Neuvermessungen - Sigmar Gabriel - E-Book

Neuvermessungen E-Book

Sigmar Gabriel

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Beschreibung

Gegen die Rückkehr des Nationalismus – für eine gerechtere Globalisierung Kaum etwas in der deutschen Politik der letzten Jahre kam so unerwartet wie die Ernennung des langjährigen SPD-Vorsitzenden und streitbaren innenpolitischen Frontmanns der Sozialdemokratie, Sigmar Gabriel, zum Außenminister der Bundesrepublik. Und das in einer Zeit und in einer Welt, in der die Gewissheiten schwanken und die Konflikte zunehmen. Auch international verkörpert er nun mit Leidenschaft die Werte der sozialen Demokratie. Außenpolitik in der Ära Trump, Europas Zukunft angesichts des Brexit, neue rechtsautoritäre Bewegungen innerhalb und außerhalb Europas, Flüchtlingskrise und Migration, Handelskonflikte mit den USA und mit China, der Westen in der Defensive – diese Fragen richteten sich sofort an den neuen Mann im Auswärtigen Amt. Welche Koordinaten prägen Gabriel? Mit welchem Anspruch geht er an die Aufgabe des Außenministers heran? »Neuvermessungen« gibt darüber Auskunft und zeigt den anderen, den nachdenklichen Sigmar Gabriel, der die Brüche der Politik in unserer Zeit wie kein anderer erlebt hat und diese Erfahrung in einer mutigen Analyse in die Zukunft wendet. Der eine frische Perspektive in die außenpolitischen Routinen bringt. Und der die internationale Politik neu zu vermessen sucht – als Chance, den Weg zu einer gerechten Globalisierung zu finden.

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Sigmar Gabriel

Neuvermessung

Was da alles auf uns zukommt und worauf es jetzt ankommt

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Sigmar Gabriel

> Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

Die Neuvermessung der WeltInternationale Politik im UmbruchAußenpolitik nach der Wahl TrumpsDer WestenEuropa. Die Zukunft einer großen IdeeWie wir Europa stärken könnenKurs halten bei Gegenwind. Der Kompass der EntspannungspolitikDem entgrenzten Kapitalismus Regeln setzenHerausforderung FortschrittVorfahrt für InvestitionenDie Demokratie im digitalen ZeitalterDigitale Emanzipation: Mutti und Vati haben mehr ZeitHerausforderung MigrationWer, wenn nicht wirOhne Angst und Illusionen. Mut zur EinwanderungsgesellschaftHerausforderungen von RechtsEin Rückblick auf die Sarrazin-DebatteDie Wölfe im SchafspelzDie freundliche Gesellschaft
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Die Neuvermessung der Welt

2005 erschien das Buch »Die Vermessung der Welt« von Daniel Kehlmann. Es beschreibt die beiden Jahrhundertgestalten Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß, den Naturforscher und den Mathematiker, wie sie das Wissen ihrer Zeit vorantreiben. Europäische Aufklärung, Ordnung und Weltbeherrschung gingen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert Hand in Hand.

Rund 200 Jahre später sind wir Zeitzeugen einer Neuvermessung der Welt. »Die Welt sucht nach neuer Ordnung« – auf diese Formel brachte es Frank-Walter Steinmeier, als er vor zehn Jahren von einer Neuvermessung der internationalen Politik sprach. In der Tat: überall Unordnung und Unsicherheit, technischer Fortschritt und soziale Brüche, rasante Internationalisierung und gleichzeitig verbitterte Renationalisierung. Mit diesen Widersprüchen tritt uns die Welt des 21. Jahrhunderts entgegen.

Europa hat an globaler politisch-ökonomischer Dominanz verloren. Die Anteile an der Weltbevölkerung verschieben sich. Hatte die Europäische Union in ihrer heutigen Ausdehnung im Jahr 1993 noch 481 Millionen Einwohner und repräsentierte damit 9 Prozent der Weltbevölkerung, so entsprechen die heutigen 505 Millionen Bürgerinnen und Bürger Europas nur noch 7 Prozent der Weltbevölkerung. Wenn unsere heute geborenen Kinder 30 Jahre alt sind, wird der Anteil Europas an der Weltbevölkerung des Jahres 2050 nur noch 5 Prozent betragen. Der Anteil Chinas beträgt heute 20 Prozent, der von Indien 18 Prozent und der Lateinamerikas 9 Prozent. Auch die wirtschaftlichen Gewichte verschieben sich: Der EU-Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung betrug 1993 noch mehr als 30 Prozent, heute sind es nur noch 22 Prozent, während der EU-Anteil an den Weltsozialausgaben bei fast 40 Prozent liegt. Der Anteil Chinas am globalen BIP stieg im selben Zeitraum von 2,4 auf mehr als 15 Prozent. Das zeigt einen rasanten Aufstieg. Und auch Indiens Anteil an der Weltwirtschaftsleistung stieg von einem auf jetzt 3 Prozent.

Natürlich wollen die wachsenden Regionen nicht weiterhin nur Marktplatz für den Verkauf westlicher Güter und Dienstleistungen sein. Wer bislang Entwicklungs- und Schwellenland war, will selbst zum Produzenten und Technologieexporteur werden. Auch werden Weltregionen, die eine globale Bevölkerungsmehrheit vertreten, nicht mehr hinnehmen, dass eine Minderheit in den hoch entwickelten Ländern den Großteil knapper natürlicher Ressourcen für sich beansprucht. Diese Ziele sind rational und vernünftig. Denn nachdem sich die Nationen Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas im letzten Jahrhundert von den westlich-atlantischen Kolonialmächten in zum Teil blutigen Kämpfen befreit haben, wollen sie sich auch aus Armut und ökonomischer Abhängigkeit befreien. Niemand wird sie daran hindern können.

Diese »neue ökonomische Welt« geht seit einigen Jahren mit einem Erlahmen des globalen Handels einher. Lange wuchs der Welthandel weit stärker als die Weltwirtschaft: nach 1990, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, in fast allen Jahren mehr als doppelt so stark, mit Wachstumsraten von bis zu 10 Prozent und mehr. Seit 2012 ist das aber kaum noch der Fall. Globales Wirtschaftswachstum und Zunahme des globalen Handels liegen zwischen 2,5 und 3,5 Prozent und somit nahezu gleichauf. Zu den Ursachen gehören sicher die Rezession und Wachstumsschwäche Europas nach der Finanzmarktkrise, denn der Handel der EU-Staaten untereinander geht in die Statistik mit ein. Aber auch ein Trend zum Marktverschluss ist zu nennen: Politische Krisen in Europas Nachbarschaft oder auch in Ostasien wirken sich negativ aus. Protektionistische Maßnahmen haben wieder zugenommen, durch die die Länder sich gegen globale Konkurrenz abschirmen, internationale Investoren diskriminieren oder binnenwirtschaftliche Alternativen fördern. Sowohl die USA als auch China haben ihre Rohstoffimporte gesenkt. Und China bezieht mehr Vorleistungen für das produzierende Gewerbe aus dem eigenen Land. Dieser Trend kann für Deutschland als Exportnation erhebliche Konsequenzen haben, wenn wachsende und bevölkerungsdynamische Länder Importe durch Eigenproduktion ersetzen und zugleich Exporte, auch Hochtechnologieexporte, steigern. Es ist schließlich kein Naturgesetz, dass Deutschland und Europa auf immer automatisch zu den größten Gewinnern der Globalisierung gehören.

Folgenschwer wäre dieser Trend für uns, weil er die oft unausgesprochene und wenig bedachte Bedingung unseres Wohlstandsmodells betrifft: Deutschland erwirtschaftet aus Exportüberschüssen mit nahezu allen Teilen der Welt einen erheblichen Teil seiner Sozialausgaben. Was geschehen wird, wenn wir an wirtschaftlicher Stärke verlieren, ist leicht auszumalen: neue Verteilungskämpfe. Meine Erfahrung ist, dass dabei immer die sozial Schwächeren verlieren.

Die globalen Gewichte zwischen dem Westen und den aufstrebenden Mächten verschieben sich nicht zuletzt politisch. Europa, aber auch die USA verlieren an Einfluss. Mehr noch, die Bündnisse des Westens selbst stehen vor einer Bewährungs-, vielleicht einer Zerreißprobe. Schier endlose Krisen, Kriege und Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten ebenso wie in Südost- und Osteuropa, dramatische Flüchtlingsbewegungen, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben, wachsende Gegensätze in Europa und der nicht mehr undenkbare politische Zerfall der Europäischen Union – all dies stellt die nach 1945 und 1989 gewachsene Sicherheitsordnung infrage. Selbst innerhalb der Europäischen Union gibt es heute Länder, die Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit einschränken. Das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland fällt in alte und neue Muster der Konfrontation und Abgrenzung zurück. Auch die Türkei wendet sich von Westeuropa ab, und auch sie entwickelt zunehmend autoritäre Machtstrukturen, die in ein Spannungsverhältnis mit den Werten der NATO gerät, der sie selbst angehört. Und die NATO muss sich immer wieder fragen, wie eine zukunftsfähige Strategie für das Bündnis aussehen kann. Können wir weiter bedenkenlos wie an andere NATO-Partner Rüstungsgüter in die Türkei liefern, wenn diese zur inneren Unterdrückung gebraucht werden?

Aber eine zukunftsfähige Strategie für das Bündnis ist noch nicht gefunden. Die Atommacht China wiederum – wirtschaftlich modern, politisch keine Demokratie – tritt mit einem globalen Machtanspruch auf, der sich in Aufrüstung und in Grenzkonflikten mit den Nachbarn genauso offenbart wie in staatlich gesteuerten Übernahmen westlicher Hightech-Unternehmen, um in Besitz und Kontrolle strategisch relevanter Hochtechnologie zu kommen.

Eine politische Vormachtstellung des Westens jedenfalls wird bei den teils selbstbewussten, teils schon aggressiven Aufsteigern immer mehr als Anmaßung wahrgenommen. Hinter »westlichen Werten« vermutet man, und das nicht immer zu Unrecht, doppelte Standards und verborgene Wirtschaftsinteressen. Immerhin haben sich die internationalen Foren zur Gestaltung der Globalisierung verändert. Die 1975 etablierten Treffen der G7 waren – mit Ausnahme Japans – mit den USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada noch ein Klub des Westens. Die Aufnahme Russlands 1998 wurde infolge des Ukraine-Konflikts und der russischen Annexion der Krim 2014 suspendiert. Jedoch ist die 1999 vollzogene Gründung der G20, der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, zu denen auch China, Indien, Indonesien, Saudi-Arabien, Südafrika, Brasilien und Mexiko gehören, eine notwendige Konsequenz aus der Neuvermessung der Welt. Auch wenn in diesem großen Forum die Wertvorstellungen heterogener und die Interessen konfliktreicher sind und auch wenn der Konsens schwieriger zu erreichen ist, spiegelt es die neuen wirtschaftlichen und politischen Realitäten der Globalisierung. Wir können dahinter nicht zurück, und wir sollten es auch nicht wollen, denn die Bemühungen um eine neue und gerechtere Ordnung der Welt haben nur dann Aussicht auf Erfolg und Verbindlichkeit, wenn dort, wo entschieden wird, alle Weltregionen auf Augenhöhe am Tisch sitzen. Auch deshalb setzt sich Deutschland gemeinsam mit einer Gruppe von Staaten für eine Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ein.

Trotzdem steht die Frage im Raum, welche Stimme und welche Solidarität untereinander die rechtsstaatlich verfassten Demokratien in einer neu vermessenen Welt haben sollten. Der Begriff des »Westens« ist ja primär keine geografische Angabe, sondern eine ideelle. Er steht, wenn man allen kulturellen Chauvinismus und die kolonialistische Vergangenheit abzieht, auch und gerade für die universell gültigen Menschenrechte. Dieser Kompass wird als leitende Idee für die Zukunft noch wichtiger, wenn alte Machtgefüge wanken und überkommene internationale Systeme verblassen.

Den Mittelpunkt dieser Werte- und Demokratiegemeinschaft des Westens bilden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die transatlantischen Beziehungen. Der politische Vorrang dieser Wertegemeinschaft steht jedoch nicht erst seit der Wahl Donald Trumps zur Disposition. Sicherlich hat der letzte Präsidentschaftswahlkampf mit präzedenzlos fremdenfeindlichen und nationalistischen Parolen zur Entfremdung zwischen den USA und Europa beigetragen. Doch auch unter dem bei uns mit weitem Abstand populärsten US-Präsidenten Barack Obama hat es zunächst eine Entfremdung zwischen den USA und Europa gegeben.

Mit seiner Rede vom »pivot to asia« hatte US-Präsident Obama die Blickrichtung der USA geändert: Amerika sei eine »pazifische Nation«, so Obama. Diese Rede war so bedeutend wie weiland Kennedys Satz »Ich bin ein Berliner«, dessen Freiheits- und Demokratiepathos die ganze Bedeutung der transatlantischen Verbundenheit enthielt. Die USA des 21. Jahrhunderts, das war die Botschaft, hören auf, eine exklusiv transatlantische Nation zu sein. Nicht nur die ökonomischen Interessen der USA in Asien sind dabei treibend, sondern auch die Bevölkerungsentwicklung. Heute haben noch etwas mehr als 60 Prozent der US-Bürger europäische Vorfahren. In 30 Jahren werden sie in der Minderheit sein gegenüber Amerikanern mit afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Wurzeln. Auch das verändert die politische Orientierung. Großbritannien übrigens wird in diesem Prozess wohl lernen müssen, dass es immer weniger »spezielle« Bindungen zu den USA gibt, die den Briten eine Sonderrolle ermöglichen, und dass sie Europa am Ende mehr brauchen als umgekehrt.

Die wachsende Entfernung zwischen den USA und Europa hat auch etwas mit Missverständnissen über faires »burden sharing« im Bündnis zu tun. Das Bruttoinlandsprodukt der Vereinigten Staaten ist mit 18 Billionen US-Dollar annähernd gleich groß wie das der Europäischen Union. Warum also, fragen amerikanische Stimmen, sollen die USA weiterhin den weitaus überwiegenden Teil der Sicherheits- und Verteidigungskosten Europas übernehmen?

Letztlich ist die Sicherheitsgarantie der USA für Europa ein Nachkriegsmodell des Zweiten Weltkriegs, das jetzt mit einigen Jahrzehnten Verspätung ausläuft. Man muss und sollte diese Veränderung nicht zuallererst auf den Rüstungssektor beziehen. Wichtiger ist die Bereitschaft Europas, eine gemeinsame Außenpolitik zu entwickeln. Aber – das liegt den progressiven Parteien Europas schwer im Magen – auch bei der Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft der westlichen Demokratien wird Europa mehr Verantwortung übernehmen müssen. UN-Mandate gegen Völkermord durchsetzen, Friedenseinsätze tatkräftig unterstützen, Waffenstillstandsabkommen nicht nur überwachen, sondern notfalls auch erzwingen oder sich Terrorismus, Versklavung und Erniedrigung von Menschen notfalls auch mit militärischem Schutz entgegenstellen – das alles überlassen wir Europäer bislang oft anderen.

Und es stimmt auch: Militärische Gewalt allein löst keinen Konflikt, Waffen schaffen keinen dauerhaften Frieden. Richtig ist auch, dass es nicht selten die Fehler der Vergangenheit sind, die Armut, Bürgerkrieg und auch Krieg erst möglich gemacht haben. Aber was hilft diese rückblickend richtige Erkenntnis denjenigen, die heute die zivilen Opfer sind und jetzt dringend Schutz brauchen? Wir sind eben leider auch Zeitzeugen dessen, wie der Verzicht auf militärischen Schutz Raum schaffen kann für die Ausbreitung von Krieg und Terror durch skrupellose Machthaber und ihre Verbündeten. Unsere Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga zum Schutz der Jesiden im Nordirak geschahen in dem Bewusstsein, dass auch die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Schutz vor Gewalt, Mord und Völkermord geboten sein kann. Sosehr wir die Interventionspolitik der USA im Nahen Osten kritisiert haben, sosehr muss Europa daran gelegen sein, dass andere Akteure nicht ein durch die Abwesenheit der USA entstehendes Vakuum mit eigener Machtprojektion und militärischer Gewalt füllen. Russland zeigt gerade, dass es dazu bereit und in der Lage ist. Was dabei entstehen kann, zeigt uns täglich das Beispiel Syrien. Das Trauma der militärischen Interventionen in Afghanistan (mit deutscher Beteiligung) und im Irak (ohne deutsche Beteiligung) hat sowohl in den USA wie auch in Europa jedes robuste Engagement verhindert – von der Durchsetzung einer Flugverbotszone zu Beginn des Konflikts bis zur Beteiligung an der Sicherung eines Waffenstillstands. Niemand hat die Zurückhaltung des Westens in Syrien so konsequent genutzt wie Russland. Eine mögliche Verständigung des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mag manchen aufatmen lassen, weil Entspannung zwischen diesen beiden atomaren Militärmächten nur gut sein kann. Wenn die Konsequenz daraus aber die sicherheitspolitische Aufteilung der Welt unter den autoritären Mächten Russland und (im asiatischen Raum) China wäre und die Vereinigten Staaten zwischen Isolationismus und Schwächung des westlichen Bündnisses schwanken, kann das nicht im Interesse des demokratischen Europas sein. Wenn wir nicht wollen, dass Europa in seiner eigenen Nachbarschaft im Nahen und Mittleren Osten an den Rand gedrängt wird, müssen wir unsere Einstellung zu dieser Region verändern. Nicht zuallererst militärisch, sondern vor allem in unserer inneren Haltung. Die arabische Welt weitgehend auf ihre Rolle als Rohstofflieferant zu reduzieren und sie ansonsten den geopolitischen Strategien Dritter zu überlassen, kann keine Lösung sein. Die Menschen und ihre Länder dürfen nicht Objekte ökonomischer Interessen sein, sondern sie müssen als gleichberechtigte Nachbarn verstanden werden. So wie die Europäische Union eine aktive Nachbarschaftspolitik zu Osteuropa betreibt, muss sie dies verstärkt auch zum arabischen Raum und Nordafrika tun.

Instabilität, Krieg und innerer Aufruhr in der arabischen Welt – Probleme, die uns seit Jahrzehnten vor Augen stehen, die viele aber mit einem resignierenden Achselzucken abzutun sich angewöhnt zu haben scheinen – haben uns jetzt, in den vergangenen zehn Jahren und seit 2015 mit einer Dramatik wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, mit Hunderttausenden Menschen an unseren eigenen Grenzen eingeholt. Sie haben uns mit der humanitären Katastrophe von Flucht und Heimatlosigkeit im 21. Jahrhundert konfrontiert, die zur dunklen Seite der Globalisierung gehört. Denn es ist nicht nur Syrien, wo Krieg und Vertreibung eine ganze Gesellschaft zerrissen hat. 65 Millionen Menschen sind nach Angaben der UN weltweit auf der Flucht und suchen Sicherheit und wirtschaftliche Perspektiven. Auch Afrika und Lateinamerika sind Weltregionen, aus denen Millionen die Flucht antreten. Noch eine Zahl des UN-Flüchtlingshilfswerks muss einen in Europa beschämen: 90 Prozent aller Flüchtlinge finden Aufnahme in anderen armen und instabilen Ländern, wo sie die ohnehin bestehenden Konflikte noch verschärfen. Europa steht vor einem Moment der Wahrheit: Wie viel politische Kraft und finanzielle Mittel ist der wohlhabendste Kontinent der Welt zu geben bereit, um Fluchtursachen des Bürgerkrieges, der Nahrungsmittelknappheit oder der ökologischen Krise einzudämmen? Und eine noch härtere Frage: Wie viele Menschen in Not sind wir trotz Risiken für unsere innere Sicherheit aufzunehmen bereit? Wenn wir unsere humanitäre Identität nicht aufgeben wollen, müssen wir viel geben und viele aufnehmen.

Es zählt zu den Widersprüchen unserer Tage: In einer Zeit der Schwäche Europas brauchen wir mehr und mehr seine Stärke. Wir brauchen Europa als Anker für das internationale Bündnis der Demokratien und Rechtsstaaten, denn die Bedrohung der Menschenrechte hat überall zugenommen. Wir brauchen Europas Einheit und Stärke, um der neuen weltweiten autoritären Herausforderung ein anderes soziales und liberales Modell des Zusammenlebens in Vielfalt entgegenzusetzen. Wir brauchen Europas Handlungsfähigkeit außen- und sicherheitspolitisch ebenso wie entwicklungs- und friedenspolitisch. Wir brauchen Europas Solidarität nach innen, damit wir überhaupt gemeinsam handeln können und damit die Dämonen des Nationalismus nicht zurückkehren, aber auch nach außen, um die gerechte Gestaltung der Globalisierung politisch wirkungsvoll voranbringen zu können.

Vor dem Hintergrund einer Revolution der globalen Ordnung stehen die Mittelschichten in zahlreichen Ländern unter Druck, materiell, aber auch kulturell. Die technologische Zeitenwende der Digitalisierung, die wirtschaftliche Konkurrenz in der Industrie, die politische Anfechtung der etablierten internationalen Macht des Westens und auch die Zumutungen einer Einwanderungsgesellschaft verstärken Ohnmachtsängste. Jobverlust, Machtverlust, Kontroll- und Orientierungsverlust, Verlust oder Gefährdung von sozialer Identität – die Verunsicherung hat viele Namen und Dimensionen. Der neue nationalistisch-autoritäre Ton und die Wahlerfolge der radikalen Rechten sind nur so zu verstehen. Die Autoritären schüren die Wut und instrumentalisieren sie. Mit hemmungsloser Rhetorik und reaktionären Parolen mobilisieren sie gegen die etablierte Politik und tragen Bürgerkriegsstimmung auch in unsere Gesellschaft.

Die Frage »Was tun?« treibt konservative ganz genauso wie soziale Demokraten um. Sie alle stehen in der Verantwortung für die Zukunft des Rechtsstaates und der ihn tragenden Werte von Freiheit und Gleichheit. Der Anfang muss jetzt gemacht werden. Starke, mutige und ehrliche Gerechtigkeitspolitik ist gefordert! Die Autoritären machen sich die Enttäuschung vieler Menschen über die gewachsene Ungleichheit und die ungleiche Verteilung der Lasten zunutze – Reiche rechnen sich vor dem Finanzamt arm, mittlere Arbeitnehmereinkommen werden voll besteuert; Anteilseigner saugen das Kapital aus den Unternehmen, Arbeitsplätze und Einkommen gehen verloren; das Management bekommt beim Crash hohe Abfindungen, die Arbeitnehmer nicht einmal einen Sozialplan. Die immer stärker werdende Distanz zwischen der wirtschaftlichen und politischen Führung und den Bürgern hat nicht nur mit der Komplexität der Welt und der Kompliziertheit ihrer Deutung, sie hat vor allem mit der sozialen Kluft zu tun, die Eliten und Bürger trennt. Große Teile der Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und auch in den Medien waren es, die drei Jahrzehnte lang erzählten, dass die Unterwerfung unter den alles beherrschenden Wettbewerb und die Verwertungsgesetze der Globalisierung alternativlos sei. »Pass dich an!« war die Parole. Und das politische Konzept dazu war das der »marktkonformen Demokratie«, wie Angela Merkel einmal sagte. Menschen lassen sich aber nicht einfach das Rückgrat brechen und zu Mündeln der Marktmächte machen. Da erklären sie eher dem Freihandel den Krieg und wählen die nationale Abschottung. Wer der Wut auf das Establishment auf die Spur kommen will, hier liegt sie.

Weniger Ungleichheit und mehr Zusammenhalt. Weniger Hochmut und Belehrung gegenüber normalen Bürgern, dafür weit mehr Entschlossenheit bei der Vertretung ihrer Interessen. Das ist eine Antwort auf die Gefährdung der Demokratie.

Die Politik zur Verteidigung und Erneuerung unserer Demokratie muss einen wirtschaftlichen Kern haben. Wir müssen wirtschaftlichen Wohlstand ermöglichen und gerechte Teilhabe am Haben und Sagen organisieren. Arbeit und Einkommen sind Säulen der Sicherheit für breite Schichten, auf die wir größten Wert legen müssen. Sie machen unabhängig von Versorgungssystemen, die erst einmal jeden durchleuchten, gängeln und kränken. Der Wert der Arbeit hat auch etwas mit Stolz zu tun. Einschließlich paritätisch finanzierter kollektiver Sozialversicherungen, die bei Arbeitslosigkeit und Rente eigentumsgleiche Ansprüche bieten.

Wirtschaftlicher Wohlstand ist deshalb unabdingbar für soziale Stabilität. Deutschland kann von Glück sagen, dass wir eine anhaltende Periode sinkender Arbeitslosigkeit erleben. 43,5 Millionen Menschen – im Jahr 2017 möglicherweise 44 Millionen Menschen – sind in Deutschland in Arbeit, und zwar nicht mehr steigend in prekärer Beschäftigung, sondern in steigender sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, mit steigenden Reallöhnen, mit der stärksten Rentenerhöhung seit 20 Jahren. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 26 Jahren. Das ist das Pfund, mit dem wir wuchern und das es uns erlaubt, die gewaltige Aufgabe der Flüchtlingsintegration ohne Steuererhöhungen und ohne große Verteilungskämpfe zu bewältigen.

Damit diese Entwicklung anhält, müssen wir mehr investieren. Das ist wichtiger als Steuersenkungen mit der Gießkanne, die meistens diejenigen am meisten begünstigen, die es am wenigsten brauchen. Das Investitionsvolumen des Bundeshaushaltes hat sich in den letzten drei Jahren um ein Drittel erhöht. Dafür haben wir uns eingesetzt. Wir haben eine gewaltige Entlastung der kommunalen Haushalte mit Größenordnungen erreicht, die es in der Geschichte der Republik bisher noch nicht gegeben hat. Länder und Kommunen wurden in dieser Legislaturperiode mit 70 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt entlastet. Das ist deshalb entscheidend, weil die größte Investitionstätigkeit in der Regel in den Kommunen stattfindet. Vor allem auch dort, wo es um die Zukunft der Kinder geht. Wir haben einen gigantischen Sanierungsstau von 34 Milliarden Euro im Bereich unserer Schulen. Wir müssen mehr Geld für Bildung aufwenden, und es ist gut, dass es mithilfe der Bund-Länder-Finanzverhandlungen gelungen ist, das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in der Bildung wenigstens im Investitionsbereich zu lockern. Das macht den Weg frei für ein großes Schulsanierungsprogramm – ein Programm der Hoffnung! Die besten Schulen müssen in den schwierigsten Stadtteilen stehen. Dort brauchen wir sie als die Leuchttürme unserer Gesellschaft.

Die Neuvermessung und Revolutionierung der Welt, wie wir sie kennen, reicht tief in den Alltag unserer Betriebe hinein. Die Digitalisierung verändert fast alles. Nicht mehr allein die Verfügung über die klassischen Produktionsmittel ist Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg, sondern immer mehr die Kontrolle über und die Fähigkeit zum Umgang mit großen Mengen an Daten. Wir leben immer mehr in einer datengetriebenen Ökonomie. Die industriellen Kernkompetenzen eines Landes wie Deutschland – das Beherrschen von realen Produkten und herkömmlichen Dienstleistungen – reichen nicht mehr aus, um wirtschaftlichen Erfolg zu sichern. Über die Kommunikation von Maschinen untereinander und auf den digitalen Plattformen entsteht neue Wertschöpfung und zieht sie von den klassischen Produkten und Dienstleistungen ab. Wer diese neuen Wertschöpfungsketten nicht versteht und nicht zu nutzen weiß, bleibt zurück, und sein Produkt wird zur »Commodity«, einem austauschbaren Mittel zum Zweck.

Das wird zunehmend sogar am Beispiel der wichtigsten deutschen Leitindustrie, der Automobilindustrie, deutlich, die zu Unrecht als uneinnehmbare Bastion von »made in Germany« gilt. Dort sind einschließlich der Zulieferer heute 814600 Menschen beschäftigt. Zu überdurchschnittlich guten Löhnen und mit sicheren Arbeitsplätzen. Was passiert aber mit der Nachfrage nach Autos, mit den Kundenbeziehungen der Hersteller und ihren Renditen, wenn immer mehr Menschen auf Datenplattformen gehen, weil sie ein Auto nicht mehr selbst besitzen, sondern Mobilität buchen wollen? Und zwar sehr flexibel: während der Woche eine andere als am Wochenende, im Sommer eine andere als im Winter? Google und Co, nicht mehr VW, Audi, Daimler oder BMW werden zur ersten Adresse der Kunden. Dies ist in unseren Großstädten schon zu besichtigen.

Was passiert mit den Zulieferern? Noch dramatischer wird das Bild, wenn man sieht, dass sich zeitgleich mit der Digitalisierung des Automobilsektors eine zweite Innovation, die wir ökologisch wollen und fördern, Bahn bricht: die Elektromobilität. Ein Verbrennungsmotor besteht aus rund 1400 Teilen, die hergestellt, geliefert und verbaut werden müssen. Ein Elektromotor nur noch aus rund 200 Teilen. E-Autos brauchen insgesamt nur noch 50 Prozent der Komponenten herkömmlicher Fahrzeuge. Niemand kann sicher sagen, wie viele Arbeitsplätze entfallen, wie viele Zulieferbetriebe schließen, aber die Prognosen verheißen nichts Gutes. Berichtet wird, dass ein Sechstel der Jobs in der Motorenfertigung verschwindet.

Wir werden diese Trends nicht aufhalten und sollten es auch nicht versuchen. Sie sind die Zukunft, schonen Ressourcen und schützen das Klima. Der Gesellschaftsvertrag zur Sicherung von wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Frieden beruht in Deutschland ja gerade darauf, dass sich die Politik nie gegen technologische Trends, Produktivitätssteigerungen oder gegen die Steigerung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit gestellt hat. Im Gegenteil: Durch Investitionen in Forschung und Entwicklung, Infrastrukturentwicklung und steuerliche Anreize wurden und werden dafür die Rahmenbedingungen immer wieder neu verbessert. Die dadurch ermöglichte wirtschaftliche Dynamik ist mit ihren Wachstumseffekten in der Regel in der Lage, neue Beschäftigungsalternativen für diejenigen zu schaffen, die durch die technologische Modernisierung ihren Arbeitsplatz verlieren. Wir sollten bei alldem aber nicht die Größe der Herausforderung und die Verunsicherung der Menschen in einer solchen historischen Transformation unterschätzen. Deshalb ist es richtig, dass zum Modell Deutschland, zur Sozialen Marktwirtschaft die sichtbare Hand des Staates gehört: dass wir aktive Wirtschaftspolitik für hohe und gut entlohnte Beschäftigung machen, Märkte regulieren, Investitionen mobilisieren, Nachfrage stimulieren, Tarifstrukturen stärken, Qualifizierung finanzieren und die solidarische soziale Absicherung existenzieller Lebensrisiken sicherstellen.

Demokratiepolitik kann sich aber auf materielle Interessen nicht beschränken. Denn oft sind es Fragen der Identität, der Kultur und des Respekts, die darüber entscheiden, ob unsere Gesellschaft zusammenhält. So geht es bei der ökologischen Transformation der Wirtschaft nicht allein um die Zukunft der Industriearbeitsplätze. Es geht darum, überhaupt einmal wieder ohne Arroganz und Besserwisserei hinzuhören und mit den Leuten zu sprechen statt ihnen zu predigen. Es geht darum, dass die Entscheider die Lebensrealität der Betroffenen begreifen. Daran fehlt es heute. Wer sich vom politischen Überbietungswettbewerb beim Klimaschutz bedroht fühlt, weil er entweder in der Braunkohleverstromung seinen Arbeitsplatz hat oder in einem Industriezweig wie der Stahlindustrie, findet für seine Anliegen kaum noch Gehör. Welche politische Partei traut sich noch, diese Interessen zu vertreten? Sie werden als gestrig verunglimpft und delegitimiert. Nicht ohne Grund haben die Industriegewerkschaften Sorge, dass selbst in ihrer Mitgliedschaft das Potenzial für Rechtspopulisten wächst.

Die Entfremdung zwischen den Bildungs-, Kultur- und Verdiensteliten und großen Teilen der restlichen Bevölkerung entsteht heute auch durch einen moralischen Dünkel, der einer Verachtung normaler Menschen nahekommt und sie salonfähig macht. Wer Privatsender konsumiert, bekommt zu hören, das sei »Unterschichtenfernsehen«. Wer keinen »gender-sensiblen« Wortschatz hat, wird als frauenfeindlich verschrien. Wer über den Begriff »Menschen mit Migrationshintergrund« stolpert und im Supermarkt nach »Negerküssen« fragt, wer raucht oder Fleisch isst, wird im politischen Deutschland schnell zum Außenseiter erklärt. Das treibt Nationalisten und Populisten nicht wenige Frustrierte in die Arme.

Selbst das überragend wichtige sozialdemokratische Versprechen vom »Aufstieg durch Bildung« gerät in seiner Absolutheit in Gefahr, die nicht akademischen Lebenswege von Verkäuferinnen, Handwerksgesellen oder Altenpflegerinnen abzuwerten. Für uns Sozialdemokraten ist dieses Versprechen von großer inhaltlicher, aber auch emotionaler Bedeutung, weil viele von uns genau diesen gesellschaftlichen Aufstieg durch die sozialdemokratischen Bildungsreformen im eigenen Leben erlebt haben. Doch heute bringt dieses Versprechen nicht mehr so gut zum Ausdruck, worum es geht: nämlich darum, dass alle Menschen wirklich gleiche Chancen für ein selbstbestimmtes Leben haben müssen in einer Gesellschaft der gleichen Freiheit, der gleichen Menschenwürde, in der es möglichst kein »Oben« und »Unten« mehr gibt. Dafür die politischen Bedingungen zu schaffen, ist die dauernde Aufgabe der Sozialdemokratie.

Emanzipatorische Politik hat viel mit Menschlichkeit, mit Empathie und mit geduldiger Aufklärung zu tun, nichts aber mit abweisender politischer Korrektheit. Bei alldem – von politischen Großprojekten, die sich nicht mehr vergewissern, welche Kosten sie für die Betroffenen haben, über die Sprache bis zum Habitus – wächst die Spaltung zwischen »denen da oben« und »uns hier unten«. Wenn wir nicht aufpassen, erleben wir die Rückabwicklung der Volksparteien aufgrund kultureller Entfremdung.

Fragen der Identität sind es nicht zuletzt, die auch gut verdienende Menschen mit Eigenheim zu den radikalen Rechten treiben. In Mannheim-Wallstadt, einem gutbürgerlichen Viertel mit 1,6 Prozent Arbeitslosigkeit, im wohlhabenden Baden-Württemberg gelegen, erzielte die AfD 18 Prozent. Das Thema