der Konstruktion ist in den Wellen verloren gegangen: Sein Rumpf klafft auseinander wie ein vermodertes Gerippe. Dennoch staunt man, wie viel von dem Schiff noch übrig ist — besonders, da es doch im Schlachtengewirr sank und über mehrere Hundert Jahre den Kräften des Solents, einem Seitenarm des Ärmelkanals, ausgesetzt war. An seiner Unterseite befindet sich der Kiel, das Rückgrat des Schiffes, der einst zum größten Teil im Wasser lag. Vom Kiel gehen die Rippen nach oben und bilden das Gerüst des Rumpfes. Im Inneren befanden sich vier Decks aus Balken und Planken, deren Enden von L-förmigen Klötzen, den »Knien«, gehalten wurden. (Der Schiffsbau hat ein ganz eigenes, lebendiges Vokabular.) Aus den Planken und Knien der Mary Rose ragen noch mehrere Holznägel, die das Schiff jahrhundertelang zusammenhielten.
Diese Holzverbindungen bestehen aus runden Holzstiften, die meist viel länger und dicker sind als ihre metallischen Gegenstücke. Die für die Mary Rose verwendeten Holznägel waren bis zu einem halben Meter lang. Die für Nägel typischen Spitzen fehlen, da Holz nicht stark genug ist, um ein anderes Stück Holz zu durchbohren. Stattdessen nahmen die Erbauer der Mary Rose einen Drillbohrer (eine frühe Version unserer elektrischen Bohrmaschine), um zunächst ein Loch in die Holzbretter zu bohren, das im Durchmesser etwas kleiner war als der Nagel. Das Ende des Nagels wurde in Tierfett getaucht, damit er besser in das Loch gleiten konnte, und schließlich mit einem schweren, langstieligen Hammer eingeschlagen. Um den Holzstift fest zu verankern, wurde das Ende manchmal leicht aufgespalten und mit Dichtungsmasse oder mit Teer bestrichenen Fasern gefüllt, sodass eine leichte Glockenform entstand.
Holznägel waren für den Schiffsbau gut geeignet, denn die Konstruktionen mussten ständig repariert und Teile ersetzt werden: Die Holznägel ließen sich hierzu einfach durchsägen. Außerdem dehnt sich nasses Holz aus, und die Nagelverbindungen wurden auf See also noch haltbarer. An einigen kritischen Stellen jedoch, wie etwa an besagten Knien, waren die Nägel nicht stark genug, um großen Kräften zu widerstehen, weshalb man an diesen Verbindungen zusätzlich Eisenstäbe einschlug.
Dreiunddreißig Jahre lang hielten die Holznägel dieses imposante Schiff zusammen, während es über die Meere segelte und Wind und Wellen genau wie Schlachten mit der französischen Flotte trotzte. Der Untergang der Mary Rose bleibt ein Rätsel: Als sie sich feindlichen Schiffen näherte, krängte sie auf einmal, nahm Wasser auf und sank innerhalb kürzester Zeit, sodass fast die gesamte Besatzung umkam. Wo genau das Wrack lag, war lange unbekannt, obgleich bei Ebbe gelegentlich Teile des Schiffs auszumachen waren. Mitte der 1960er-Jahre jedoch begann ein Taucherteam mit der Durchsuchung des Solents und stieß 1971 endlich auf die Überreste der Mary Rose. Viele Eisenteile der Konstruktion waren im Salzwasser längst verrostet, das Schiff wurde nur noch durch die Holznägel zusammengehalten. Auch das übrig gebliebene Eisen wurde nach der Bergung des Wracks entfernt, um das Holz zu erhalten. Das getrocknete Gerippe der Mary Rose hat sich zusammengezogen, und die einst glatt eingehauenen Holznägel ragen heraus, als wollten sie um Anerkennung dafür heischen, dass sie das Schiff über so lange Zeit zusammengehalten haben.
Die Mary Rose gehörte zu den ersten expliziten Kriegsschiffen. Zweihundertzwanzig Jahre später lief am Royal Navy Dockyard in Chatham ein weiteres Kriegsschiff vom Stapel — die HMSVictory. Sie war das größte gezimmerte Schiff ihrer Zeit: Für ihren Bau wurden mindestens 2000 Eichenbäume verwendet, und es waren siebenunddreißig einzelne Segel nötig, um sie zu lenken. Die Schiffsbautechnik hatte sich bis dahin um einiges verbessert, und so setzte man zwar an einigen Stellen noch Holznägel ein, doch findet man an der Victory auch zahlreiche andere Verbindungen. Dazu gehören kurze, breite Zapfen aus dem sehr harten Pock- oder Guajakholz; lange Kupferstäbe zum Verbinden tragender Teile; dicke, gebogene Schmiedeeisenstangen, die wohl dazu dienten, Deck und Rumpf zu verbinden; schmiedeeiserne Nägel mit L-förmigem Kopf, an dem man Laternen aufhängen konnte; gelochte Splintbolzen, durch die ein Eisenkeil geführt wurde; sowie Dorne aus Muntzmetall, einer nach ihrem Erfinder George Muntz aus Birmingham benannten Messinglegierung.
Die Ingenieure achteten inzwischen mehr auf die verwendeten Materialien: Unter der Wasserlinie wurden gerne Kupferlegierungen verwendet, da Kupfer im Gegensatz zu Eisen nicht ungünstig mit Meerwasser reagiert und das Holz nicht beschädigt. Muntzmetall hatte den Vorteil, dass es billiger war als reines Kupfer und dennoch einen gewissen Rostschutz garantierte. Eisen wurde nur oberhalb der Wasserlinie und im Innern des Schiffes verwendet.
Bei ihrem Stapellauf im Jahre 1765 war die HMSVictory ein unübertroffenes Meisterwerk des Holzschiffsbaus. Im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775—1783) führte sie die britischen Flotten an; 1805, in der Schlacht von Trafalgar, erlangte sie Ruhm als das Flaggschiff von Vizeadmiral Nelson. Doch dann hub eine ungeheuer innovative Phase der Technik an, die industrielle Revolution nahm an Fahrt auf, und ältere Konstruktionsweisen wurden verworfen. Die Victory war eins der letzten großen Kriegsschiffe aus Holz, die im Vereinigten Königreich gebaut wurden. Spätere Schiffe wurden meist aus Stahl gefertigt und benötigten andere Verbindungsmittel. Heute ist die Victoryals Denkmal der Schiffsbaukunst auf einem Trockendeck des National Museum of the Royal Navy in Portsmouth zu bewundern. In einem Schaukasten ist eine Auswahl der an ihr zum Einsatz kommenden Befestigungselemente ausgestellt: Diese oftmals in der Konstruktion verborgenen Teile bezeugen auf beeindruckende Weise, auf welch geniale Lösungen Ingenieure gekommen sind, um Materialien zu komplexen mobilen Bauwerken zu verbinden.
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Die tapferen Holznägel im Wrack der Mary Rose deuten darauf hin, dass Metallnägel oft sehr nützlich, aber nicht immer die richtige Wahl sind. Manchmal ist dies einfach den Umständen geschuldet. In Japan etwa gibt es wenig Eisenerz, und so war das Metall — das man mühsam aus Eisensand gewinnen musste — vor allem für die Fertigung der berühmten japanischen Schwerter vorgesehen. Tempel und Pagoden baute man ab dem 5. Jahrhundert aus Holzteilen mit präzisen Kerbungen, die in festgelegter Reihenfolge zu komplexen, ineinandergreifenden Strukturen zusammengefügt wurden, ganz ohne Verbindungselemente aus Metall. Die Flexibilität dieser Holzverbindungen sorgte zudem dafür, dass sie den in Japan häufigen Erdbeben besser standhalten konnten, da sich die Stoßenergie des Bebens in ihnen verteilt.
Eine Ingenieurin kann auch auf Situationen treffen, in denen selbst der beste Nagel für eine bestimmte Aufgabe nicht geeignet ist. Ein wesentlicher Nachteil des Nagels ist seine Abhängigkeit von Reibung: Nur wenn er lang genug und von dem ihm aufnehmenden Material ganz umschlossen ist, entsteht ausreichend Reibung, um ihn festzuhalten. Vibrationen und wiederkehrende Bewegungen können diese Reibung jedoch überwinden, sodass der Nagel sich lockert. Für eine Konstruktion, die ständig erschüttert wird, sind Nägel daher keine gute Wahl.
Es gibt wenig, das stärker erschüttert wird als ein Flugzeug. Ich fliege ungern: Tausende Meter über dem Boden zu sein, mit nur einer dünnen Metallschicht, die mich vom Draußen trennt, macht mich nervös. Noch nervöser allerdings wäre ich, wenn ich nicht wüsste, dass Ingenieure Teileverbindungen ersonnen haben, die diese Vibrationen aushalten.
Angesichts meiner Flugangst und der Unzulänglichkeit von Nagelverbindungen im Flugzeugbau war ich doch einigermaßen erschrocken, als ich erfuhr, dass die ersten Maschinen tatsächlich von Nägeln zusammengehalten wurden. Daneben war ich voller Bewunderung für die Besatzungen, die in ihnen flogen, etwa das sowjetische 46. Garde-Nachtbombenfliegerregiment. Einer der Bomber wurde von Polina Wladimirowna Gelman navigiert. Schon als Teenagerin lernte sie in den 1930er-Jahren das Segelfliegen, aber ihre geringe Körpergröße (oder, andersherum gedacht, die nicht inklusive Bauweise der großen Maschinen) brachte es mit sich, dass sie, als sie bei einem Manöver die Ruderpedale erreichen wollte, so weit in ihrem Sitz nach unten rutschen musste, dass sie quasi nicht mehr zu sehen war. Polina musste ihren Traum vorerst begraben. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg hörte sie jedoch von der Fliegerin Marina Raskowa, die eine rein weibliche Fliegerstaffel aufstellen wollte. Die Bomber waren für Polinas Statur weiterhin nicht geeignet, und so ließ sie sich, obwohl sie eigentlich so gerne Pilotin geworden wäre, schließlich zur Navigatorin ausbilden.
Jeweils eine Pilotin und eine Navigatorin besetzten ein Jagdflugzeug, die sowjetische Polikarpow Po-2. Die Fliegerinnenstaffel nahm des Nachts deutsche Schützengräben, Versorgungslinien und Bahnstrecken ins Visier: Näherten sie sich ihren Zielen, drosselten sie die Motoren, um ihre Bomben im leisen Gleitflug abzuwerfen. In der Stille hörte man, wie der Wind durch die Doppeldeckerflügel pfiff, und die Menschen am Boden verglichen das Geräusch mit rauschenden Hexenbesen, wodurch der Spitzname »Nachthexen« für das Bomberregiment geprägt wurde.
Die von ihren männlichen Kollegen anfangs nicht für voll genommenen Frauen bewiesen Stärke und Durchhaltevermögen, sie erfüllten ihre Missionen oftmals unter Schlafentzug und auch bei übelsten Wetterbedingungen. Wenn man bedenkt, dass die meisten Piloten der Alliierten nach dreißig bis fünfzig Einsätzen nach Hause zurückkehrten, kann man nur staunen, dass Gelman als Oberleutnant ihres Regiments unglaubliche 860 Einsätze absolvierte. Sie ist die einzige jüdische Frau, die man zum »Held der Sowjetunion« ernannte — die mit der Verleihung des »Goldenen Sterns« verbundene Auszeichnung war der höchste Ehrentitel, der an Sowjetbürger oder Ausländer vergeben wurde. (Da Polina Gelman Jüdin war, galt sie nicht als Russin.)
In der Shuttleworth Collection, einem Flugzeugmuseum im englischen Biggleswade, habe ich mir eine Po-2 angesehen. Es ist eine billige, grobe Konstruktion, die doch robust und verlässlich wirkt. (Das in Biggleswade ausgestellte Modell ist sogar noch flugfähig.) Die Doppeldecker-Maschine ist nur acht Meter lang. Doch ihr markantestes Merkmal ist, dass sie aus Holz gefertigt wurde — mit Nägeln als Verbindungselementen. Ihr Rumpf besteht aus vier langen, starren Holzplanken oben und unten und auf jeder Seite, die von vertikalen Holzleisten zusammengehalten werden, sodass ein lang gestreckter, rechteckiger Rahmen entsteht. Zwischen den Leisten verstärkt diese quadratische Röhre jeweils eine Querstrebe. Das Grundgerüst wurde mit Stahlplatten und Bolzen verbunden oder aber verklebt und zur Verstärkung vernagelt. Die äußerste lackierte Rumpfoberfläche der Po-2 besteht aus Leinen, das man auf Gitter aus dünnen, gebogenen Holzrippen klebte. Zur Befestigung des Leinens am Holz wurden zunächst Nägel verwendet, die man nach dem Verleimen entfernte, um das Gewicht der Maschine zu reduzieren.
Schon für die Flugzeuge des Ersten Weltkriegs hatte man Holz verwendet, doch hatte sich die Luftfahrttechnik seitdem weiterentwickelt. Während der Rumpf der frühen Flugzeuge des Zweiten Weltkriegs, wie z.B. des berühmten Jagdflugzeugs Hawker Hurricane, noch immer etwa dieselbe Form wie im vorherigen Krieg aufwies, hatten die Maschinen meist nur einen Satz Flügel und waren aus Stahl statt aus Holz gefertigt. Es handelte sich um eine Übergangszeit, in der die Flugzeuge oft ein Grundgerüst aus Stahl besaßen, ihre Außenhülle aber aus Holz und Stoff bestand. Zur Befestigung des Stoffs kamen zwar immer noch Nägel zum Einsatz, aber die Stahlplatten und -träger waren aus dünnen Blechen gefertigt, die zu wenig Untergrund zum Einschlagen eines Nagels boten. Niemals hätte ein Nagel so dünne Teile zusammenhalten können. Man benötigte also ein anderes Befestigungsmittel. Und glücklicherweise war die passende Verbindung bereits seit der Antike bekannt: der Niet.
Wie Drahtnägel haben auch Niete einen zylindrischen Schaft, der jedoch dicker ist als der eines Nagels. Anders als Drahtnägel haben Niete keine Spitze, sondern zwei gewölbte Köpfe, wodurch sie wie winzige Hanteln aussehen. An vielen Eisenbahnbrücken und Gebäuden aus der Zeit der industriellen Revolution sieht man noch heute diese Halbrundniete, die Balken und Stützen miteinander verbinden. Heute sind sie aus der Mode gekommen, und man verwendet für derartige Bauwerke lieber Schraubverbindungen (denen wir uns später widmen werden). Der Flugzeugbau jedoch setzt weiterhin reichlich Niete ein, die sich in diesem Bereich mühelos gegen die raumfordernden und schweren Bolzen durchsetzten. Auch im Schiffsbau, wo inzwischen mehr mit Metall als mit Holz gearbeitet wird, stehen Nietverbindungen ganz vorn. Doch diese Branchen sind nur Profiteure des Niets, sie waren nicht der Anlass für seine Erfindung. Hierzu müssen wir viel weiter zurückgehen.
In der römischen Armee gab es zwei Brustpanzer — die lorica hamata aus Ketten und lorica segmentata aus Eisenspangen. Rich, der Schmied in Much Hadham, hat mir erklärt, wie es dazu kam. Inspiriert vom Holzbau versuchten Schmiede, große Eisenteile durch Zapfenverbindungen miteinander zu verbinden. Diese Verbindungen, bei denen der Zapfen in einem Stück in die Nut im Gegenstück greift, funktionieren besonders gut mit Holz, da es genau passend in Form gebracht werden kann. Die Beschaffenheit und Form von Eisen aber lassen keine glatten Oberflächen wie bei Holz zu, wodurch man nicht genügend Kontakt zwischen Nut und Zapfen herstellen kann, um die erforderliche Reibung zu erzeugen. Zudem würde Reibung allein auch gar nicht ausreichen, um große, schwere Eisenteile zusammenzuhalten. Man kam dann darauf, längere Zapfen zu schmieden, die aus dem Zapfenloch ragten und deren Ende erhitzt und zurückgehämmert wurde, um einen Schließkopf zu formen. Damit war das Prinzip der Nietverbindung geschaffen.
Doch Niete gab es sogar schon früher. Man nimmt an, dass die Ägypter bereits 3000 v. Chr. Niete verwendeten, also schon bald nachdem sie Nägel erfunden hatten. Das Bostoner Museum of Fine Arts belegt diese Annahme in Gestalt eines Bronzekrugs, der aus der Zeit zwischen 1479 bis 1352 v. Chr. stammt und in einer antiken Begräbnisstätte in Abydos in Ägypten gefunden wurde. Es handelt sich um ein wunderschön gearbeitetes Stück mit einem gedrungenen runden Hals über einem großen Bauch, dessen Oberfläche tiefrote bis braune Sprenkel trägt. An kleinen Vertiefungen sieht man, wie die Bronze in Form gehämmert wurde. An einer Seite befindet sich ein Griff in Form einer Lotusblume, der mit drei Nieten am Hauptkörper befestigt ist.
Für antike wie moderne Ingenieure besteht der Vorteil des Niets darin, dass er im Gegensatz zum Nagel nicht durch Reibung