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»In den letzten zwei, drei Jahren haben wir Bahnbrechendes in der Ernährungswissenschaft entdeckt!« PROF. DR. TIM SPECTOR In diesem Standardwerk erklärt der international führende Ernährungswissenschaftler Tim Spector die neuesten Forschungsergebnisse zur gesunden Ernährung. Er beantwortet Fragen wie: Auf welche Weise beeinflusst die Darmflora unsere Gesundheit und unser Wohlergehen, und was können wir tun, um sie vor Schädigungen zu schützen? Welche Nahrungsmittel sind gesund, welche wirklich ungesund? Was hilft bei Allergien, Autoimmunerkrankungen und Übergewicht? Warum ist es ebenso falsch, unseren Lebensmitteln Kalorien zuzuordnen wie Nährstoffe in Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette aufzuschlüsseln? Ist dunkles Brot immer besser? Ist Naturreis wirklich gesünder als weißer Reis? Darf man vollfetten Joghurt oder Käse essen? Tim Spector betrachtet die einzelnen Lebensmittelgruppen genauer und gibt auch ganz praktische Hilfen, etwa in Form von Lebensmitteltabellen und Anleitungen für Selbsttests, mit denen man bestimmen kann, ob der eigene Darm träge oder fit ist. So finden Sie in diesem Buch die perfekte An-leitung für Ihre individuell richtige Ernährung und alles Grundlegende über Nahrungsmittel – auf der Höhe der aktuellen Forschung.
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Seitenzahl: 965
»In den letzten zwei, drei Jahren haben wir Bahnbrechendes in der Ernährungswissenschaft entdeckt!« Prof. Dr. Tim Spector
In diesem Standardwerk erklärt der international führende Ernährungswissenschaftler Tim Spector die neuesten Forschungsergebnisse zur gesunden Ernährung. Er beantwortet Fragen wie: Auf welche Weise beeinflusst die Darmflora unsere Gesundheit und unser Wohlergehen, und was können wir tun, um sie vor Schädigungen zu schützen? Welche Nahrungsmittel sind gesund, welche wirklich ungesund? Was hilft bei Allergien, Autoimmunerkrankungen und Übergewicht? Warum ist es ebenso falsch, unseren Lebensmitteln Kalorien zuzuordnen wie Nährstoffe in Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette aufzuschlüsseln? Ist dunkles Brot immer besser? Ist Naturreis wirklich gesünder als weißer Reis? Darf man vollfetten Joghurt oder Käse essen?
Tim Spector betrachtet die einzelnen Lebensmittelgruppen genauer und gibt auch ganz praktische Hilfen, etwa in Form von Lebensmitteltabellen und Anleitungen für Selbsttests, mit denen man bestimmen kann, ob der eigene Darm träge oder fit ist.
So finden Sie in diesem Buch die perfekte Anleitung für Ihre individuell richtige Ernährung und alles Grundlegende über Nahrungsmittel – auf der Höhe der aktuellen Forschung.
© Peter Schiazza
Prof. Dr. Tim Spector ist Professor für genetische Epidemiologie am King’s College London, ärztlicher Berater am Guy’s und St Thomas’ Hospital und mehrfach preisgekrönter Experte für personalisierte Medizin und das Darmmikrobiom. Er tritt regelmäßig im Fernsehen und Radio auf und schreibt u. a. für den Guardian. 2022 erschien sein SPIEGEL-Bestseller ›Die Wahrheit über unser Essen‹ bei DuMont.
Petra Huber studierte Anglistik, Amerikanistik und Slawistik und arbeitet freiberuflich als Übersetzerin aus dem Englischen und Russischen sowie als Lektorin.
Sara Riffel studierte Anglistik, Amerikanistik und Kulturwissenschaften und arbeitet als freie Übersetzerin und Lektorin. 2009 erhielt sie den Kurd-Laßwitz-Preis.
TIM SPECTOR
NahrungfürsLeben
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Alle neuen Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft – wie Sie Ihre individuell richtige Ernährung finden, sich vor chronischen Krankheiten schützen und bis ins hohe Alter gesund bleiben
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Aus dem Englischen von Petra Huber und Sara Riffel
Von Tim Spector ist bei DuMont außerdem erschienen:
Die Wahrheit über unser Essen.
Warum fast alles, was man uns über Ernährung erzählt, falsch ist.
Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel ›Food for Life.
The New Science of Eating Well‹ bei Jonathan Cape, London, einem Imprint von Vintage.
Vintage gehört zur Unternehmensgruppe Penguin Random House.
© Tim Spector, 2022
E-Book 2023
© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Petra Huber und Sara Riffel
Lektorat: Kerstin Thorwarth
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © Elena Fetisova/depositphotos
Satz: Fagott, Ffm
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-8321-6086-9
www.dumont-buchverlag.de
Für meine Kinder Sophie und Tom und den Planeten Erde
EinleitungWarum sollte man sich überhaupt mit Ernährung beschäftigen?
Teil EinsNahrung fürs Leben
1 Was ist die Darmflora?
2 Warum essen wir gern?
3 Welche Nahrungsmittel sind wirklich gesund?
4 Welche Nahrungsmittel sind ungesund?
5 Können Nahrungsmittel unser Immunsystem stärken?
6 Wie können wir uns besser ernähren?
7 Wie verändern sich Nahrungsmittel durch Lagerung, Verarbeitung und Zubereitung?
8 Welche Art der Ernährung kann die Erde retten?
9 Warum sind wir alle einzigartig?
10 Wie sieht die Ernährung der Zukunft aus?
11 Was gibt es also heute zum Abendessen?
Teil ZweiLebensmittel
12 Obst
13 Gemüse
14 Hülsenfrüchte
15 Getreide und Saaten
16 Reis
17 Nudeln
18 Brot und Gebäck
19 Pilze
20 Fleisch
21 Verarbeitetes Fleisch
22 Fisch
23 Krebstiere und andere Meeresnahrung
24 Milch und Sahne
25 Fermentierte Milch (Joghurt und Kefir)
26 Käse
27 Milch-Alternativen
28 Eier
29 Süßigkeiten
30 Nüsse und Samen
31 Kräuter und Gewürze
32 Getränke, Öle und Würzsoßen
33 Schlusswort
Teil DreiTabellen und Hinweise
34 Lebensmitteltabellen
Glossar
Danksagung
Anmerkungen
Register
Als ich mich daranmachte, dieses Buch zu schreiben, fühlte ich mich fast wie der Abenteurer Phileas Fogg, der aufbrach, um in achtzig Tagen die Welt zu umrunden. Bewaffnet mit einer »Weltkarte der Ernährungswissenschaften«, hatte auch ich einen genauen Zeitrahmen für die Durchführung meiner Reise festgelegt, ohne zu ahnen, wie viele unerwartete Wendungen sich dabei ergeben würden. Geweckt wurde mein Interesse an Essen und Ernährung im Jahr 2011 durch einen Schreckmoment auf dem Gipfel eines italienischen Berges: Mein Blutdruck, der zwei Wochen zuvor noch völlig normal gewesen war, schoss unerwartet in die Höhe, und ich sah plötzlich doppelt. Es folgten unruhige Wochen, in denen ich fürchtete, unter einem Hirntumor, Multipler Sklerose oder einem Schlaganfall zu leiden – alles sehr unschöne Diagnosen. Zum Glück hatte ich mich nach ein paar Monaten wieder vollständig erholt, aber wie viele Menschen, deren Leben durch eine solche Erfahrung auf den Kopf gestellt wird, machte auch ich mir danach verstärkt Gedanken über meine Gesundheit und Ernährung. In meinem Beruf als Epidemiologe hatte ich mich bis dahin mit der Gesundheit größerer Bevölkerungsgruppen befasst; der durchlebte Schreck zwang mich nun zum ersten Mal, von meiner persönlichen Warte aus an die Sache heranzugehen.
Meine Reise führte mich zunächst zum neuartigen Konzept der Darmflora. In meinem Buch Wenn Diäten dick machen habe ich die zentrale Rolle unserer Darmmikroben beschrieben und in Die Wahrheit über unser Essen einen individuellen Umgang mit Ernährung vorgestellt. Beide Bücher zeigen, warum wir uns von falschen Ratschlägen in Bezug auf Essen und allgemeinen Richtlinien, an die sich ohnehin kaum jemand hält, so in die Irre führen lassen. Die Fragen, die ich von Lesern und Leserinnen am häufigsten gestellt bekomme, drehen sich jedoch um einzelne Nahrungsmittel. Ist dunkles Brot immer besser? Ist Naturreis gesund? Darf man vollfetten Joghurt oder Käse essen, oder sollte man Sojamilch trinken? Diese Fragen legten den Grundstein für das, was aus meiner Sicht noch fehlte: ein praktischer und positiver Ratgeber zum Thema »Ernährung«, der sich weniger mit Falschinformationen befasst, sondern vielmehr auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse verschiedene Lebensmittelgruppen und ihre erstaunliche Wirkung auf den menschlichen Körper genauer unter die Lupe nimmt.
Dieses Buch ist eine Anleitung zum Thema »Essen und Ernährung«. Hier erfahren Sie alles Grundlegende, was Sie über Nahrungsmittel wissen sollten, damit Sie sich in der Fülle von Informationen zurechtfinden und gute, sachkundige und praktische Entscheidungen für Ihre Ernährung treffen können – zugunsten Ihrer Gesundheit und der unseres Planeten. Ich werde Ihnen die Komplexität der neuen Ernährungswissenschaften nahebringen, aber um das Ganze zu verstehen, brauchen Sie kein Chemie-Diplom. Wir werden einzelne Lebensmittel genauer betrachten und uns dabei mit dem aktuellen Wissensstand in Bezug auf wichtige chemische Verbindungen, Gene und die Rolle der Billionen Bakterien, die in unserem Darm leben – auch »Darmflora« genannt –, befassen. Dabei wird sich zeigen, wie all das auf einzigartige und höchst individuelle Weise zusammenwirkt. Auch um die neuesten Technologien soll es gehen, mit denen jeder und jede – zumindest theoretisch – zu Hause selbst die eigenen Gene, Darmmikroben, Blutzuckerwerte und Fettstoffwechselreaktionen testen kann.
Bei der Recherche für dieses Buch lernte ich die unglaubliche Vielfalt an Nahrungsmitteln und Getränken, die uns zur Verfügung stehen, erst richtig zu schätzen. Gesteigert wurde insbesondere meine Hochachtung vor traditionell und handwerklich hergestellten, naturbelassenen Lebensmitteln, die nicht in riesigen Fabriken aufwendig produziert werden. Den meisten von uns bietet sich hinsichtlich der täglichen Ernährung eine nie da gewesene Fülle an Wahlmöglichkeiten: Große Supermärkte haben Zehntausende von Produkten im Angebot. Allerdings sind wir von der Auswahl teils auch überfordert und greifen deshalb beim wöchentlichen Einkauf oder in der Mittagspause gerne stets zu denselben Esswaren.
Unser ursprüngliches Verhältnis zur Nahrungssuche, zum Anbau und zur Herstellung gesunder Lebensmittel ist uns verloren gegangen. Und wir müssen auch die gegen Krankheiten vorbeugende Wirkung von Nahrung wieder neu entdecken. Schon seit Jahrhunderten weiß man, dass Essen und Gesundheit eng miteinander verknüpft sind. Hippokrates kam zu der Erkenntnis, dass Nahrung eine respektvolle Behandlung verlangt und sowohl schädlich als auch nützlich sein kann. Während der Coronapandemie konnten mein Forschungsteam am King’s College London (KCL) und die Firma ZOE, die sich auf personalisierte Ernährung spezialisiert hat, in Zusammenarbeit mit unseren Kolleginnen und Kollegen in den USA nachweisen, dass die schlichte Wahl unserer Lebensmittel einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines schweren oder gar tödlichen COVID-19-Krankheitsverlaufs hat.1 Eine schlechte Ernährung wird für schätzungsweise 50 Prozent der verbreitetsten Krankheiten verantwortlich gemacht; würden sich alle Menschen optimal ernähren, könnten wir etwa die Hälfte aller Fälle von Herzerkrankungen, Arthritis, Demenz, Krebs, Typ-2-Diabetes, Autoimmunerkrankungen und Unfruchtbarkeit verhindern oder hinauszögern. Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es heute weltweit 200 Millionen mehr übergewichtige und fettleibige Menschen als hungernde und unterernährte; Überernährung ist inzwischen ein echtes Problem. Nahezu jede Volkskrankheit hängt in irgendeiner Weise mit unserer Ernährung zusammen, entweder direkt oder indirekt als Auswirkung von Übergewicht.2 Die Wahl unserer Nahrungsmittel ist der wichtigste veränderbare Faktor für die Vorbeugung und die Verhütung von Krankheiten. Neben der modernen Medizin bietet uns eine kluge Ernährung enormes Potenzial für unsere Gesundheit. Um es freizusetzen, müssen wir nur die Kraft unserer Darmflora nutzen und auf evidenzbasierte Informationen vertrauen statt auf Mythen, Marketing oder Quacksalberei.
Über die kulinarischen Eigenschaften von Lebensmitteln und die wissenschaftlichen Prozesse, die bei der Zubereitung ablaufen, sind bereits unzählige Bücher geschrieben worden. Viele Ratgeber propagieren die unterschiedlichsten Diätpläne mit dem Versprechen, beim Abnehmen zu helfen, das Leben zu verlängern oder sogar unsere Hirnleistung zu steigern. Inzwischen ist jedoch bekannt, dass es keine Diät gibt, die für alle Menschen gleichermaßen funktioniert; ebenso wenig existiert ein einzelnes Superfood oder ein Lebensmittel, das uns definitiv vergiftet. Wie sich zeigen wird, gibt es – bis auf wenige Ausnahmen – kein Essen, das nur gut oder nur schlecht wäre. Solange es sich um echte Nahrungsmittel handelt, ist keine Zutat als falsch oder richtig zu bewerten. Wunderkuren zur »Entgiftung« des Körpers gehören dem Reich der Märchen an. Im Bereich Gesundheit und Ernährung einen einzelnen Übeltäter oder eine Zaubermedizin ausmachen zu wollen, ist grundsätzlich ein Irrweg. Dieses Buch verfolgt einen ganz anderen Ansatz. Mir geht es nicht darum, Ihnen vorzuschreiben, was Sie essen sollen, obwohl ich Ihnen ein paar Tipps und Hinweise geben werde, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin. Stattdessen werde ich sehr detailliert auf die Fülle der uns zur Verfügung stehenden Lebensmittel eingehen und die neuesten Forschungsergebnisse dazu darlegen. Damit will ich Sie in die Lage versetzen, eigene informierte Entscheidungen zu treffen.
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Viele Menschen interessieren sich vor allem deshalb für Ernährung, weil sie glauben, so ihr Gewicht unter Kontrolle halten zu können. Dabei erliegen sie aber dem weitverbreiteten Irrtum, dass Kalorienzählen die beste Methode dafür sei. Selbst wenn die Kalorienangaben stimmen würden (was nur selten der Fall ist), müsste dies heißen, dass der Konsum einer bestimmten Menge an Kalorien immer exakt dieselben Auswirkungen auf unseren Stoffwechsel und Appetit hätte – egal, ob wir nun Brot oder Joghurt, stark verarbeitete oder naturbelassene Lebensmittel zu uns nehmen. Und es würde auch keinen Unterschied machen, ob man eine Mahlzeit zum Frühstück oder mittags verzehrt. Sehr zum Pech der Lebensmittelindustrie und der Firmen, die sich auf kalorienkontrollierte Diäten spezialisiert haben, sowie der Hunderte Millionen Anhänger traditioneller Diätpläne entsprechen diese Ansichten jedoch nicht der Wahrheit. Seit Jahrzehnten ist man in der Ernährungslehre vom Kalorienzählen geradezu besessen. Das genaue Bestimmen der Quantität – auch in Bezug auf die Makronährstoffe Fett, Eiweiß und Kohlenhydrate – lässt allerdings die Komplexität unseres Stoffwechsels und die individuell unterschiedlichen Reaktionen auf die einzelnen Mahlzeiten völlig außer Acht.
Dennoch beruhen die Nährwertangaben auf Lebensmittelverpackungen nach wie vor auf veralteten Vorstellungen von der Bedeutung der Kalorienzahl und werden zudem unnötig verkompliziert. Hier ein Beispiel:
Wasser, Pflanzenöl, Fruktose, Saccharose, Dextrose, Stärke, Karotin, E306, E101, Nikotinamid, Pantothensäure, Biotin, Ascorbinsäure (E300), Palmitinsäure, Stearinsäure (E570), Oleinsäure, Linolsäure, Apfelsäure (E296), Oxalsäure, Salizylsäure, lösliche Ballaststoffe, Purine, Natrium, Kalium, Mangan, Eisen, Kupfer, Zink, Phosphor, Chlorid, Farbstoffe, Chlorogensäure, Procyanidine, Flavanone, Dihydrochalkone, Blausäure, 50 Kalorien pro 100 Gramm.
Sie denken jetzt vielleicht an Margarine, Instantnudeln, Ketchup oder Salatmayonnaise. Kaum jemand käme wohl auf den Gedanken, dass es sich um die Beschreibung eines ganz normalen Apfels handelt.
Ein Apfel mag wie ein schlichtes Lebensmittel erscheinen – vor allem dafür bekannt, dass er viele Vitamine und Ballaststoffe enthält, sich gut im Kuchen macht und den Arzt fernhält. Eine Nährwertangabe hat jedoch nur begrenzte Aussagekraft, und in der Praxis teilt sie uns sehr wenig Nützliches mit. Keine zwei Äpfel sind von ihrem Nährwert her völlig identisch; ebenso werden keine zwei Menschen auf den Verzehr eines Apfels in genau derselben Weise reagieren. Und was geschieht, wenn man den Apfel im Ofen bäckt oder mit Fett kombiniert oder in einem Kühlcontainer um die ganze Welt transportiert? Wie wir sehen werden, sollten wir viele verschiedene Fragen hinsichtlich unserer Nahrung stellen, anstatt uns allein aufs Kalorienzählen zu verlegen.
Die oben angeführte Nährwertangabe eines Apfels, die Sie im Supermarkt so nicht finden werden, führt uns auch vor Augen, wie erstaunlich komplex selbst die vertrautesten Nahrungsmittel sein können – dabei handelt es sich lediglich um eine Auflistung derjenigen chemischen Verbindungen, die uns heute bekannt sind. Während wir unser Essen in Farbe wahrnehmen, mit den dazugehörigen Erinnerungen, Emotionen und Aromen, betrachten wir in der Ernährungslehre tendenziell alles in Schwarz-Weiß. Nahrungsmittel werden häufig nur mit einer einzigen chemischen Verbindung assoziiert, beispielsweise Orangen mit Vitamin C, Bananen mit Kalium, Kaffee mit Koffein und Sardinen mit Omega-3-Fettsäuren. Tatsächlich enthalten die meisten Lebensmittel Hunderte solcher Verbindungen, über die noch immer sehr wenig bekannt ist. Die wahre Komplexität unserer Nahrung kam erst in jüngster Zeit ans Tageslicht, und zwar dank einer Technologie namens »hochauflösende Massenspektrometrie« (HRMS), mit deren Hilfe mindestens 26 000 chemische Verbindungen identifiziert werden konnten, die in Lebensmitteln enthalten sind. Dennoch konzentrieren sich moderne Nährwert-Datenbanken auf gerade einmal 150 Nährstoffe – in Nahrungsmitteln festgestellte chemische Verbindungen mit klinisch nachweisbaren Funktionen im menschlichen Körper –, die überhaupt näher erforscht sind.3 War in der Vergangenheit von Knoblauch die Rede, so fokussierte man sich auf das Allicin, die chemische Verbindung, die ihm sein beißendes Aroma verleiht, ließ dabei aber die 4249 anderen Verbindungen, die man heute identifizieren kann, außer Acht. Wie sich zeigen wird, steckt diese neue ganzheitliche, auf einer Fülle von Daten basierende Herangehensweise an unsere Ernährung noch in den Kinderschuhen. Bald wird sie die Komplexität unserer Nahrungsmittel noch weitaus präziser abbilden können.
Die Konzentration auf einzelne Nährstoffe, chemische Verbindungen und Mineralien hat ihren Ursprung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Hungersnöte, Mangelernährung und Lebensmittelrationierung an der Tagesordnung waren. In den meisten Ländern sind Skorbut, ernährungsbedingte Blindheit und Eiweißmangel heute kein Thema mehr, dennoch existiert weiterhin die entsprechende Geisteshaltung. Unzählige Zeitungsartikel, Interviews, Bücher und Produkte sollen uns dabei helfen, den perfekten Vitamin-D- oder Magnesium-Spiegel zu erreichen, dabei herrscht bei den meisten von uns gar kein Mangel an diesen Verbindungen. Die Nährstoff- und Vitamin-Besessenheit hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine 30 Milliarden US-Dollar schwere Industrie hervorgebracht. Ironischerweise brauchen gesunde Menschen, die sich mit Ernährung auskennen, keine Zusatzpräparate, selbst wenn es Beweise für deren Wirkung gäbe.
Viele Probleme der Ernährungslehre rühren daher, dass die Eigenschaften von Lebensmitteln und unsere Reaktionen darauf zu stark vereinfacht wurden. Mir geht es darum, die Komplexität und Großartigkeit unserer Nahrung wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Ich möchte aufzeigen, was wir heutzutage über unsere Nahrung wissen, aber auch, was noch unbekannt ist.
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Im Vergleich zu traditionellen Naturwissenschaften wie Physik oder Chemie ist die Ernährungslehre noch eine sehr junge Disziplin, die erst in den 1950er-Jahren als Studienfach etabliert wurde. Aufgrund eines Mangels an Finanzierung, Unterstützung und Renommee im Zusammenhang mit der relativen Neuheit des Fachgebiets gibt es in diesem Bereich immer noch vieles zu entdecken. Heute ist es wahrscheinlich die aufregendste und sich am schnellsten verändernde Wissenschaft überhaupt.
In den letzten Jahrzehnten wurde die Lücke in der unabhängigen Finanzierung der Forschung hauptsächlich von der Lebensmittelindustrie gefüllt. Mittlerweile können wir mit vielen veralteten Mythen aufräumen, von denen die Industrie lange Zeit profitiert hat: dass alle Kalorien gleich seien, dass Nahrungsmittel mit wenig Kalorien gut seien und solche mit hohem Fettgehalt schlecht, dass künstliche Süßstoffe gesund seien, ein hoher Verarbeitungsgrad harmlos sei und Vitaminpräparate sowie Nahrungsmittelzusätze echte Lebensmittel ersetzen könnten. Pauschale Leitsätze, die etwa besagen, dass Fisch weitaus gesünder sei als Fleisch, konnten von der Wissenschaft nicht bestätigt werden. Salz und Kaffee, einst verteufelt, gelten heute in normalen Mengen als unbedenklich; neuere Studien schreiben die günstige Wirkung von Kaffee chemischen Pflanzenstoffen zu, die zuvor unbekannt waren.4
Früher war man der Ansicht, der einzige Nachteil hochverarbeiteter Lebensmittel (ultra-processed foods / UPFs) sei ihr zu hoher Fett-, Zucker- und Salzgehalt. Die Lösung schien darin zu bestehen, ihre Zusammensetzung zu verändern und die Menge dieser Inhaltsstoffe sowie den Kaloriengehalt zu verringern. Dabei wurde jedoch zu lange die Tatsache missachtet, dass hochverarbeitete Lebensmittel, die aus vielen chemischen Verbindungen bestehen, unser Hungergefühl und damit die Neigung zur Überernährung verstärken sowie das Risiko erhöhen, zu erkranken und vorzeitig zu sterben. Inzwischen zeichnet sich in der Forschung und in Medienberichten immer deutlicher ab, welche katastrophalen Auswirkungen UPFs insbesondere auf Kinder haben.5 Der britische »National Food Strategy«-Bericht (Dimbleby) von 2021, an dem ich als Berater mitgewirkt habe, schloss mit der Empfehlung, hochverarbeitete, nährstoffarme Snacks unserer Gesundheit und der Umwelt zuliebe stärker zu besteuern, was jedoch von der Regierung im Folgejahr abgelehnt wurde. Wir befinden uns mitten in einer Gesundheits- und Ernährungskrise, und es ist höchste Zeit, dass wir selbst etwas dagegen unternehmen.
Zunächst einmal gilt es, die Komplexität der Nahrung und unserer individuellen Reaktionen darauf anzuerkennen. Von den unbeholfenen Versuchen, uns mit massentauglichen Ratschlägen über angeblich gesunde Ernährung abzuspeisen, sollten wir uns lösen und uns keinesfalls von der Lebensmittelindustrie vorschreiben lassen, was wir zu essen haben – denn das lässt nur deren Profite und unseren Taillenumfang anwachsen. Die bahnbrechende Arbeit, die mein Team am KCL und ZOE im Rahmen groß angelegter Studien zur Ernährungsintervention leisten, zeigt das überaus deutlich. Schwerpunkt dieser ZOE-PREDICT-Studien, des derzeit größten Ernährungsforschungsprogramms weltweit, ist die genaue Aufzeichnung aller individuellen Reaktionen der teilnehmenden Personen auf einzelne Lebensmittel. Die Studien werden von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an einigen der renommiertesten Universitäten der Welt durchgeführt und von ZOE finanziert, einem Unternehmen, das ich mitbegründet habe, um dazu beizutragen, die Komplexität der Ernährung besser zu verstehen.6 Die Individualität wird auch ersichtlich, wenn man sich vor Augen hält, wie unterschiedlich sich die langlebigsten Menschen in den sogenannten Blauen Zonen rund um den Globus ernähren. Die Ernährungsweisen, die Langlebigkeit begünstigen, unterscheiden sich stark, was den Verzehr von Kohlenhydraten, Fisch, Milchprodukten und Fleisch betrifft. Allen gemeinsam ist jedoch die Tatsache, dass die Menschen in diesen Regionen so gut wie keine hochverarbeiteten Lebensmittel zu sich nehmen.7 Einer der Hauptgründe für die vielen Irrtümer in der Ernährungslehre der Vergangenheit ist, dass früher ein Puzzleteil fehlte: das Mikrobiom des Darms – eines wichtigen Organs, das, wie wir heute wissen, den Schlüssel zu unserem Verständnis dafür liefert, wie individuell unsere Reaktionen auf einzelne Lebensmittel sein können.
Die traditionelle mechanistische Sicht auf Ernährung und Verdauung, die mir noch im Medizinstudium beigebracht wurde und die bis heute vorherrscht, muss dringend ad acta gelegt werden. Das Dogma, man könne Nahrungsmittel anhand ihres Gehalts an Kalorien, Fetten, Kohlenhydraten und Eiweiß oder einigen wenigen Vitaminen kategorisieren und daraus die besten Gesundheitsempfehlungen ableiten, ist längst überholt.
Womöglich hat das große Umdenken bereits eingesetzt. 2020 führte das Team von ZOE unter 13 Professorinnen und Professoren für Ernährungswissenschaften an renommierten Instituten in den USA und Großbritannien eine Umfrage durch und bat sie, 105 gängige Nahrungsmittel hinsichtlich ihres gesundheitlichen Wertes einzustufen. Bei der Hälfte davon herrschte große Einigkeit: Die meisten Obst- und Gemüsesorten wurden durchweg als gesund eingeschätzt, hochverarbeitete Snacks, billige frittierte Lebensmittel, verarbeitetes Fleisch, stark gesüßte Esswaren und Getränke hingegen übereinstimmend als ungesund. In Bezug auf andere weitverbreitete Lebensmittel wie Milch, Joghurt, fettreduzierte Milchprodukte, mageres Fleisch, Eier, Trockenobst und Getränke mit künstlichen Süßstoffen waren die Meinungen und Bewertungen allerdings sehr unterschiedlich. Zehn Jahre früher hätte wahrscheinlich viel größere Einigkeit geherrscht. Daraus kann man ablesen, dass inzwischen viele Experten und Expertinnen ihre Meinung geändert haben und Lebensmittel anders bewerten, als es die veralteten Leitlinien vorgeben.
In einem Punkt waren sich alle einig: Der Verzehr von pflanzlicher Nahrung ist gesund. Warum aber kommen sie dann nicht gleichzeitig zu dem Schluss, dass Kohlenhydrate generell gesund sind, da Pflanzen nun mal hauptsächlich daraus bestehen? Wieder liegt das Problem in unserem Bestreben, Dinge zu vereinfachen. »Kohlenhydrate« ist ein überstrapazierter Sammelbegriff, der in wissenschaftlicher Hinsicht sämtliche Untergruppen von Zucker, Stärke und Ballaststoffen umfasst, die in Pflanzen vorkommen. Jede dieser drei Gruppen von Kohlenhydraten hat ganz unterschiedliche Auswirkungen auf den Körper. Dennoch werden sie fälschlicherweise alle in einen Topf geworfen. Ob eine kohlenhydratreiche (und zugleich fettarme) Ernährung gesund oder ungesund ist, darüber gehen Studienergebnisse und Expertenmeinungen weit auseinander. Die meisten Leitlinien in den USA und Großbritannien empfehlen eine hohe Kohlenhydrataufnahme. Die groß angelegte PURE-Studie, die 18 verschiedene Bevölkerungsgruppen auf fünf Kontinenten (vorwiegend in China und einigen Entwicklungsländern) in den Blick nahm, zeigte jedoch einen gegenteiligen Effekt auf die Sterblichkeit.8 Aus grob vereinfachenden Kohortenstudien lässt sich ablesen, dass sich beim Kohlenhydratverzehr beide Extreme (sehr niedrig oder sehr hoch) auf die Sterblichkeit auswirken, während ein mittlerer Wert von 50 bis 55 Prozent allgemein schützend wirkt.9 Dennoch hat sich bei vielen indigenen Völkern – etwa den Inuit, den Samen oder den Tsimane in Bolivien – eine Ernährungsweise herausgebildet, die so gut wie keine Pflanzen oder Kohlenhydrate enthält, ohne dass es für sie negative Auswirkungen hätte. In manchen Gegenden scheinen Kohlenhydrate im Gegensatz zu Fetten oder Eiweiß demnach nicht überlebenswichtig zu sein. Allerdings können wir nicht wissen, ob sich die Gesundheit beispielsweise der Inuit verbessern ließe, wenn ihre traditionelle Ernährung mit pflanzlicher Kost ergänzt würde (diejenigen jedenfalls, die in städtische Gegenden umziehen, werden schneller krank und sterben früher aufgrund von verarbeiteten Lebensmitteln und schlechter Gesundheitsversorgung).10 Anstatt darüber zu debattieren, zu wie viel Prozent unsere Ernährung aus Kohlenhydraten bestehen sollte, wäre es sinnvoller, deren Art und Qualität in den Blick zu nehmen. Dazu muss man sich nur die günstigen Auswirkungen einer mediterranen oder einer langfristigen veganen Ernährungsweise vor Augen führen. Hier geht ein hoher Kohlenhydratverzehr in Form von qualitativ hochwertigen, naturbelassenen Lebensmitteln mit einer höheren Lebenserwartung einher.
Auch die Empfehlungen zur Fettaufnahme wurden übermäßig vereinfacht. In den meisten offiziellen Richtlinien heißt es immer noch, dass gesättigte Fette nicht mehr als 10 Prozent des Gesamtverzehrs ausmachen sollten. Diese Angabe beruht auf epidemiologischen Studien, die schon fünfzig Jahre alt und damit längst überholt sind. Neuere Daten zeigen im Allgemeinen keinen einheitlichen Effekt von gesättigten Fetten auf Herzerkrankungen. Einige jüngere Studien konnten sogar eine günstige Wirkung nachweisen.11 Gesättigte Fette bestehen aus vielerlei Arten von Fettsäuren unterschiedlichster Länge, die beispielsweise in Bezug auf ihre Festigkeit bei bestimmten Temperaturen und ihre Funktionen im menschlichen Körper variieren. Manche stark verarbeiteten Fleischprodukte verfügen über einen hohen Gehalt an gesättigten Fetten und können mit Herzerkrankungen in Verbindung gebracht werden. Andere Lebensmittel, die ebenfalls viele gesättigte Fette enthalten, wie beispielsweise Vollmilch, mageres Fleisch und dunkle Schokolade, werden hingegen nicht mit Herzproblemen assoziiert. Natives Olivenöl Extra weist einen hohen Gehalt an gesättigten Fetten auf, enthält aber zugleich zahlreiche andere Fettsorten und Hunderte chemischer Verbindungen, die es zu einem der gesündesten Lebensmittel überhaupt machen. Unsere Nahrung besteht nicht nur aus einzelnen chemischen Inhaltsstoffen; vielmehr handelt es sich um eine komplexe Matrix und Struktur, die ganzheitlich betrachtet werden muss.
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Den Titel dieses Buches – Nahrung fürs Leben – habe ich gewählt, weil ich Nahrung nicht bloß als Werkzeug zum Abnehmen oder Zunehmen betrachten will. Stattdessen geht es mir darum, Ernährung im weitesten Sinne mit Gesundheit in Beziehung zu setzen: der Gesundheit des einzelnen Menschen, unserer Gesellschaft und unseres Planeten. Sämtliche Forschungsergebnisse zu Getränken hier zu präsentieren, hätte den Rahmen dieses Buches gesprengt, deshalb kommen im Kapitel »Getränke, Öle und Würzsoßen« nur die wichtigsten Aspekte zur Sprache. Allerdings ist das Interesse an dem Thema derart groß, und es gibt so viele wissenschaftliche Arbeiten, Kontroversen und Anekdoten darüber, dass sich wahrscheinlich ein eigenes Buch damit füllen ließe, also seien Sie gespannt.
Inzwischen herrscht ein weitaus größeres Bewusstsein dafür, welche Auswirkungen unsere Ernährung auf den Klimawandel, die Umweltverschmutzung und den Verlust an Biodiversität hat, von der Abholzung für Palmöl über den Methanausstoß in der Landwirtschaft bis hin zur Vermüllung durch Plastikflaschen und Verpackungen. Auch wenn die meisten von uns keinen direkten Einfluss auf die multinationalen Konzerne ausüben können, die für die schlimmsten Umweltverbrechen verantwortlich sind, so kann doch jeder und jede Einzelne etwas zur Verringerung des Treibhausgasausstoßes beitragen – gar nicht mal so sehr, indem wir auf das eigene Auto oder auf Auslandsreisen verzichten, sondern vor allem, indem wir unsere Ernährung umstellen. Einige Nahrungsmittel, die bislang als selbstverständlich galten, wie rotes Fleisch und Kuhmilch, verschlingen übermäßig viele natürliche Ressourcen; gleichzeitig drückt die hohe Nachfrage die Preise. Die Gesundheit des Planeten hat selbstverständlich Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit – der Klimawandel und eine wachsende Bevölkerung begünstigen Naturkatastrophen und Pandemien; hinzu kommen Luft- und Wasserverschmutzung, Rückstände von Pestiziden, Herbiziden und Antibiotika aus der Landwirtschaft, eine geringere Vielfalt an Obst und Gemüse und regionale Wasserknappheit. Bei der Wahl unserer Nahrungsmittel sollten wir deshalb auch die Umweltaspekte mit berücksichtigen. Wenn wir unsere Geisteshaltung verändern und unsere Mahlzeiten als kleine tägliche Beiträge zu zukünftigem Reichtum betrachten, können wir anfangen zu investieren, für uns selbst, unsere Familien und – wenn wir es klug anstellen – auch für unseren Planeten.
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Als ich vor einer Generation meine berufliche Laufbahn als Arzt begann, wäre es noch unmöglich gewesen, ein Buch wie dieses zu schreiben. Heute eröffnet sich uns in der Ernährungswissenschaft ein riesiger und faszinierender neuer Bereich zwischen Medizin, Biologie, Chemie und Geschichte. Endlich verfügen wir über die nötigen Werkzeuge und die Motivation, die vielfältigen individuellen Reaktionen auf unsere Nahrung und die Gründe dafür wirklich verstehen zu wollen. In den letzten vierzig Jahren hat sich an der Ernährungslehre in den Schulen kaum etwas verbessert: Für gewöhnlich geht es dort um Kalorien, Körpergewicht und die Frage, wie man Cupcakes oder Brownies bäckt. Gegen Probleme wie Essstörungen und Übergewicht, die unter Kindern im Schulalter viel zu häufig auftreten, ließ sich damit bislang nichts ausrichten. Das wird sich jedoch hoffentlich bald ändern.
Ich möchte Ihnen dabei helfen, die irreführenden Nährwertangaben, Werbeversprechen für angebliche Wunderprodukte und die Einteilung von Lebensmitteln in Kalorien, Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße hinter sich zu lassen. Dieses Buch soll Sie außerdem dazu ermuntern, neue Lebensmittel auszuprobieren, eine größere Vielfalt an Pflanzen in Ihren Speiseplan einzubauen und verschiedene Aromen zu kombinieren. Es erklärt einzelne Nahrungsmittelbestandteile, damit Ihnen die Auswahl leichter fällt. In Teil drei habe ich einige Lebensmitteltabellen aufgeführt, die bei der Planung Ihres Wocheneinkaufs nützlich sind. Gewappnet mit umfangreichem Faktenwissen über die unterschiedlichen Lebensmittel, werden Sie zu Experten und Expertinnen für Ihre Ernährung und für das, was Sie persönlich einzigartig macht.
Über die Darmgesundheit und ihren Einfluss auf unser tägliches Wohlbefinden sollten alle Menschen besser Bescheid wissen.1 Das Thema geht weit über gelegentliche Blähungen, Völlegefühl, Verstopfung oder Sodbrennen hinaus und betrifft die Gesundheit unserer Darmflora – Tausender von Bakterienarten, die unseren Darm besiedeln, 99 Prozent davon im Dickdarm. Aktuellen Schätzungen zufolge entspricht die Anzahl der Bakterienzellen der unserer Körperzellen, wobei die Bakterien wohl sogar um ein knappes Drittel überwiegen. Genau genommen sind wir also Mischwesen: halb Mensch, halb Bakterium. Viele Menschen leiden unter chronischen Darmproblemen wie dem Reizdarmsyndrom (RDS), aber die wenigsten wissen etwas über den Zustand ihrer Darmflora und deren Rolle für ihre Gesundheit. Doch das ändert sich gerade. Die moderne Gensequenzierungstechnologie ermöglicht es, die Zusammensetzung der Darmflora präzise zu bestimmen und so die Gesundheit des Darms zu überprüfen. Zudem gelingt es allmählich, die vielfältigen Funktionen dieser Bakterien zu verstehen, indem ihre Gene entschlüsselt sowie die von ihnen produzierten chemischen Stoffe genauer erforscht werden.
Obwohl die Kosten für diese Technologie in den vergangenen zehn Jahren um das Zwanzigfache gesunken sind, beträgt der Preis einer aussagekräftigen Schrotschuss-Sequenzierung nach wie vor mehrere Hundert Euro. Glücklicherweise hat sich mein Team am King’s College und bei ZOE eine Methode einfallen lassen, wie wir alle den Zustand unserer Darmgesundheit kostengünstig und zudem mit einem gewissen Unterhaltungswert überprüfen können. Aber seien Sie gewarnt – Ihr Kot wird sich dabei blau färben. Im Rahmen unserer PREDICT-Studie verzehrten die teilnehmenden Personen Muffins, die zur besseren Nachvollziehbarkeit mit Lebensmittelfarbe leuchtend blau gefärbt waren; anschließend wurde gemessen, wie lange die Nahrung von der Aufnahme bis zur Ausscheidung in die Toilettenschüssel im Darm verblieb: Je kürzer, desto gesünder die Darmflora, je länger, desto schlechter ist es um sie bestellt. Die sogenannte Blue Poop Challenge hat all unsere Erwartungen übertroffen und ist mittlerweile weit populärer als der traditionelle Stuhltest, den viele Ärztinnen und Ärzte nach wie vor verwenden, um die Darmgesundheit zu bestimmen.2 Im Durchschnitt betrug die Zeit bis zur Ausscheidung 29 Stunden, wobei bei manchen Probanden der Stuhl noch vier oder sogar fünf Tage nach dem Verzehr des Muffins blau gefärbt war. Allgemein ist eine Dauer von etwa 24 Stunden als gesund einzustufen (in meinem Fall sind es zwischen 18 und 19 Stunden). Diese Methode gibt einen kleinen Einblick in den Zustand der Darmflora und das Verhältnis von guten zu schlechten Bakterien. Kürzere Passagezeiten sind mit einem geringeren Risiko für Typ-2-Diabetes, besserer Blutzuckerkontrolle und einem niedrigeren Körperfettanteil assoziiert. Zu kurze Zeiten (unter acht bis zehn Stunden) können jedoch auf eine Infektion oder andere gesundheitliche Probleme hindeuten. Ein solcher Test ist aussagekräftiger als das bloße Zählen der wöchentlichen Stuhlgänge oder die Untersuchung der Stuhlbeschaffenheit. Auch wenn er lediglich eine Korrelation aufzeigt, also keinen Nachweis für eine Kausalität darstellt, führt er doch klar vor Augen, dass ein gesunder Darm eine kürzere Passagezeit ohne Verstopfung bedeutet. Auf der Website von ZOE3 ist ein einfaches Rezept für blau gefärbte Muffins zu finden, mit denen Sie Ihre Darmgesundheit und die Ihrer Familie überprüfen können. Die Ergebnisse können Sie dort auch vergleichen und einordnen.
Derzeit liegt der Forschungsfokus auf den mindestens 40 Billionen Darmbakterien; allerdings enthält das Milieu der Darmflora auch noch zahlreiche andere Lebensformen. Viren spielen für die Verdauung und unsere Gesundheit ebenfalls eine wichtige Rolle. Ihre Anzahl übersteigt die der Bakterien mindestens um das Fünffache, doch noch müssen wir uns mit Schätzungen begnügen. Die Viren ernähren sich von Bakterien und tragen wesentlich dazu bei, deren Anzahl zu reduzieren, falls diese sich zu sehr vermehren, sind also durchaus nützlich für uns. Zudem beherbergt der menschliche Organismus große Mengen an natürlichen Pilzen; die bekannteste Unterart bilden die Hefepilze. Sie dienen nicht nur zum Bierbrauen und Brotbacken, viele Candida-Pilze leben auch fröhlich in unserem Inneren. Den unsinnigen Versuchen mancher Ärzte zum Trotz, diese abzutöten, leisten solche Hefepilze einen wertvollen Beitrag dazu, Entzündungen zu vermindern und die Immunabwehr zu stärken. Auch weitaus größere Parasiten finden sich in unserem Darm – insbesondere bei Menschen, die in den Tropen leben. Zwar können sie bisweilen Probleme verursachen, wenn sie mit ihrem Wirt um Nährstoffe konkurrieren; allerdings reduzieren sie auch Allergien und Entzündungen und sind somit hilfreich. Bisher ging man davon aus, dass die Bewohner der westlichen Welt nur wenige Darmparasiten aufweisen. Je besser jedoch die Nachweismethoden sind, desto mehr werden entdeckt. So fand ich kürzlich heraus, dass ich zu den 25 Prozent der Erwachsenen in Großbritannien gehöre (in den USA sind es lediglich 4 Prozent), die den Parasiten Blastocystis dauerhaft in sich tragen. Erstaunlicherweise sorgt dieser kleine Geselle dafür, dass ich (wie auch andere Träger) schlanker bleibe und weniger Körperfett bilde. Nur zu gerne würde ich herausfinden, welche Nährstoffe Blastocystis besonders gut bekommen – schließlich ist er bei fast allen indigenen Völkern nachzuweisen, und vermutlich trugen ihn auch unsere Vorfahren in sich.
Die Mikroben der Darmflora kann man sich am besten als lauter winzige Chemiefabriken oder Apotheken vorstellen. Die Zellen der menschlichen Darmschleimhaut können lediglich etwa 20 Enzyme produzieren, die der Verdauung der Nährstoffe dienen. Dagegen verfügt die Gesamtheit unserer Darmmikroben zusammengenommen über 200-mal so viele Gene wie der Mensch selbst und ist in der Lage, Tausende chemischer Stoffe herzustellen, die unsere Zellen nicht bilden können. Die Verdauungsarbeit beginnt bereits mit dem Speichelfluss im Mund und wird im Magen und im Dünndarm fortgesetzt, wo die meisten Nährstoffe aufgenommen werden; die faserreichen pflanzlichen Ballaststoffe gelangen hingegen in den Dickdarm und werden dort allmählich abgebaut. Die Umwandlung von Nährstoffen durch Mikroorganismen mithilfe bestimmter chemischer Stoffe, bei der andere chemische Stoffe entstehen, wird »Fermentation« genannt.
Neuesten Erkenntnissen zufolge empfiehlt es sich, allwöchentlich eine breite Palette pflanzlicher Lebensmittel zu sich zu nehmen (unsere Studien deuten auf ein Optimum von 30 verschiedenen Pflanzenarten hin). Kaum untersucht sind hingegen die Vor- und Nachteile einzelner Nahrungsmittel sowie diverser Zubereitungs- und Verarbeitungsmethoden. Die meisten Menschen haben nur eine rudimentäre Vorstellung von der Darmgesundheit, die hauptsächlich auf Verpackungsaufschriften zurückgeht, die Produkte beispielsweise als »ballaststoffreich« anpreisen oder Joghurts, die bestimmte Bakterienstämme enthalten, als »probiotisch«. »Probiotika« sind Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel, die mit lebenden Bakterien angereichert sind, denen eine gesundheitsfördernde Wirkung zugeschrieben wird. Inzwischen werden solche Bakterien allen Arten von Nahrungsmitteln zugesetzt, darunter auch zuckerhaltige Getränke oder gar Schokolade, und derartige Produkte sind in jedem Supermarkt zu finden. Es wird Sie kaum verwundern, dass nur ein Teil dieser Gesundheitsversprechen begründet ist – einige sind geradezu lächerlich. In probiotischen Joghurts finden sich oft genug Zucker, künstliche Süßstoffe und Dutzende chemischer Stoffe, die jeden positiven Effekt mühelos aufheben. Probiotisches Sauerkraut hingegen ist häufig der längeren Haltbarkeit wegen in Essig eingelegt, was sämtliche Mikroben abtötet. Manche der gesunden Bakterienstämme sind, wie wir inzwischen wissen, sehr empfindlich; andere hingegen, wie die in Sauerteig oder Wein, erweisen sich als recht widerstandsfähig und überstehen die Verarbeitungsprozesse besser.4
Neben den Ballaststoffen, die in den verschiedensten Formen vorkommen und eine gute Nahrungsquelle für Mikroben darstellen, gibt es nach heutigem Wissensstand eine weitere Gruppe wichtiger Pflanzenstoffe, mit denen nur unsere Darmmikroben etwas anfangen können: die Polyphenole. Dabei handelt es sich in erster Linie um Stoffe, die Pflanzen vor Umwelteinflüssen wie schlechtem Wetter oder bestimmten Schädlingen beziehungsweise Fressfeinden schützen. Der Gehalt an Polyphenolen in Lebensmitteln fällt äußerst unterschiedlich aus – manchmal ist er bei stärker gefärbtem Gemüse zehnmal höher als bei weniger gefärbtem derselben Sorte; auch durch Verarbeitung oder Hocherhitzen kann er sich verändern. Generell ist der Polyphenolgehalt umso höher, je widriger die Umweltbedingungen sind, unter denen die Pflanzen heranwachsen. Diese chemischen Stoffe haben für die Pflanzen eine doppelte Funktion: Zum einen verhindern sie, dass die Früchte von Säugetieren gefressen werden, bevor die Samen ausgereift sind. Zum anderen dienen sie als Schutz gegen Umwelteinflüsse wie zu viel Wind oder Sonneneinstrahlung und zur Abwehr von Mikroben und Insekten. Einige auf den Weltmärkten dominante Gemüsesorten wurden allein für lange Haltbarkeit und gute Transportfähigkeit gezüchtet, ohne Rücksicht auf Geschmack oder Polyphenolgehalt. Ein Beispiel dafür ist Eisbergsalat, der weder das eine noch das andere besitzt. Solange der Polyphenolgehalt noch nicht auf Verpackungen angegeben wird, sollten Sie sich auf dem Laufenden halten, was diese Pflanzenstoffe angeht – Ihre Darmflora wird es Ihnen danken.
Im Zeitalter der Pandemien ist die Bedeutsamkeit eines gesunden Immunsystems stärker in den Fokus gerückt. Manche Menschen erwiesen sich als völlig immun gegen COVID-19 und wurden nie zu Trägern des Virus oder zeigten keine Symptome, wenn sie es in sich trugen. Andere hingegen steckten sich schnell damit an und starben oder litten an einer großen Bandbreite an Symptomen, darunter Fatigue und andere Beeinträchtigungen von Nerven, Haut, Lunge oder Darm, die Tage, Monate oder gar Jahre andauern konnten. Bei Nordeuropäern und -amerikanern war die höchste Sterblichkeitsrate pro bestätigter Infektion zu verzeichnen, während es in einigen Schwellenländern Afrikas viele bestätigte Fälle, aber vergleichsweise wenige Tote gab. Diese Unterschiede sind zum Teil auf mangelnde Erfassung und eine jüngere Bevölkerung zurückzuführen. Doch da in einkommensschwächeren Staaten die Sterblichkeit auch bei den betagten Bewohnern von Pflegeheimen niedriger war als in wohlhabenden Ländern, ist davon auszugehen, dass Ernährung und Umwelt eine Rolle spielten.5
Unsere Immunfunktion ist zum einen genetisch bedingt; zum anderen wird sie durch die hygienischen Zustände in unserer Kindheit geformt. Auf beides haben wir selbst keinen Einfluss. Doch es gibt immer mehr Belege dafür, dass auch die Ernährung eine Wirkung haben kann. Der Alterungsprozess, Übergewicht und damit verbundene Krankheiten wie Typ-2-Diabetes beeinträchtigen die Immunfunktion und wirken sich ebenfalls auf die Darmgesundheit aus. Im Labor gezüchtete Mäuse, die keine Darmflora haben, besitzen auch kein natürliches Immunsystem, da das eine vom anderen abhängt. Die Immunzellen unseres Körpers überprüfen sämtliche Proteine, Pathogene und Parasiten, die wir zu uns nehmen. So können wir zwischen gesunden Leckerbissen und gefährlichen Eindringlingen unterscheiden. Ob man beispielsweise auf Erdnussproteine allergisch reagiert oder nicht, hängt ebenso von der sogenannten Immunität ab wie die Fähigkeit unseres Körpers, gefährliche Mikroben und Parasiten abzuwehren. Ein überreaktives Immunsystem geht oft mit Allergien und Überempfindlichkeiten einher und kann sogar Autoimmunerkrankungen wie zum Beispiel Zöliakie auslösen. Dagegen führt ein träges, inaktives Immunsystem zu einem erhöhten Krankheitsrisiko. Es handelt sich also um ein fein austariertes Gleichgewicht, das eine gesunde, abwechslungsreiche Ernährung und eine robuste, vielfältige Darmflora erfordert.
Unsere Darmmikroben sorgen auch dafür, dass Ballaststoffe zu chemischen Stoffen abgebaut werden, die die Immunzellen des Körpers – die sich größtenteils in der Darmschleimhaut befinden – mit Energie versorgen und mit ihnen kommunizieren. Diese Zellen reagieren auf Infektionen, indem sie spezielle weiße Blutkörperchen an die Infektionsstelle schicken. Sie aktivieren die T-Zellen, die die infizierten Zellen angreifen und neutralisieren, und stimulieren die trägeren B-Zellen, Antikörper zu bilden. So entsteht ein Immungedächtnis, das dann beim nächsten Angriff eines Erregers dank sogenannter T- und B-Gedächtniszellen für eine schnellere Abwehr sorgt.6
Ich vergleiche die Darmflora gern mit einem wunderschönen Garten, der unter den richtigen Bedingungen zu einer vielfältigen und bunt blühenden Oase werden kann. Unsere Ernährung, insbesondere sogenannte präbiotische Lebensmittel, bildet den Nährboden dieses Gartens; Ballaststoffe und andere unverdauliche Speisebestandteile (einschließlich mancher Fettsäuren, langkettiger Zucker, wie sie in Muttermilch enthalten sind, sowie Polyphenole) dienen den Darmmikroben als Nahrung und fördern ihre Vermehrung. Letztere können wir uns wie Samen vorstellen, die für ihr Wachstum auf einen guten, nährstoffreichen Boden angewiesen sind. In einer gesunden Darmflora gedeihen die Mikroben – vergleichbar mit Blumen, Blättern und saftigem Gras in einem Garten, die das Mikroklima mit Sauerstoff, Wasserdampf und bestimmten chemischen Stoffe anreichern. Viele dieser Stoffe werden von den Darmbakterien selbst gebildet; man bezeichnet sie als »Postbiotika«. Das Verhältnis zwischen Prä-, Pro- und Postbiotika ist fein austariert. Im Verlauf dieses Buches werde ich zeigen, dass unsere Ernährung eine entscheidende Rolle bei der Frage spielt, ob unser innerer Garten floriert oder verkümmert.
Eine eintönige Ernährung mit vorrangig hochverarbeiteten Lebensmitteln beeinträchtigt unser Immunsystem. Auf Infektionen wie COVID-19 reagiert es dann zu langsam oder schwach oder aber verzögert, um als Nächstes eine Überreaktion auszulösen – einen »Zytokinsturm«, der einer starken anaphylaktischen Reaktion gleicht. Noch gibt es viel über COVID-19 zu lernen, doch aus einer breit angelegten Studie aus dem Jahr 2020, die wir mithilfe der »ZOE COVID Symptom Study App« durchführten, wissen wir, dass 8 Prozent der Erkrankten (und jedes sechste Kind) einen Hautausschlag bekamen, der wie ein Symptom einer Lebensmittelallergie aussah. Etwa jede sechste Person litt an Durchfall, und die meisten mit COVID-19 Infizierten schieden das Virus noch wochenlang über den Stuhl und im Speichel aus. Bei etwa einem von zehn Menschen traten Langzeitsymptome auf, die bei 2 Prozent länger als drei Monate andauerten. In vielen dieser Fälle konnte sich das Virus in Darm, Lunge oder Nervensystem festsetzen, weil das Immunsystem der Betroffenen seine Aufgabe nicht erfüllte. Meiner Meinung nach zählen mangelhafte Ernährung und schlechte Darmgesundheit zu den Hauptursachen für das Versagen der Immunabwehr. Mittlerweile wird dies durch mehrere veröffentlichte Studien belegt.
Eine Untersuchung im Rahmen einer ZOE-COVID-Studie von 2021, an der mehr als 750 000 Freiwillige teilnahmen, die einen detaillierten Fragebogen hinsichtlich ihrer Ernährungsgewohnheiten ausfüllten, erbrachte einige hochinteressante Ergebnisse: Eine minderwertige Ernährung ging mit einem leicht erhöhten Risiko einher, sich mit COVID-19 zu infizieren, selbst unter Berücksichtigung weiterer Risikofaktoren wie Alter, Gesellschaftsschicht, Mangelernährung, andere Erkrankungen, Geschlecht und Übergewicht. Noch stärker wirkt sie sich zudem offenbar auf die Schwere der Infektion sowie auf das Hospitalisierungsrisiko aus. Als wir die ungünstige Ernährungsweise genauer unter die Lupe nahmen, stellten wir fest, dass darin vor allem Lebensmittel fehlten, die für die Darmgesundheit bedeutsam sind. COVID-19 hat uns dramatisch vor Augen geführt, wie wichtig gute Lebensmittel und eine gesunde Ernährung für das Immunsystem sind.
Ein gesundes Immunsystem dient nicht nur der Virenabwehr, sondern es beugt auch Nahrungsmittelallergien vor – einer Überreaktion auf an sich harmlose Proteine, unter der vor allem junge Menschen zunehmend leiden. Das Immunsystem ist dafür zuständig, erste Anzeichen von Krebs zu erkennen und Mikrotumore abzutöten, ohne dass wir je davon erfahren. Noch vor wenigen Jahren kam die Diagnose Lungenkrebs oder malignes Melanom fast immer einem Todesurteil gleich. Moderne immuntherapeutische Medikamente können heute jedoch eine Immunreaktion insbesondere gegen die Tumorzellen auslösen. So ist es mittlerweile möglich, etwas mehr als jeden dritten an metastasenbildendem Krebs Erkrankten zu retten, und das ohne die schwerwiegenden Nebenwirkungen einer Chemotherapie. Ich habe die internationale PRIMM-Studie mit über 200 Patientinnen und Patienten geleitet, deren maligne Melanome immuntherapeutisch behandelt wurden. Unseren Beobachtungen zufolge hatte die Ernährungsweise starken Einfluss darauf, wie die teilnehmenden Personen auf die Medikamente reagierten; nach einem Jahr hatten sich die Überlebenschancen etwa verdoppelt7 – was auf die enge Verbindung zwischen Ernährung, Darmflora und Immunsystem zurückzuführen ist. Hier liegt der wahre Kern von Erzählungen über Menschen, die ihre Krebserkrankung angeblich durch den Verzehr von »Wunderkräutern« wie Kurkuma besiegt haben. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse führen uns vor Augen, wie eng und vielfältig Gesundheit und Ernährung miteinander verwoben sind.
Die Ernährung brachte die menschliche Entwicklung im Laufe der letzten Million Jahre entscheidend voran. Die Entdeckung des Feuers – und damit des Kochens – führte zu einer Verkürzung des Verdauungstrakts, da Gekochtes leichter verdaulich ist als rohe Nahrung. Zudem ließ die höhere Nährstoffzufuhr das menschliche Gehirn anwachsen, insbesondere die Bereiche, die der Sinneswahrnehmung dienen, und hier vor allem die, die für die Ernährung zuständig sind. Als Allesfresser brauchte der Mensch ausgeprägte Fähigkeiten, um Essbares von Ungenießbarem und potenziell Gefährliches von nährstoffreichen Leckerbissen unterscheiden zu können. Daher sind wir von Kindesbeinen an darauf programmiert, bittere oder saure Lebensmittel zu meiden, da sie schädlich sein könnten, und Süßes zu bevorzugen; energiereiche fetthaltige und pikante Nahrungsmittel liegen irgendwo dazwischen. Geruch, Konsistenz, Farbe und Form eines Lebensmittels oder einer Pflanze geben uns Hinweise auf die darin enthaltenen chemischen Stoffe und den Geschmack. Der Begriff »Geschmack« wird oft synonym mit »Aroma« verwendet, dabei entspricht Letzteres eher einer Kombination von Sinneseindrücken. Die oben geschilderten Reaktionen lassen sich heute noch bei Kleinkindern beobachten, die erst wenige Nahrungsmittel kennengelernt haben. Je älter wir werden, desto mehr verlieren wir diese angeborenen Eigenschaften. Kleinkinder sind bekanntlich wählerische Esser. Bis zum Alter von zwei Jahren zeigen sie sich jedoch auch sehr aufgeschlossen für neue Lebensmittel mit noch unvertrauter Konsistenz oder Farbe. Wenn Eltern ihren Nachwuchs also frühzeitig mit bitterem Gemüse wie Brokkoli bekannt machen, schwindet die anfängliche Abneigung schnell.
Was bringt uns dazu, einen Apfel zu essen und die Kekse links liegen zu lassen? Und warum greifen wir ausgerechnet zu dieser bestimmten Frucht und nicht zu einer anderen in der Obstschale? Natürlich hat das etwas mit unserer Sinneswahrnehmung zu tun – aber womit genau? Vielleicht war der Apfel besonders rot und glänzend und sah deshalb appetitlicher aus?
Tatsächlich verbinden wir bestimmte Farben mit Schmackhaftigkeit. In den Jahrmillionen seiner Entwicklung lernte der Mensch, dass Früchte mit leuchtenden Farben einen besonders hohen Zuckergehalt und somit auch jede Menge Süße, Energie und Nährstoffe versprechen. Viele Obstbaumarten haben im Laufe der Evolution immer größere und appetitlicher aussehende Früchte hervorgebracht, um Tiere anzulocken, die diese fressen und dadurch die Samen der Pflanze verbreiten. Jahrhundertelang züchteten Obstbauern aus dem kleinen, bitteren Holzapfel über 7000 verschiedene Apfelsorten, manche davon bis zu zehnmal so groß wie ihr Urahn. Bewusst oder unbewusst betrachten wir also Farbe, Größe und Frischegrad und halten nach schadhaften Stellen, Schimmel oder Würmern Ausschau, um uns die reifste und frischeste Frucht herauszupicken. Allein der Anblick eines rotwangigen Apfels – oder auch nur der Gedanke daran – macht uns den Mund wässrig und weckt unseren Appetit; schließlich ist ein großer Teil des menschlichen Gehirns dafür zuständig, Lebensmittel mit Geschmackserinnerungen zu verknüpfen. Obstproduzenten, Händler und Werbefachleute wissen das natürlich auch und wenden allerlei psychologische Tricks an, um die Verbraucher hinters Licht zu führen. Viele der appetitlich glänzenden Äpfel in den Auslagen wurden in unreifem Zustand geerntet, monatelang im Dunkeln gelagert und schließlich mit Ethylen behandelt, um den Reifeprozess künstlich zu beschleunigen. Die meisten Supermarktäpfel werden zunächst poliert, um die natürliche Schutzschicht zu entfernen, und anschließend mit Wachs behandelt, damit sie besonders verführerisch und frisch glänzen.
Nahezu die Hälfte des menschlichen Gehirns kann mit der Verarbeitung der visuellen Reize von Nahrung beschäftigt sein, ein weitaus kleinerer Teil dagegen mit den Geschmacksreizen. Visuelle Wahrnehmung und Erinnerung bereiten uns auf den zu erwartenden Geschmack eines Nahrungsmittels vor; so sind größere Überraschungen normalerweise ausgeschlossen. Nie werde ich vergessen, wie ich in den 1980er-Jahren in einem Gourmetrestaurant zum ersten Mal Basilikumeis probierte – allerdings in der Annahme, es handele sich um Pistazieneis. Damals empfand ich den Geschmack zunächst als unangenehm; heute sind Sorten wie Grüntee-Eis gang und gäbe, folglich ist mein Gehirn darauf vorbereitet, und ich kann das Aroma genießen.
Es ist nicht leicht zu begreifen, dass Dinge an sich keine Farbe haben, sondern diese erst in unserem Kopf entsteht. Die Farbe »Orange« gab es beispielsweise früher nicht, das Wort fand erst Einzug in verschiedene Sprachen, als die naranja – so der spanische Begriff – im 16. Jahrhundert von Spaniern und Portugiesen in Europa eingeführt wurde und von nun an für die Frucht ebenso wie für die Farbe stand. Zitronen sind nicht wirklich gelb, vielmehr reflektieren sie das Licht mit einer gewissen Wellenlänge, die von den Farbrezeptoren in unseren Augen wahrgenommen und vom Gehirn in die Farbe Gelb verwandelt wird. Die ersten Margarinen, die auf den Markt kamen, waren unansehnlich grau und mussten erst gelb gefärbt werden. Auch heutzutage enthalten Lebensmittel oft orange oder gelbe Farbstoffe, damit sie appetitlicher aussehen. Blau gefärbte Lebensmittel sind – von den zuvor erwähnten Muffins einmal abgesehen – eher die Ausnahme: In der Natur gibt es kaum blaues Obst oder Gemüse, weshalb wir der Farbe ein angeborenes Misstrauen entgegenbringen.
Das Farbsehen des Menschen ist weitaus differenzierter als das vieler anderer Lebewesen, die die Welt vergleichsweise eintönig wahrnehmen. Das menschliche Auge kann etwa 5 Millionen Farben und 340 000 Schattierungen unterscheiden – eine Fähigkeit, die wohl unseren Vorfahren die Nahrungssuche und somit das Überleben erleichterte. Diese Theorie lässt sich jedoch nicht bis ins letzte Detail überprüfen, da keine Sprache der Welt sämtliche Farben der Natur in Worte fassen kann.
Der menschliche Geruchs- und Geschmackssinn ist sogar noch differenzierter. Mithilfe von rund 400 Geruchsrezeptoren ist der Mensch in der Lage, die unzähligen in der Luft schwebenden chemischen Verbindungen wahrzunehmen und etwa eine Billion Gerüche zu unterscheiden. Das Gehirn verwandelt die empfangenen Reize in Geruchsbilder, die dann bis zum Lebensende in einer Art Geruchsdatenbank im präfrontalen Cortex abgespeichert werden; dieser ist beim Menschen vergleichsweise größer als bei anderen Lebewesen. So kann der Mensch Nahrungsmittel bereits im Voraus bestens einschätzen. Unangenehme Gerüche wie angebrannter Toast, verschmortes Hühnchen oder brennender Gummi stechen uns sofort in die Nase. Ebenso sind wir fähig, Hunderte Düfte von Blumen und anderen Pflanzen zu unterscheiden. Das menschliche Gehirn nimmt bereits winzige Mengen von Geruchsmolekülen wahr und interpretiert diese – je nach Intensität – ganz unterschiedlich. Beispielsweise gibt es einen Geruchsstoff, der in geringer Dosis als angenehmer Grapefruit- oder Tropenfruchtduft, in hohen Konzentrationen jedoch als ekelerregend empfunden wird. Man kann sich Gerüche oder Aromen wie pointillistische Gemälde vorstellen: Tausende winziger Geruchspunkte setzen sich zu einem Gesamteindruck zusammen.
Die Geschmackserwartung wird also über visuelle und olfaktorische Reize im Gehirn erzeugt, das die Speicheldrüsen und den Magen anschließend über die bevorstehende Nahrungsaufnahme informiert. Je größer der Appetit, desto stärker die Signale, die über den langen Vagusnerv an unser zweites Gehirn gesendet werden: das riesige Geflecht von Nerven (Neuronen) im Magen-Darm-Trakt, das etwa so groß wie ein Katzenhirn ist. Noch bevor wir nach dem rotwangigen Apfel greifen, setzt bereits der Speichelfluss ein. Wie beim Pawlow’schen Hund reicht also auch beim Menschen der bloße Gedanke an Essen, um das Verdauungssystem sowie die für die Bildung der Magensäure verantwortlichen Hormone zu stimulieren.
Eine der Hauptfunktionen unseres Mundes ist der Schutz vor Vergiftungen: Die aufgenommene Nahrung wird sofort darauf überprüft, ob sie geschluckt werden kann oder wieder ausgespuckt werden muss. Die Zunge reagiert beispielsweise besonders empfindlich auf alles mit einer schleimigen oder ungewöhnlichen Beschaffenheit, um zu verhindern, dass ein Wurm oder Insekt im Apfel versehentlich mit verschluckt wird. Das Gehirn erwartet, beim Biss in einen Apfel ein Krachen wahrzunehmen – bleibt dieses aus, stuft es die Frucht als möglicherweise ungenießbar ein. Je lauter das Krachen, desto positiver die Bewertung, unabhängig vom Geschmack. Manche Äpfel werden daher auch im Hinblick auf ihre besondere Bissfestigkeit gezüchtet, und dies wird – wie bei der Sorte Honeycrisp – bisweilen sogar durch die Namenswahl ans Gehirn signalisiert. Die Hersteller von Frühstückscerealien und Chips wissen das ebenfalls für sich zu nutzen, indem sie besonders knusprige Produkte auf den Markt bringen, diese entsprechend verpacken und ausdrücklich auf diese Eigenschaft hinweisen.
Bereits beim ersten Bissen werden die Geschmacks- und Geruchsrezeptoren stimuliert, was den Geschmack des Lebensmittels noch verstärkt. Der Speichel befeuchtet die aufgenommene Nahrung; er besteht aus Wasser, Salzen, Schleim (Mucinen) und zahlreichen Enzymen, die die Aromen freisetzen. Beim Kauen wird das Essen zerkleinert, dadurch vergrößert sich seine Oberfläche, und der Geschmack intensiviert sich. Form und Konsistenz des Apfels, die der Tastsinn erspürt, wirken sich ebenfalls auf das Geschmacksempfinden aus. Sanft gerundete Lebensmittel oder Verpackungen werden mit einem süßeren Geschmack assoziiert als scharfkantige. Als das Unternehmen Cadbury die Gestalt seiner beliebten Milchschokolade änderte und die Kanten der Tafeln abrundete, beschwerten sich viele Kunden, sie schmecke nun cremiger und süßer – obwohl sich an der Rezeptur nichts geändert hatte. Kantige Apfelstücke schmecken weniger süß als Apfelringe. Das hängt vermutlich gleichermaßen mit der visuellen Wahrnehmung wie mit der Tastempfindung der Zunge zusammen.
Manche Nahrungsmittel, zum Beispiel etwas herbere Äpfel, trockener Cider, manche Weine, Schwarztee oder unreife Bananen, verursachen ein pelziges Gefühl im Mund und auf der Zunge, die sogenannte Adstringenz. Diese Empfindung, die kein Geschmack oder Geruch ist, wird durch Tannine ausgelöst – natürlich vorkommende Polyphenole, die bewirken, dass die Proteine des Speichels zusammenkleben; die Zungenoberfläche fühlt sich dadurch rauer an. Ist das Gefühl zu ausgeprägt, wird es als unangenehm empfunden. Viele Menschen trinken starken Schwarztee daher gern mit Milch, denn diese bindet die in den Teeblättern enthaltenen Tannine, bevor sie mit dem Speichel reagieren können.
Welche unserer Sinne im Einzelnen für die Bewertung eines Nahrungsmittels verantwortlich sind, ist für uns unmöglich zu unterscheiden. Unser Gehirn macht uns glauben, Aussehen und Geschmack seien ausschlaggebend. Menschen können fünf grundlegende Geschmacksrichtungen erkennen: süß, sauer, bitter, salzig und umami (würzig). Vermutlich gibt es noch weitere, doch noch kann sich die Wissenschaft nicht auf ihre genauen Eigenschaften einigen. Nicht allein das Aussehen lässt uns zu einem bestimmten Apfel greifen, auch das Aroma spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die alten Griechen werteten den Geruchssinn als niedersten aller Sinne. Unser Gehirn lässt uns Düfte, die wir über den Mund wahrnehmen, als Geschmack interpretieren. Obendrein fehlt uns das Vokabular, um die Vielzahl von Aromen zu beschreiben, die wir, abhängig von unserer Kultur und Sprache, unterscheiden können.
Nicht auszurotten ist der Mythos, dass sich in unterschiedlichen Bereichen der menschlichen Zunge Rezeptoren befinden, die auf jeweils eine Geschmacksrichtung spezialisiert sind. Die Grundlagen dieser »Zungenkarte« wurden 1901 von dem deutschen Physiologen David Pauli Hänig gelegt und in den 1940er-Jahren von Edwin Boring, einem Professor für Psychologie an der Harvard University, fehlinterpretiert. Auf der gesamten Zungenoberfläche – mit Ausnahme einer »kahlen« Stelle in der Mitte – sind winzige, zwiebelförmige Geschmacksrezeptoren verteilt, die keineswegs spezialisiert sind, sondern ganz verschiedene Geschmacksrichtungen wahrnehmen können. Unser Gehirn spiegelt uns nur vor, unsere Zunge sei in solche Geschmacksbereiche unterteilt, damit die Botschaft klarer bei uns ankommt. So lässt mich mein Hirn immer wieder glauben, ich hätte spezielle Bier-Rezeptoren hinten auf der Zunge, die vor allem auf Durst an heißen Sommertagen sehr empfindlich reagieren. Genetisch bedingte Unterschiede hinsichtlich der Anzahl und Sensibilität der Rezeptoren können nur teilweise erklären, warum das Geschmacksempfinden individuell so unterschiedlich ist. Geschmacksrezeptoren befinden sich nicht nur auf der Zunge, sondern auch in anderen Teilen des Körpers, zum Beispiel in der Bauchspeicheldrüse (wo das Insulin gebildet wird), im Magen-Darm-Trakt und bei Männern sogar in den Hoden, was die Vermutung nahelegt, dass diese Sinneszellen bislang noch unerforschte zusätzliche Funktionen erfüllen.
Zunge und Gaumen registrieren Bitterstoffe besonders schnell, was vor dem Verzehr giftiger Pflanzen schützen soll. Beim Biss in eine unreife Pflaume oder einen bitteren Holzapfel verzieht man sofort das Gesicht – wie Babys, die etwas Bitteres schmecken. Allerdings reagieren manche Menschen deutlich empfindlicher auf Saures oder Bitteres als andere. So mögen einige einen sauren Granny Smith lieber als einen süßen Apfel der Sorte Gala, oder sie haben eine Vorliebe für herbe Mostäpfel, die die meisten Leute sofort wieder ausspucken würden. Doch wenn die Wahrnehmung von Bitterem und Saurem einen wichtigen Schutz vor Vergiftungen darstellt, wieso nehmen wir dann mitunter gern kleine Dosen davon zu uns? Zum einen kann der Mensch im Unterschied zu vielen anderen Lebewesen seit ungefähr 60 Millionen Jahren kein körpereigenes Vitamin C mehr herstellen, weshalb er auf sauer schmeckende Pflanzen und Früchte (zum Beispiel Äpfel und Zitrusfrüchte) als Vitamin-C-Lieferanten angewiesen ist. Zum anderen hat er im Laufe seiner Evolution eine Vorliebe für den leicht säuerlichen Geschmack fermentierter Lebensmittel wie Joghurt, Buttermilch und Käse entwickelt, die gut für die Darmflora sind. Das stellte wohl einen Vorteil dar, der wichtiger war als der Schutz vor Giften.
Dass das Erkennen von Bitterstoffen von den Genen beeinflusst wird, weiß man seit 1931: Ein Laborunfall mit der äußerst bitteren Substanz Phenylthiocarbamid (PTC), die versehentlich freigesetzt wurde, weckte den Forschergeist eines US-amerikanischen Chemikers. Er überprüfte bei all seinen Kollegen, ob sie – im Unterschied zu ihm selbst – den bitteren Geschmack wahrnehmen konnten. Dabei stellte sich heraus, dass nur jeder dritte Mitarbeiter dazu fähig war; jeder Fünfte, also 20 Prozent, empfand den Geschmack sogar als ausgesprochen unangenehm. Im Jahr 2000 wurden zwei Geschmacksrezeptorproteine (TR1 und TR2) entdeckt, die für diese Reaktion zuständig sind.1 Wie die meisten Wissenschaftler glaubte auch ich, es reiche aus, die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge zu analysieren und die wenigen Gene ausfindig zu machen, die sie steuern, um das menschliche Geschmacksempfinden zu entschlüsseln. Doch das war zu naiv gedacht. Wie so oft sind die Dinge in der Biologie viel komplizierter.
Bei der Geschmacks- und Geruchswahrnehmung gibt es von Mensch zu Mensch große Unterschiede. Die 20 Prozent der Individuen, die empfindlich auf Bitterstoffe reagieren, nehmen in der Regel auch Süßes sowie Gerüche besser wahr. Diese sogenannten Superschmecker konsumieren durchschnittlich weniger Kaffee, Rotwein, dunkle Schokolade, Bier, scharf gewürzte Speisen und bittere Gemüse wie Rosenkohl und Brokkoli. Unsere Studien mit eineiigen Zwillingen (die, etwas vereinfacht gesagt, ein identisches Erbgut besitzen und natürliche Klone sind) kamen zu dem Ergebnis, dass die Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen, nur zu einem geringen Teil genetisch bedingt ist und Umwelt, Erziehung und Zufall eine weitaus größere Rolle spielen. Als wir das Lieblingsessen der Zwillinge genauer unter die Lupe nahmen, stellten wir fest, dass die Vorliebe für Bitteres und Scharfes (wie Alkohol, Chinin oder Knoblauch) stark genetisch beeinflusst ist; eine ganze Reihe von Abweichungen war jedoch so nicht erklärbar. Und auch genetisch bedingte Unterschiede können durch den regelmäßigen Verzehr solcher Lebensmittel von Kindesbeinen an überwunden werden.
Vielleicht haben Sie ja Lust, zu Hause ein einfaches Experiment durchzuführen. Bereiten Sie kleine Happen verschiedener Lebensmittel auf einem Teller vor. Schließen Sie dann die Augen oder verbinden Sie sie, halten Sie sich die Nase zu, und legen Sie sich nun einen Happen nach dem anderen mithilfe einer Gabel auf die Zunge. Ich habe das Experiment vor Kurzem selbst durchgeführt und musste zu meiner Überraschung feststellen, dass ich nicht dazu in der Lage war, ein Stück Apfel von einem Stück roter Paprika, Melone, Knoblauch, Zwiebel, Salami oder Käse zu unterscheiden. Von den insgesamt zehn Lebensmitteln, die ich so probierte, gelang es mir lediglich, die saure Zitrone und die scharfe Chilischote zweifelsfrei zu identifizieren. Anschließend führte ich den Versuch an drei Freunden durch – jedes Mal mit demselben Ergebnis. Da wurde mir endgültig klar, dass nicht die Zunge, sondern die Nase entscheidend für die Geschmackswahrnehmung ist.
Unsere Nahrung besteht aus Tausenden essbarer chemischer Stoffe. Im Laufe der Zeit, aber auch bei der Zubereitung durch Schneiden oder Kochen werden flüchtige Aromastoffe freigesetzt, die wir Menschen riechen können, sobald wir uns der Nahrung nähern – eine überlebenswichtige Fähigkeit, um beispielsweise verdorbenes Fleisch oder fauliges Obst identifizieren zu können. Die Nase von Hunden ist viel sensibler, weshalb sie sogar Kokain oder das Coronavirus erschnüffeln können. Bei ihnen erfolgt die Geruchswahrnehmung direkt »orthonasal«, also über die Nase. Tatsächlich haben auch wir Menschen einen ganz passablen Geruchssinn; allerdings verfügen wir zusätzlich über das »retronasale« (also »hinter der Nase gelegene«) Riechen. Beim Kauen des Apfels und beim Ausatmen mit geschlossenem Mund werden die freigesetzten Aromastoffe der Frucht über den Rachenraum in die Nasenhöhle zu den dortigen Geruchsrezeptorzellen transportiert. Die menschliche Anatomie des Gaumens und Riechgangs ist perfekt darauf abgestimmt. Über die direkte Rachen-Nasen-Verbindung erreichen die Aromastoffe unverzüglich die Rezeptorzellen. Von dort werden sie zum Riechkolben weitergeleitet und anschließend im präfrontalen Cortex gespeichert.
Der Geruchssinn ist als einziger der menschlichen Sinne unmittelbar mit dem Gehirn verbunden – vergleichbar mit einem superschnellen Breitband-Internetzugang. Auf diese Weise sind wir in der Lage, die Geruchsbilder Hunderter von Stoffen innerhalb kürzester Zeit zu speichern und abzurufen. Hunde schlingen ihr Futter so schnell hinunter, dass sie feine Aromen gar nicht wahrnehmen können. Für sie ist nicht das Geschmackserleben beim Fressen entscheidend, sondern das intensive Schnüffeln im Vorfeld. Katzen wird häufig ein sechster Sinn zugeschrieben, dabei sind sie nicht einmal dazu fähig, süße Aromen zu registrieren. Ratten dagegen, bei denen das orthonasale Riechen stark entwickelt ist, können sogar erschnuppern, ob Futter bestimmte Nährstoffe enthält, wie zum Beispiel essenzielle Aminosäuren. Über die Feinschmeckerqualitäten von Rémy, dem Gourmetkoch aus Ratatouille – einem Animationsfilm aus dem Jahr 2007, der zu meinen Lieblingsfilmen zählt –, verfügen sie jedoch ganz bestimmt nicht.
Wir alle haben schon einmal erlebt, wie stark eine schwere Erkältung oder Nebenhöhlenentzündung den Geschmackssinn beeinträchtigt. Das Coronavirus greift bei einem Viertel der Erkrankten mit Symptomen die Nerven der Geruchsrezeptoren an; bei 1 Prozent der Betroffenen kann das mehr als ein halbes Jahr andauern. Meinem Forschungsteam gelang es dank der ZOE-App erstmals, unter den 20 Symptomen, die mit dem Virus assoziiert werden, den Geruchsverlust als besten Indikator für eine COVID-19-Infektion herauszufiltern.2 Wir konnten die britische Regierung – sowie die einiger anderer Länder – davon überzeugen, den Verlust des Geruchssinns in die offizielle Symptomliste aufzunehmen. Die Langzeitfolgen von COVID-19, zu denen auch eine gestörte Geschmacks- und Geruchswahrnehmung gehört, sind gravierend und führen bei den Betroffenen häufig zu Depressionen.
Rauchen und der Alterungsprozess tragen maßgeblich dazu bei, dass die Fähigkeit abnimmt, Geschmacks- und Geruchsnoten zu unterscheiden. Ab dem 75. Lebensjahr ist sie bereits deutlich reduziert. Doch auch in dieser Hinsicht sind wir Menschen erstaunlich lernfähig: Setzen wir uns bewusst verschiedensten Gerüchen aus, können wir das Wahrnehmungsvermögen trainieren, und die Zahl der Nervenfasern in der Nase nimmt zu.
Auch frühe Demenz kann zu einem Verlust des Geruchsempfindens führen, wenn die Hirnbereiche, in denen Essenserinnerungen abgespeichert sind, beschädigt oder von anderen Teilen des Gehirns abgetrennt werden. Selbst eine leichte Verminderung des Geruchsempfindens kann auf eine schwere Erkrankung hindeuten. Eine Studie aus dem Jahr 2014, an der 3000 US-Amerikaner und -Amerikanerinnen im Alter zwischen 57 und 85 Jahren teilnahmen, untersuchte über einen Zeitraum von fünf Jahren die Reaktion der Probanden auf fünf charakteristische Gerüche – Rosen, Leder, Fisch, Orangen und Pfefferminz. Es stellte sich heraus, dass das Sterberisiko derjenigen, deren Geruchssinn gestört war, viermal höher als das der anderen war. Geruchs- und Geschmackssinn sind für uns Menschen also ziemlich wichtig. Momentan wird erforscht, ob der Verlust der Geruchswahrnehmung infolge von COVID-19 langfristige gesundheitliche Auswirkungen hat.
Noch immer sind viele Details der Funktionsweise des menschlichen Geschmacksempfindens unbekannt. Wir beginnen ansatzweise zu verstehen, welche Rolle die mikrobiellen Gemeinschaften in den verschiedenen Zungenbereichen – zusammen mit den Mikroben im Speichel – dabei spielen. Menschen, die Antibiotika einnehmen, berichten häufig von einer Beeinträchtigung des Geschmacksvermögens. Auch die Temperatur beeinflusst den Geschmack: Bei Essen oder Getränken, die direkt aus dem Kühlschrank kommen, schmeckt man die Süße weniger intensiv, als wenn sie Zimmertemperatur haben. Auch während einer Flugreise entfaltet sich Süße in geringerem Maße; aufgrund des niedrigeren Luftdrucks in der Kabine breiten sich die Aromastoffe langsamer aus, und die Geruchsrezeptoren funktionieren nur eingeschränkt. Daher servieren die Airlines generell süßere oder salzigere Gerichte und Snacks. Allerdings hat es auf langen Flugreisen durchaus auch Vorteile, wenn man die Blähungen oder die Käsefüße der anderen Passagiere nicht ganz so intensiv wahrnimmt.
Die meisten hochverarbeiteten Nahrungsmittel (UPFs) enthalten exakt die Menge an Fett, Salz und Zucker, die – das haben Tests an Freiwilligen ergeben – die Glückszentren im Gehirn aufleuchten lässt. Beim Genuss solcher Lebensmittel schüttet das Gehirn Wohlfühlstoffe wie den Neurotransmitter Dopamin aus, die die Sättigungssignale der Darmhormone sowie der Darmflora ausschalten.3
Die Lebensmittelindustrie verwandelt billige und fade Inhaltsstoffe ohne Nährwert durch die Zugabe von Fett, Salz und Zucker in ideal-knusprige Leckerbissen, die süchtig machen.4