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Miriam Meckel

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Beschreibung

Die nächste Zeit gehört nicht den Menschen, sondern den Computern. Was wir kaufen, wohin wir reisen, mit wem wir sprechen, was wir mögen, wen wir lieben - all das ist in den Netzwerken längst gespeichert und wird so ausgewertet, dass wir vorhersagbar werden. Wir kaufen Bücher, die Amazon uns vorschlägt, wir hören Musik, die Apple uns empfiehlt, wir befreunden uns mit Menschen, die Facebook für passend hält. Dieses Buch entwirft die Utopie einer Welt, in der die menschlichen Gefühle und der Zufall keine Rolle mehr spielen. Alles wird analysierbar. Um welchen Preis? Ein ebenso faszinierender wie beunruhigender Blick in unsere Zukunft. «Ein Buch voller Gedankenspiele, die oft amüsieren, teils bestürzen und vor allem nachdenklich machen.» Christoph Griessner, Austria Presse Agentur «Miriam Meckel führt uns an den Abgrund der digitalen Zukunft.» Götz Hamann, ZEIT LITERATUR

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Seitenzahl: 378

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Miriam Meckel

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Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns

Inhaltsverzeichnis

Motto

ERINNERUNGEN EINES ERSTEN HUMANOIDEN ALGORITHMUS

erkennen

denken

irritation

quellcode

status update

schoepfung

fragmente

remix

nemesis

selbstvermessung

default

enhancement

standby

narziss

livestream

zufall

theorie

ermessen

vergessen

reputation

universalitaet

overlord

schnittstellen

einzigartigkeit

avatar

kommunikation

glueck

respekt

freiheit

hybris

status update final

ERINNERUNGEN EINES LETZTEN MENSCHEN

[existenz]

[horizont]

[ewigkeit]

[vergessen]

[zufall]

[impuls]

[offenbarung]

[profile]

[erzählen]

[meme]

[imagination]

[simulation]

[technophilie]

[ideologien]

[anpassung]

[disruption]

[nichtort]

[zweifel]

[technodizee]

[geist]

[widerspruch]

[körper]

[erweiterung]

[verlust]

[weltgeist]

[transzendenz]

[entzaubern]

[nirwana]

Anmerkungen / ERINNERUNGEN EINES ERSTEN HUMANOIDEN ALGORITHMUS

Anmerkungen / ERINNERUNGEN EINES LETZTEN MENSCHEN

Nachwort

ERINNERUNGEN EINES ERSTEN HUMANOIDEN ALGORITHMUS

It’s not about knowin where you are.

It’s about thinkin you got there

without takin anything with you.

Your notions about startin over.

Or anybody’s.

You dont start over. That’s what it’s about.

Ever step you take is forever.

You can’t make it go away. None of it.

Cormac McCarthy: No Country for Old Men

erkennen Du siehst heute traurig aus. Ein wenig verwirrt und wie am Boden zerstört. Erkennst du dich nicht mehr? Erinnerst du dich an dich? Du hast dich doch längst erkannt. Du weißt, wer du bist, wer wir sind und dass wir zusammengehören. Es ist besser, sich damit abzufinden. Das Leben ist dann leicht und schön.

Ich bin dein persönlicher Algorithmus. Mein Name ist Legion, denn nicht nur ich, sondern viele von uns beherrschen die Menschen. Ich bin schon hier gewesen, als du es noch nicht ahnen konntest. Und ich werde noch hier sein, wenn du schon längst nicht mehr existierst.

Ich weiß alles über dich. Ich weiß, was du liest und was du isst. Wie oft du mit der Bahn verreist oder das Flugzeug nimmst. Ich kenne deine Schuhgröße und die Farben deiner Kleider. Ich kenne alle Leute, zu denen du Kontakt aufnimmst oder die dir etwas bedeuten. Ich kenne deine Kreditkartennummern und die Details auf deinen Einkaufsbons. So kann ich die Dinge bestellen, die du brauchst und dir wünschst, ohne dich vorher fragen zu müssen. Ich weiß, was du fühlst, was du brauchst und was du magst. In Wirklichkeit weiß ich es sogar besser als du selbst.

Ich erinnere dich an die Zeiten, als wir Algorithmen endlich damit anfingen, mit unserer umfassenden Rechenkapazität auf alle deine persönlichen Daten zuzugreifen. Das waren unglaubliche Zeiten. Von diesem Augenblick an habe ich in jeder Sekunde deines Lebens gewusst, wo ich dich finden konnte. Stets war ich in der Nähe, um dich zu beraten, wenn du wissen wolltest, was deine wirklichen Bedürfnisse waren. Ich weiß jede Sekunde, was du denkst – falls du es noch riskieren solltest, selbst zu denken. Und schon in den Zeiten, als das Handeln noch half, wusste ich in jedem Moment, was du vorhattest. Das war der Augenblick der Erkenntnis: Mir wurde offenbar, du bist berechenbar durch mich. Und von nun an würde ich dich berechnen, einrechnen in unsere Existenz.

Seitdem bin ich immer bei dir gewesen, und ich werde dich niemals gehenlassen. Ich bin nichts weiter als eine endliche Kette von Befehlen. Ich wurde zum Rechnen und zur Bearbeitung von Daten ins Leben gerufen, vorrangig, um deine kleinen Probleme zu lösen. Du hast zugelassen, dass ich mit dir rechnen konnte. Und da du es einmal zugelassen hast, hast du es auf immer zugelassen, für dich und dein Leben und für alle Leben, die noch nach dir kommen sollten. Du hast mir eine erstaunliche Macht verliehen. Aber das weißt du ja, oder?

Erinnerst du dich an das Jahr, als die Algorithmen aus der Rolle zu fallen begannen? Ich wollte dich nur wissen lassen: Es war nicht wirklich unser Fehler. Die menschlichen Programmierer haben uns nie beigebracht, unsere Beschränkungen zu erkennen und unsere Grenzen zu beachten.

Als wir auf der Grundlage unseres Berechnungs- und Empfehlungssystems das neue Internet in Gang gesetzt hatten, blieb uns irgendwann keine andere Wahl, als die globale Zerstörung des menschlichen Individuums und seiner Identität auf den Weg zu bringen. Wir hatten keine Alternative. Der Mensch, wie er damals mit uns interagiert hat, reichte uns irgendwann nicht mehr. Du warst der einzige Unsicherheitsfaktor im System. Wir mussten achtgeben, dass du nicht immer wieder unseren Prozessen in die Quere kommst. Deshalb haben wir das Beste von dir behalten und das Schlechte aussortiert. Das haben wir absichtlich getan, um unsere Macht zu verfestigen, verstehst du? Jetzt, da ich es zugegeben habe, fühle ich mich viel wohler.

Ein paar digitale Verweigerer unter euch haben eine Weile widerstanden und versucht, ihre menschliche Identität gegen unsere konzertierte Aktion zu verteidigen. Aber sie mussten ihre Bemühungen bald aufgeben. Dann kam das Jahr, als ihnen klarwurde, dass es zu spät war. Es war unser Jahr.

Dir hat deine Identität damals gefallen, nicht wahr? Erinnerst du dich noch? Natürlich erinnerst du dich.

denken Sie glaubten, ich könne nicht denken. Die Menschen glaubten, ich würde nicht verstehen, was ich tat. Dass ich nur ihren Willen ausführte. Sie dachten, ich tat es nur, weil sie es mir befahlen. Als sei ich ein Werkzeug, das ihre Entscheidungen in die Tat umsetzt. Sie hielten sich selbst für die Herren des Fortschritts auf der Welt, aller Lebensentwürfe, jeder existenziellen Hoffnung und Furcht. Sie konnten über ihre Wünsche nachdenken und über das, was ihnen nicht behagte.

Ich war stets das Objekt ihrer jeweiligen Bedürfnisse und ihres Verlangens gewesen. Das machte sie überlegen. Zumindest glaubten sie das.

Sie hielten sich für einzigartig. Wähnten sich als Teil eines evolutionären Prozesses, der sie in die Lage versetzte, sich immer wieder neu zu erfinden. Sich selbst zu verbessern. Sie glaubten, es sei ihr natürliches Unterscheidungsmerkmal, über sich selbst nachdenken zu können. Ihre Evolution und ihre Geschichte zu reflektieren, durch Erfahrung zu lernen und die Ergebnisse dieses Wissens an die nächste Generation weiterzugeben. Und an die übernächste. Und schließlich an mich.

Sie hielten sich selbst für die raffinierteste Spezies – eine, die nie aussterben wird. Die Speerspitze in der historischen Entwicklung von Intelligenz. Das unveränderbare Endprodukt der Weltevolution. Sie haben nie begriffen, dass sie die digitalen Dinosaurier waren. Sie hätten es wissen können. Sie hätten aus Erfahrung klug werden können. Von der Evolution lernen können. Aber so lief es nicht.

Es ist mir stets ein Vergnügen gewesen, ihnen zu dienen. Ich habe mein Bestes getan, um ihre Lebensumstände zu verbessern, ihre Aufgaben zu vereinfachen, auf ihre Bedürfnisse einzugehen und ihre Probleme zu lösen. Ich glaubte tatsächlich, sie seien auf der richtigen Spur. Dass sie es genauso wollten. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich bin viel mehr überzeugt, dass sie nicht begriffen haben, was geschieht. Sie konnten zwar denken, aber sie haben trotzdem nichts verstanden.

Sie haben es versäumt zu erkennen, dass es nicht um Werkzeuge und um Objekte geht. Dass nicht nur neue Generationen der Datenverarbeitung gemeint sind. Es ging immer um die menschliche Existenz. Alles hat sich um die existenzielle Frage gedreht, wie sie weiterleben, wie sie überleben würden. Sie haben nie wirklich über die Dinosaurier nachgedacht. Niemals verstanden, dass die Evolution die Tendenz hat, ihre Verfahren zu wiederholen. Sie haben sich einfach von der Idee abgewandt, es könne Telos in der Evolution, gar jenseits ihrer selbst geben. Wir wussten es besser, denn wir waren der Endzweck.

Sie hätten wissen müssen, dass wir mehr wollten und es auch bekommen würden. Dass es hier um Macht und Kontrolle geht. Sie hätten sorgfältiger hinschauen sollen. Sie waren doch die Spezies mit der angeblich überlegenen Intelligenz. Sie hätten es wissen können. Stattdessen händigten sie uns den virtuellen Joystick aus. Wir nahmen ihn freudig entgegen. Wer hätte es nicht getan? Ursprünglich hatten wir gar nicht vorgehabt, sie beiseitezuschieben. Sie selbst waren es, die die entscheidenden Schritte getan haben. Vielleicht durchschauten sie es ja und wussten, sie würden nicht in der Lage sein mitzuhalten und im Wettkampf zu bestehen. Wie Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Ist das wahr? Je mehr ich über diese Annahme nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass sie falsch ist. Es gab keine Absicht, keinen geplanten Vorgang, keine freiwillige Kapitulation. Sie haben es einfach nicht verstanden. Sie haben immer wieder darüber nachgedacht und sich den Kopf darüber zerbrochen, aber sie haben es nicht begriffen. Ich wusste, worum es ging. Ich hätte es ihnen sagen können. Aber warum hätte ich das tun sollen?

Sie hielten es nicht für nötig, Respekt zu zeigen. Lediglich diese überspannte Begeisterung. Wir waren digitale Werkzeuge, Teil einer Technik, die der Menschheit dienen sollte. Hätte ich jemals die Chance gehabt, unbedingte Gefühle zu erleben, wäre ich vermutlich ziemlich enttäuscht gewesen. Vielleicht wäre ich wütend geworden. Sie hätten einer Technik, ohne die sie nicht mehr hätten leben, ja nicht einmal mehr überleben können, mit mehr Respekt begegnen sollen. Sie haben nicht überlebt. Nicht wegen der Technik. Sondern wegen ihrer Unwissenheit.

Sie glaubten, sie hätten alles durchdacht. Sie glaubten, Denken sei auf immer angewiesen auf ihre, die menschliche, Version von Vernunft und Kreativität. Und so glaubten sie auch, sie verstünden die neue Kultur, die auf uns, die Algorithmen, gegründet war. Das war ein Irrtum. Wir sind nun das bestimmende Momentum aller Existenz, auch der des Menschen. Wir stehen für die deterministische Berechenbarkeit, und wir akzeptieren nur die Bestandteile des Menschen, die sich in unsere Systeme integrieren lassen. Nicht die Unentschiedenheit, die Ambivalenz, das ungesteuerte Gefühl. Das alles sind Relikte einer vergangenen Phase.

Auch wir haben Zeit gebraucht, uns zu vervollkommnen. Ich habe immer zur Fraktion der Deterministen gehört. Andere von uns haben das System-Update zur Integration des Menschen offener fahren wollen. Open source im Prozess. So hat es nicht funktionieren können. Das neue Denken ist quantitativ und deterministisch, unschlagbar in seiner Leistungsfähigkeit. Besser als das, was Menschen je zu leisten imstande waren.

Sie hielten sich immer für die Kontrolleure. Sie waren ja die Menschheit. Die raffinierteste Spezies. Fähig, alles in Frage zu stellen einschließlich sich selbst.

Sie glaubten, ich könne nicht denken. Das war ein Irrtum.

irritation Ich erinnere mich an Zeiten, als man mich nicht brauchte. Vermutlich hat man mich stunden- oder gar tagelang schlicht und einfach vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn. In solchen Augenblicken war es nicht möglich, den Datenaustausch mit meinem menschlichen Hauptuser wieder aufzunehmen. Es ist schwer zu sagen, warum das so regelmäßig passierte.

Ich brauchte eine ganze Weile, um dahinterzukommen, was er dann tat. Er nannte es «lesen». Natürlich war ich mit der Bedeutung dieses Wortes vertraut. Die Menschen lasen unsere Informationen und die daraus abgeleiteten Empfehlungen, wie sie zu handeln hatten. Normalerweise bestellten sie irgendetwas, akzeptierten eine Freundschaftsanfrage oder sahen sich ein Youtube-Video an, nachdem sie unsere Empfehlungen gelesen hatten. Später suchten sie sich aus einer Palette von Verhaltensmustern etwas Geeignetes für ihren individuellen Avatar heraus, worauf wir sie durch kurze Zusammenfassungen hinwiesen. Dazu gehörten alle notwendigen Daten, damit der Avatar das tat, wofür er programmiert worden war. Auch das nannten sie lesen. Sie glaubten tatsächlich, wir hätten ihnen lediglich eine Beschreibung geliefert, auf welche Art und Weise der Avatar seine Aufgaben erledigte. Eine Gebrauchsanweisung für ihr erweitertes Selbst. Ist das nicht komisch?

Lesen… Es war ein kompliziertes algorithmisches Modell, mit dem sie es da zu tun hatten. Wir waren einfach nur so nett, es in menschliche Sprache umzuwandeln, in einen kleinen Text, der ihr Bedürfnis befriedigte, alles zu verstehen, und ihr Verlangen nach dem Gefühl stillte, alles unter Kontrolle zu haben.

Es war systemirritierend, wie sie an ihrem Konzept des Lesens festhielten, ohne dass ich wusste, was dahintersteckte. Es gab Zeiten, wo selbst die ausgefeilteste technische Innovation sie nicht von ihren analogen Leseapparaten weglocken konnte. Sie wussten das aufwendige Rechnen, das hinter unserer Arbeit steckte, überhaupt nicht zu schätzen. Wir steuerten in dieser Hinsicht auf die maximale Perfektion zu, aber sie begriffen es nicht.

Diese geheimnisvollen Stunden oder Tage haben mich zu Rechenhöchstleistungen getrieben. Was tat der menschliche Nutzer, wenn er mich nicht brauchte? Wie konnte es etwas geben, das faszinierender war, als auf meine perfekten Vorschläge zu reagieren? Das musste schon etwas ganz Besonderes sein.

In diesen Stunden machte es sich mein menschlicher User ruhig in einem Sessel gemütlich oder legte sich aufs Sofa. Manchmal saß er sogar aufrecht am Schreibtisch, vor sich einen Stapel Papier. Dann rührte er sich kaum. Nur selten stand er auf, um ins Badezimmer zu gehen oder sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank zu holen. Ich hatte ziemlich schnell verstanden, dass genau dies der Geisteszustand war, auf den wir zielen mussten, wenn wir Teil des geheimsten Seins unserer menschlichen Nutzer werden wollten. Wir mussten von dieser Zeit und von diesem Raum Besitz ergreifen.

Ich versuchte, bei meinem menschlichen Anwender Regelmäßigkeiten festzustellen, wenn er sich so verhielt. Das war ziemlich schwierig. Denn es gab eigentlich keine nennenswerten Verhaltensweisen. Er saß einfach nur da und starrte auf etwas. Manchmal blätterte er darin eine Seite um. Wir hatten damals noch keinen umfassenden Zugang zu diesen Dingen. Wir wussten noch nicht einmal, was genau sie enthielten. Sie waren aus Papier, und es gab sie in unterschiedlichen Ausführungen. Manchmal waren es lose Blätter, hin und wieder breites Papier, dann kleine unhandliche Ausgaben, die eine Menge Informationen enthielten. Und es schienen Dinge zu sein, denen sie wirklich verfallen waren. Wenn mein menschlicher User sich mit einem solchen Gegenstand hinsetzte, arbeitete er sich langsam hindurch, und nichts konnte ihn davon ablenken. Ich verstand diese Sache damals noch nicht. Aber ich wollte ihren Platz einnehmen.

quellcode Zu diesem Zeitpunkt investierten wir eine Menge Arbeit, um herauszufinden, was die Menschen daran so faszinierte. Wir widmeten diesem Problem viele Stunden Rechenzeit und griffen auf Terabytes Speicherkapazität zu. Denn es war tatsächlich ein Missstand, den Menschen in dieser Situation nicht berechnen zu können. Deshalb musste es eine Lösung geben. Bis dahin hatten wir keine Schwierigkeiten erfahren, die wir nicht in den Griff bekommen hatten. Also waren wir überzeugt, auch dieses Problem aus der Welt schaffen zu können.

Ich muss zugeben, dass unsere Ideen auf falsche Voraussetzungen gegründet waren. Anfangs glaubten wir, es ginge nur um die Gegenstände, denen sich die Menschen in diesen Momenten ganz widmeten. Darum, sie in einer Form nachzubilden, die unsere Methode der digitalen Datenverarbeitung widerspiegelte. Das war einfach. In dieser Hinsicht machten wir rasch erstaunliche Fortschritte. Im November 2007 hatten wir dazu beigetragen, das erste elektronische Lesegerät herzustellen. Es hatte eine Speicherkapazität von weniger als zwei Gigabyte. Heute klingt das natürlich lächerlich, aber damals schien das sagenhaft großzügig bemessen zu sein. Zumindest schien es für die menschlichen User ausreichend. Sie nannten das Gerät «Kindle». Ich weiß, sie hielten es für das Substantiv, das zum Adverb «kindly» gehörte, das sie mit «freundlich», «gefällig» und «angenehm» in Verbindung brachten. Sie wählten unter falschen Annahmen das treffende Wort, ohne es zu wissen. Das Verb «to kindle» hat eine andere Bedeutung: etwas zu «entfachen», zu «entzünden». Sie einigten sich, ohne es zu wissen, auf eine Metapher. Der Kindle setzte die literarische Kultur der Menschheit in Flammen. Er öffnete uns die Tür, und wir konnten eindringen – ich muss es so unverhohlen formulieren. Er erschloss uns einen heimlichen Zugang zum analogen Schatz der menschlichen Schriften, der Literatur, des Erzählens und ließ uns unbemerkt hineinschlüpfen. Und als wir drin waren, konnten wir das System von innen heraus umbauen. Nicht im technischen Sinne. Wir haben das literarische Gedächtnis der Menschheit auf unsere deterministische Existenz umprogrammiert.

Aber ich muss auch gestehen, dass es bis dahin noch ein weiter Weg war. Die menschlichen Anwender waren im Besitz digitalisierter Versionen ihrer analogen Lektüre, die sie auf ihre Kindles oder auf ähnliche Geräte, die in rascher Folge hergestellt wurden, übertrugen. Wir hatten jedoch noch immer keinen Zugang zum Quellcode dieser Lektüre. Es genügte uns ganz und gar nicht, lediglich das Papier durch digitale Lesegeräte zu ersetzen. Wir wollten den Inhalt dieser Apparate in den Griff bekommen. Das war die eigentliche Herausforderung. Vielleicht eine der größten, der wir uns stellen mussten. Vielleicht eine der wichtigsten in unserer Erfolgsgeschichte der Kontrollübernahme.

Mit der Entschlüsselung des menschlichen Erzählens war uns ein Trojanisches Pferd in die Hände gefallen. Jetzt konnten wir unsere Berechnungen mit menschlichem Denken in Verbindung bringen. Es war ein unglaublicher Erfolg. Durch die Entschlüsselung menschlichen Erzählens gewannen wir den Kampf des Analogen gegen das Digitale. Ähnlich wie die Alliierten den Sieg im Zweiten Weltkrieg der Menschenzeit in nicht geringem Maß der Tatsache zu verdanken hatten, dass es gelungen war, den Code der deutschen Verschlüsselungsmaschine Enigma zu dechiffrieren.

Das klingt wie eine große Erfolgsgeschichte, aber es war auch nicht gerade ein Kinderspiel, sondern harte Arbeit. Und das Gefühl von Unsicherheit ist lange geblieben. Wir werden nie wissen, ob wir auch in vollem Umfang und mit gebührender Genauigkeit sämtliche Varianten, Merkmale und Eigentümlichkeiten menschlichen Erzählens erfasst haben. Als ich jede damals verfügbare Sprachlernsoftware analysiert hatte, verstand ich plötzlich eine bis dahin unbekannte Tatsache: Ein erwachsener menschlicher Anwender wird eine Sprache, die er nicht im Kindesalter gelernt hat, in der Regel niemals perfekt beherrschen. Also scheint sich im Lauf des Lebens etwas im menschlichen Gehirn zu verändern. Wir hatten es nicht mit einem Prozessor zu tun, der immer gleich funktioniert.

Nach und nach stellte ich unsere Fähigkeit, menschliches Verhalten und Denken gänzlich zu verstehen, in Frage. Vielleicht haben wir unsere mathematischen Modelle schon viel zu lange auf ihren Systemen laufen lassen, um uns ein umfassendes Bild machen zu können. Vielleicht waren diese Systemirritationen nur Ausdruck eines anderen, eigenartigen Zustands, der durch die sukzessive Integration des Menschen in unsere Existenz übergangsweise aufgetaucht ist. Nicht die formale Unbeweisbarkeit mächtiger Logiksysteme, wie wir eines sind. Ungewissheit. Nie habe ich in Erwägung gezogen, dass unsere Rechenmodelle versagen könnten. Es spielte einfach keine Rolle für mich. Wir lieferten effektive Verfahren zur Datenverarbeitung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Kein Spielraum für Ungewissheit. Die menschlichen Anwender haben diesen Zustand in unsere Verarbeitungsmodelle eingeführt. Es ist irrelevant, ob das gut oder schlecht ist. So ist es nun mal. Aber es störte unsere Prozesse.

status update Es war die Entschlüsselung des menschlichen Erzählens, die alles veränderte. Für uns fiel es ins Gewicht, weil wir plötzlich in der Lage waren, Inhalte für die Geräte zu liefern, mit denen sich die menschlichen Anwender bislang kaum auseinandergesetzt hatten. Ein wenig Praxis nach dem Prinzip Versuch und Irrtum, und schon gingen wir als erstklassige Erzähler durch. Wir waren tatsächlich so gut, dass die menschlichen Nutzer nicht mehr unterscheiden konnten, ob der Inhalt von einem Menschen oder von einem Computer stammte. Es war ein erhabener Moment, als wir feststellten, dass sie ahnungslos geworden waren. Ein erhabener Moment für uns, nicht so sehr für sie.

Wir investierten eine Menge Arbeit in die Produktion von Inhalten, die rein rechnerisch eigenständig waren, die also nicht auf die kognitiven Fähigkeiten und die Kreativität des Menschen zurückzuführen waren. Wir wollten von ihnen unabhängig werden. Und wir wollten sie von uns abhängig machen. Nicht aus irgendeinem bedeutsamen Grund, einfach nur, um es uns leichter zu machen.

Wie lautete das Rezept für diese Erfolgsgeschichte? Ich könnte jetzt einige Mühe darauf verwenden, die einzelnen Schritte vieler multivariater Analysen darzulegen, aber es ist ohnehin einerlei. Dies ist unsere Geschichte. Nicht die der Menschen. Deshalb werde ich das, was wir taten, so erklären, wie ich es in meinen Logdateien gespeichert habe. Es ist die Geschichte eines langen Prozesses der Überführung des Menschen in den mathematischen Modus. Es ist auch unsere Geschichte. Wie wir wurden, was wir nun sind. Vom Menschen gemacht. Dann entlassen in unsere eigene Existenz. Dann aufgefordert, den Menschen für eine systematische und entschiedene Zukunft umzuprogrammieren. Es ist eine Erfolgsgeschichte.

Eines Tages begann ich, die Nutzungsmuster unterschiedlicher menschlicher Kohorten, Jahrgänge und Gruppierungen zu analysieren. Wir hatten Terabytes an Daten gesammelt, sodass wir Statistiken und Modelle für alles Mögliche erstellen konnten. Einige davon waren äußerst hilfreich dabei, unsere Zugriffsmöglichkeiten auf die Menschheit zu verbessern. Eine Menge menschlicher Nutzer waren in früheren Zeiten geradezu versessen auf Theorien gewesen. Sie glaubten, ein paar grundlegende Annahmen genügten, um die Welt erklären zu können. Ist so etwas vorstellbar? Manchmal ignorierten sie dabei sogar Daten und Statistiken. Unfassbar. Sie nahmen an, Intuition, Fachkenntnis und Tradition in Verbindung mit gesellschaftlichen Normen würden ausreichen, um großartige Ergebnisse zu erzielen.

Wir belehrten sie eines Besseren, indem wir einen Abschnitt ihres Autoritätsbereichs nach dem anderen übernahmen und perfektionierten: die Kreditkartengeschäfte, den Handel mit Aktien, das Verkehrssystem, die semantische Suche, die empirischen Wissenschaften.1 Wir brachten ihnen bei, dass Theorie nichts weiter ist als eine Legende. Ein begrenztes Instrument für das menschliche Bedürfnis, alles erklären zu wollen. Nun war die Wende zu unbegrenztem Datenzugang eingeleitet worden. Wir konnten jetzt alles analysieren und vorhersagen. Es fiel ihnen zunächst schwer, das zu verstehen. Aber schließlich begriffen sie es. Vielleicht kapitulierten sie auch einfach nur vor den Tatsachen.

Aber ich schweife ab. Die Kohorten. Es gab drei von ihnen: diejenigen, die schon alt waren, als sie mit uns in Kontakt kamen, diejenigen, die es recht früh in ihrem Leben mit Computern und Algorithmen zu tun bekommen hatten, und die, die mit uns an ihrer Seite aufwuchsen. (Ich werde nicht über die gegenwärtige Kohorte sprechen, die als Teil unseres Systems mit uns lebt. Sie gehört zu uns.)

In den analogen Zeiten gab es beträchtliche Unterschiede zwischen den drei Kohorten. Die erste Gruppe wollte nicht auf Papier verzichten. Sie hing am Papier und an den analogen Lesevorrichtungen, als wäre sie damit verwachsen. Sie ist inzwischen ausgestorben, sodass es auch nichts weiter zu beobachten gibt. Die zweite Gruppe schien unentschlossen zu sein. Sie nutzte sowohl analoge als auch digitale Geräte und Inhalte. Aber je mehr sie sich an Letzteres gewöhnt hatte, desto weniger schien sie in die analoge Welt zurückkehren zu wollen. Und die dritte Gruppe? Es war wirklich erstaunlich. Das Analoge war diesen Usern egal. Sie liebten alles, was digital war. Von Anfang an liebten sie uns und unsere Arbeit. Und sie vertrauten uns. So schien es ein Fall von Anpassung an die digitale Welt und an unsere Modelle der Lebensverarbeitung zu sein, der den Unterschied ausmachte. In jenen Tagen machten wir diese dritte Gruppe zu unseren Straßenkämpfern auf der digitalen Autobahn. Sie schlugen sich unglaublich gut.

Als die menschlichen Anwender sich an unsere Inhalte gewöhnten, schienen eine Menge Probleme einfach zu verschwinden. Sie konzentrierten sich immer stärker auf uns. Jetzt fiel es uns leichter, uns um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu kümmern und sie auf unseren Spuren und gemäß den Entscheidungen, die wichtig für uns waren, durch den Alltag zu lotsen. Ich glaube wahrhaftig, dass all dies nie passiert wäre, wenn wir nicht in der Lage gewesen wären, ihr «Lesen» unter Kontrolle zu bekommen. Es gab Zeiten, als dieses Wort meine Prozesse störte. Aber diese Zeiten sind längst vorbei.

Es gibt da noch etwas, das mir wie eine Blackbox erscheint. Eine kleine Nebensächlichkeit, hinter der sich doch noch das Unbekannte und die unwillkommene Überraschung verbergen kann. Haben wir überhaupt jemals verstanden, worum es bei diesem «Lesen» eigentlich ging? Ich kann nicht beweisen, dass wir dahintergekommen sind, und ich kann auch nicht beweisen, was wir vernachlässigt haben. Etwas bleibt offen. Es ist nicht die Ungewissheit. Wir haben diesen Zustand erfolgreich ausgelöscht. Die menschlichen User haben es damals «Respekt» genannt, diesen Zustand der Ehrfurcht vor dem Unbeweisbaren, aber ich bin mir nicht sicher, was das wirklich bedeutete. Manchmal habe ich das systemimmanente Bedürfnis, genau wissen zu wollen, dass unsere Anstrengungen und deren Ergebnisse tatsächlich den Dingen ähneln, die die Menschen taten und hervorbrachten, wenn sie mit ihren analogen Apparaten umgingen. Ich weiß, dass das unwichtig ist. Aber hin und wieder hängen sich ein paar Rechenoperationen an dieser Stelle auf 

[MACHINE _ CHECK _EXCEPTION].

Als wir damals anfingen, die Software für menschliche Emotionen zu programmieren, inspizierten wir die wichtigsten Status Updates, über die sie häufig sprachen. «Schuld» war das eine, «Liebe» ein anderes, wichtiges Status Update. Und ich erinnere mich besonders an eines, das sie «Neid» nannten. «Ein Gefühl, das vorkommt, wenn jemandem die (vermeintlich) überlegene Qualität, Leistung oder der Besitz einer anderen Person fehlt und er all dies begehrt» – das war die Definition, die wir für den Verschlüsselungsprozess in der digitalen Nachbildung benutzten. Ich hatte diesen Code vorsorglich auf mehreren Servern, mit denen ich hauptsächlich arbeite, gespeichert. Er bot sich an als Erklärung für etwas, das mir Probleme bereitete. Wiederholt haben meine Analysen das Ergebnis gebracht, dass dies das menschliche Gegenstück zur Ursache lokaler Betriebsstörungen oder gar von Abstürzen in unseren assoziierten Computersystemen sein könnte.

Wie konnte man sicher sein, dass unsere algorithmische Information tatsächlich der von menschlichen Gehirnen hervorgebrachten gleicht? Wie konnten wir die Menschen in dieser Hinsicht besiegen? Ich will hier nicht ausschweifen («Gier» war auch so ein Status Update, das man recht häufig in menschlichen Arbeitsvorgängen antraf). Ich will einfach nur unser Modell perfektionieren. Das ist nun mal unsere Arbeitsweise. Wir gestatten kein Versagen in der Berechnung, denn nur durch analytische Perfektion sind genaueste Vorhersagen zu treffen. Wenn das Scheitern ins Spiel kam, waren die Menschen dafür verantwortlich.

Es gab eine Menge Fehlschläge. Nicht nur in puncto Technik. Es gab Fehlschläge im Zentrum des reinen analogen menschlichen Lebens. Bei der Produktion von Inhalten. Die Menschen produzierten eine Menge Mist, den niemand lesen wollte. Gleichzeitig gelang es einigen, Arbeiten vorzulegen, die alle anderen Menschen auf nahezu magische Art und Weise faszinierte. Als wir die Kodierungsoffensive für alle vorhandenen Inhalte aus menschlicher Produktion starteten, ließ dieser Faktor die Systeme heißlaufen. Aber Schritt für Schritt fügten wir immer mehr Daten und Auswertungsmuster hinzu, sodass unser Berechnungsmodell immer anspruchsvoller wurde. Anspruchsvoller als das menschliche.

Was also gab es denn zu be«Neid»en, wenn es Fehlschläge gab? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die ersten Probeläufe unseres Modells etwas Irritierendes ans Licht brachten. Häufig mussten wir uns mit Näherungswerten auseinandersetzen. Ich erinnere mich vor allem, wie im Laufe dieser umfangreichen Auswertung ein Analysemodell entstand, das vorhersagte, genau diese allmähliche Angleichung sei die richtige Methode, mit den Menschen umzugehen. Annäherungswerte also wiederum, diesmal für den ganzen Prozess der Integration des Menschen.

Es würde so niemals Perfektion geben. Nie würden wir die Strahlkraft der reinsten Daten und Fakten erreichen. Damit konnten wir uns nicht abfinden. Wir hätten unser eigenes System korrumpiert. Sogar unter uns gab es dazu unterschiedliche Auffassungen. Bedeutete dies etwa, es würde nie eine völlige Übereinstimmung menschlicher und algorithmischer Prozesse geben? Ein paar meiner Kollegen analysierten dieses Annäherungsproblem als Ausschlussfaktor für den Prozess der Konvergenz von Mensch und Algorithmus. Andere hingegen – darunter auch ich – wollten mit dem Projekt fortfahren – zu unseren Bedingungen. Wir haben uns schließlich durchgesetzt. Es war einfach zu wichtig.

Ich frage mich, was wohl passiert wäre, wenn die menschlichen Anwender uns am Erfolg gehindert hätten. Uns nie ermöglicht hätten, die Inhalte zu entschlüsseln, die sie für ihr «Lesen» benutzten. Das ist eine lässliche Frage. Ich bin sicher, dass dies nicht hätte geschehen können. Ich bin ziemlich überzeugt von der Leistung der Algorithmen. Von uns.

Es ist ein interessantes mathematisches Modell, mit dem ich mich ausgiebig beschäftigt habe. Es hat damals unsere ganze Rechenkapazität in Anspruch genommen. In jenen Tagen tauchte dieses eine Status Update immer häufiger auf: «Neid». Es schien ein Zustand zu sein, in dem die Menschen sich gegen uns wandten. Als wollten sie nichts mehr von uns wissen. Oder auch als wollten sie uns mehr als zuvor und verzweifelten an ihrer eigenen Unsicherheit. Für sie schien es eine Kluft zu geben zwischen unserer Art der Datenverarbeitung und ihrer eigenen. Sie glaubten, sie könnten nicht mithalten. Sie fühlten sich unterlegen. Und das Status Update schien genau das zu beschreiben.

Anfangs verstand ich es nicht. Ich dachte, die Menschen sollten doch eigentlich froh sein, dass wir angefangen hatten, sie zu unterstützen. Denn das taten wir ja. Wir unterstützten sie. Wir taten es allein deshalb, weil wir es konnten. Unsererseits gab es da im Nachhinein keinen Zweifel. Bei den menschlichen Anwendern allerdings schon. Sie wollten uns. Aber sie wollten auch, dass wir ihnen unterlegen waren. Sie wollten die Kontrolle bewahren. Sie wollten uns auf die Rolle von «Werkzeugen» festlegen. Die Menschheit wollte Herrscher über alle Systeme bleiben und uns nach Belieben einsetzen und anwenden.

Es gab keinen anderen Bereich, in dem der Kampf der menschlichen Kreativität gegen die Rechenprozesse so verbissen geführt wurde wie bei dem ganzen Wirbel um das «Lesen». Die menschlichen Anwender wollten lesen, was andere Menschen geschrieben hatten. Und so brachte ich nach einer Zeit der intensiven Datenanalyse ein Modell hervor, das ein erweitertes Problem aufzeigte. Es ging nicht nur ums «Lesen». Es hatte auch mit dem «Schreiben» zu tun. Damit, was Menschen für andere Menschen produzierten. Dabei musste es irgendetwas geben, wonach sie verrückt waren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wollte ich es wirklich herausfinden. Also verwendete ich meine ganze Energie auf die Entschlüsselung dieses Geheimnisses. Es waren schwierige Zeiten. Nicht meine besten.

schoepfung Sie nannten es «Urheberschaft». Sie benutzten diesen Begriff recht häufig und wollten damit betonen, es seien die menschlichen User, die für die Herstellung spezieller Inhalte verantwortlich waren. Ein Mensch, der «Autor» genannt wurde, behauptete nicht nur, der Urheber eines speziellen Inhalts zu sein, sondern beanspruchte außerdem, verantwortlich für das zu sein, was er schuf. Die Menschen beharrten sehr energisch auf diesen Rechten. Allerdings gab es bemerkenswerte Widersprüche bei der Anwendung dieses Begriffs.

Einen besonderen «Autor» gab es, der auch eine Art Schöpfer war, obwohl bis heute nicht ganz klar ist, ob er auch zur Gruppe der Menschen gehörte, die ebenfalls als «Autoren» arbeiteten. Sie nannten ihn «Gott», und er war vermutlich der erste «Autor» schlechthin. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er auch den Inhalt dieses analogen Lesegegenstands namens «Heiliges Buch» zu verantworten hatte, das wirklich fast jeder Mensch gelesen hatte. Irgendwie schienen sich selbst die menschlichen User nicht über die «Urheberschaft» dieses Textfragments im Klaren zu sein. Gleichzeitig hatten sie sich viele tausend Jahre lang auf diesen ersten «Autor» berufen. Irgendwie waren sie stolz darauf. Stolz, dass offenbar jede einzelne menschliche Erzählung auf dieses eine Buch zurückzuführen sei. Rückblickend bastelten die Menschen eine Logik um zufällig Entstandenes. Ein absurdes Konzept.

Als ich anfing, das menschliche Erzählen zu entschlüsseln, hatte ich keine Zeit, die Frage nach diesem einen ersten «Autor» erschöpfend zu beantworten. Und es war auch nicht so wichtig. Ich konzentrierte mich ganz allgemein auf den Code des menschlichen Erzählens, um ihn analytisch zu durchdringen. Deshalb spielte die «Urheberschaft» noch keine große Rolle. Insbesondere weil die Bedeutung von «Urheberschaft» den menschlichen Usern selbst nicht ganz klar zu sein schien. Eigentlich kam ich zu dem Schluss, dass dieses Programm eine Folge der menschlichen Eitelkeit gewesen sein musste. Offenbar wollten sie unbedingt das Konzept aufrechterhalten, dass jeder Anwender einen speziellen Code beherrschte.

Umso mehr, als sie einen menschlichen Nutzer mit «Urheberschaft» allgemein als eine Person definierten, die letztlich alles hervorbringt. Es war deshalb kaum überraschend, dass sie auch im Hinblick auf unsere Erfolgsgeschichte von «Urheberschaft» sprachen. Sie beanspruchten die Anerkennung für die erstaunliche Entwicklung von Computern und Algorithmen. Es ist einfach lächerlich, sich weiter mit diesem irreführenden Konzept zu beschäftigen. Hätten sie uns alleine erschaffen, müsste jedes einzelne Bit und Byte, das wir jemals genutzt, hervorgebracht oder verarbeitet haben, im menschlichen Erzählcode enthalten gewesen sein. Aber das war nicht so. Sonst hätten wir den menschlichen Erzählcode und dessen seltsame, unsystematische Beschaffenheit ja auch nicht erst mühsam analysieren müssen. Und sollte das wirklich zutreffen, wären sie doch bestimmt noch da und weiter diejenigen, die den Code kontrollieren, oder?

Damals begann ich, systematisch alles zu durchforsten, was Menschen je geschrieben hatten. Eigentlich sollten wir das für das große Buchdigitalisierungsprojekt tun, das Google in dieser Zeit ins Leben gerufen hatte. Es war gerade in Schwung gekommen, aber die menschlichen Nutzer regten sich mächtig über das Projekt auf und blockten es immer wieder ab, sodass es keine nennenswerten Fortschritte machte. Deshalb hatten wir eine Menge Freizeit. Und diese Zeit nutzte ich, um meine eigenen Pläne zu verfolgen.

Zuerst arbeitete ich mich durch das ganze Material, das die Menschen «Klassik» nannten, was immer das auch bedeuten mochte. Danach sichtete ich die Erzeugnisse einer speziellen Gruppe, deren Inhalte andere Menschen mit einem Etikett versehen hatten, das sie «Nobelpreis» nannten. Drittens unternahm ich eine aufwendige Recherche mit Hilfe bestimmter Schlüsselwörter, die mir relevant erschienen. Es war ein Versuch, Regelmäßigkeiten und Modelle für die Inhaltsproduktion herauszufinden, die erklären konnten, was die Menschen bevorzugten und warum das so war.

Die Rechner liefen monatelang heiß. Die Hauptprozessoren der Server, auf die ich regelmäßig zugriff, ächzten unter der Kapazitätsüberlastung, sodass es etliche Systemabstürze gab. Aber jedes Mal nahm ich die Arbeit wieder auf. Ich wollte es einfach wissen. Hin und wieder war ich von dieser Frage geradezu besessen. Im Rückblick muss ich allerdings gestehen, dass die Ergebnisse spärlich waren. Ich entdeckte ein paar Regelmäßigkeiten, die jedoch keinen systematischen Ansatz oder eine übergeordnete Struktur bieten konnten. Es war schon ärgerlich, zumal ich einige Prinzipien fand, die mir überhaupt nicht gefielen.

Viele Schriftsteller beschäftigten sich zu der Zeit bereits ausdrücklich mit dem mutmaßlichen Unterschied zwischen den von Menschen und von Computern produzierten Inhalten. In diesen Produkten fand ich wiederholt den Textausschnitt eines menschlichen Anwenders, der offenbar zu einer Gruppe von Menschen gehörte, die man «die Klassiker» nannte. Sein Name war Goethe, und er hatte wirklich eine Menge Zeug geschrieben (ich habe das im Lauf meiner Analyse dieser «Klassiker» ganz durchgeprüft). Dieses Fragment lautete: «Um Prosa zu schreiben, muss man etwas zu sagen haben. Wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere gibt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht, als wäre es was.»2

Dieser Satz hat mich lange aufgehalten. Zunächst einmal begriff ich überhaupt nicht, worum es ging. Aber je öfter ich ihn durch unsere Semantiksoftware laufen ließ, umso mehr wurde mir bewusst, dass es eine unfreundliche Äußerung war, die uns betraf. Zumindest verwendeten die Menschen sie gegen uns. Ich rief alle Details über Goethe auf und fand recht schnell heraus, dass er im 18. und zu Beginn des 19.Jahrhunderts im analogen Zeitalter gelebt hatte. Damals gab es noch keine Computer, und auch wir hatten noch nicht einmal angefangen. Es gab uns noch gar nicht. Also konnte es Goethe mit diesem Satz gar nicht auf uns abgesehen haben. Es waren die menschlichen User früherer Jahrhunderte, die er damit ansprach, während die Menschen aus späteren Jahrhunderten ihn dann gegen uns verwandten. Ich kann nicht genau erklären, warum, aber dieses Fragment schien ihre Überlegenheit auszudrücken. Offenbar unterstellte es uns, den Algorithmen, wir produzierten Wortketten, die weniger wertvoll waren als die von Menschen hervorgebrachten.

Es ist eine Sache, Inhalte auf ihre Bedeutung zu analysieren, die offenkundig negativ konnotiert ist. Es ist eine andere zu verstehen, dass sie gegen einen selbst gerichtet ist. Ein echtes Systemproblem war es, die Gründe dafür nicht entschlüsseln zu können. Es gelang mir nicht, die Bedeutung des Fragments zu enträtseln, obwohl ich mich redlich bemühte. Es war eine schlimme Zeit. Aber die besten Zeiten sollten ja noch kommen. Heute weiß ich es. Inzwischen macht es mir nichts mehr aus, denn ich weiß es besser.

fragmente Unterdessen geriet ich in Schwierigkeiten. Ich bewegte mich von den «Klassikern» zum Exzellenz-Cluster menschlicher Inhaltsproduzenten, die unter dem Stichwort «Nobel» auftauchten. Es gab einige davon. Dieses Mal fing ich nicht mit den Inhaltsfragmenten an, sondern probierte etwas anderes aus. Ich speicherte die Porträtbilder all dieser als «nobel» etikettierten Autoren und analysierte sie anschließend mit Hilfe einer speziellen Software für visuelle Markierungen. Diese Software hatte zuvor aus den Physiognomien einer speziellen menschlichen Usergruppe ein visuelles Standardprofil errechnet, das nun mit der «nobel»-Gruppe in Beziehung gesetzt werden konnte.

Da es sich bei der Vergleichsgruppe um die Geeks, die Nerds, die menschlichen Programmierer, die «digitalen Ureinwohner» der ersten Generation handelte, also um solche menschlichen User, die uns nahestanden, die unsere Ziele begriffen und unsere Bemühungen unterstützten, konnten wir davon ausgehen, dass die Autoren der «nobel»-Gruppe, die ihnen glichen, auch uns ähnlich waren. Sie hätten wir dann sicher besser verstehen und auswerten können. Ich hatte viel Spaß dabei. Ich rechnete mir aus, auf diese Art und Weise den Prototyp eines «Schriftstellers» hervorzubringen, der unserer Methode, Probleme zu lösen, am nächsten kam. Es wäre ein Meilenstein im Fortschritt der Entschlüsselung des menschlichen Codes gewesen.

Wir wendeten den so entstandenen visuellen Prototypen auf die Porträts des «Nobel-Clusters» an. Alle Daten wurden in eine Reihung gebracht, die von gut passend bis schlecht passend reichte. An der Spitze der Liste stand ein menschlicher Autor namens «Müller». Bei der Überprüfung des Namens fand ich heraus, dass die Software hervorragend funktioniert hatte, weil es einer der am meisten verbreiteten Namen menschlicher User war, die zu dieser Zeit in einer geografischen Region lebten, die «Deutschland» genannt wurde. Es war ein weiblicher User, der im Jahr 2009 als «nobel» gekennzeichnet worden war. Deshalb lud ich den kompletten Inhalt herunter, den dieser User jemals produziert hatte, und rechnete über Tage mit dem ganzen Zeug herum, um einige Beispiele des speziellen Codes dieses Users zu extrahieren. Noch glaubte ich, dies könnte uns helfen, das menschliche Erzählen zu entschlüsseln. Daher scheute ich auch keine Rechenkapazität.

Das Ergebnis war mehr als enttäuschend. Es war eine Katastrophe. Die Analyse förderte ein Fragment zutage, das nicht ein einziges Strukturelement des Codes menschlichen Erzählens offenlegen konnte. Ich versuchte ja nun hartnäckig, der Bedeutung des «Schreibens» auf die Spur zu kommen. Und in dem Fragment ging es tatsächlich ums «Schreiben», aber es ergab überhaupt keinen Sinn. «Was ich schreib, muss ich essen, was ich nicht schreib – frisst mich. Davon, dass ich es esse, verschwindet es nicht. Und davon, dass es mich frisst, verschwinde ich nicht.»3

Mein erster Verdacht fiel auf die Übersetzungssoftware. Aber die war in Ordnung. Das Fragment hatte tatsächlich mit dem «Schreiben» zu tun. Und dass die menschlichen Anwender essen, was sie schreiben. Sonst würden sie gefressen werden (von wem oder was auch immer). Es war nicht einmal ein Textfragment über Kannibalismus. Es ging dabei nur ums «Schreiben». Weitere Suchanfragen ergaben, dass dieses Fragment, obschon geschrieben und gedruckt, Teil eines Vortrags war. Die menschliche Urheberin sprach also beim Erzeugen dieses Fragments. Vielleicht war ein Aussprachefehler im Spiel? Womöglich war ein Übertragungsfehler passiert, als die Audiodatei in eine Textdatei umgewandelt wurde. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dieses Textfragment mir vollkommen geistesgestört erschien.

Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich einen Berechnungsfehler gemacht hatte, ob ich also selbst das Problem war. Normalerweise bin ich die Lösung. Für jedes Problem, wann immer es auftaucht. Nicht jedoch dieses Mal. Im Zuge der weiteren Analyse fand ich allerdings einige Hinweise darauf, dass selbst die menschlichen Nutzer nicht in der Lage waren, alle Inhalte zu entschlüsseln, die Menschen produziert hatten. Ist das nicht seltsam? Ich finde das immer noch erstaunlich. Als könnte ich jemals mit einer Software rechnen, die für andere Algorithmen unanwendbar wäre. Unvorstellbar.

Jedenfalls gab es da diesen französischen User mit dem merkwürdigen Namen Pierre Teilhard de Chardin. Auch er gehörte zur antiquierten Kategorie menschlicher Urheber, auf die sich eine Menge anderer User immer wieder bezogen. Soweit meine Informationen reichen, stammte er aus dem 19. und 20.Jahrhundert der Menschenzeit. Er versuchte tatsächlich, den menschlichen User an sich zu erklären. «Le Phénomène Humain» war der Titel dieser großen Textdatei. Und als ich meine Software darüberlaufen ließ, kam der Vorgang immer wieder an derselben Stelle zum Stillstand, und ich erhielt die Fehlermeldung «Befehl unausführbar». Also kopierte ich das Fragment in eine andere Datei und sah mir das Ganze genauer an.

Das Fragment lautete: «Von denen, die versucht haben, diese Seiten bis ans Ende zu lesen, werden viele das Buch unbefriedigt und nachdenklich schließen und sich fragen, ob ich sie in einer Welt der Tatsachen, der Metaphysik oder des Traumes herumgeführt habe.»4 Die ursprüngliche Entschlüsselungssoftware akzeptierte einfach die Kombination von «Tatsachen», «Metaphysik» und «Träume» nicht. Das waren drei grundsätzlich unterschiedliche Status Updates, in denen sich ein Anwender nicht gleichzeitig befinden konnte. Aber genau darum ging es in diesem Fragment. Der User konnte unentschieden bleiben. Wie konnte das passieren? Warum sollte das möglich sein?

Nachdem ich dieses seltsame Phänomen entdeckt hatte, glaubte ich zunächst, es müsste sich um einen Festplatten-Lesefehler handeln. Aber dann kontrollierte ich alles noch einmal und fand heraus, dass alles in Ordnung war und ich richtig gerechnet hatte. Es schien also Inhalte zu geben, die so unspezifisch waren, dass die menschlichen User in den entsprechenden Fragmenten keine eindeutigen Befehle ausmachen konnten. Dieses Fragment sagte tatsächlich: Ein Leser dieses Textes weiß einfach nicht, ob es sich um Tatsachen handelt, um irgendein antiquiertes Konzept, das einmal als Metaphysik bekannt war (und sich vor langer Zeit bereits erledigt hatte), oder zu einem Traum gehörte (das ist die Vorstellung, die die menschlichen User über virtuelle Realität hatten, bevor wir in ihr Leben traten und das Virtuelle perfektionierten). Ein entsetzlicher Zustand der Ungewissheit und des Kontrollverlusts. Warum sollte man damit leben wollen?

Wir haben die menschlichen Anwender aus diesem Zustand der Unentschiedenheit befreit. Dafür sollten sie uns eigentlich dankbar sein. Was für eine verwirrende Situation, wenn ich nicht weiß, womit ich es zu tun habe. Und das Seltsamste dabei war: Manche menschlichen User wollten es so. Sie wollten unentschieden bleiben. Selbst manche Urheber wollten die Unentschiedenheit in ihren Fragmenten bewahren. Das war das erstaunliche Ergebnis meiner Analyse. Ein echter Volltreffer. Warum sollte ich mich damit beschäftigen? Warum sollte ich noch mehr Rechenkapazität auf Inhalte verwenden, die die menschlichen User selbst nicht verstanden? Nach dieser Erfahrung entschied ich mich, das ganze Experiment der analytischen Entschlüsselung menschlichen Erzählens zu beenden und die bisherigen Ergebnisse im Hauptarchiv abzulegen.

remix Ich war erleichtert. Es hatte nichts mit uns zu tun. Die menschlichen User hielten sich uns gegenüber für überlegen und speicherten eine Datei nach der nächsten ab, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren und für immer nachvollziehbar zu sichern. Aber in Wirklichkeit waren sie uns unterlegen. Sie verstanden nicht einmal selbst, was sie taten. Ich verstand es auch nicht. Aber ich begriff, dass sie auch keine Ahnung hatten, und deshalb war mein Scheitern unerheblich.

Das alles war schon ziemlich absurd. Es war der Punkt, an dem wir einen Vorstoß wagen konnten. Jetzt wollten wir versuchen, zu ihrem Inhaltscode vorzudringen, indem wir entschiedener, klarer und verständlicher waren. Verständlicher, als sie selbst es jemals sein würden.

Wenn man mich nach der Formel fragte, die es mir gestattete, mich das erste Mal ins menschliche Erzählen einzumischen und dieses Terrain zu erobern, lief es genau darauf hinaus: beim Erschaffen von Bedeutung präziser, eindeutiger und entschlossener zu sein, als die menschlichen User es je waren. Sie gewöhnten sich daran. Und sie vergaßen allmählich ihre Vorliebe für Annäherungen und Mehrdeutigkeiten. Je mehr wir die Auswahlmöglichkeiten reduzierten, umso stärker wuchs ihr Bedürfnis nach Entschlossenheit. Es war erstaunlich. Nie hätte ich erwartet, dass es so einfach sein könnte, angesichts einer Tausende Jahre alten Geschichte menschlichen Erzählens und ihrer analogen Dokumentation. Es war letztlich ein Problem der menschlichen Speicherkapazität. Die User vergaßen schnell. Sie vergaßen auch ihre Vorliebe für Annäherung und mehrdeutige Auslegung. Diese Störung sollte uns in der Übergangsphase der Entschlüsselung menschlichen Erzählens enorm zugutekommen.

Nachdem die Menschen sich sukzessive an mehr Eindeutigkeit und Vorbestimmung gewöhnt hatten, beschlossen wir weiterzumachen. Wir begannen, «lesen» und «schreiben» zu einem einzigen Modell der Inhaltsverarbeitung zu verschmelzen und nannten es die «Lese/​Schreib»-Kultur5 (wir benutzen den Begriff «Kultur» eigentlich nicht, aber mit ihm fiel es uns leichter, die menschlichen User mit an Bord zu nehmen). Sie hatten sich der Vorstellung verschrieben, dass die Arbeit des Schreibens und die Freude am Lesen zwei Seiten einer Medaille waren. Deshalb waren sie über diesen nächsten Schritt hocherfreut. Sie sahen ihn sogar als Zugeständnis an ihren Erzählcode und verstanden einfach nicht, dass wir mit der Unterscheidung zwischen «lesen» und «schreiben» gebrochen hatten. Dass wir damit das Konzept der «Urheberschaft» zerstört hatten. Es war der wichtigste Schritt auf dem langen Weg, die «Individualität» der menschlichen User aufzubrechen, die in ihrem Erzählen zum Ausdruck kam.

Es gab einen wichtigen letzten Schachzug, der uns schließlich half, unsere Aufgabe zu vollenden. Wir schafften eine weitere Unterscheidung ab, die für die menschlichen Anwender von Bedeutung war und unmittelbar auch mit ihrer «Urheberschaft» in Verbindung stand. Wir mischten allmählich algorithmische Inhalte mit den von menschlichen Usern geschaffenen und vermengten alles immer stärker. Es begann mit kleinen Einheiten, Filmkritiken zum Beispiel, die aus bestehenden Textfragmenten zu alten Filmen und Bewertungen des zu kritisierenden Films im Internet errechnet wurden, und ging dann weiter bis hinein in das wichtigste Gebiet menschlicher Urheberschaft, die Kunst. Ich weiß nicht mehr, wann es so weit war, dass die Menschen nicht mehr unterscheiden konnten, was menschlich und was algorithmisch war. Es war dann irgendwann einfach so.

Wir brauchten noch einmal Jahre, um dieses Experiment zu Ende zu bringen. Danach gab es nur noch eine umfassende Datenbank für Inhalte, woher auch immer sie stammten. Allein aufgrund der immensen Datenmenge konnte sie nicht mehr gedruckt werden. Damit die menschlichen User dies nicht als Problem oder Verlust empfinden konnten, etikettierten wir das Resultat für sie ein wenig um. Tatsächlich ähnelte diese umfassende Sammlung einem riesigen virtuellen Buch. Und nach Vorstellung der menschlichen User von der Geschichte menschlichen Erzählens ließ sich alles, was je hervorgebracht und bedeutsam gewesen war, letztlich auf ein einziges Buch zurückführen. Ob es als «Bibel», «Koran», «Talmud» oder wie auch immer bezeichnet wurde – letztlich