Neuland - Ildikó von Kürthy - E-Book
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Ildikó von Kürthy

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Beschreibung

Die Hälfte des Lebens ist vorbei. Und jetzt ist es Zeit. Höchste Zeit. Aber wofür eigentlich? Selbstverwirklichung, Gelassenheit, Idealgewicht? Soll ich nach meiner Mitte suchen oder nach einem großen, vielleicht letzten Abenteuer? Ist es Zeit für einen Anfang oder für ein Ende oder doch nur für eine Probestunde Pilates und eine andere Frisur? «Neuland» ist ein Neujahrsbuch. Ein Buch für Neuanfänger und Neuaufhörer. Ein Jahr lang habe ich mich auf die Suche nach dem besseren Leben gemacht. Yoga in der Morgensonne. Fasten mit der Prominenz. Schweigen im Kloster. Rhetorik für Führungskräfte. Digitale Entgiftung. Ein Selbstversuch in Selbsterfahrung. Ich habe mich auf Spurensuche in meine Vergangenheit begeben, habe Sterbende in einem Hospiz begleitet und bin uralten Albträumen und vergessenen Wünschen begegnet. Ich habe 365 Tage lang keinen Alkohol getrunken, jeden Morgen meditiert, Gitarre spielen gelernt und auf fast alles verzichtet, was richtig gut schmeckt. Ich hatte zum ersten und wohl auch zum letzten Mal in meinem Leben lange blonde Haare, Idealgewicht und monatelang keine Schokolade im Haus. Ich habe gelernt, einen Stall und mein Leben auszumisten, glücklicher zu sein, auf den Fingern zu pfeifen und manchmal auch auf mich selbst. Noch Fragen? «Neuland» gibt ehrliche Antworten von der Sorte, wie man sie nur einer besonders guten Freundin verzeiht.

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Ildikó von Kürthy

Neuland

Wie ich mich selber suchte und jemand ganz anderen fand

 

 

 

Mit Collagen von Julia Thesenfitz

Über dieses Buch

Die Hälfte des Lebens ist vorbei. Und jetzt ist es Zeit. Höchste Zeit. Aber wofür eigentlich? Selbstverwirklichung, Gelassenheit, Idealgewicht? Soll ich nach meiner Mitte suchen oder nach einem großen, vielleicht letzten Abenteuer? Ist es Zeit für einen Anfang oder für ein Ende oder doch nur für eine Probestunde Pilates und eine andere Frisur? «Neuland» ist ein Neujahrsbuch. Ein Buch für Neuanfänger und Neuaufhörer. Ein Jahr lang habe ich mich auf die Suche nach dem besseren Leben gemacht. Yoga in der Morgensonne. Fasten mit der Prominenz. Schweigen im Kloster. Rhetorik für Führungskräfte. Digitale Entgiftung.Ein Selbstversuch in Selbsterfahrung. Ich habe mich auf Spurensuche in meine Vergangenheit begeben, habe Sterbende in einem Hospiz begleitet und bin uralten Albträumen und vergessenen Wünschen begegnet. Ich habe 365 Tage lang keinen Alkohol getrunken, jeden Morgen meditiert, Gitarre spielen gelernt und auf fast alles verzichtet, was richtig gut schmeckt. Ich hatte zum ersten und wohl auch zum letzten Mal in meinem Leben lange blonde Haare, Idealgewicht und monatelang keine Schokolade im Haus. Ich habe gelernt, einen Stall und mein Leben auszumisten, glücklicher zu sein, auf den Fingern zu pfeifen und manchmal auch auf mich selbst.Noch Fragen? «Neuland» gibt ehrliche Antworten von der Sorte, wie man sie nur einer besonders guten Freundin verzeiht.

Vita

Ildikó von Kürthy ist freie Journalistin und lebt in Hamburg. Ihre Bestseller wurden mehr als fünf Millionen Mal gekauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ihr Roman «Mondscheintarif» wurde fürs Kino verfilmt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung Julia Thesenfitz, Julia Thesenfitz

Coverabbildung Fotos: Frank Grimm

ISBN 978-3-644-22101-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.

Martin Walser

Ich hatte mich ganz anders in Erinnerung. Die Frau im Spiegel kommt mir nur entfernt bekannt vor.

«Ich wünschte, das wäre ich», höre ich das Spiegelbild mit meiner Stimme sagen.

«Ich ist ein dehnbarer Begriff», sagt der Mann, der hinter mir steht und mein blondes, langes Haar zu einer Frisur zusammensteckt, wie ich sie sonst nur aus Kostümfilmen mit namhaften Schauspielern kenne.

Eine vorbildlich gelockte Locke kringelt sich an meinem Hals entlang, meine Stirn ist so glatt wie eine Pfütze an einem besonders windstillen Tag. Ich kann den Blick nicht abwenden von der Person, die ich sein soll. Oh Mann, bin ich schön!

Noch vor zwei Tagen hatte ich mich im Bad eingesperrt und mich geweigert rauszukommen. Ich hatte ein blaues Auge und kurze, struppige, orange Haare, die an ein Knäuel frittierter Haushaltskordeln erinnerten.

So böse, wie es mir mit meiner durch Nervengift lahmgelegten Stirn möglich gewesen war, hatte ich die demolierte Frau angeschaut. Drei Fragen drängten sich mir auf:

1. Sieht so eine Frau auf der Suche nach sich selber aus?

Ich hatte ein Klopfen an der Badezimmertür gehört.

2. Wie konnte es bloß so weit kommen?

Das Klopfen war lauter geworden.

3. Wann genau hat das alles eigentlich angefangen?

«Komm raus!», hatte mein Sohn gerufen. «Wir lieben dich trotzdem!»

Nett von euch. Ich mich aber nicht.

 

Es hatte an einem trüben Morgen im Dezember begonnen, an dem ich mir bedauerlicherweise selbst begegnete …

Dezember

Countdown.

Noch vier Wochen, dann beginnt mein neues Jahr.

Bis dahin: Besinnungs-Simulation und Geschenke-Rushhour.

Angst, Wut, Rosen, Hundegebell und die Frage: Wo kann ich meine Persönlichkeit umtauschen?

Außerdem: Meditation für Anfänger und eine wichtige Wahrheit: «Glaub nicht alles, was du denkst!»

7. Dezember

Ich hole tief Luft und hämmere mit beiden Fäusten gegen die Tür. Meine Stimme überschlägt sich, und ich klinge wie ein Handmixer, der seine besten Zeiten lange hinter sich hat.

«Mach endlich auf, du Pupsgesicht!»

Die Frau neben mir nickt anerkennend. «Sehr gut. Aber bitte noch lauter und aggressiver.»

«Lass mich rein, du widerliche Kackbratze!»

Einige der Anwesenden schauen erschreckt. Im Raum nebenan setzt das Klavierspiel kurz aus. Die Sache beginnt, mir Freude zu machen.

Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich auch noch keine Ahnung, was auf mich zukommt und dass diese Tür mein Leben für immer verändern wird.

 

Ich war zu einer Zeit auf den Hinweis mit dem Personality Coaching der berühmten Hamburger Stage School gestoßen, zu der ich normalerweise längst im Bett bin.

Ich hatte mich in einer sich hinziehenden Sonntagabend-Krise befunden und einige grundlegende Überlegungen trübsinniger Natur bezüglich meiner Persönlichkeit, meines Gewichts und meiner Frisur angestellt.

Meine Haare und meine Kinder waren mir schwer erziehbar vorgekommen, und der Sinn meiner Existenz wollte sich mir zu dieser späten Stunde nicht erschließen. So war ich zu dem Schluss gelangt, dass es mit meinem Leben nicht weitergehen konnte wie bisher.

Keine einzige der mir bekannten Frauen will, dass ihr Leben so weitergeht wie bisher.

Alle Frauen in der Lebensmitte sind auf der Suche.

Aber es gibt kaum eine, die genau weiß, wonach sie eigentlich sucht. Nach dem Sinn des Lebens? Nach Selbstbewusstsein, Gelassenheit, Achtsamkeit? Nach einem neuen Mann oder lieber doch nur nach einer neuen Haarfarbe?

Wie eine panische Büffelherde fegt eine riesige Schar sich selbst verwirklichender Frauen rund um den Globus. Und wer nicht mindestens Yoga macht oder eine Gluten-Unverträglichkeit vorzuweisen hat, verhält sich verdächtig.

Ich bin mit fortschreitendem Alter ebenfalls zunehmend nervös geworden, aus meinem linken Hirnlappen erklingt immer häufiger ein unheimliches Gequake.

Ich versuche dann, meiner inneren Unke meist mit ein paar bereitgestellten Erdnussflips das Maul zu stopfen. Manchmal verstummt sie, in letzter Zeit aber nicht mehr.

Und dann werde ich aus den Tiefen meines Bewusstseins wie aus einem dunklen Brunnen allzu deutlich angemeckert: «Soll es das jetzt gewesen sein? Willst du einfach so weiterleben bis zum Schluss? Jetzt ist noch Zeit, Neues zu entdecken. Aufbruch. Oder Ausbruch. Was willst du noch tun, bevor es zu spät ist? Wovon hast du mal geträumt? Und, sag mal, hast du deine eigene Mitte überhaupt schon gefunden? Oder eine akzeptierende, gelassene Haltung gegenüber deiner Frisur? Und was ist mit Yoga? Nein, die Probestunde von neulich zählt nicht! Jetzt ist noch Zeit. Höchste Zeit! Hör doch mal, wie deine Knie schon knacken. Ohrenbetäubend. Deine klagenden Knochen sind die Totenglocken, die dein Alter und dein Ende einläuten. Also los, es ist noch nicht zu spät. Abmarsch! Nein, die Erdnussflips bleiben hier.»

 

An jenem Sonntagabend hatte ich beschlossen, ein anderer Mensch zu werden, und mich voller Tatendrang im Internet auf die Suche nach einem neuen, angesagten Ich gemacht.

Auf der Seite selbstbewusst-hamburg.de las ich: «Lösen Sie Ihre Bremsen, dann kommen Sie schneller ans Ziel. Zeigen Sie, wer Sie sind! Entdecken Sie sich neu und optimieren Sie Ihre Fähigkeiten. Wir zeigen Ihnen den Weg zu einem spannenden Menschen: Ihrer Persönlichkeit.»

Am nächsten Morgen hatte ich betroffen festgestellt, dass ich mich tatsächlich für das Seminar angemeldet hatte, was eigentlich nicht meine Art ist, denn ich habe es gern gemütlich und gehe meiner Persönlichkeit, wann immer ich mit ihr aneinandergerate, üblicherweise aus dem Weg.

 

«Mach die Tür auf, oder ich ramm dir das Brotmesser in deinen Schwabbelbauch!», höre ich mich bedrohlich brüllen. Ich will mich ja nicht selber loben, aber wenn es sich derartig anbietet, tu ich es ausnahmsweise mal gern: Bei der Wut-Übung bin ich die absolute Nummer eins. Unschlagbar im derben Rumpöbeln und wüsten Beschimpfen. Rumschreien, bis die Scheiben klirren, dazu kommt man im Alltag ja viel zu selten.

Die Übung begann mit einer Frage unserer Seminarleiterin, der Schauspieldozentin Karin Frost-Wilcke: «Wer von euch kann richtig wütend werden?»

Zwei der drei teilnehmenden Männer und ich hoben den Finger. Von den sieben anderen Frauen rührte sich keine einzige.

Die Übung bestand darin, auf eine imaginäre Tür zuzugehen, wütend gegen sie zu hämmern und den Menschen, den wir uns hinter ihr vorstellen, laut und unflätig zu beschimpfen.

Was dann zu beobachten war, war eine dramatische Unfähigkeit der Frauen zur Wut.

Eine hauchte «Du Doofmann» und machte zarte Klopfbewegungen in die Luft. Eine andere verließ der Mut bereits auf dem Weg zur Tür. Eine dritte rief zwar halbwegs energisch «Mach auf, du Schwein!», brach dann jedoch in verschämtes Kichern aus und huschte mit eingezogenen Schultern zurück zu ihrem Platz.

«Komm mal zu mir», forderte Karin sie auf. «Und jetzt brüll mich an und schubs mich weg. Los, trau dich!»

Es war ein Trauerspiel. Das Schubsen war, wenn es hochkommt, ein verhaltenes Tätscheln, und das Gebrüll erinnerte an eine heisere Prinzessin Lillifee.

Was hindert Frauen bloß an ihrer Wut?

Warum leiden sie regelrecht, wenn sie Aggressionen zeigen sollen?

Vielleicht hat man ihnen einmal zu oft ins Poesiealbum geschrieben: «Sei wie das Veilchen im Grase, sittsam, bescheiden und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.»

Ich habe nichts gegen Rosen und nichts gegen Bewunderung, und manchmal möchte ich eines dieser dusseligen Veilchen rütteln und schütteln, bis die verdammte Bescheidenheit von ihm abfällt wie der defekte Hitzeschild eines Raumgleiters beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre.

«Verglüh doch, du Würmchen!», möchte ich ihnen ins Gesicht brüllen. «Dann bist du wenigstens einmal in deinem Leben zu sehen!»

Die Schüchternheit mancher Frauen lässt mich ratlos zurück. Was mag da hinter dem Panzer aus Zurückhaltung und Konvention alles schlummern? An Energie und Phantasie und, ja, auch an Wut und Gewalt?

Oder funktioniert unsere Welt nur, weil Frauen tendenziell brav sind, sich um die Weihnachtsgeschenke für die Schwiegereltern kümmern, leere Klopapierrollen auswechseln und später keine Kriege anzetteln?

In deutschen Gefängnissen sitzen zu fünfundneunzig Prozent Männer. Vielleicht würde es eng werden hinter Gittern, wenn Frauen keine Veilchen wären.

Aber die Sehnsucht bei Frauen nach mehr Selbstbewusstsein und weniger Bescheidenheit ist da, und ebenso die Lust, den ewigen Platz im Zuschauerraum zu verlassen, um sich endlich mal auf die Bühne des Lebens zu stellen.

Im Rampenlicht wachsen keine Veilchen, und in der letzten Reihe blühen keine Rosen.

Es geht um Auftreten und Stimme, es geht um Haltung statt Zurückhaltung – und um die Überwindung des niemals schlafenden, gefräßigen Untieres, das in den Winkeln unserer Seele haust: unseres inneren Schweinehundes.

Und nun bin ich hier mit einem ganzen Rudel von Schweinehunden, meiner Persönlichkeit sowie der von neun anderen: Menschen, die sich verändern wollen, die das Optimum aus sich rausholen wollen und sich manchmal einfach eingestehen müssen, dass auch das Optimum nicht immer optimal ist. Und dass es keinen einfachen Weg gibt, besser zu werden, glücklicher zu werden, freier zu werden. Veränderung tut weh.

 

Auf die Wut- folgt eine Partnerübung. Wir sollen aufeinander zugehen und uns begrüßen, wobei abwechselnd einer den Chef und der andere den Untergebenen spielen soll. Durch unsere Körperhaltung sollen wir Überlegenheit beziehungsweise Unterlegenheit ausdrücken.

Friedemann und Regina, ein Ehepaar aus Tübingen, das den Kurs in Kombination mit einer Hamburg-Tour und einem Musicalbesuch gebucht hatte, geraten sich dabei derartig in die Haare, dass man ihnen, auch im Sinne der bedrohten Gesamtharmonie der Gruppe, einen vorzeitigen Abbruch des Kurses nahelegen möchte.

«Er kommt einfach nie runter von seinem Thron!», ruft Regina klagend in die Runde. «Er kann sich mir nicht mal im Spiel unterordnen.»

«Du bist dominant und merkst es gar nicht, das ist dein altes Problem», schimpft Friedemann. Sein gewaltiger Bauch bebt böse, und Seminar-Chefin Karin schlägt zur Entspannung der Situation eine Übung vor, bei der wir Hunde spielen sollen, die sich wütend anbellen.

Regina und Friedemann klingen wie zwei überreizte Pitbulls bei einem Hundekampf-Festival in Tschetschenien.

Mein Partner bellt mich so engagiert und überzeugend aus, dass ich es schon fast persönlich nehme.

Ich finde meine Performance aber auch recht gelungen. Ich sehe mich selbst als eine Mischung aus aufgeschrecktem Foxterrier und wachsamem Weimaraner und bekomme zunehmend den Eindruck, dass meiner Bühnenkarriere nichts mehr im Wege steht.

Das ändert sich schlagartig bei der nächsten Übung.

 

«Es geht um Mut», sagt Karin, und mir rutscht das Herz in die Strumpfhose. Ich ahne, dass ich nun dem unangenehmeren Teil meiner Persönlichkeit begegnen werde, mit dem ich mich seit Jahren rumschlage und immer den Kürzeren ziehe.

«Ihr werdet jetzt der Reihe nach durch diese Tür auf die Bühne kommen und vor den Teilnehmern einen drei Minuten langen Vortrag halten», sagt Karin. «Überwindet eure Angst!»

Meine Atmung verabschiedet sich eilig, als hätte sie dringende Anschlusstermine.

Angst gehört eindeutig zur Kategorie der Gefühle, die ein überdurchschnittlich schissiger Mensch wie ich besonders gern zu vermeiden versucht. Aber loswerden möchte ich sie trotzdem.

Eine Zwickmühle: Wer mutig werden will, muss mutig sein. Wer stark werden will, muss stark sein. Um das zu werden, was du werden möchtest, musst du das sein, was du nicht bist.

Ich habe ja schon Lampenfieber, wenn ich was auf Facebook poste oder mich bei Elternabenden in der Kita zum Ausbau der Matschgrube äußern soll.

Öffentliche Auftritte sind für meine innere Balance die größte anzunehmende Katastrophe. Bei Lesungen kämpfe ich, während ich hinter dem Vorhang auf meinen Einsatz warte, mit einem schier unbezwingbaren Fluchtinstinkt.

Ab und zu überwinde ich meine Angst. Nein, das ist eigentlich nicht korrekt, ich überwinde sie nicht. Ich habe sie und mache es trotzdem. Ich gehöre zum Beispiel zu den Steinzeitmenschen, die in der Steinzeit stehengeblieben sind und denen Fernsehen immer noch so etwas wie Respekt einflößt. Wahrscheinlich, weil ich tagsüber nie dazu komme.

Entsprechend aufgeregt bin ich natürlich, wenn ich selbst mal im Fernsehen vorkomme.

Warum bin ich nicht zu Hause geblieben?, frage ich mich bei Pulsfrequenzen um die zweihundertdreißig, wenn ich als Gast in einer Talkshow sitze, das rote Aufnahmelicht der Kamera angeht und die Anfangsmusik zu spielen beginnt.

Was mich zusätzlich nervös macht, ist der Eindruck, dass alle anderen nicht nervös sind. Das ist mir völlig unbegreiflich.

Meiner Ansicht nach ist fehlende Angst letztlich ein Ausdruck mangelnder Phantasie.

Man stelle es sich doch bitte konkret vor: Im Fernsehen sehen dich Tausende von Menschen, hören, wenn du dich verhaspelst, lachen sich kaputt, wenn du sinnfreies Zeug stammelst, sehen den Schweiß auf deiner Stirn und wundern sich, wenn du schreiend rausrennst, um dich dahin zu begeben, wo der normale Mensch hingehört: vor den Fernseher und nicht in den Fernseher.

In den letzten Monaten war ich ein paarmal zu Gast in Talkshows und hatte den unschönen Eindruck, dort jedes Mal die Einzige zu sein, die die alarmierende Sauerstoffknappheit im Studio bemerkte. Barbara Schöneberger, Jörg Thadeusz, Bettina Böttinger: Diese Personen atmen einfach weiter, obschon sie auf Sendung sind. Es ist ungeheuerlich!

Leute, dachte ich, wir sind im Fernsehen! Warum regt ihr euch denn nicht auf?

Bei meinem letzten Besuch bei Beckmann war mir acht Minuten vor Beginn der Sendung aus Nervosität mein Sender ins Klo gefallen. In der NDR Talk Show versuchte ich ein klägliches Witzchen über Coolness, was dem coolen Sänger Jan Delay nicht mal den Ansatz eines Lächelns entlockte, und bei einer Lesung in München zitterte das Mikro in meiner Hand derartig, dass ich meinem Bühnenpartner Hubertus Meyer-Burkhardt fast die Zähne damit ausgeschlagen hätte.

 

Und jetzt wird mein Albtraum wieder wahr: Ich stehe hinter einer Tür auf der Bühne, höre die Stimmen der Teilnehmer im Zuschauerraum und warte auf meinen Einsatz.

Karin klatscht in die Hände.

Ich öffne die Tür, schließe sie hinter mir, gehe die paar Schritte zum Rednerpult – und gebe mich geschlagen.

Die Angst überfällt mich wie ein wütendes Tier. Ich habe keine Chance. Herzrasen und Schnappatmung. Das Blut rauscht in meinen Ohren und schwemmt jeden brauchbaren Gedanken mit sich fort.

Ungünstige Voraussetzungen für einen souveränen Auftritt.

Und als ich japsend meinen Vortrag beginne, stelle ich mir, wie gewöhnlich, die Frage, warum ich mir und meinem Publikum das eigentlich antue?

Die Antwort: Weil ich es können will. Und weil ich glaube, dass hinter meinem Lampenfieber eine ausgewachsene Rampensau schnarcht. Weil ich nicht länger hinnehmen möchte, dass mir Ängste Wege versperren, die ich gehen will.

Weil ich einmal in meinem Leben eine Showtreppe hinunterschreiten will, und weil ich ganz tief in meinem Inneren eine Seelenverwandtschaft spüre zwischen mir und Hans-Joachim Kulenkampff.

Irgendwie bringe ich meinen Vortrag zu Ende und schleiche verzweifelt und beschämt an meinen Platz zurück. Ich fürchte, wenn, dann muss der Hans-Joachim Kulenkampff ein sehr entfernter Verwandter von mir sein.

 

Karin sagt zum Abschluss des Seminars an uns alle gewandt: «Wenn du etwas wirklich willst, dann mach es. Du musst dich treten, immer wieder und immer wieder. Es gibt kein Geheimrezept gegen die Angst. Fast alle machen sich auf der Bühne in die Hose, aber sie stehen trotzdem da. Der Weg ist verdammt hart, aber er lohnt sich.»

Nun, ich muss ganz offen sagen, dass ich nicht gerade eine Spezialistin für den harten Weg bin. Im Gegenteil, ich mag besonders gern den des geringsten Widerstandes.

Auf dem Heimweg gerate ich ins Grübeln. Ein Wochenendseminar macht keinen anderen Menschen aus mir. Aber könnte ein ganzes Jahr einen anderen Menschen aus mir machen?

Vielleicht muss ich nicht so bleiben, wie ich bin. Vielleicht kann ich auch ganz anders sein, als ich denke.

Warum nicht einmal, quasi zur Abwechslung, den steinigen Weg wählen? Es wäre einen Versuch wert.

Jetzt ist die Zeit für einen Neuanfang!

Und was auch kommen mag, eines bleibt mir ja ganz bestimmt: Ich kann wunderbar bellen.

12. Dezember

Gewicht: Ist doch völlig nebensächlich. Auf dem Pfad der Erkenntnis fragst du dich nicht, was du wiegst, sondern wer du bist.

Gemütsverfassung: Unheimlich gestresst durch die Aussicht auf drei Tage Stressbewältigung mit Hilfe von Achtsamkeitsmeditation.

Ich will das kommende Jahr gut gerüstet beginnen und hoffe, in diesem Seminar die Grundlagen für meine zukünftige Weisheit, allumfassende Gelassenheit und innere Ruhe zu legen.

Ruhe?

Was war das jetzt noch gleich?

Kurz zur Erinnerung: Ruhe herrscht zwischen zwei eingehenden SMS. Ruhe bezeichnet man als klingeltonfreie, relativ geräuscharme Zeit, in der sich der Körper beim Nichtstun entspannt und der Geist behaglich und ziellos herumschweift.

Ruhe ist Müßiggang. Ruhe ist Zeitverschwendung im schönsten Sinne. Zur Ruhe kommen heißt, sich grundlos zurückzulehnen, am Nachmittag ein Buch zu lesen oder aus dem Fenster zu schauen, vielleicht bis es dunkel wird.

Früher kannte ich sie, diese versunkenen Zustände, die kleineren und größeren Inseln des Rückzugs, die den Alltag unterbrachen wie glänzende Atolle die Weltmeere.

Früher, das ist lange her, konnte ich kleine Ewigkeiten ins Nichts schauen oder ins Irgendwo. Die Zeit vergessen und den Raum.

So war das früher. Aber früher ist vorbei.

Heute kann ich die Ruhe nicht mehr ertragen.

Ich beherrsche sie nicht mehr, die Kunst der ungeteilten Aufmerksamkeit, und aus meinem Hirn ist ein nervös zuckendes Organ geworden, überlastet, überfordert, überinformiert, überfressen.

Wenn ich länger als fünf Minuten tatenlos zubringe, klopft mein Gehirn an und fragt, unterzuckert von Untätigkeit, wo denn der nächste Außenreiz bleibt.

Jedes Tun hat einen Zweck. Und statt Pause mache ich die Wäsche.

Aber das soll sich ja nun ändern. Gleich geht’s los – ich muss nur noch kurz die Spülmaschine ausräumen.

9 Uhr 45

Ankunft.

Es ist so trübe draußen, dass mein Navigationssystem noch nicht auf Tageslicht umgeschaltet hat. Für die Elektronik meines Autos ist es noch Nacht und für mich eigentlich auch.

Mein Hirn dümpelt träge in den Resten des vorzüglichen Grauburgunders dahin, von dem ich gestern mit meiner Freundin Vera reichlich getrunken habe.

Meine Lust, zwei Tage mit esoterischen Spinnern im Schneidersitz auf stinkenden Gummimatten zu hocken und meinen Atem zu spüren, geht gegen null.

Ich biege auf den Parkplatz des Osterberg-Instituts ein. Mein Navi hat immer noch nicht gemerkt, dass hier in Schleswig-Holstein, irgendwo zwischen Oberkleveez und Niederkleveez, der Tag angebrochen ist.

Ich schalte den Motor ab und gönne mir noch ein paar Minuten in meinem vertrauten Auto.

Mal hören, ob Vera schon wieder kommunikationstauglich ist.

«Prost», meldet sie sich krächzend. «Ich dachte, du bist schon ganz entspannt im Hier und Jetzt.» Sie gähnt. Ihre Stimme klingt nach Nikotin und Kopfschmerzen vom Rausch des letzten Abends.

Ich sage: «In zehn Minuten geht’s los. Ich bin hier am Ende der Welt und will nach Hause. Ich vermisse meine Kinder und meinen Mann und würde lieber Socken bügeln, als jetzt gleich da reinzugehen, um mit wildfremden Menschen meine Mitte zu suchen.»

«Quatsch. Du kriegst immer Sehnsucht nach deinem Mann oder deiner Bügelwäsche, sobald du Schiss oder keine Lust hast. Du gehst da jetzt rein, Ildikó, und ziehst das Seminar durch. Sieh es als Experiment. Auch Scheitern macht klüger.»

Sie spricht meinen Vornamen so streng aus wie meine ehemalige Biologielehrerin Frau Opitz, und schon beginne ich zu bereuen, von Vera, meiner ältesten und strengsten Freundin, Trost, Verständnis und womöglich Absolution für eine frühzeitige Abreise aus Niederkleveez erhofft zu haben.

«Hast du auch solche Kopfschmerzen?», frage ich ablenkend.

«Nicht jammern – tun!», ruft sie mir unerwartet laut durch die Freisprechanlage entgegen. Mir dröhnt der Kopf. «Denk an das Maßband in deiner Nachttischschublade. Die Zeit läuft!»

Ach ja, das verdammte Maßband. Zunächst kam ich mir albern vor, aber Vera hatte gesagt, ich solle das unbedingt ausprobieren. Es sei sehr effektiv und eindrucksvoll, und man hätte danach augenblicklich keine Lust mehr, öde Filme oder öde Menschen zu sehen.

Ich hatte also ein Maßband gekauft, es bei sechsundvierzig Zentimetern durchgeschnitten und das erste Stück weggeworfen.

Das war meine Vergangenheit. Null bis sechsundvierzig. Die Zeit, die ich schon gelebt habe.

Dann hatte ich das Band ein weiteres Mal bei dreiundachtzig Zentimetern gekappt und das abgeschnittene Stück weggeworfen – die Zeit, die ich voraussichtlich nicht mehr erleben werde, sollte ich das für eine Frau durchschnittliche Alter von dreiundachtzig Jahren erreichen.

Übrig blieb mir ein verstörend kurzes Stück Maßband mit einer Länge von siebenunddreißig Zentimetern.

Meine Zukunft.

Statistisch gesehen.

Ich hatte das Maßband in meine Nachttischschublade gelegt, und von dort aus verströmt es seither seltsame Energien.

Manchmal kommt es mir vor wie eine Bedrohung, wie ein Strick, der sich langsam um meinen Hals zuzieht.

Dann versuche ich, mich an das zu erinnern, was ich neulich bei Wilhelm Schmid gelesen habe: den Unterschied von Edelsteinleben und Kieselsteinleben. Wie man unachtsam Kieselsteine aufeinanderhäuft, wenn man sich der Endlichkeit des Lebens und des Wertes jedes einzelnen Augenblicks nicht bewusst ist. Und wie es durch das Wissen um die Begrenzung gelingen kann, kostbare Momente wie Edelsteine zu sammeln.

Ein Edelsteinleben will ich auch. Und dieser Moment könnte unheimlich schön sein, wenn ich den Rückwärtsgang einlegen und nach Hause fahren würde.

Vera scheint meine Gedanken zu erahnen und sagt: «Vergiss es. Du bleibst, wo du bist.»

«Warum musst du denn immer so hart zu mir sein?», frage ich weinerlich.

«Weil du es nicht bist.»

Eine halbe Stunde später sitze ich Auge in Auge mit einer Rosine, und es ist ganz offensichtlich, dass wir beide uns überhaupt nicht leiden können.

 

Sowohl die Seminarleiterin als auch die sieben Teilnehmer entsprechen ebenso wenig meinen Vorurteilen wie der schöne, achteckige Raum der Mitte, in dem sich die Gruppe zusammengefunden hat.

Ich hatte mich augenblicklich geschämt, als ich eingetreten war und nichts so war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war, als würde eine dünne, schöne Blondine, von der man gehässig angenommen hatte, sie sei ganz sicher stumpfsinnig und garstig, anfangen, einem superfreundlich die Grundlagen der Astrophysik zu erklären.

Die Teilnehmer und Susanne Kersig, Psychologin mit dem Schwerpunkt Achtsamkeitsmeditation und Leiterin des Seminars, machten alle einen sehr vernünftigen Eindruck auf mich. Im Grunde genommen fast wie ganz normale Menschen.

Ich beschloss aber, achtsam zu bleiben. Man hängt ja auch irgendwie an seinen Vorurteilen, sind sie doch eine liebevoll zusammengestellte Komposition aus Klischees und Spießigkeit und den Gedanken, die sich andere bereits für einen gemacht haben.

Nachdem wir uns bei der Vorstellungsrunde aufs Duzen geeinigt haben – immerhin hatten wir die Wahl –, reicht Susanne eine Dose herum. Wir sollen hineingreifen, eine Rosine herausholen und sie dann so wertfrei betrachten, als hätten wir noch nie zuvor eine gesehen.

Ich greife beherzt zu und komme mir einen Moment lang vor wie Maren Gilzer bei einer Dschungelprüfung.

Ich rufe mir mahnend in Erinnerung, was Vera gestern weinselig verkündet hatte: «Wochenendseminare sind wie Karneval: Entweder du lässt dich auf sie ein, oder du kannst es gleich bleibenlassen. Du gehst ja auch nicht ohne Kostüm zum Rosenmontagszug.»

 

Ich betrachte das verschrumpelte Klümpchen zwischen meinen Fingern und versuche, die Rosine meine Antipathie nicht spüren zu lassen. Aber ich habe das Gefühl, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruht.

Selbst vollkommen wertfrei betrachtet, sieht das Gebilde aus wie eine unappetitliche Kreuzung aus Kotkrümel und vertrockneter Hirnmasse, und es verströmt einen süßlichen Verwesungsgeruch.

Als Susanne uns auffordert, die Rosine in den Mund zu nehmen, kann ich mich gerade noch dazu überwinden, aber kauen und schlucken? Nein, das geht beim besten Willen nicht. Karneval hin oder her, es gibt gewisse persönliche Abneigungen, über die man sich nicht hinwegsetzen sollte. Ich zwinge mich ja auch nicht, einen Film mit Christine Neubauer anzuschauen oder Eigenurin zu trinken.

Ich spucke also die klebrige Frucht entschlossen in meine Hand und komme mir unheimlich achtsam vor, habe ich doch rechtzeitig und eindeutig bemerkt, wo meine Grenzen sind, und diese respektiert.

Während alle anderen noch mit geschlossenen Augen kauen, schleichen sich bei mir erste Zweifel ein. Und als die Teilnehmer anschließend berichten, wie es ist, eine Rosine wie zum ersten Mal zu essen, wie der Geschmack plötzlich im Mund entsteht und genauso plötzlich spurlos verschwindet, und wie ungewöhnlich es ist, sich mit allen Sinnen auf einen einzigen Vorgang zu konzentrieren, und dass dieser eigentlich normale Vorgang dadurch zu einem unerwarteten Abenteuer wird – da muss ich zerknirscht zugeben, dass ich gerade durch meine eigene Schuld einen kleinen Edelstein am Wegesrand habe liegen lassen.

Als ewiger Besserwisser kann man keine neuen Erfahrungen machen.

«Vorurteile sind typisch für den Anfängergeist», sagt Susanne Kersig, und ich fühle mich durchaus gemeint. «Achtsam sein heißt, das gewohnheitsmäßige Denken zu unterbrechen und den Ist-Zustand wertfrei wahrzunehmen. Ihr braucht nicht alles zu glauben, was euch durch den Kopf geht. Wir denken mehr als hunderttausend Gedanken pro Tag, aber davon sind neunzig Prozent nicht sinnvoll. Viele Gedanken wiederholen sich oder sind überflüssig. Es lohnt sich, eure Gedanken zu überprüfen. Grübelt beim Aufstehen nicht darüber nach, was der Tag wohl bringen wird. Frühstückt, als frühstücktet ihr zum ersten Mal, statt achtlos zu kauen und an etwas zu denken, das in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, sich also sowieso eurem Einflussbereich entzieht. So könnt ihr eure Stressmuster durchbrechen.

Unser in der Steinzeit angelegtes Gehirn ist nicht gemacht für die Fülle an Reizen, der es heutzutage ausgesetzt ist. Unruhige Geister sind ineffektiv, denn unter Stress übernimmt unser Reptiliengehirn das Kommando. Kompliziertes ist dann nicht mehr zu bewältigen, weil dieser Teil des Hirns lediglich auf Angriff oder Flucht programmiert ist. Da wir aber nur noch selten realen Gefahren ausgesetzt sind und nicht mehr wegrennen oder uns prügeln müssen, wird das bei Stress erzeugte Adrenalin nicht mehr abgebaut. Wenn wir nicht ab und zu innehalten, wird der Stress chronisch, und wir werden zu Marionetten. Auf Reiz folgt Reaktion, pausenlos. Veränderungen sind so nicht möglich.

Innehalten schenkt Freiheit. Das Jetzt ist unser wahres Zuhause. Genießt die Zeit, die euch ein Stau schenkt. Lasst eure Handys die nächsten Stunden auf euren Zimmern. Lernt Funklöcher lieben und stellt euch im Supermarkt an der längsten Schlange an.»

 

In der ersten Pause höre ich auf der Toilette meine Mailbox ab und habe dabei ein Gefühl, als würde ich meinen Mann betrügen oder über meine beste Freundin hinter ihrem Rücken schlecht reden.

Aus dem Klofenster sehe ich, wie Ingeborg, eine der Teilnehmerinnen, hinter einen Stechginster geduckt ihr Handy ans Ohr presst, mit jener angespannten und jederzeit zur Flucht bereiten Körperhaltung, wie sie Menschen einnehmen, die genau wissen, dass sie gerade etwas tun, was sie eigentlich nicht tun sollten.

Sehr schön zu beobachten auch bei Kindern, die abends ans Nutella-Glas gehen, verheirateten Frauen, die sich bei Tinder anmelden, und Hunden, die gerade das letzte Amuse-Gueule für den Champagnerempfang aufgefressen haben.

Unsere Handys sollten für uns Gebühren bezahlen, nicht wir für sie.

Es würde mich nicht wundern, wenn sich Smartphones untereinander genauso abgedreht über ihre Besitzer, ach, was sage ich: über ihre User unterhalten wie wir über unsere Telefone.

i-Phone: «Du, ich hab mir jetzt einen Neuen besorgt. Der ist auch nachts und auf dem Klo online!»

Nokia Lumia: «Mein User kann beim Fahrradfahren simsen!»

Sony Xperia: «Meine Userin hat mich letzte Woche ihrem Mann geschenkt, um ihn jederzeit orten zu können.»

Motorola Moto (kleinlaut): «Meine benutzt mich nur zum Telefonieren und als Taschenlampe, wenn sie ihren Schlüssel sucht.»

 

Ich verlasse die Toilette mit dem gleichen Pokerface, mit dem Ingeborg kurz nach mir den Meditationsraum betritt.

Funklöcher, zumindest die größeren, machen mich nervös.

Erst seit ich ständig erreichbar bin, habe ich das Gefühl, dass ständig etwas passieren könnte.

Früher war die ganze Welt ein Funkloch. Kein Empfang. Überall.

Da musste man nichts abschalten, um abzuschalten, und Eltern mussten auf ihre Kinder und das wohlwollende Schicksal vertrauen, statt auf Ortungsdienste und Skype.

Wie haben die das bloß ausgehalten? Das Festnetz als einzige Nabelschnur? Unvorstellbar!

Heute kehre ich um, wenn ich mein Handy zu Hause vergessen habe, und ohne Empfang fühle ich mich bedroht von all dem, was passiert oder nicht passiert, während ich unerreichbar bin.

Wie ein Kettenraucher wäre ich mir nicht zu schade, in kurzen, regelmäßigen Abständen in die Eiseskälte rauszugehen, um meine Nachrichten zu checken.

Die einen brauchen Nikotin. Ich brauche ein Netz.

Es könnte ja schließlich was sein.

 

Ich schließe die Augen und beginne meine erste Körpermeditation. Auf der Mailbox war meine Zahnärztin, die mich an den Prophylaxetermin nächste Woche erinnern wollte.

Aber es hätte ja was sein können.

Die Stille im Raum ist anders still, als ich gedacht hatte.

Nicht bedrängend, nicht ungemütlich, nicht so, dass man ständig Angst hat, als Einziger ein womöglich unappetitliches Geräusch von sich zu geben.

Die wenigen Geräusche der anderen stören mich nicht. Im Gegenteil, die Stille schließt alles freundlich mit ein: die Atemzüge des Mannes rechts von mir, das Magengrummeln der Frau links von mir, das Rumpeln eines schweren Fahrzeuges irgendwo da draußen zwischen Oberkleveez und Niederkleveez.

Es scheint, als gäbe es in diesem Raum eine geheimnisvolle Kraft der gemeinsamen Gedanken, die sich gegenseitig wohlwollend begleiten und beruhigen.

Susanne sagt: «Versuche, Abstand zu schaffen zu deinen Gedanken. Lass sie vorüberziehen wie einen Zug, in den du nicht einsteigst, oder tu so, als seien es die Gedanken deines Nachbarn. Werte sie nicht, beobachte sie nur, lass sie kommen und wieder gehen.»

Mein Nachbar fängt an zu schnarchen. Mich beruhigt das ungemein, so wie ein leise gemurmeltes Mantra oder sanfte Musik. Susanne weckt ihn leider vorsichtig wieder auf.

Meditieren, sagt sie, heißt, wach zu sein. Nicht Schlaf sei das Ziel, sondern aufmerksame Entspannung. Mit allen Sinnen da zu sein, Empfindungen anzunehmen. Aufgeschlossen wahrnehmen, was ist und was mit jedem Atemzug entsteht und vergeht.

Es ist erschreckend, wie schwer es ist, den herumtollenden Geist bei Fuß zu halten.

«Versuche, deine Gedanken wie einen Hund wenigstens ab und zu zurück ins Körbchen zu locken», sagt Susanne, aber in meinem Kopf sieht es aus wie auf einer Hundewiese, auf der mindestens die Hälfte der Köter von Tollwut befallen ist. Meine schlecht erzogenen Gedanken schnappen nach mir, sobald ich sie einfangen will.

Hinsetzen und an nichts denken: Warum ist es nicht so einfach, wie es klingt?

Meine Nase juckt. Wie alt ist der Prinz Harry jetzt eigentlich? Ob mir Blond steht? Meine Knie schmerzen. Wie ist Putin wohl privat? Ich muss dringend noch vor Weihnachten den Keller aufräumen. Und am besten auch mein Leben. Meine Schultern sind ja total verspannt. Warum geht die Zeit an Nena spurlos vorüber und an mir nicht?

Der Gedankenstrom rauscht in meinen Ohren. Und hinter meinen Augenlidern tobt das Leben, das ich doch eigentlich für einen Moment außen vor lassen wollte.

Es ist beschämend, wie ruhelos mich die Ruhe macht.

In der zweiten Pause lese ich auf dem Klo eine SMS der Elternvertreterin aus der Kita meines Jüngsten, die uns daran erinnert, wie wichtig es ist, das Kopfhaar unserer Kinder regelmäßig auf Läuse zu untersuchen und bei Befall unverzüglich die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, wie sie auf dem anhängenden Merkblatt Kopfläuse wirkungsvoll bekämpfen geschildert seien.

Ich beschließe, bis zum Abend nicht mehr auf mein Handy zu schauen. Genauso könnte ich mir vornehmen, erst ab Mitternacht wieder zu blinzeln, zu atmen und Speichel zu bilden.

Der Gong der Klangschale ruft mich zurück in die Unwirklichkeit, in der Kopfläuse und Putin keine Rolle spielen, sondern nur der jetzige Moment, weil er der einzige ist, den wir haben, und weil es schön wäre, uns diese vielen einzigartigen Momente nicht zu versauen, in dem wir in Gedanken ständig bei den Momenten sind, die vorbei sind, oder bei denen, die noch vor uns liegen.

So verpasst man andauernd das Leben.

14. Dezember

Auf der Rückfahrt bin ich zuversichtlich und voller Pläne für mein achtsameres Leben, das im neuen Jahr beginnen soll. Für zu Hause habe ich mir eine von Susanne besprochene Meditations-CD gekauft. Als Geländer für meine Gedanken.

Was unsere Lehrerin uns mit auf den Heimweg ins wahre Leben gegeben hat: «Das, was uns wichtig ist, ist selten dringend und taucht deswegen nicht auf unseren Prioritätenlisten auf. Wir müssen uns für das Wichtige bewusst Zeit schaffen, weil es sich anders als das Dringende nicht aufdrängt.»

Was ich mir also vorgenommen habe: jeden Morgen meditieren und mich fragen, was mir heute wichtig ist. Multitasking vermeiden. Gleichgewicht schaffen zwischen Tun und Nichtstun. Heilsame Gedanken füttern. Und mich immer wieder zur Ordnung rufen und zur Überprüfung der eigenen Denkmuster und Glaubenssätze mahnen.

Glaub nicht alles, was du denkst! Alles kann auch ganz anders sein!

In einem Experiment wurde Patienten stinknormales Wasser gereicht mit dem Hinweis, es enthalte ein Brechmittel. Achtzig Prozent der Probanden erbrachen sich, nachdem sie das Wasser getrunken hatten.

Es hilft, wenn einem mal wieder zum Kotzen zumute ist, sich freundlich, aber bestimmt zu ermahnen: «Es sind nur Gedanken. Die Wahrheit, die Zukunft, die Realität kann ganz anders aussehen, als ich es mir gerade ausmale. Also kann ich das unnütze Nachdenken eigentlich auch gleich lassen und mich angenehmeren Dingen zuwenden.»

Ich bin eine Spezialistin in Sachen nutzloser Gedanken. Im engagierten Reinsteigern und superfinsterem Grübeln macht mir so leicht keiner was vor.

Ich nehme alles persönlich, bin leicht zu beleidigen und verstehe mich darauf, auf quasi jede beliebige weibliche Person innerhalb von Sekunden eifersüchtig werden zu können. Wenn ich mir genug Mühe gebe, sogar auf Schaufensterpuppen und Tatort-Kommissarinnen.

Ich verleihe Dingen, Menschen, Verhaltensweisen und nicht zuletzt mir selbst eine Bedeutung, die nicht angemessen ist. Der Busfahrer, der mich nicht zurückgrüßt, kann mir den Tag vermiesen.

Dabei hat ihn am Morgen vielleicht seine Frau verlassen. Und der Typ, der mir das Taxi vor der Nase wegschnappt, muss womöglich so schnell wie irgend möglich zu seinem Kind ins Krankenhaus. Die Schnepfe, die über mich herzieht, tut das eventuell, weil ihr das Leben gerade über den Kopf wächst.

«Wie schön, dass das alles deren Probleme sind und nicht meine. Endlich mal eine Schwierigkeit, in der ich nicht stecke!» Das könnte ich doch einfach mal abwechslungshalber denken.

Dann würde, allein durch die Kraft meiner Gedanken, jede Übelkrähe meine Laune heben, weil sie mich darauf hinweist, dass es mir im Moment ganz offensichtlich besser geht als ihr. Ganz dem wunderbaren Satz nachempfunden, den ich neulich im Schaufenster der Modern Life School in Hamburg las und den man innerlich immer abrufbereit haben sollte für den Fall, dass einem jemand unnötig nahe kommt oder geht:

«Wenn ich du wäre, wäre ich lieber ich!»

Dann wäre ich viel weniger verletzlich, und meine Zukunftsängste würden jener heiteren Gelassenheit weichen, von der ich immer in Glücksratgebern und Frauenzeitschriften lese.

Denn sollte die Zukunft tatsächlich düster werden, bräuchte ich mir ja nicht auch die Gegenwart damit zu verderben.

«Kein Vorschuss auf Zores!», heißt eine jüdische Weisheit.

Zores sind Sorgen. Und die soll man sich gefälligst erst machen, wenn man Grund dazu hat. Und auch nur dann. Karl Valentin sagte: «Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.»

 

Ich halte vor dem Haus, in dem ich wohne, und fühle mich schon gehörig erleuchtet, ansatzweise weise und bin absolut bereit, den guten Gedanken und sogar den Rosinen in meinem Leben eine Chance zu geben.

26. Dezember

Gewicht: Ich hatte bereits einen Tag vor Heiligabend mein Nachweihnachtsgewicht erreicht. Muss mir auch erst mal einer nachmachen.

Stimmung: Tendenziell mürrisch.

Entweder ist Weihnachten nicht mehr das, was es mal war, oder ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Oder wir haben uns auseinanderentwickelt. Das kommt ja in den besten Beziehungen vor.

Wir hatten wieder keine weißen Weihnachten. Dabei hat früher am Heiligen Abend fast immer Schnee gelegen. Und die Tannen rochen viel intensiver nach Tannen, und die Lichterketten hatten ein deutlich wärmeres Licht.

Wann hat die Weihnachtszeit ihren bedingungslosen Zauber verloren? Warum kann ich mich nicht mehr freuen wie ein Kind? Kann ich es vielleicht wieder lernen?

Ich betrachte den überladenen Baum und bin froh, dass sie jetzt vorbei ist, diese überheizte, überfüllte Weihnachtszeit. Stets vollgepackt mit Terminen und dümmlichen Sätzen wie: «Wir müssen uns in diesem Jahr unbedingt noch mal sehen!»

Warum eigentlich?

Auch wenn man es nicht für möglich hält: Es gibt einen Januar, den man getrost nutzen könnte, um den Dezember zu entlasten.

Aber weil ja im Januar jedes Mal alles ganz anders und ganz neu und leicht und lebendig und total vernünftig werden soll und man den Kohlehydraten, dem Alkohol und den Nuss-Nougat-Kreationen für immer abschwört, muss man den Dezember richtig auskosten. So frisst man sich träge dem neuen Jahr entgegen, verwechselt Völlerei mit Genuss und ist enttäuscht, dass man an Silvester in keines der etwas schickeren Kleider mehr reinpasst und wieder eine weit fallende Bluse über Leggins tragen muss.

Ein Outfit, das übrigens auch durch hohe Absätze optisch nur minimal gestreckt und nicht wesentlich erträglicher wird.

In dieser Saison ist es mir gelungen, vom ersten bis zum letzten Advent fünfeinhalb Kilo zuzunehmen, sodass ich mich jetzt in der Zwei-Hosen-Phase befinde.

Von gefühlten zweihunderttausend Hosen in meinem Schrank passen noch zwei, und die auch nur, weil sie einen Gummizug in Kombination mit einem erhöhten Stretchanteil vorzuweisen haben.

Jetzt hocke ich wohlgenährt wie ein verwöhnter Mops zwischen meiner Weihnachtsdeko, die mir, genauso wie ich selbst, viel zu üppig vorkommt.

Überladen mit Überflüssigem. So wie ich. So wie mein Körper. So wie mein Hirn.

Innerlich und äußerlich verfettet. Unbeweglich geworden unter selbstauferlegten Luxuslasten.

Mittlerweile verschafft mir die Entsorgung des Weihnachtsbaumes mehr Vergnügen als das Schmücken.

Mit großem Behagen verstaue ich die unzähligen Christbaumkugeln in ihren Kisten, schleife den kahlen Baum durchs Treppenhaus raus zum Bürgersteig und lehne ihn gänzlich ohne Abschiedsschmerz an die Müllbox.

Eigentlich sollte ich ihn das ganze Jahr im Wohnzimmer stehen lassen – als Mahnmal meiner Unfähigkeit, mich auf das Wesentliche zu beschränken.

Ich könnte große Haufen mit Unnötigem bilden: T-Shirts in realistischerweise nicht mehr zu erreichenden Größen. Ungelesene Bücher, die Platz wegnehmen und mein Gewissen beschweren. Elektrische Küchengeräte, nahezu unbenutzt. Edle Parfüms, schillernde Schuhe und teure Gesichtsmasken, die ich seit Jahren aufspare. Für wann?

Käme ich heute überraschend zu Tode und würde man mich zusammen mit all den Dingen beerdigen, die ich für besondere Anlässe zurückbehalten habe, es würde ein Massengrab ausgehoben werden müssen.

Seit Sommer dieses Jahres gibt es in unserem Keller einen Raum, der nur aus Schränken besteht, deren grifflose Türen sich mit einem leisen, lieblichen Geräusch öffnen, wenn man auf sie draufdrückt.

Push-to-open. Bis vor kurzem kannte ich diesen Begriff genauso wenig wie die Thigh Gap, Hashtag oder Digital Detox.

Der Schrankraum ist mein Lieblingszimmer. In ihm komme ich mir vor wie im meditierenden Gehirn eines Zen-Meisters. Ruhig und aufgeräumt. Nichts lenkt die Sinne ab, bis auf einen unsichtbaren Ventilator, der einmal in der Stunde leise anspringt, um den Raum zu belüften und zu verhindern, dass sich irgendwo Schimmel bildet.

Wie in einem klaren Kopf, durch den ab und zu ein frischer Wind weht.

Aber einmal Push-to-open, und sofort sieht der Raum aus wie das Hirn einer Frau, die vergessen hat, ihren Söhnen die Pausenbrote zu schmieren, die an jeder roten Ampel ihre E-Mails checkt und die definitiv ein Weihnachtsdeko-Problem hat.

Müll und Kostbarkeiten purzeln aus den Schränken, unsortiert reingestopft, wo gerade Platz war.

Wenn ich mich umschaue in meinem aufgewühlten, überlasteten, überquellenden Kopf, in dem ein Grundrauschen tost wie an den Wasserfällen von Iguazú, dann ahne ich, wonach ich im neuen Jahr suchen sollte, in dem ich möglichst viel richtig, möglichst wenig falsch und eine Menge anders machen will.

Ich wickle die Weihnachtskrippe meiner Großmutter in vergilbtes Zeitungspapier. Es ist die Zeit vom 30.12.1994.

Das war das letzte Weihnachten meiner Mutter, und es war mein letztes Weihnachten als Kind, und vielleicht ging damals der Zauber verloren.

31. Dezember

Zeit und Ort: 23 Uhr 48 unter Raketenbeschuss am Ostseestrand.

Stimmung: Konfus, um nicht zu sagen: panisch.

Körpergewicht: Sechs Kilo über dem Startgewicht. Nach dieser voll ausgekosteten Weihnachtszeit ein eindrucksvoller, deutlich über dem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlener Wert.

Motivation, irgendetwas anders zu machen als bisher: Null.

Und das soll jetzt alles vorbei sein?

Ich schaue betrübt auf die Flasche Champagner in meiner linken Hand und auf die Zigarette in meiner rechten.

Ich liebe meine Laster!

Und ich liebe mein Leben!

Und zwar ganz genau so, wie es ist.

«Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute ohne Laster auch sehr wenige Tugenden haben», hat Abraham Lincoln gesagt, und der Mann wusste doch vermutlich, wovon er sprach.

Ich will so bleiben, wie ich bin. Ich darf aber nicht.

In zwölf Minuten werde ich Abschied nehmen und mit meiner letzten Zigarette eine Rakete anzünden und sie aus meiner letzten, dann leeren Flasche Alkohol abschießen.

Ich neige zu großen Gesten, die, wie fast alle großen Gesten, mitunter hart am Rande der Lächerlichkeit entlangschrappen. Das stört mich aber nicht.

Der Jahreswechsel rast auf mich zu wie ein Intercity ohne Verspätung. Ich könnte einfach nicht einsteigen. Oder auf den nächsten Zug warten.

In einem Jahr fängt ja wieder ein neues Jahr an.

Wozu also die Eile?

Eine Rakete landet direkt vor meinen Füßen und erstirbt ohne zu explodieren mit einem jämmerlichen Zischen im Sand.

Na, so möchte man auch nicht enden, denke ich. Verrecken ohne Getöse. Erlöschen, ohne vorher wenigstens ein bisschen gefunkelt zu haben.

Ich zünde eine Zigarette an der an, die ich noch in der Hand halte, und ziehe den Rauch so tief in meine Lungen runter, dass sie erschrocken quietschen.

Kann ich jetzt echt keine Rücksicht drauf nehmen.

Ich habe keine Zeit zu verlieren. Wer hat das schon?

Aber vielleicht wäre es ganz schön, wenn ich wieder Zeit zu verlieren hätte?

Vor vierzehn Jahren habe ich aufgehört zu rauchen.

Vor einer Dreiviertelstunde habe ich wieder angefangen. Kette. Ich hatte ja nun wirklich nicht die Möglichkeit, die Sache langsam angehen zu lassen oder auf Mäßigung zu achten.

Bin sowieso kein großer Freund von Maßhalten.

Die Zigarette nach dem Essen, das Glas Wein am Abend, der Riegel Schokolade und der Kuss an der Haustür haben mich nie interessiert. Mein Aschenbecher war immer voll, die Flasche leer, die komplette Tafel weg und mit allen, mit denen ich an der Haustür geknutscht habe, wollte ich für immer zusammen sein. War ich auch. Also mit fast allen.

23 Uhr 58

Der Countdown und die Frage: Könnte man Silvester vielleicht verschieben? Nur dieses eine Mal?

 

Verdammt, die Champagnerflasche ist noch halb voll!

Kaum zu schaffen in zwei Minuten.

Die Zigarettenpackung ist auch noch halb voll.

Eine Stimme, sie kommt mir bekannt vor, raunt mir zu, dass das neue Jahr doch eigentlich erst morgen früh nach dem Aufstehen beginnt und dass ich mich bitte mal fragen solle, wie spießig und unglaublich unindividuell es ist, an Silvester um Punkt Mitternacht mit den guten Vorsätzen zu starten. Das machen alle, und es geht sowieso immer schief.

Ja, denke ich, da ist was dran.

Es handelt sich im Übrigen um dieselbe Stimme, die mir seit Jahrzehnten erzählt, Nutella sei im strengen Sinne keine Süßigkeit, Alkohol sei Medizin und morgen im Übrigen auch noch ein Tag, um mit gezieltem Krafttraining und einer ausgewogenen Ernährung zu beginnen.

Wenn ich es mit Blick auf die Uhr recht bedenke, gibt es, vernünftig betrachtet, an meiner Gesamtsituation wenig auszusetzen. Hunger leide ich nur absichtlich. Meine Kinder sind gesund, die Kaiserschnittnarben verblasst und mein Beruf und ich, wir gefallen uns. Meine Ehe hat sich auf einer rational-emotionalen Ebene gefestigt, und es ist mir tatsächlich möglich, nicht aus jeder altersschwachen Mücke einen wütenden Elefanten zu machen. Zumindest manchmal.

Ja, es hat in letzter Zeit schon Abende gegeben, an denen ich bitterböse und mit festen Scheidungsabsichten Richtung Bett gestampft bin, bloß um morgens friedfertig aufzuwachen mit der mir eigentlich wesensfremden Haltung, der Streit sei unnötig und den ganzen Ärger nicht wert gewesen.

In solchen Momenten bin ich mir unheimlich. Meinem Mann nicht.

Wann immer mich das Schicksal gebeutelt hat, hat es mir immerhin nicht die Lust aufs Leben oder den Appetit verdorben.

Einige der Abschiede, die ich nehmen musste, schmerzen bis heute. Manchmal wie am ersten Tag. Und darüber bin ich froh, weil man ja nur vermissen kann, was wichtig war, als es noch da war.

So wie meine Eltern, meine Tante und das Gefühl, das du als Kind hattest, wusstest, dass morgen Nikolaus, dein Geburtstag oder der erste Tag der großen Ferien ist: Brause im Herzen.

Ich habe ein gutes Auskommen, ein solides Dach zwischen mir und dem Himmel, Freunde, bei denen ich mich zu Hause fühle, ein schnelles WLAN, keine lebensbedrohliche Krankheit, und manchmal gebe ich ein Autogramm oder schreibe eine bunte Widmung in eines meiner Bücher.

Wie kann ich ernsthaft etwas ändern wollen an diesem reichhaltigen Leben?

Wie kann ich es wagen, rumzumeckern an meiner Existenz auf der Sonnenseite, wenn Flüchtlingskinder in Lastwagen ersticken und Menschen hungers sterben, während ich mir überlege, was ich morgen nicht esse?

Andererseits kann ich mich auch nicht dauernd entschuldigen für die Probleme, die ich nicht habe.

«Nimm dich selbst nicht so wichtig, das hilft», sagte mein Freund Daniel neulich. Bei diesem Punkt gibt es sicherlich bei mir noch Optimierungsbedarf.

Gleicht geht die Reise los.

Ein Jahr auf der Suche nach der eigenen Mitte, dem Idealgewicht, einer emanzipierten Haltung, innerer und äußerer Schönheit und dem Geheimnis straffer Haut, freundlicher Gelassenheit und einer überwiegend gut sitzenden Frisur in einer angesagten Farbe.

Aufbrechen und sehen, was noch möglich ist.

Edelsteine suchen. Ein Jahr lang.

Und vielleicht ist danach nichts mehr so, wie es war.

Denn ich will genau das, was alle wollen: mehr!

 

Fünf!

Vier!

Drei!

Zwei!

Eins!

 

Bitte einsteigen, Türen schließen selbsttätig, Vorsicht bei der Abfahrt. Prost Neujahr!

Der ICE verschwindet in unbekannte Richtung.

Auf dem Bahnsteig bleiben eine leere Flasche Champagner und eine halb aufgerauchte Zigarette zurück.

Ich bin unterwegs.

Januar

Von der Komfortzone in die Problemzone:

Furien im Schweigekloster, Einsamkeit zum Anfassen, Liegestütze ohne Happy End.

Warum der Nikolaus sterben muss, wie sich Nüchternheit negativ auf die Qualität eines Abends auswirkt, und warum es sich so falsch anfühlt, alles richtig zu machen.

1. Januar

Befinden: Kümmerlich, verkatert, verzagt.

Gewicht: Neue WLAN-Waage erscheint mir sehr kompliziert zu installieren. Mache ich morgen.

Meditation: Langsam angehen lassen. Morgen werde ich als Erstes meine Meditations-CD auf mein Handy überspielen.

Zielsetzung: Konkrete Ziele festlegen! Gleich morgen!

Motto (eigentlich): «Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.» Oder: «Wenn dir was runterfällt, dann heb es lieber gleich auf.»

Ich versuche, mich zu trösten. Etwas Großes kann ganz klein anfangen. Jedes überwältigende Gemälde beginnt mit einem Pinselstrich, jeder Bestseller mit einem einzelnen Wort und jedes ganz besondere Jahr mit einem ganz normalen Tag.

Dieser hier beginnt grau bei zwölf Grad und ergiebigem Dauerregen.

Der erste Januar dieses Jahres unterscheidet sich nicht von einem durchschnittlichen norddeutschen Sommertag. Außer durch die Erwartung, er müsse sich unterscheiden und irgendwie eine glanzvolle Aura des Aufbruchs und der Freude verbreiten.

Ein fünfter April darf untergehen zwischen dem vierten und dem sechsten April. Man nimmt es keinem fünften April persönlich übel, wenn man morgens mit leichten Kopfschmerzen aufwacht und abends beim Einschlafen schon nicht mehr weiß, was man zu Mittag gegessen hat.

Aber ein Neujahrstag sollte wirklich nicht so mittelmäßig daherkommen.

Ich fühle mich mal wieder überrumpelt und enttäuscht von meinen eigenen Erwartungen. Es ist wie mit Leuten, von denen man immer nur Gutes gehört hat, und dann stehen sie zum ersten Mal vor einem. Man rechnet mit einer Lichtgestalt und hat einen Menschen vor sich, der Trekkingsandalen trägt und mit schwäbischem Dialekt spricht.

Obwohl es erst kurz nach zehn ist und mein Frühstück leicht und ungewöhnlich obstlastig war, habe ich das Gefühl, schon so ziemlich alles falsch gemacht zu haben.

Die Last meiner allzu vielen und allzu guten Vorsätze wiegt schon jetzt so tonnenschwer, dass ich den Eindruck habe, beim Strandspaziergang deutlich tiefer als gestern einzusinken.

Ein Jahr lang alles richtig machen: Träume verwirklichen, Sehnsüchte aufspüren, gesund leben, Wesentliches erkennen, Abenteuer wagen, selber glücklicher werden und andere glücklicher machen.

Ich stapfe durch den Neujahrsmüll.

In meiner Manteltasche knistert das Papier von einem Riegel Kinderschokolade, den ich mir gestern um kurz vor zwölf noch in stummer Verzweiflung in den Mund geschoben hatte.

Ewig her – so kommt es mir vor.

Wirklich gute Vorsätze müssen realistisch und konkret sein. Das weiß ich, weil ich es seit dreißig Jahren in den Neujahrsausgaben aller Zeitungen und Zeitschriften lese. Wer abnehmen will, darf sich nicht vornehmen, abzunehmen, sondern braucht ein Zielgewicht, eine Zielzeit – und am besten noch eine Zielhose.

Wer eine Fremdsprache oder das Ukulelespiel lernen will, der sollte sich am ersten Montag nach Silvester zu einem entsprechenden Kursus anmelden, denn am Dienstag ist das neue Jahr schon nicht mehr ganz so neu, und am Mittwoch ist es eigentlich schon zu spät, um noch was Neues anzufangen.

Wenn die Straßen und Gehwege erst wieder sauber und die Lichterketten in den Kellerschränken – wunderbares Push-to-open! – verstaut sind, dann macht unser Gehirn wieder das, was es am allerliebsten tut: einfach weiter so wie bisher.

Menschen sind hochentwickelte Energiesparmodelle, und ich bin eines der ausgeklügeltsten unter ihnen. Ich lebe in einem relativ stabilen, man könnte auch sagen: ziemlich unbeweglichen Gerüst aus einigen guten und etlichen schlechten Gewohnheiten.

Und alle Gehirne lieben ihre Gewohnheiten, so wie Kinder ihre Kuscheltiere und Foxterrier ihre Kauknochen. Alles, was automatisiert abläuft, verbraucht weniger Energie. Gewohnheiten machen das Leben einfacher und sicherer. Sie sind lebens- und manchmal überlebenswichtig.

Du stellst dir abends den Wecker, bleibst bei Rot stehen, und wenn dir ein freilaufender Tiger mit Lust auf Nachtisch begegnet oder ein freilaufender Mann in Shorts und Kniestrümpfen, dann rennst du um dein Leben. Reflexartig, ohne innere Diskussion.

Aber du machst auch abends gewohnheitsmäßig den Fernseher an und eine Flasche Wein auf. Die Chips im Schrank werden per Autopilot verzehrt, E-Mails noch aus dem Bett heraus beantwortet, Zigaretten auf leeren Magen geraucht und Vorurteile hingebungsvoll und leidenschaftlich intolerant gepflegt.

Ganz ehrlich: Ich liebe meine Gewohnheiten. Auch die schlechten. Da bin ich mir selbst gegenüber unheimlich laisser faire.

Ich gewöhne mich gerne an Dinge, Menschen, Tätigkeiten und Fernsehserien. Nach dem Essen was Süßes, sonntags Spaghetti zum Tatort und der Geruch von Verbranntem, wann immer wir grillen.

So soll es sein. Es war ja schon immer so.

Wir lieben das Vertraute. Auch wenn das Vertraute nicht immer das Gute ist.

Wenn ich in meine Heimatstadt Aachen fahre, taucht kurz vorm Ziel ein Braunkohlekraftwerk auf, grau und hässlich, aber für mich eines der schönsten Bauwerke, die ich kenne. Denn jetzt ist es nicht mehr weit bis dahin, wo ich mal zu Hause war, als die Sommer noch endlos waren, die Füße ohne Hornhaut und das Essen keine Kalorien hatte.

Ich liebe das beständige Rauschen der Autobahn in der Nacht, weil das zwanzig Jahre lang das Geräusch war, bei dem ich einschlief oder viel länger las, als meine Eltern erlaubten.

Ich liebe den widerwärtigen Geschmack der ersten Zigarette des Tages, weil ich im selben Moment wieder fünfzehn bin und mir die Welt und meine Zukunft beim ersten Zug zu Füßen liegt.

Der Anblick einer von Rheuma entstellten Hand rührt mich im Innersten, erinnert er mich doch an die geliebten Hände meiner Mutter, und jeder Blinde auf der Straße entlockt mir ein völlig unpassendes, glückliches Lächeln, weil mein Vater blind war und mich dennoch sicher durch mein Leben geleitet hat.

Ich mag, wenn etwas so bleibt, wie es war.

Und es muss nicht mal gut gewesen sein.

Eigentlich.

Denn leider liegen da eben doch ein paar nachhaltig störende Krümel in meinem Lebensschaukelstuhl, piksen am Po und am Rücken. Gerade wenn man sich endgültig für zufrieden erklärt hat und sich ein für alle Mal zurücklehnen will, um womöglich ein paar uralte Staffeln von