Nimue Alban: Die Eiserne Festung - David Weber - E-Book

Nimue Alban: Die Eiserne Festung E-Book

David Weber

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Beschreibung

Cayleb Ahrmank hat die größte Seeschlacht der Menschheitsgeschichte gewonnen und die stärkste Seemacht von Safehold aufgebaut. Sein Land Charis ist ein Ort des Friedens. Wenn nicht die Kirche wäre: Ihre mächtige Flotte wird bald mit neuen Waffen gegen Charis auslaufen. Doch weiß die Kirche nichts von Caylebs Berater und Wächter, dem geheimnisvollen Kriegsmönch Merlin Athrawes. Merlin weiß alles über aussichtslose Schlachten. Denn er ist in Wahrheit ein kybernetischer Avatar mit Wissen über modernste Technik und Kriegsführung...

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David Weber

DIEEISERNEFESTUNG

Aus dem Amerikanischen vonUlf Ritgen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

© 2010 by David Weber

Titel der Originalausgabe: »A Mighty Fortress« (Teil 1)

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2011/2014 by Bastei Lübbe AG

This work was negotiated through Literary Agency

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen,

on behalf of St. Martin's Press, L.L.C.

Textredaktion: Beate Ritgen-Brandenburg

Lektorat: Ruggero Leò

Titelillustration: Arndt Drechsler

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN: 978-3-8387-0530-9

Sie finden uns im Internet unterwww.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Für Bobbie Rice

Warte auf uns, Schwieger-Omi!

Wir vermissen dich,

aber Sharon,

die Kinder und ich kommen nach.

September,im Jahr Gottes 893

.I.

Echsenherdenplatz, Stadt Manchyr, Fürstentum Corisande

Paitryk Hainree stand auf seinem improvisierten Podest, gleich oben auf der Zisterne der städtischen Feuerwehr. Von dort aus wetterte er auf seine Zuhörerschaft hinab: »Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, Leute, aber ich für meinen Teil habe diese Drachenscheiße endgültig satt!«

»Genau. Mistkerle!«, ließ sich eine Stimme aus der kleinen Menschenmenge vernehmen, die sich vor der Taverne versammelt hatte. Es war früh am Morgen, ein ganz normaler Mittwoch. Wie überall auf Safehold waren auch in Manchyr die Tavernen geschlossen und würden es auch bis zum Ende der Frühmesse bleiben. Die Sonne war gerade eben erst aufgegangen. Daher lagen die engen Straßen der Stadt noch im Schatten der sie begrenzenden Häuser – dunkle Adern in einer Höhle, die Stadt hieß. Die Wolken am Himmel versprachen einen verregneten Nachmittag, und die Luftfeuchtigkeit war immens.

Immens war auch, wie Hainree nicht entging, die Gereiztheit seiner Zuhörer. Es waren nicht allzu viele. Tatsächlich waren es sogar deutlich weniger, als er sich eigentlich erhofft hatte, und wahrscheinlich war die Hälfte der versammelten Männer eher aus Neugier hier denn aus echter Überzeugung. Aber diejenigen, die tatsächlich überzeugt waren …

»Verfluchte Mörder!«, ereiferte sich jemand anderes.

Nachdrücklich nickte Hainree, damit ein jeder seiner zornigen Zuhörer die Geste auch deutlich erkennen konnte. Eigentlich war er Silberschmied. Er war also beileibe kein Redner oder Schauspieler – und ganz gewiss kein Priester. Aber im Laufe der letzten Fünftage hatte er Gelegenheit gehabt, aus den Erfahrungen und Ratschlägen von Männern zu lernen, die sehr wohl ausgebildete Priester waren. Von ihnen hatte er gelernt, seine Stimme richtig einzusetzen. Er hatte auch gelernt, wie scheinbar spontane Körpersprache Gesagtes zu unterstützen oder gar zu verstärken vermochte. Er wusste so den echten, flammenden Zorn seiner Worte noch gezielter einzusetzen.

»Ja!«, rief Hainree nun dem Mann aus dem Publikum eine Antwort zu. »Du hast vollkommen Recht: Es sind Mörder – es sei denn, du willst tatsächlich diesem verlogenen Mistkerl Cayleb glauben!« Hainree machte eine verächtliche Geste. »Natürlich ist Cayleb nicht verantwortlich! Ich meine, wie könnte er auch! Hätte er etwa einen Grund gehabt, den Mord an Prinz Hektor zu befehlen?«

Ein neuerlicher Sturm der Entrüstung brandete dem Mann auf der Zisterne entgegen. Dieses Mal war es pure Wut, Zorngebrüll, keine verständlichen Worte mehr. Hainree verzog die Lippen zu einem brutalen Grinsen.

»Gottverfluchte Schlächter!«, rief eine weitere Stimme. »Priestermörder! Ketzer! Ferayd soll nie vergessen sein!«

»Ja!« Wieder nickte Hainree, ebenso nachdrücklich wie zuvor. »Die da auf den Kanzeln, unser so genannter neuer Erzbischof und seine Bischöfe, die können sagen, was immer sie wollen! Ich aber glaube, dass ihr Recht habt, was Caylebs ach so heiß geliebte ›Kirche von Charis‹ angeht! Mag ja sein, dass es wirklich ein paar Priester gibt, die ihr Amt missbraucht haben. Nur glauben will das niemand - ich auf jeden Fall nicht! Und wie steht es mit euch? Aber vergesst nicht, was Erzbischof Wyllym in seinem Bericht über das Ferayd-Massaker geschrieben hat! Es steht völlig außer Frage, dass Caylebs Version der Ereignisse eine Lüge ist, und es steht verdammt noch mal fest, dass es eine Lüge ist, dass er und seine Speichellecker sich bei der Reaktion auf das Massaker zurückgehalten hätten! Mutter Kirche dagegen war wahrhaftig. Sie hat selbst bestätigt, dass sich die in Ferayd gehängten Priester – ohne anständiges Verfahren, gottlos gehängten Priester, und das von ›Erzbischof‹ Maikels eigenem Bruder! –, dass sich diese Priester haben Missetaten zuschulden kommen lassen. Mutter Kirche war wahrhaftig: Der Großvikar hat dem Großinquisitor persönlich eine Buße für Ferayd auferlegt – weil er es hat geschehen lassen! Klingt das für euch, als könne man Mutter Kirche nicht vertrauen? Klingt das für euch, als könnten wir uns nicht darauf verlassen, dass Mutter Kirche sich um Amtsmissbrauch und Korruption kümmern wird? Klingt das für euch, als sei die einzig mögliche Antwort offener Widerstand gegen Gottes Eigene Kirche? Klingt das für euch, als müsse man das Vikariat stürzen, das Langhorne persönlich verfügt hat?«

Zorniges Schnauben war die Antwort auf Hainrees Worte. Aber er bemerkte, dass es dieses Mal deutlich weniger heftig ausfiel als beim letzten Mal. Das enttäuschte ihn, aber es überraschte ihn nicht. Die meisten Corisandianer hatten sich nie unmittelbar durch die Politik der Kirche des Verheißenen und der Ritter der Tempel-Lande bedroht gefühlt. Das war in Charis sicherlich anders. Die Charisianer hatten ja auch erfahren müssen, dass eben jene Kirche beziehungsweise die Männer an ihrer Spitze ihr ganzes Königreich zum Tode durch Feuer und Schwert verurteilt hatte.

Trotzdem wäre es falsch, ja dumm gewesen, so zu tun, als hätten nicht reichlich Corisandianer Zweifel an den derzeitigen Regenten der Kirche. Manchyr lag nämlich weit entfernt vom Tempel oder der Stadt Zion. In Religionsfragen waren daher die Corisandianer deutlich freidenkerischer eingestellt, als das die Inquisition oder das Vikariat normalerweise geduldet hätten. Darüber hinaus hatten zahlreiche Corisandianer bei der Schlacht im Darcos-Sund Söhne, Brüder oder Väter verloren. Diese Seeschlacht war die entsetzliche Konsequenz eines Krieges gewesen, in dem das Fürstentum Corisande und seine Verbündeten gezwungenermaßen als Strohmänner für die Kirche fungiert hatten. Eines also wusste Hainree gewiss: Unter seinen Zuhörern waren auch jene, die von religiösem Eifer und Orthodoxie getrieben wurden; in ihnen loderte weiß glühend Zorn, der alles andere überwog. Doch der weitaus größte Teil der Corisandianer war, was Religion und Kirche anging, deutlich weniger leidenschaftlich. Ihr Widerstand gegen die Kirche von Charis rührte vor allem daher, dass es eben die Kirche von Charis war. Sie sahen diese Kirche untrennbar mit den Bestrebungen des Hauses Ahrmahk verbunden, sich das Fürstentum Corisande einzuverleiben. Mit übersteigerter Orthodoxie hatte das nichts zu tun. Zweifelsohne gab es auch in Corisande so manchen, der insgeheim ebenfalls für eine Reformierung von Mutter Kirche war. Und diese Leute mochten sich von der abtrünnigen Glaubensgemeinschaft durchaus angezogen fühlen.

Du darfst nicht zu sehr auf der Ketzerei herumreiten, Paitryk!, mahnte sich Hainree innerlich. Sollen doch die, die jetzt schon mit Feuereifer dabei sind, ihre Flammen allein nähren! Pater Aidryn hat schon ganz Recht: die werden auch ohne deine Mithilfe ihren Eifer nicht verlieren. Deine Funken aber solltest du auf den Zunder der anderen regnen lassen!

»Eines weiß ich ohne jeden Zweifel: Die Zeit wird kommen, und Gott, Langhorne und der Erzengel Schueler werden sich all der Verfehlungen im Glauben annehmen«, sagte Hainree. »Denn das ist Gottes Angelegenheit und Seine allein! Mutter Kirche und ich werden sie ihm nur zu gern überlassen. Aber was außerhalb der Kirche geschieht – was in Corisande geschieht, was hier auf den Straßen von Manchyr geschieht –, das ist Angelegenheit der Menschen! Unsere Angelegenheit! Ein Mensch muss wissen, wo er steht, und wenn er das weiß, dann muss er auch dafür einstehen, und nicht nur unschlüssig mit den Händen wedeln und lamentieren, er wünschte, es wäre irgendwie anders.«

Die letzten beiden Worte hatte er in einem höhnischen Falsett ausgesprochen, was erneut den Zorn seiner Zuhörer zu entfachen vermochte.

»Hektor!«, rief ein drahtiger Mann. Obwohl Hainree den Mann nicht sehen konnte, wusste er, dass dessen linke Wange von unschönen Narben überzogen war. Die Stimme hatte er auch sofort erkannt. Was auch sonst! Schließlich war Hainree selbst dabei gewesen, als eine geborstene Gussform und ein Spritzer geschmolzenen Silbers die Narbe auf der Wange erzeugt hatte. Rahn Aimayl war einer seiner erfahrensten Lehrlinge gewesen, bevor die charisianische Invasion Hainrees einst blühendes Geschäft ruiniert hatte, zusammen mit so vielen anderen Geschäften der belagerten Hauptstadt. Hainree war selbst dabei gewesen, als eine Gussform geplatzt war und ein Spritzer flüssigen Silbers die Narbe auf Aimayls Wange erzeugt hatte.

»Hektor!«, wiederholte Aimayl jetzt. »Hektor!«

»Hektor, Hektor!«, griffen andere den Ruf auf, und dieses Mal hätte Hainrees Lächeln einer Peitschenechse zur Ehre gereicht.

»Also«, rief er seinen Zuhörern zu, »letztendlich sind wir mehr als die! Zwar weiß ich nicht, wie es euch geht, aber zu einem bin ich noch nicht bereit - noch nicht, hört ihr! Ich will nicht glauben, sämtliche unserer Lords, unserer großen Männer und die Mitglieder des Parlaments wären bereit, vor Cayleb zu buckeln, genau wie dieser Regentschaftsrat! Vielleicht brauchen diese Männer einfach nur ein deutliches Zeichen, nämlich, dass auch wir nicht vor Cayleb buckeln!«

»Hek-tor! Hek-tor!«

Gequält verzog Sergeant Edvard Waistyn das Gesicht, als die Menschenmasse näher rückte und der wütende Schlachtgesang an Lautstärke zunahm. Selbst über das majestätische Geläut der Kathedrale in unmittelbarer Nähe war der Name zu verstehen. Das allerdings, so musste sich Waistyn eingestehen, konnte durchaus auch daran liegen, dass er diesen oder einen ähnlichen Schlachtruf im Laufe der letzten Fünftage recht häufig gehört hatte. Bedauerlicherweise.

In den nächsten Fünftagen werde ich ihn sicherlich auch nicht weniger häufig zu hören bekommen, dachte er grimmig.

Der Sergeant, einer der Aufklärer-Schützen des Ersten Bataillons von der Dritten Brigade der Imperial Charisian Marines, lag bäuchlings auf dem Dach und spähte auf die schmale Straße unter seinem Versteck hinab. Die Menschenmenge strömte aus den im Schatten liegenden Gassen zusammen wie jedes Mal. Dieses Mal nur schien Waistyn der Mob zögerlicher als sonst. Die Wut der Leute war unverkennbar echt. Daher zweifelte Waistyn keinen Augenblick daran, dass sie ihr Wutgebrüll schon bald wieder mit aller Kraft herausschrien. Doch jetzt hatte die Menge Kuppel und Kirchturm der Kathedrale vor sich. Klar, die Menschen wollten ihrer, nun … Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Nur galt diese Unzufriedenheit jetzt nicht mehr einem Ereignis in weiter Ferne, sondern einem in unmittelbarer Nähe. Der Mob spürte also, dass der herausgebrüllte Protest unschöne Konsequenzen mit sich bringen mochte.

Schade, dieses Unwetter verzieht sich nicht einfach wieder, sobald ein wenig Wind aufkommt. Stattdessen wird’s regnen – und höchstwahrscheinlich auch das eine oder andere Gewitter geben.

Wachsam wanderte Waistyns Blick über die Männer aller Altersstufen und die Jungen, die ihre Fäuste schüttelten und Verwünschungen ausstießen – in Richtung der Männer in den traditionellen Uniformen der Charisian Marines: dunkelblauer Kasack und hellblaue Hose. Die Marines hielten ihre Gewehre in den Händen und bildeten eine wachsame Sperrlinie. Sie waren die Barriere zwischen der brüllenden Menschenmenge und einer anderen, beinahe ebenso großen Gruppe – die allerdings sehr viel leiser auftrat und zügig die Tempelstufen hinter ihnen erklommen.

Bislang hatte sich noch keine dieser angeblich spontanen Demonstrationen auf das Gelände der Kathedrale gewagt. Eigentlich überraschte das Waistyn. Schließlich besaß dieses Gebäude dank seiner Bedeutung für die ›ketzerische‹ Kirche von Charis Anziehungskraft auf deren Gegner. Ob in Corisande schon vor der Invasion religiöse Unzufriedenheit geherrscht hatte? Gar deutlich mehr, als der Sergeant gedacht hatte? Vielleicht aber zögerte selbst der streitlustigste Aufrührer immer noch davor, den heiligen Grund und Boden von Mutter Kirche zu betreten.

Na, vielleicht ist diese Meute hier ja ein bisschen abenteuerlustiger gestimmt als die letzte, mit der wir es zu tun hatten, dachte Waistyn grimmig.

»Verräter!« Es gelang dem Ruf, den rhythmischen Schlachtgesang zu durchdringen, bei dem immer und immer wieder der Name des ermordeten Fürsten von Corisande beschworen wurde. »Mörder! Gedungene Mörder!«

»Verschwindet! Verschwindet endlich – und nehmt euren mordlüsternen, dreckigen ›Kaiser‹ mit!«

»Hek-tor! Hek-tor!«

Das Gebrüll wurde noch lauter, auch wenn das kaum vorstellbar war. Der Mob drängte vorwärts, jetzt deutlich entschlossener, als würden seine Flüche und Verwünschungen jegliches Zögern nach und nach aufreiben.

Ich wünschte, General Gahrvai hätte seine eigenen Leute hier, sinnierte Waistyn. Wenn das hier so übel wird, wie ich fürchte …

Mit festen Schritten marschierte eine Gruppe Waffenträger im Weiß und Orange der Erzbischöflichen Garde die Straße hinab auf die Kathedrale zu. Das Gebrüll der Protestierenden steigerte sich, als die Demonstranten die Gestalt sahen, die sich in der Mitte der Waffenträger-Formation befand: Es war ein Mann in weißer Soutane und einer Priesterhaube mit breitem, orangefarbenem Band und weißer Kokarde.

»Ketzer! Verräter!«, kreischte jemand. »Langhorne kennt die seinen - und Shan-wei auch!«

Na, wunderbar, dachte Waistyn angewidert. Durch den Hintereingang kann er wohl nicht gehen, was? Sei doch nicht albern, Edvard - natürlich kann er das nicht! Nicht heute! Er schüttelte den Kopf. Ach, was wird das ein Spaß!

Unten auf der Straße ging Lieutenant Brahd Tahlas, dem noch recht jungen Zugführer des Zweiten Zuges der Alpha-Kompanie, Ähnliches durch den Kopf wie dem deutlich diensterfahreneren Sergeant, der sich hoch über ihm auf dem Dach befand. Nur fluchte Tahlas innerlich weitaus deftiger dabei. Schließlich steckte er mittendrin im Mob.

Zudem lag es in seiner Verantwortung, mit diesem Schlamassel zurechtzukommen.

»Mit Verlaub, Sir, das hier gefällt mir so gar nicht«, murmelte Platoon Sergeant Zhak Maigee. Der Platoon Sergeant war fast doppelt so alt wie Tahlas; in den Dienst der Royal Charisian Marines eingetreten war er im zarten Alter von fünfzehn Jahren. Seitdem war er schon an vielen Orten in der Fremde gewesen und hatte vieles erlebt – oder, wie er es gerne ausdrückte: ›hab schon viele interessante Leute kennengelernt … und sie umgebracht!‹ All die Jahre hatten ihm eine anständige Ausbildung im Kriegshandwerk angedeihen lassen. Einen solchen Mann in seiner Nähe zu wissen, war normalerweise beruhigend. Momentan allerdings blickte er verbiestert drein, ganz wie ein erfahrener Unteroffizier, der die Lage einschätzt, auf Möglichkeiten abklopft und keine entdeckt. Maigee hatte sich bemüht, so leise zu sprechen, dass nur Tahlas ihn verstehen konnte. Der Lieutenant zuckte mit den Schultern.

»Mir passt das auch nicht«, gestand er ebenso leise. Tahlas war selbst ein wenig überrascht, dass es ihm gelang, dabei noch so ruhig zu klingen. »Falls Sie irgendwelche Vorschläge haben, wie man diesen Haufen Idioten wie von Zauberhand verschwinden lassen könnte, bin ich ganz Ohr, Sergeant.«

Der Anspannung zum Trotz schnaubte Maigee belustigt. Er mochte den jungen Lieutenant recht gern. Was auch immer man sonst über Tahlas sagen mochte: Mut hatte der Junge wirklich! Wahrscheinlich war das einer der Gründe, weswegen Major Portyr ihn für seine aktuelle Aufgabe ausgewählt hatte.

Diese Aufgabe, die auch Maigee zukam.

»Also, Sir, bedauerlicherweise will mir im Augenblick nichts rechtes einfallen. Aber ich mach mir mal ein paar Gedanken und meld mich wieder bei Ihnen.«

»Gut. Aber in der Zwischenzeit behalten Sie bitte diese kleine Gruppe da drüben im Auge – da, bei dem Laternenpfahl.« Unauffällig deutete Tahlas in die entsprechende Richtung, sodass Maigee genau wusste, welches Grüppchen sein Vorgesetzter meinte. »Ich beobachte die schon eine ganze Weile. Die meisten aus diesem Gesindel könnten mehr oder weniger zufällig hier sein. Aber für die Männer da drüben gilt das nicht.«

Maigee schaute zu den Corisandianern hinüber, auf die Tahlas ihn aufmerksam gemacht hatte. Ein Blick genügte: Der Lieutenant hatte Recht. Die kleine Gruppe drängte sich nicht an vorderster Front der Meute, hielten sich aber auch nicht möglichst weit hinten. Sonderbarerweise bildeten die Männer tatsächlich eine eigene kleine Gruppe … eine Einheit – ganz so, als gehörten sie überhaupt nicht zu dieser Menschenmenge. Doch zugleich beobachteten sie wachsam alle anderen hier, in einer Art und Weise, die Maigee bei niemandem sonst hier bemerkte. Und da gab es noch einzelne Männer in der Meute, die ihrerseits diese kleine Gruppe genau zu beobachten schienen. Als warteten sie auf etwas. Vielleicht rechneten sie auch mit etwas.

Waistyn sah die Gruppe bischöflicher Waffenträger näher kommen. Der Lärmpegel schwoll stetig an, auch wenn dem Sergeant das kaum noch möglich scheinen wollte. Zu den rhythmischen Prinz-Hektor-Rufen kamen jetzt auch noch Flüche, die sich eindeutig auf religiöse Belange bezogen.

»Also gut, Jungs«, sagte der Sergeant mit ruhiger Stimme zum Rest seines Trupps Aufklärer-Schützen, der zusammen mit ihm auf dem Dach lag. »Überprüft eure Zündsätze, aber solange ich keinen ausdrücklichen Befehl erteilt habe, zuckt hier niemand auch nur mit der Wimper!«

Leise wurde seine Anweisung bestätigt. Waistyn grunzte befriedigt. Die ganze Zeit über ließ er die Straße unter sich nicht aus den Augen. Trotz seiner rigoroser Ermahnung machte er sich keine Sorgen, einer seiner Männer könnte schießwütig werden. Seine Marines waren sämtlich Veteranen, und sie alle hatten Major Portyrs Befehle gehört. Portyr hatte seine Anweisungen sehr, sehr eindeutig formuliert. Das Letzte, was Charis gebrauchen konnte, war, dass charisianische Marines mitten auf den Straßen der Hauptstadt von Corisande das Feuer auf angeblich unbewaffnete Zivilisten eröffneten. Na ja, vielleicht war es auch nur beinahe das Letzte, was Charis gebrauchen konnte. Waistyn war sich sicher, dass Charis ein Attentat auf Erzbischof Klairmant noch weniger gebrauchen konnte. Schließlich bestand die Aufgabe von Waistyns Trupp eben genau darin, ein solches Attentat zu verhindern.

Tja, nur wenn wir nicht das Feuer eröffnen wollen, sobald die Idioten in Klairmants Reichweite kommen, könnte es ein bisschen zu spät sein, was das Verhindern betrifft, dachte er voller Abscheu.

»Gotteslästerer!«, brüllte Charlz Dobyns und drohte der näher kommenden Erzbischöflichen Garde mit der Faust. Seine Stimme schnappte über – wenn er sehr angespannt war, tat sie das ärgerlicherweise immer noch. Seine Augen funkelten wütend.

Um ehrlich zu sein: eigentlich hatte Charlz gar keine Meinung zu diesem ganzen ›Kirche-von-Charis‹-Unfug. Und er hatte sich diesen Schlachtruf auch gar nicht selbst überlegt. Es war Rahn Aimayls Vorschlag gewesen. Aimayl war ein Freund seines älteren Bruders. Charlz allerdings war auch nicht der Einzige, der den Schmähruf verwandte. Mindestens ein Dutzend Leute, die meisten kaum älter als Charlz selbst, schrien gerade das gleiche Wort, kaum dass sie Erzbischof Klairmant nahen sahen. Alles lief genau, wie sie es geübt hatten.

Manche Leute um Charlz herum reagierten sofort auf den Schmähruf. Rahn hatte also Recht damit gehabt, es wäre sicher effektiv, den Erzbischof der Gotteslästerei zu bezichtigen.

Eigentlich wusste Charlz gar nicht so genau, was ›Gotteslästerer‹ bedeutete. Ihn selbst hatte die Mutter jedes Mal so genannt und ihm eins hinter die Löffel gegeben, wenn er unnütz Langhornes Namen im Munde geführt hatte. Charlz hatte auch keine Ahnung, wie sich die Lehren der neuen Kirche von Charis von denen der alten Kirche unterschieden. Warum auch? Schließlich war er kein Priester. Aber dass die Anhänger der Kirche von Charis Orgien auf den Altären feierten und Menschenopfer darbrächten, am liebsten Kinder, so hieß es – das glaubte er nicht. Man musste schon ziemlich dämlich sein, um zu glauben, die Charisianer könnten so etwas in Corisandes Kathedrale durchziehen, ohne dass jeder davon gewusst hätte. Niemand Vertrauenswürdiges hatte je mit eigenen Augen eine solche Gräueltat gesehen. Denen aber, die davon erzählt hatten, hätte Charlz noch nicht einmal bei der Frage geglaubt, ob es nun regnete oder nicht.

Was den ganzen Rest betraf, hatte diese neue Kirche möglicherweise Recht. Es wurde viel über diese ›Vierer-Gruppe‹ geredet. Wenn nur ein Viertel davon stimmte, konnte Charlz verstehen, warum man wütend auf die Vikare sein konnte. Ihm aber war auch das eher egal. Das waren Vikare, klar? So weit Charlz wusste, gab es eine unumstößliche Regel: Was ein Vikar sagt, das gilt. Mit denen wollte Charlz sich auf keinen Fall anlegen. Wer das anders sah, und es schienen Charlz jede Menge Leute zu sein, sollte das Risiko doch seinetwegen ruhig eingehen. Momentan jedenfalls waren mehr Leute in der Kathedrale und damit gegen die Vikare als Shan-wei noch mal davor!

Charlz’ eigene Mutter war Haushälterin im Refektorium von Sankt Kathryn. Er wusste genau, wo sie sich heute Morgen befand, und nach allem, was sie in den letzten Fünftagen so erzählt hatte, schien auch Pater Tymahn dieser neuen Kirche von Charis immens zugeneigt zu sein.

Charlz war das egal. In vielerlei Hinsicht empfand er für Pater Tymahn den gleichen immensen Respekt wie seine Mutter. Aber hier und jetzt verstand die Gute einfach nicht, worum es eigentlich ging! Denn eigentlich ging es nicht um die kirchliche Lehre und auch nicht darum, wer denn nun hier in Manchyr die Haube des Erzbischofs trug. Oder es wäre zumindest nicht um die Frage nach der Priesterhaube gegangen – hätte ihr momentaner Träger, um sie zu erlangen, neben der Kirche von Charis nicht auch noch dem Kaiserreich Charis Treue schwören müssen. Und das war es, was Charlz an diesem Morgen auf die Straße getrieben hatte.

Dabei war Charlz gar kein fanatischer Patriot. Es gab gar nicht so viele corisandianische Patrioten – nicht in dem Sinne, wie jemand aus der seit Jahrtausenden erloschenen Terra-Föderation diesen Begriff aufgefasst hätte. Außer in der Republik Siddarmark und in Charis waren auf Safehold Treuegelübde in der Regel lokal eng begrenzt; sie galten einem örtlichen Feudalherrn, vielleicht noch einem Fürsten oder Monarchen – aber keiner Nation. Der junge Charlz beispielsweise sah sich in erster Linie als Manchyrianer, also als Bürger seiner Vaterstadt, und dann (mit abnehmender Wichtigkeit) als Untertan des Herzogs von Manchyr und damit auch als Untertan von Prinz Hektor. Es war nur ein Zufall, dass Hektor dies in Personalunion gewesen war.

Vor der charisianischen Invasion hatte Charlz nie darüber nachgedacht, wem eigentlich seine Treue galt oder wie es um die Beziehungen zwischen Corisande und dem Königreich Charis bestellt war. Er hatte nicht einmal verstanden, was den offenen Krieg zwischen Corisande und Charis eigentlich ausgelöst hatte. Andererseits war Charlz gerade einmal sechzehn Safehold-Jahre alt (das entsprach vierzehneinhalb Jahren auf der längst vergangenen Welt Terra). Es störte ihn nicht, nicht allzu viel über Politik zu wissen. Was ihn jedoch störte, war, dass ein anderes Reich Corisande überfallen hatte, dass die Stadt, in der er geboren war und lebte, belagert wurde, dass die Armee von Corisande eine echte Niederlage hatte hinnehmen müssen und dass Prinz Hektor bei einem Attentat ums Leben gekommen war. Und mit dem Prinzen war zumindest für Charlz das einzige echte Symbol für die Einheit und die Identität von Corisande gestorben.

Das war doch Grund genug, sich aufzuregen, oder etwa nicht?

Trotzdem: wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Charlz es dabei bewenden lassen. Er hätte einfach das Beste gehofft. Aber es ging eben nicht nach ihm. In Manchyr gab es reichlich Leute, die es eben nicht dabei bewenden lassen wollten, und die ihre Stimme immer lauter erhoben. Charlz fand, dass die Wortführer Recht hatten: Das Volk würde sich schon bald für die eine oder andere Seite entscheiden müssen. Charlz hatte sich bereits entschieden. Der Grund für den Krieg mit Charis war ihm egal. Nicht egal hingegen war ihm, dass dahergelaufene, dreckige Fremde sich in seiner Heimatstadt herumdrückten und in das eine oder andere Wespennest stachen.

(Und dreckig waren sie doch, denn schließlich waren sie unzweifelhaft Fremde, richtig?)

»Gotteslästerer!«, brüllte er erneut.

»Gotteslästerer!«, hörte er andere seinen Ruf aufgreifen. Dieses Mal waren es keine seiner Freunde. Aus immer mehr Kehlen erscholl der neue Schlachtruf. Charlz grinste über das ganze Gesicht, während er unter seinen Kasack griff und mit den Fingern den kleinen, schweren Knüppel umschloss, den er an seinem Gürtel trug.

»Das reicht!«

Paitryk Hainree war ernstlich überrascht. Aber die Stimme des jungen charisianischen Offiziers vermochte tatsächlich die lärmende Menschenmenge zu übertönen. Wahrscheinlich half es, dass der Offizier ein ledernes Sprachrohr zum Einsatz gebracht hatte. Hainree allerdings war sich sicher: Es lag eher an der Ausbildung der Offiziere. Man brachte ihnen bei, sich auch noch über das Getöse auf einem Schlachtfeld hinweg verständlich zu machen.

Hainree war noch überraschter davon, dass die vordersten Reihen dieses Mobs tatsächlich ins Stocken zu geraten schienen. Dann kniff Hainree die vor Überraschung geweiteten Augen zusammen und erkannte zumindest einen der Gründe für dieses Zögern. Gewiss, um verstanden zu werden, hatte der Charisianer die Stimme erhoben, aber eben nicht im Zorn. Nein, seine Stimme hatte eher … Erschütterung verraten. Und nun zeigte sich auch, dass die Körpersprache des jungen Mannes nichts Streitlüsternes besaß: Eine Hand hatte er in die Hüfte gestemmt, das sah Hainree, und ja, tatsächlich: Der junge Offizier da oben auf den Stufen zum Portal stampfte doch allen Ernstes mit dem Fuß auf!

Er sieht aus wie ein verärgerter Lehrer! Gar nicht wie ein Offizier, der es mit einer feindlich gesinnten Meute zu tun hat!, ging Hainree auf.

»Es ist Mittwochmorgen!«, fuhr der Charisianer fort. »Ihr alle solltet euch schämen! Wenn ihr schon nicht selbst in die Kirche geht, so solltet ihr alle diejenigen in Frieden die Messe besuchen lassen, die das wünschen!«

»Was weißt du denn schon von einer Messe, Ketzer?!«, brüllte jemand ihm entgegen – vielleicht war es Aimayl.

»Immerhin weiß ich, dass ich nicht kurz davor stehe, Steine durch die Fenster einer Kathedrale zu werfen!«, brüllte der Charisianer zurück. Er schüttelte sich in deutlich zur Schau gestelltem Abscheu. »Langhorne allein weiß, was meine Mutter mit mir anstellen würde, wenn sie so etwas über mich erführe!«

Hainree war ein weiteres Mal überrascht: Es gab tatsächlich welche in der Meute, die lachten (wahrscheinlich sogar zu ihrer eigenen Überraschung)! Andere hingegen fletschten zornig die Zähne, und wieder andere stießen erneut Verwünschungen aus, während Erzbischof Klairmant hinter den Marines durch das Portal in die Kathedrale schritt.

»Geht nach Hause!« Die Stimme des Charisianers klang beinahe freundlich; in ihr schwang mehr Resignation mit als Zorn. »Wenn ihr etwas vorzubringen habt, dann tut das an einem anderen Ort und nicht an einem Tag, der ganz allein Gott vorbehalten ist! An einem Mittwoch möchte ich niemanden verletzt wissen! Meinem Befehl nach soll ich auch genau das verhindern – wenn’s sich irgend bewerkstelligen lässt. Nur lautet mein Befehl zugleich, die Kathedrale zu beschützen und jeden, der sich in ihr aufhält. Wenn ich dafür jemanden verletzen muss, der sich vor der Kathedrale befindet, dann werde ich das auch tun!«

Die Stimme des Offiziers klang deutlich härter. Sein Ziel war immer noch, die aufgebrachte Menge wieder zur Vernunft zu bringen. Zugleich aber warnte er alle: Irgendwann hätte seine Geduld auch ein Ende.

Hainrees Blick galt den vier, fünf Männern in seiner unmittelbaren Nähe. Er bemerkte, dass sie gerade eben hilfesuchend zu ihm schauten. Einer von ihnen wölbte fragend eine Augenbraue und deutete mit dem Kinn kurz in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Daraufhin nickte Hainree knapp. Er selbst hatte keine Angst, sich auf ein Gefecht mit den Marines einzulassen. Doch Pater Aidryn hatte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, es sei Hainrees Aufgabe, den anti-charisianischen Widerstand aufzubauen und anzuleiten. Beizeiten mochte dieser Widerstand Märtyrer erfordern. Momentan allerdings benötigte er weitaus dringender Anführer.

Der Mann, der die Augenbraue gehoben hatte, erwiderte das Nicken und bahnte sich einen Weg zur Front der Menschenmenge, die mittlerweile zum Stillstand gekommen war. Einen Moment lang schaute Hainree ihm noch hinterher, dann zog er sich zusammen mit mehreren anderen zu den hinteren Reihen zurück.

Na, da soll mich doch … Der Bursche kriegt das wirklich hin!, dachte Platoon Sergeant Maigee verwundert.

Der Sergeant hätte keine müde Harchong-Mark auf Tahlas verwettet. Aber es schien, als könnte Tahlas den Mob dazu bewegen, einfach kehrtzumachen und nach Hause zu gehen. Ganz offensichtlich hatte der Lieutenant einen wunden Punkt getroffen, als er die Leute daran erinnert hatte, dass Mittwoch war. Maigee hatte eher damit gerechnet, diese Argumentation könnte nach hinten losgehen. Schließlich hatte die Meute zuvor ständig ›Gotteslästerer‹ und ›Ketzer‹ geschrien. Offenkundig war Tahlas besser als sein Sergeant darin, die Stimmung einer Menschenmenge einzuschätzen.

»Dann geht jetzt!«, rief Tahlas freundlich. Der Lautstärke nach, die er brauchte, um sich Gehör zu verschaffen, hatte sich die Menge deutlich beruhigt. »Geht auseinander, bevor jemand verletzt wird! Denn das will ich nicht. Und Kaiser Cayleb, glaubt es oder nicht, will es auch nicht, ebenso wenig Erzbischof Klairmant, und verdammt noch mal – verzeiht mir meine Ausdrucksweise - Gott erst recht nicht! Also: was haltet ihr davon, wenn ihr und ich jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass die alle glücklich und zufrieden sind?«

Charlz Dobyns verzog das Gesicht, als er bemerkte, wie die Stimmung der Leute in seiner Nähe plötzlich umschlug. Irgendwie war das nicht das, was er erwartet hatte. Dieser charisianische Offizier – Charlz hatte keine Ahnung, wie Rangabzeichen zu lesen waren – hätte stinkwütend sein und sie anbrüllen sollen. Er hätte sie bedrohen sollen, hätte ihnen deutlich machen müssen, dass er sie für den letzten Dreck hielte. Stattdessen redete er mit den Menschen! Diskutierte mit ihnen! Das konnte nicht ernst gemeint sein. Das war nur ein Trick.

Trotzdem war auch Charlz den Argumenten des Charisianers gegenüber nicht gänzlich immun. Irgendwie hatte der Mann ja Recht: Es war wirklich Mittwoch. Als der Charisianer seine Mutter erwähnt hatte, hatte Charlz sofort seine eigene vor Augen gehabt … wie sie darauf reagieren würde, was ihr geliebter Junge so getrieben hatte, statt in der Messe zu sein.

Was den anderen in der Menge durch den Kopf ging, wusste er natürlich nicht. Aber er spürte deutlich, dass sie ins Stocken gerieten. Der ganze Schwung war verloren, der die Menge so weit die Straße hinunter getrieben hatte. Ein paar Leute – darunter auch Charlz’ Freunde – stießen immer noch Verwünschungen aus. Doch sie klangen längst nicht mehr so leidenschaftlich. Vielmehr wirkten die Stimmen jetzt schrill, als würden die Rufer immer unsicherer, als wären sie isoliert.

Charlz nahm die Hand vom Knüppel unter seinem Kasack und war fast erschrocken, als er bemerkte, dass er eher erleichtert denn enttäuscht war ob dieser unerwarteten Wendung.

Er wollte sich schon umdrehen. Mit einem Mal jedoch hielt er inne … und riss entsetzt die Augen auf. Der Mann, der gerade noch hinter ihm gestanden hatte, zog etwas unter seinem Kasack hervor.

Charlz hatte noch nie eine dieser Steinschloss-Musketen gesehen, mit der in jüngster Zeit die Corisandian Army ausgestattet worden war. Trotzdem erkannte er die Waffe sofort. Sie war recht kurz und wirkte gedrungen – eine Muskete mit verkürztem Schaft, deren Lauf nur noch wenige Fuß lang war. Die Waffe war immer noch deutlich größer und unhandlicher als die Pistolen, die die Charisian Imperial Guard trug, und es musste außerordentlich schwierig gewesen sein, ein solches Gewehr unter der Kleidung zu verbergen. Aber ein Steinschloss, das man an die Stelle des Luntenschlosses gesetzt hatte, benötigte wenigstens keine unhandliche, schwelende und unmöglich zu verbergende brennende Lunte.

Wie erstarrt schaute er zu, als der Mann die Waffe hob. Sie ragte über die Schulter eines anderen jungen Mannes hinweg, der neben Charlz stand und höchstens ein Jahr älter sein konnte als er selbst. Der junge Mann zuckte erstaunt zusammen, wandte den Kopf zur Seite und blickte gerade auf die Mündung, als sie in sein Blickfeld kam … und genau in diesem Augenblick drückte der Mann ab.

Der plötzlich knallende Schuss überraschte jeden hier, selbst erfahrene Unteroffiziere wie Waistyn und Maigee. Vielleicht hätte es die Sergeants nicht ganz so unvorbereitet treffen sollen. Doch dass Tahlas so offensichtlich dabei Erfolg gehabt hatte, die aufgebrachte Menge zu beruhigen, hatte selbst sie ein wenig eingelullt.

Der Mann mit der Muskete hatte auf den Lieutenant der Marines gezielt. Doch Brahd Tahlas konnte von Glück reden, dass wirklich niemand die Waffe des Möchtegern-Attentäters als Präzisionsinstrument bezeichnet hätte. Das Gewehr hatte einen glatten Lauf, der auch noch sehr kurz war, und geladen war es mit Mehlpulver, nicht mit gekörntem Pulver. Es war erst weniger als ein Viertel des nur langsam abbrennenden, schwächlichen Treibmittels abgefackelt, als der Rest in einer großen, gleißend-hellen Wolke aus dem Lauf geschleudert wurde, und die Flugbahn des Geschosses ließ sich bestenfalls als … erratisch beschreiben.

Der bedauernswerte junge Mann, der genau im Augenblick des Schusses in Richtung Mündung geschaut hatte, schrie vor Schmerzen auf, als sein Gesicht üble Verbrennungen erlitt. Er taumelte rücklings, schlug die Hände vor die Augen, mit denen er niemals wieder etwas sehen würde, und vier oder fünf weitere Leute, die das Pech hatten, genau vor ihm gestanden zu haben, kreischten ebenfalls gequält auf, als lodernde Pulverflocken ihnen so genannte Bergarbeiter-Tätowierungen in den Nacken brannten. Bei einem ganz besonders unglücklichen Mann gerieten die Haare in Brand, und nun sackte er auf die Knie, heulte vor Schmerzen und Entsetzen und versuchte mit beiden Händen, die Flammen zu ersticken.

Charlz Dobyns war vom Ort des Geschehens weit genug entfernt, um nur ein paar oberflächliche Verbrennungen davonzutragen. Jetzt riss er den Kopf herum und schaute nach dem Mann, auf den die Muskete gezielt hatte.

»Scheiße.«

Lieutenant Tahlas fragte sich, ob Platoon Sergeant Maigee überhaupt bewusst war, laut gesprochen zu haben. Schließlich hatte das Wort beinahe beiläufig geklungen. Nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte.

Dem Lieutenant war durchaus bewusst, dass diese Musketenkugel höchstwahrscheinlich für ihn bestimmt gewesen war, doch getroffen hatte sie ihn nicht. Stattdessen war sie in die Brust eines seiner Privates eingedrungen, gute vier Fuß zu seiner Rechten. Der Marine brach zusammen, umklammerte mit beiden Händen seinen plötzlich blutigen Kasack, und in dem Augenblick begriff Tahlas noch etwas anderes. Major Portyrs Anweisungen waren absolut eindeutig gewesen, was zu geschehen habe, sollte jemand Schusswaffen oder scharfe Klingen gegen die Soldaten zum Einsatz bringen.

»Bajonette aufpflanzen!«, hörte er sich selbst befehlen, und sofort kamen sämtliche Männer aus seinem Zug der Aufforderung nach.

Er sah, wie zahlreiche Leute aus der Menschenmenge zurückzuweichen versuchten, als man Stahl klicken hörte und die langen, glitzernden Klingen an den Gewehren der Marines erschienen. Einigen der Aufrührer gelang der Rückzug. Die meisten aber behinderten sich gegenseitig im Versuch, den Platz vor der Kathedrale zu verlassen. Wieder andere reagierten in gänzlich anderer Art und Weise: Ihre Gesichter wurden zu Masken des Hasses. Die Männer zogen Schlagstöcke und Knüppel unter ihren Kasacks hervor. Der Mob drängte sich jetzt dichter, die vorderen Reihen bildeten eine Einheit. Es war unverkennbar, dass die Männer dort sich auf einen Kampf vorbereiteten. Ja, sie waren bereit.

Im Augenblick noch, dachte Brahd Tahlas. Im Augenblick vielleicht noch.

Er blickte zu dem blutüberströmten Private hinüber, und seine Kiefermuskeln spannten sich an. Mit einem Mal wirkte er deutlich älter, als sein jugendliches Äußeres eigentlich hätte gestatten sollen. Im Talbor-Pass hatte er mehr als genug Leichen gesehen. Er wandte den Blick ab, schaute zu Maigee hinüber, und seine jugendliche Stimme klang nun hart wie Stahl.

»Sergeant Maigee, lassen Sie die Straße räumen!«, befahl er.

.II.

Maikelberg, Herzogtum Eastshare, Königreich Chisholm

»Also«, meinte General Sir Kynt Clareyk von der Imperial Charisian Army. Bis vor kurzem war er noch Brigadier Clareyk von den Imperial Charisian Marines gewesen. Ebenso frisch war seine Erhebung in den Adelsstand, die ihm den Titel Baron Green Valley eingetragen hatte. Er schenkte Wein in den Kelch seines Gastes ein. »Was haltet Ihr davon, Seijin Merlin?«

»Wovon, Mein Lord?«, fragte der hochgewachsene Imperiale Gardist. Seine Stimme war sanft, und der Blick aus auffallend blauen Augen war fest auf seinen Gastgeber gerichtet. Wie stets trug der Seijin die schwarzgoldene Uniform des Hauses Ahrmahk.

Er griff nach seinem Kelch und kostete erwartungsvoll den Wein. Was Wein betraf, war Clareyks Geschmack schon immer erlesen gewesen. Seine jüngste Beförderung hatte den ehemaligen Marine keineswegs dazu bewogen, alte Gewohnheiten aufzugeben. Clareyk, so hatte Merlin Athrawes das Gefühl, hatte sich in keinster Weise geändert. Er war immer noch der gleiche fähige Offizier, der er schon immer gewesen war, immer noch bereit, sofort selbst die Ärmel hochzukrempeln und sich in seine Aufgaben zu vergraben. Deutlicher Beleg dafür war das Zelt, in dem Clareyk und Athrawes sich derzeit befanden, während eisiger Herbstregen auf das Dach aus (angeblich) wasserfestem Segeltuch einhämmerte. Übermorgen sollten Cayleb und Sharleyan Ahrmahk ihren ersten Hochzeitstag begehen, und dieser Tag war zugleich auch der Jahrestag der Gründung des Kaiserreiches Charis. Unwillkürlich verglich Merlin das nasskalte Wetter, das Green Valleys Zelt umtoste, mit dem strahlenden Sonnenschein, der tropischen Hitze und dem Blumenmeer, die jenen Hochzeitstag so unvergesslich gemacht hatten.

Der Unterschied war … frappierend. Es war kein Geheimnis, dass Kaiser Cayleb wie auch Kaiserin Sharleyan große Stücke auf Green Valley hielten. Dabei spielte es keine Rolle, dass der Mann lediglich ein kleiner Baron war und dazu einer der jüngsten Neuzugänge des charisianischen Adels (er hatte diesen Titel schließlich erst seit weniger als vier Fünftagen inne). Ebenso wenig war es ein Geheimnis, dass man Clareyk aus dem (mehr oder weniger) eroberten Fürstentum Corisande eigens nach Chisholm zurückbeordert hatte, gerade weil das Kaiserpaar ihn so hoch schätzte. Ein Mann mit solchen Beziehungen hätte doch, wie jeder Vernünftige angenommen hätte, gewiss eine behagliche Unterkunft in der nahe gelegenen Stadt Maikelberg finden können. Stattdessen aber hatte er in einem Zelt Unterschlupf gesucht, während der Winter unerbittlich näher rückte.

Und dann auch noch ein Winter im Norden!, dachte Merlin trocken. Sein Blick wanderte hinauf zu der großen, troffnassen Stelle des Zeltdaches. Dort zeigte sich das theoretisch wasserdichte Gewebe den momentanen heftigen Regenfällen nicht gewachsen. Er kommt doch aus dem tiefsten Süden! Da wird er den Winter in Chisholm keinen Schlag genießen können. Der Regen ist ja schon schlimm genug. Aber es wird ja noch viel schlimmer. Schnee? Was ist das denn, bitte schön?!

Merlin wusste sehr wohl um Green Valleys Motive, in einem Zelt zu residieren statt in einer prächtigen Stadtvilla oder sich zumindest ein Zimmer in einer der angeseheneren Herbergen der Stadt zu suchen. Aber viele andere charisianische Ex-Marines würden unter wenig idealen Bedingungen den chisholmianischen Winter verbringen. Green Valley weigerte sich schlicht, sein Zelt aufzugeben, solange nicht auch der letzte Mann unter seinem Befehl ein trockenes, warmes Plätzchen in einer der Kasernen gefunden hatte, die derzeit hastig errichtet wurden.

»›Wovon‹, ja?«, wiederholte der General nun Merlins Frage und lehnte sich in seinem Klappstuhl zurück. Neben ihm bemühte sich ein gusseiserner Ofen derzeit noch erfolgreich , im Zelt für mehr oder minder annehmbare Temperaturen zu sorgen. »Also, lasst mich mal nachdenken … was könnte ich denn wohl gemeint haben? Hmmm …«

In ostentativer Nachdenklichkeit rieb er sich das Kinn, die Augen halb geschlossen. Stillvergnügt lachte Merlin in sich hinein. Es gab nicht allzu viele Menschen auf dem Planeten Safehold, die sich in der Gegenwart des gefürchteten Merlin hinreichend wohlfühlten, ihn tatsächlich zu veralbern. Die wenigen, auf die das zutraf, wusste Merlin Athrawes nur um so mehr zu schätzen.

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