Nimue Alban: Die Invasion - David Weber - E-Book

Nimue Alban: Die Invasion E-Book

David Weber

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Beschreibung

Der Planet Safehold, tief in der Galaxis: Vor langer Zeit mussten die Menschen vor einer außerirdischen Spezies auf einen weit entfernten Planeten fliehen, um der Auslöschung zu entgehen. Hier entstand eine Zivilisation, in der jegliche Technik unterdrückt wird, damit die Menschheit nicht aufzuspüren ist. Fast alle, die auf Safehold leben, kennen diese Geschichte nicht. Doch Nimue Alban, eine Offizierin im Körper eines Cyborgs, ist hier, um dies zu ändern...

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Oktober, im Jahr Gottes 892

.I.

November, im Jahr Gottes 892

.I.

.II.

.III.

.IV.

Februar, im Jahr Gottes 893

.I.

.II.

.III.

.IV.

.V.

.VI.

März, im Jahr Gottes 893

.I.

.II.

.III.

.IV.

.V.

.VI.

.VII.

.VIII.

.IX.

.X.

April, im Jahr Gottes 893

.I.

.II.

.III.

.IV.

Mai, im Jahr Gottes 893

.I.

.II.

Charaktere

Glossar

Eine Anmerkung zur Zeitmessung auf Safehold

Über den Autor

David Weber ist ein Phänomen: Ungeheuer produktiv (er hat zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane geschrieben), erlangte er Popularität mit der HONOR-HARRINGTON-Reihe, die inzwischen nicht nur in den USA zu den bestverkauften SF-Serien zählt. David Weber wird gerne mit C. S. Forester verglichen, aber auch mit Autoren wie Heinlein und Asimov. Er lebt heute mit seiner Familie in South Carolina.

David Weber

NIMUE ALBAN:

DIEINVASION

Aus dem Amerikanischen vonUlf Ritgen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

© 2008 by David Weber

Titel der Originalausgabe:

»By Heresis Distressed« (Teil 1)

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2010/2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

This work was negotiated through

Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen,

on behalf of St. Martin’s Press, L. L. C.

Textredaktion: Beate Ritgen-Brandenburg

Lektorat: Uwe Vöhl/Ruggero Leò

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-8387-0215-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Bobbie Rice und Alice Weber,zwei meiner Lieblingsdamen.Alle Achtung vor der Arbeit,die ihr beide leistet!

Oktober,im Jahr Gottes 892

.I.

Der Tempel, Stadt Zion,die Tempel-Lande

Vor dem Tempel lag selbst für die Stadt Zion der Schnee ungewöhnlich hoch – immerhin war gerade erst Oktober. Und es schneite und schneite und wollte gar nicht mehr aufhören. Der Schnee fiel in dicken Flocken. Der bitterkalte Wind, der vom Peisee hereinpeitschte und dicke Eisschollen ans kältestarrende Ufer trieb, scheuchte tanzende Schneedämonen durch die Straßen. An jedem Hindernis, auf das der Wind stieß, türmte er skulpturenartige Verwehungen mit messerscharfen Risskanten auf. Jedem Passanten biss er mit Eiszähnen schmerzhaft in Hautpartien, die nicht ausreichend geschützt waren. Überall in der Stadt kauerten sich die Ärmsten der Armen dicht an jede erdenkliche Wärmequelle, die sich auftreiben ließ. Doch für allzu viele fand sich nirgendwo Wärme. Zitternde Eltern betrachteten voller Sorge abwechselnd das raue Wetter und ihre Kinder, wann immer sie an die endlosen Fünftage bis zur Rückkehr des Frühlings mit seiner Wärme dachten. Dabei schien ihnen die herbeigesehnte Jahreszeit wie ein halb vergessener Traum, an den man sich kaum noch zu erinnern vermochte.

Im Inneren des Tempels gab es natürlich keinerlei Kälte. Unter der gewaltigen Kuppel, die sich hoch hinauf dem Himmel entgegenreckte, spürte man trotz ihrer Nähe zu Schnee und klirrender Kälte nicht den kleinsten kühlen Hauch. In diesem Bau, den einst, am nebelverhangenen Morgen der Schöpfung, die Erzengel persönlich an eben diesen Ort gesetzt hatten, herrschte immer die gleiche, perfekte Temperatur, voller Verachtung für das, was das vergängliche Wetter einer sterblichen Welt all dem antun mochte, was sich außerhalb der heiligen Mauern befand.

Die luxuriösen Privatgemächer, die man den Mitgliedern des Rates der Vikare zugewiesen hatte, waren prächtiger, als jeder Sterbliche sich auch nur im Traum hätte ausmalen können. Einige dieser Suiten aber übertrafen in ihrer Pracht alle anderen. In aller Deutlichkeit zeigte das etwa diejenige, die Großinquisitor Zhaspahr Clyntahn vorbehalten war. Sie lag im fünften Stock, eine Ecksuite. Daher bestanden zwei Wände des großen Wohnzimmers und des Speisezimmers vollständig aus Fenstern. Es waren die unzerstörbaren, fast gänzlich unsichtbaren Fenster, die einst die Erzengel persönlich geschaffen hatten. Von innen waren die Scheiben dieser wundersamen Fenster völlig durchsichtig – und das, obwohl sie das einfallende Sonnenlicht wie Wände aus hochglanzpoliertem Silber zurückwarfen. Staunenswert war auch, dass sie keine Spur von Hitze – und ebenso wenig von Kälte – hereinließen, die jegliches Glas, das von Menschenhand geschaffen war, doch stets zu durchdringen vermochten. Überall Luxus und höchste Ästhetik: auf den Böden lagen dicke Teppiche; Kunstwerke, Gemälde ebenso wie Statuen, waren allesamt mit dem Scharfblick eines wahren Kenners ausgewählt. Indirekte Beleuchtung, deren Quelle selbst dem aufmerksamsten Betrachter verborgen blieb, und die perfekten Temperaturen hier rundeten das Bild ab.

Es war selbstredend nicht das erste Mal, dass Erzbischof Wyllym Rayno die Privatgemächer des Großinquisitors betreten durfte. Rayno war der Erzbischof der Diözese Chiang-wu im Harchong-Reich. Zugleich war er der Adjutant des Schueler-Ordens, und das machte ihn zu Clyntahns Erstem Offizier im Heiligen Offizium der Inquisition. Aus diesem Grund wusste Rayno mehr darüber, was Clyntahn dachte und war in dessen Pläne umfassender eingeweiht als jeder andere auf Safehold. Das galt sogar für Clyntahns Kollegen aus der ›Vierer-Gruppe‹. Allerdings gab es Bereiche in Clyntahns tiefstem Inneren, in die selbst Rayno nicht vorgestoßen war. Ein Grund dafür war, dass der Erzbischof in diese intimsten Tiefen und Untiefen auch nicht vorzustoßen wünschte.

»Kommen Sie, Wyllym – kommen Sie herein!«, sagte Clyntahn überschwänglich, als der obligatorische Posten vor den Gemächern des Großinquisitors für Rayno die Tür geöffnet hatte.

»Ich danke Euch, Euer Exzellenz«, murmelte Rayno. Er trat an dem Posten, einer aus einer Gruppe handverlesener Tempelgardisten, vorbei.

Clyntahn streckte Rayno seinen bischöflichen Ring entgegen, und der Erzbischof beugte sich vor, um das Symbol für den Rang des Großinquisitors respektvoll zu küssen. Dann richtete er sich wieder auf und schob die Hände in die weit geschnittenen Ärmel seiner Soutane. Von der hochherrschaftlichen Tafel waren die Überreste eines wahrhaft üppigen Mahles immer noch nicht abgetragen. Es waren zwei Gedecke aufgelegt, wie Rayno sogleich bemerkte. Allerdings vermied er sorgsam, sich seine Erkenntnis anmerken zu lassen. Die meisten unter den Vikaren bemühten sich um ein Mindestmaß an Diskretion, wenn es darum ging, ihre Geliebten in den Räumlichkeiten des heiligen Tempels zu empfangen. Natürlich wusste jeder, dass es dennoch geschah. Aber es galt eben, einige Standards aufrechtzuerhalten; es galt schlicht, den Schein zu wahren.

Aber Zhaspahr Clyntahn war eben keiner von ›den meisten Vikaren‹. Er war der Großinquisitor, der Bewahrer des Gewissens von Mutter Kirche selbst. Es gab Zeiten, in denen selbst Rayno, der schon seit Jahrzehnten in Clyntahns Diensten stand, sich ernstlich fragte, was seinem Vorgesetzten wohl durch den Kopf gehen mochte. Wie konnte dieser Mann derartigen Eifer an den Tag legen, wenn es darum ging, die Sünden anderer zu ahnden, während er sich seiner eigenen Sündhaftigkeit zügellos hingab?

Jetzt werd aber mal nicht ungerecht, Wyllym!, schalt sich der Erzbischof selbst. Clyntahn mag ja ein Eiferer sein, und er ist zweifellos zügellos. Aber wenigstens gehört er unter seinesgleichen nicht auch noch zu den Verlogenen. Er unterscheidet penibel genau zwischen Sünden, erwachsen aus unserer schwachen menschlichen Natur, und eben jenen, die vor den Augen Schuelers und Gottes unverzeihlich sind. Der Herr Großinquisitor kann ja manchmal so unerträglich frömmlerisch tun wie kein Zweiter, das ist wahr. Aber niemand hat je miterlebt, dass er einen seiner Vikars-Kollegen für eben jene Schwachheit des Fleisches verurteilt hätte, die auch ihm nicht fremd ist. Mit demjenigen aber, der Schwäche im Glauben zeigt, dessen Spiritualität zu wünschen übrig lässt, verfährt er ganz anders. Ja, da ist er völlig unnachgiebig Dagegen ist er … nun, bemerkenswert verständnisvoll, was die Vorrechte betrifft, die nun einmal mit hohen Ämtern unweigerlich einhergehen.

Rayno fragte sich, wer wohl an diesem Abend die Besucherin gewesen sein mochte. Clyntahns Appetit war in jeglicher Hinsicht schier unersättlich, und stets reizte ihn das Neue, Unbekannnte. Tatsächlich vermochten nur wenige Frauen seine Aufmerksamkeit über längere Zeit zu erregen. War sein Interesse an ihnen erst einmal abgeklungen, neigte er dazu, sich mit gelegentlich sogar überraschender Plötzlichkeit einer anderen zuzuwenden. Den Frauen gegenüber, die er so plötzlich seiner Gunst beraubte, zeigte er sich allerdings stets sehr großzügig.

Rayno war sich in seiner Funktion als Adjutant der Inquisition durchaus bewusst, dass es in der Hierarchie des Tempels nicht wenige gab, die Clyntahns Begeisterung für die Freuden des Fleisches missbilligten. Manch einer zeigte seine Missbilligung sogar, wenngleich stets mit der nötigen Vorsicht. Offen würde niemand dem Großinquisitor und seinen Vorlieben Paroli bieten. Und selbst wenn jemand es wagte: Rayno hatte schon den einen oder anderen Brief mit verurteilenden Bemerkungen verschwinden lassen, bevor der Großinquisitor etwas von den Angriffen auf seine Person hatte erfahren können. Dennoch war es nur natürlich, dass so mancher in Mutter Kirche mit dem Großinquisitor ein wenig … unglücklich war. Hin und wieder war der Unmut gegen den hohen Geistlichen sicher nichts anderes als Neid. Die meisten aber hatten, das war Rayno durchaus bereit zuzugeben, tatsächlich etwas gegen Clyntahns ausgeprägte Sinnenfreude. Es hatte sogar Zeiten gegeben, da war es Rayno selbst nicht anders ergangen. Aber das war lange her. Denn lange bevor Clyntahn sein derzeitiges Amt angetreten hatte, war Erzbischof Wyllym Rayno zu dem Schluss gekommen, jeder Mensch habe seine Fehler – und große Männer hatten eben auch große Fehler. Clyntahn immerhin beschränkte sich bei seiner Fehlbarkeit ganz auf die fleischlichen Gelüste. Das erschien Rayno bedeutend besser als das, was er schon bei anderen Inquisitoren erlebt hatte: Jene hatten ihr hohes Amt dazu missbraucht, ihren Durst nach gänzlich unnötiger Grausamkeit zu stillen.

»Danke, dass Sie so rasch gekommen sind, Wyllym«, fuhr Clyntahn fort, kaum dass er Rayno begrüßt hatte. Er geleitete seinen Besucher zu einem der bequemen Sessel des Tempels. Dabei lächelte er zuvorkommend, rückte Rayno den Sessel zurecht und schenkte ihm dann gar eigenhändig ein Glas Wein ein. Normalerweise standen die Tischmanieren des Großinquisitors an zweiter – oder eher noch: dritter – Stelle hinter der Inbrunst, mit der er selbst sich aufgetragenen Speisen und Wein widmete. Dennoch konnte Clyntahn ein geradezu unglaublich kultivierter, charmanter Gastgeber sein, wenn er das wollte. Und nichts an diesem Charme war gespielt oder gar falsch. Nur kam Clyntahn sonst eben nie auf die Idee, zu jemandem charmant zu sein. Außer vielleicht dem kleinen Kreis engster Mitarbeiter gegenüber, auf die er sich verließ. ›Vertraute‹ nämlich wäre zu viel gesagt gewesen. Denn Zhaspahr Clyntahn vertraute wahrscheinlich niemandem wirklich.

»Ich muss gestehen, dass Eure Nachricht mir nicht den Eindruck unmittelbarer Dringlichkeit machte, Euer Exzellenz. Ich hatte allerdings ohnehin im Tempel zu tun. Daher erschien es mir am besten, umgehend auf Eure Einladung zu reagieren.«

»Ich wünschte nur, ich hätte ein ganzes Dutzend Bischöfe und Erzbischöfe, die so zuverlässig sind wie Sie«, gab Clyntahn zurück. »Bei Langhorne! Ich wäre schon mit sechs davon zufrieden!«

Rayno lächelte und nahm mit einer angedeuteten Verneigung das Kompliment entgegen. Dann lehnte er sich zurück, umfasste das Weinglas mit beiden Händen und blickte seinen Vorgesetzten aufmerksam an.

Clyntahn schaute durch das bodentiefe Fenster, vor dem immer noch Schneeflocken wild durcheinanderstoben. Er wirkte gedankenverloren. Beinahe drei Minuten lang beobachtete er schweigend den eisigen Schneesturm. Dann wandte er sich schließlich wieder Rayno zu und lehnte sich in seinem Sessel ebenfalls zurück.

»Also!«, sagte er, und es schien ganz, als wolle er somit zum geschäftlichen Teil dieser Einladung übergehen. »Ich bin mir sicher, dass Sie sämtliche Berichte über die charisianischen Handelsschiffe gelesen haben, die wir im vorletzten Monat haben beschlagnahmen können.«

Fragend hob er eine Augenbraue. Rayno nickte.

»Gut! Das dachte ich mir. Und da Sie alle Berichte gelesen haben, sind Sie sich zweifellos bewusst, dass es bei diesen Beschlagnahmungen gewisse … Schwierigkeiten gegeben hat.«

»Jawohl, Euer Exzellenz«, bestätigte Rayno, als Clyntahn schwieg.

Natürlich war Rayno sich bewusst, dass es ›Schwierigkeiten‹ gegeben hatte. Jeder in Zion war sich zumindest dessen bewusst! Eigentlich hatte es die ordnungsgemäße Beschlagnahmung unbewaffneter oder zumindest nur leicht bewaffneter Handelsschiffe werden sollen – ein erster Schritt, sämtliche Häfen des Festlandes für die allgegenwärtige Handelsmarine von Charis abzuriegeln. Aber die ganze Angelegenheit hatte sich zu etwas völlig anderem entwickelt. Vielleicht nicht überall gleichermaßen, aber was der Großinquisitor als ›Schwierigkeiten‹ zu bezeichnen beliebte, würden die Charisianer wohl anders nennen: Sie würden eher von einem ›Massaker‹ reden, sobald sie erführen, was diesen August in der Hafenstadt Ferayd im Königreich Delferahk geschehen war.

Höchstwahrscheinlich, korrigierte sich Rayno selbst, nennen sie es zweifellos bereits jetzt so. Schließlich sind zumindest einige ihrer Schiffe entkommen – und dann gewiss geradewegs nach Tellesberg gesegelt. Der Gedanke, was die Propagandisten des schismatischen Charis angesichts derart vieler Opfer aus der Zivilbevölkerung machen würden, ließ den Erzbischof erschauern. Eines steht zumindest fest, dachte er grimmig. Die werden nicht herunterspielen, was dort geschehen ist.

Und das, so begriff Rayno nun, war es, was Clyntahn in Wahrheit gerade beschäftigte. Der Großinquisitor sprach weniger von den zivilen Opfern, zu denen es gekommen war. Ihm ging es vielmehr darum, die Rolle, die die Inquisition bei diesen Ereignissen gespielt hatte, ins rechte Licht zu rücken. Nur wenige Beschlagnahmungen waren derart schiefgelaufen wie in Delferahk – oder besser: zumindest auf andere Weise katastrophal gewesen. Denn Rayno selbst beunruhigte weitaus mehr, was die Ereignisse in der Stadt Siddar wohl für Folgen zeitigen könnten. Laut den Aussagen der dortigen Agenten der Inquisition war in Siddar zwar alles deutlich glatter verlaufen als in Ferayd – zumindest bis zu dem Moment, als aus irgendeinem unbekannten Grund sämtliche charisianischen Handelsschiffe gleichzeitig den Entschluss gefasst hatten, ihre Abfahrt … deutlich voranzutreiben. Ihr Entschluss, den Anker zu lichten, war zweifellos reiner Zufall gewesen. Woher hätten sie wissen sollen, dass Reichsverweser Greyghor kurz davor gestanden hatte, die Schiffe, wie es ihm Mutter Kirche befohlen hatte, zu beschlagnahmen, ja woher wohl?

Es musste reiner Zufall gewesen sein. Was sonst?

Immerhin gab es keinen noch so kleinen Hinweis darauf, dass jemand die Charisianer gewarnt haben könnte. Aber falls es doch eine undichte Stelle gegeben haben sollte, musste diese undichte Stelle jemand sein, der das nahezu uneingeschränkte Vertrauen des Reichsverwesers genoss. Rayno beschäftigte daher nur eine einzige Frage, nämlich die, ob dieser Informant gänzlich eigenständig gehandelt hatte oder ob Reichsverweser Greyghor vielleicht selbst die Entscheidung getroffen hatte, das Vertrauen zu missbrauchen, das die Kirche in ihn setzte. Letztere Vermutung drängte sich besonders angesichts der Tatsache auf, dass es Greyghors Stab zwölf Stunden lang nicht gelungen war, ihr unerklärlicherweise verschwundenes Staatsoberhaupt zu finden. Geschlagene zwölf Stunden hatte man in Siddar gebraucht, um Clyntahns Anweisungen zu übermitteln. Rayno wusste, dass ihm die Antwort auf seine Frage überhaupt nicht gefallen würde. Genauso wenig gefiel ihm, dass es offenkundig niemanden gab, der ihm seine Frage nach Greyghors Beteiligung hätte beantworten können.

In gewisser Weise spielte keine Rolle, wer dahintersteckte. Denn egal, wer der Verräter war: Er hatte tatsächlich nicht eigenständig gehandelt. Die Stadt Siddar war schließlich nicht der einzige Hafen der Republik Siddarmark gewesen, in dem sämtliche charisianischen Handelsschiffe geheimnisvollerweise plötzlich in See gestochen waren, nur wenige Stunden bevor die örtlichen Behörden die Schiffe hatten beschlagnahmen können. Dachte man in diese Richtung weiter, waren die Folgen für Mutter Kirche weitaus beunruhigender, als es Reaktionen auf die paar Dutzend Leichen charisianischer Segelleute in Ferayd sein konnten.

Nicht, dass wir damit rechnen dürfen, sämtliche anderen Mitglieder des Rates – oder gar des Ordens! – würden die Lage ebenso einschätzen, dachte Rayno verdrossen. Sofort zuckte ihm der Name Samyl Wylsynn durch den Kopf. Gerade eben noch gelang es dem Adjutanten, nicht gequält das Gesicht zu verziehen. Dass sein Untergebener eine ausgesprochene Abneigung gegen Vikar Samyl hegte, hätte Clyntahn nicht gestört. Aber wäre der Großinquisitor zu dem Schluss gekommen, Raynos finsterer Gesichtsausdruck lasse vermuten, der Erzbischof missbillige die Entscheidung seines hohen Herrn, charisianischen Schiffen die Zufahrt zu sämtliche Häfen des Festlandes zu versperren, mochte das äußerst unschöne Konsequenzen nach sich ziehen.

»Also«, wiederholte Clyntahn und griff damit den Gesprächsfaden wieder auf, »Sie und ich haben es ja bereits besprochen: Es ist unerlässlich, dass Mutter Kirche allen Rechtgläubigen die Wahrheit über jegliche Ereignisse bekannt gibt, bevor sich charisianische Lügen überhaupt erst verbreiten können. Ich glaube, in diesem Falle ist das sogar ganz besonders wichtig.«

»Selbstverständlich, Euer Exzellenz. Wie kann ich behilflich sein?«

»Es hat lange gedauert, länger, als ich es mir gewünscht habe«, fuhr der Großinquisitor fort, »aber endlich haben sich Trynair und Duchairn auf den Text einer Proklamation geeinigt. Dort werden alle Ereignisse, und gerade die in Ferayd, in aller Deutlichkeit geschildert. Zugleich werden alle, die durch die Hand der Charisianer den Tod gefunden haben, zu Märtyrern erklärt. Die ganze Proklamation ist allerdings in ihrer Wortwahl weniger direkt, als ich es vorgezogen hätte. Zum Beispiel wird immer noch kein Heiliger Krieg ausgerufen. Ich gehe zwar davon aus, dass mit der Proklamation die Grundlage dafür geschaffen wird. Aber gewisse Gruppierungen scheuen sich immer noch, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Ich denke, Duchairn ist tatsächlich der Ansicht – oder zumindest der Hoffnung -, das alles lasse sich immer noch irgendwie zurechtrücken. Aber tief in seinem Herzen muss auch er wissen, dass er damit falschliegt. Das alles ist schon viel zu weit gegangen! Mutter Kirche und die Inquisition können eine derartige Herausforderung nicht einfach dulden! Direkte Herausforderung von Gottes Eigenem Plan und Seinem Plan für die Seelen der Menschen darf man nicht ungestraft lassen, es geht nicht! Und die Bestrafung muss streng ausfallen, Wyllym. Streng genug, um jeden anderen davon abzuhalten, auch nur in Erwägung zu ziehen, in die Fußstapfen jener Ketzer zu treten.«

Rayno nickte nur. Er hatte Clyntahns Worten nicht viel Neues entnehmen können – abgesehen von der Bestätigung, dass die Proklamation, die der Adjutant schon seit mehreren Fünftagen erwartete, allmählich Form annahm. Andererseits: So gern sich Clyntahn selbst reden hörte, war es doch unwahrscheinlich, dass er mit dieser Zusammenfassung der Ereignisse aus jüngster Zeit nicht etwas sehr Bestimmtes im Sinn hatte.

»Ich muss gestehen, dass das, was mich selbst derzeit am meisten beschäftigt, Wyllym, nicht der offen gezeigte Trotz dieser verwünschten Charisianer ist. Nun, natürlich wird man sich auch darum kümmern müssen. Aber wenigstens waren Cayleb und Staynair unvorsichtig genug, vor aller Augen zu handeln. Sie haben sich ganz offen jenen verderblichen Doktrinen verschrieben, die Shan-wei dazu nutzt, Mutter Kirche zu spalten. Damit haben sie sich der Gerichtsbarkeit der Kirche und der Rache Gottes ausgeliefert. Zu gegebener Zeit werden sie eben den mächtigen Arm dieser Gerichtsbarkeit zu spüren bekommen und den Zorn Gottes in seinem vollen Ausmaß!

Aber was da in Siddarmark passiert ist … das ist etwas völlig anderes! Jemand aus höchsten Regierungskreisen muss die Charisianer gewarnt haben. Und auch wenn ich mir all der diplomatischen Feinheiten ganz und gar bewusst bin, die Zahmsyn davon abhalten, einfach vorzustürmen und Greyghor zu beschuldigen, habe ich keinerlei Zweifel daran, wer denn nun wirklich die Verantwortung für die Geschehnisse trägt. Vielleicht hat Greyghor den entsprechenden Befehl nicht selbst erteilt. Ich jedenfalls würde keinen Humpen Bier darauf verwetten wollen. Aber es muss doch zumindest jemand gewesen sein, der ihm sehr nahesteht. Schließlich gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er dabei ist, den wahren Schuldigen zu finden, geschweige denn ihn zu bestrafen. Derartige Hinterhältigkeit, so viel Verderbtheit hinter einer Fassade aus Treue und Ehrfurcht, das, Wyllym, das ist wahrhaft gefährlich! Es ist eine Entzündung, die sich, wenn man sie sich selbst überlässt, zu schwären beginnt, sich immer weiter ausbreitet, bis wir es schließlich mit einer zweiten, einer dritten oder gar vierten ›Kirche von Charis‹ zu tun haben!«

»Ich verstehe, Euer Exzellenz«, murmelte Rayno, als der Großinquisitor erneut verstummte. Und allmählich begriff der Adjutant tatsächlich. Wäre der betreffende Schuldige nicht im innersten Kreis der Siddarmark-Regierung zu suchen gewesen, hätte Clyntahn keinen Gedanken daran verschwendet, in Siddarmark könne etwas ›schwären‹. Er hätte einfach den Kopf des Schuldigen verlangt. Bedauerlicherweise war es derzeit … unangebracht, auf Siddarmark allzu großen Druck auszuüben. Das Letzte, was im Sinne von Mutter Kirche sein konnte, war, die Pikeniere von Siddarmark zu einem Bündnis mit der Navy unter dem Kommando Caylebs von Charis zu veranlassen.

»Bedauerlicherweise«, fuhr Clyntahn fort, als hätte er Raynos Gedanken gelesen (und der Adjutant war sich immer noch nicht ganz sicher, ob er diese Möglichkeit tatsächlich von der Hand weisen dürfe), »ist es so: Solange Greyghor nicht in der Lage ist – oder nicht willens -, den entsprechenden Schuldigen zu ermitteln, können wir Außenstehenden nur sehr wenig dagegen unternehmen. Derzeit zumindest.«

»Ich entnehme Euren Worten, Euer Exzellenz, dass Ihr daran arbeitet, das mittelfristig zu ändern?«

Rayno hatte lediglich höflich-neugierig geklungen, und Clyntahn stieß ein grunzendes Lachen aus, als der Adjutant fragend eine Augenbraue hob.

»Das tue ich tatsächlich«, bestätigte er, »und dass Siddarmark mit derartiger Hartnäckigkeit an seinen republikanischen Traditionen hängt, ist Bestandteil dessen, was mir vorschwebt.«

»Ah ja, und wie, Euer Exzellenz?« Dieses Mal neigte Rayno den Kopf ein wenig zur Seite und schlug die Beine übereinander, während er darauf wartete, dass der Großinquisitor zu einer Erklärung ansetzte.

»Eines der Dinge, die Greyghor hinter seiner Maske aus Frömmigkeit und Gehorsam so verwünschenswert halsstarrig und trotzig macht, ist seine Überzeugung, die wahlberechtigten Bürger von Siddarmark würden seine Politik mittragen. Und das muss man Shan-wei lassen: Greyghor liegt damit gar nicht so falsch. Vor allem aus diesem Grund haben wir ihn nicht in der Art und Weise unter Druck zu setzen gewagt, wie wir das eigentlich schon vor geraumer Zeit hätten tun müssen. Aber ich bezweifle doch sehr, dass die öffentliche Meinung so einhellig durch Zustimmung geprägt ist, wenn es um das charisianische Schisma geht, wie Greyghor das anscheinend glaubt. Und wenn seine geschätzten Wähler die jüngsten Entwicklungen in Charis ablehnen und ebenso die Dinge, die ihr Regent im Hintergrund zur Unterstützung der Schismatiker zu tun bereit ist, dann wird Greyghor, davon gehe ich aus, seine Meinung doch noch ändern.«

»Das halte ich ebenfalls für sehr gut möglich, Euer Exzellenz«, bestätigte Rayno und nickte. »Aber wie genau wollen wir die öffentliche Meinung zu unseren Gunsten … beeinflussen?«

»Im Laufe der kommenden Tage«, antwortete Clyntahn, »werden viele Charisianer, die im Zuge der Beschlagnahmung ihrer Schiffe in Gewahrsam genommen wurden, hier in Zion eintreffen.« Sein Tonfall hatte etwas Hintergründiges, während sein Blick wieder hinaus zu dem weißen Mahlstrom des Oktober-Schneesturms wanderte. »Sie werden, um präzise zu sein, genau hierherkommen – zum Tempel.«

»Ach, tatsächlich, Euer Exzellenz?«

»Ja, wirklich«, bestätigte Clyntahn. »Sie werden unmittelbar dem Orden übergeben – um genau zu sein: Ihnen, Wyllym.« Ruckartig wandte der Großinquisitor sich vom Fenster ab; sein Blick war bohrend. »Ich habe mir nicht sonderlich große Mühe gegeben, das Eintreffen der Charisianer dem Kanzler oder dem Schatzmeister gegenüber zu erwähnen. Es erschien mir nicht notwendig, sie damit zu belästigen. Das sind schließlich Angelegenheiten, die ausschließlich in die Zuständigkeit der Inquisition fallen. Oder sehen Sie das anders?«

»Zurzeit ganz gewiss nicht, Euer Exzellenz«, erwiderte Rayno, und wieder lächelte Clyntahn. Es war ein schmallippiges Lächeln.

»Das habe ich mir gedacht, Wyllym. Jetzt müssen wir diese Charisianer … befragen. Shan-wei ist natürlich die Mutter der Lügen. Zweifellos wird sie ihr Bestes geben, um diese Ketzer zu beschützen, damit sie ihre dunkle Herrin keinesfalls dadurch verraten, dass sie den wahren Kindern Gottes deren Pläne und irrigen Wege kundtun. Aber das Offizium der Inquisition wird wissen, wie man Shan-wei die Maske vom Gesicht reißt, und das Offizium wird die Wahrheit enthüllen, die sich dahinter verbirgt. Das wird Ihre Aufgabe sein, Wyllym. Ich möchte, dass Sie sich persönlich um die Befragung der Charisianer kümmern. Es ist absolut unerlässlich, dass die Gefangenen das gestehen, was in Wirklichkeit geschehen ist. Die Charisianer müssen zugeben, dass sie die Zivilbehörden wissentlich und willentlich provoziert haben – diese Zivilbehörden, die nichts anderes zu tun versucht haben, als völlig friedlich den Anweisungen zu folgen, die Mutter Kirche und ihre eigenen weltlichen Autoritäten ihnen erteilt haben. Die Welt muss in aller Eindeutigkeit erkennen, wo die wahre Blutschuld liegt. Ebenso wie die Welt erfahren muss, welche verderbten Praktiken und Blasphemien diese so genannte Kirche von Charis sich zu Eigen gemacht hat und nun im Namen ihrer finsteren Herrin allen Kindern Gottes aufzuzwingen versucht. Nicht nur, dass die Erlösung der Seelen jener Sünder von ihrer vollständigen Beichte und ihrer Bußfertigkeit abhängt: Wenn erst einmal die Wahrheit bekannt wird, so wird dies überall einen enormen Effekt auf die öffentliche Meinung haben … selbst in Siddarmark.«

Immer noch durchbohrte Clyntahns Blick Rayno. Der Adjutant holte tief Luft, um sich ein wenig zu beruhigen. Der Großinquisitor hatte Recht, was die Notwendigkeit von Beichte und Bußfertigkeit betraf, wenn eine Seele vom Pfad der Erzengel abgewichen war, so sie denn wahre Erlösung finden wollte. Und die Inquisition war sich ihrer gestrengen, oft herzzerreißenden Pflichten durchaus bewusst. Die Inquisition hatte sehr wohl verstanden, dass es für die wahre Liebe zu den Seelen jener Sünder oft erforderlich war, mit dem Leib eben jener Sünder äußerst ruppig umzugehen. Es war bedauerlicherweise wahr, dass es sich oft als schwierig erwies, jene schützende Mauer aus Stolz, Arroganz und Aufsässigkeit zu durchbrechen, hinter der die verlorenen Seelen sich zu verbergen suchten, bevor man sie wieder in das reinigende Licht von Gottes Liebe führen konnte. Doch wie schwierig die Aufgabe auch immer sein mochte: Die Inquisition hatte schon vor langer Zeit gelernt, sie zu erfüllen.

»Wie rasch muss dies Eures Erachtens bewirkt werden, Euer Exzellenz?«, fragte Rayno nach kurzem Nachdenken.

»So rasch wie möglich, aber nicht augenblicklich«, erwiderte Clyntahn achselzuckend. »Bis meine … Kollegen bereit sind, offen zu handeln, bezweifle ich, dass auch ein Geständnis Shan-weis selbst allzu viel Gewicht hätte für jemanden, der bereits gewillt ist, den Lügen der Schismatiker Glauben zu schenken. Und um ganz ehrlich zu sein: ich rechne damit, dass zumindest Duchairn alle nur erdenklichen frommen Vorbehalte und Proteste dagegen vorbringen wird angesichts dessen, was die Inquisition in diesem Fall wird unternehmen müssen. Also muss das vorerst in völliger Stille geschehen. Halten Sie sich ausschließlich an den Orden und achten Sie sorgsam darauf, dass Sie sich selbst dort nur auf die Brüder verlassen, von denen wir wissen, dass wir auf ihren Glauben und ihre Treue bauen können! Wenn es so weit ist, muss es mir möglich sein, Geständnisse förmlich abzurufen. Aber in der Zwischenzeit können wir keine wohlmeinenden Schwächlinge gebrauchen, die einfach nicht verstehen, dass unter den gegebenen Umständen zu viel an Güte die schlimmstmögliche aller Grausamkeiten darstellt. Denn ein zu viel an Güte würde uns nur im Weg sein und all unsere Anstrengungen behindern.«

»Natürlich bin ich ganz Eurer Meinung, Euer Exzellenz«, sagte Rayno. »Aber ich habe doch … sagen wir: taktische Bedenken.«

»Welche Art von Bedenken sind das, Wyllym?« Clyntahn kniff die Augen ein wenig zusammen. Doch das schien Rayno nicht zu bemerken, als er mit der gleichen ruhigen, nachdenklichen Stimme fortfuhr.

»Alles, was Ihr gerade gesagt habt – darüber, wie wichtig es ist, den Zeitpunkt genau auszuwählen, an dem die Aussagen der Gefangenen veröffentlicht werden, meine ich – erscheint mir voll und ganz nachvollziehbar. Aber Ihr und ich, wir sind es gewohnt, uns mit den pragmatischen, oft unschönen Pflichten und Aufgaben zu befassen, die nun einmal damit einhergehen, die vom rechten Glauben Abgefallenen wieder zu Langhorne und Gott zurückzuführen. Wenn – verzeiht, Euer Exzellenz, sobald! – wir erst einmal die Geständnisse der Apostaten erhalten haben, mit der Bekanntgabe jedoch noch zögern, werden sich später unweigerlich gewisse Leute fragen, warum wir diese Geständnisse nicht umgehend publik gemacht haben. Einige Fragen werden völlig ernsthaft und berechtigt sein, gestellt von untadeligen Geistlichen, die aber nicht dem Offizium der Inquisition angehören und daher schlichtweg nicht verstehen, dass die Sünder zu retten manchmal nur der erste Schritt dabei ist, ein ungleich größeres Übel zu bekämpfen. Aber es wird auch jene geben, Euer Exzellenz, die jegliche Verzögerung dazu werden nutzen wollen, alles in Misskredit zu bringen, was auch immer wir vorbringen werden. Sie werden anmerken, man habe die Bußfertigen zu ihren Aussagen gezwungen und damit seien ihre Geständnisse nicht glaubwürdig.«

»Zweifellos haben Sie Recht, Rayno«, pflichtete Clyntahn seinem Untergebenen bei. »Mir war bereits der gleiche Gedanke gekommen. Aber kaum dass ich darüber nachgedacht hatte, wurde mir schon bewusst, dass diese Sorgen unberechtigt sind.«

»Tatsächlich, Euer Exzellenz?«

»Tatsächlich.« Clyntahn nickte. »Ich zweifle keinen Moment daran, dass wir, sobald wir die vom wahren Glauben Abgefallenen erst einmal zu einem Geständnis und zur Bußfertigkeit haben bewegen können, werden entdecken müssen, dass viele der Verderbtheiten und Abscheulichkeiten dieser ›Kirche von Charis‹ ungleich schlimmer – in mancherlei Hinsicht sogar um ein Entsetzliches schlimmer – sind als alles, was wir von unserer Warte aus auch nur vermutet hatten. Daher werden Sie in Ihrer Eigenschaft als gewissenhafter Hüter der Wahrheit, als den ich Sie schon seit Jahren kenne, zweifellos darauf bestehen, so viele dieser ungeheuerlichen Aussagen zu überprüfen, wie das nur möglich ist, bevor sie veröffentlicht werden. Es wäre völlig unangemessen, derartig schockierende Dinge nur anzudeuten, sollte sich tatsächlich später doch herausstellen, dass diese Ketzer Sie angelogen haben sollten. Also würden wir, bis wir die entsprechenden Bestätigungen erhalten haben, ganz offensichtlich nicht rechtfertigen können, unsere Befunde dem Rat der Vikare vorzulegen … oder den Bürgern von Siddarmark, die fälschlicherweise annehmen, Cayleb, Staynair und all die anderen hätten zumindest irgendwelche Rechtfertigungen, die deren Schilderungen des Sachverhaltes erhärten.«

»Ich verstehe, Euer Exzellenz«, sagte Rayno, und dem war auch tatsächlich so.

»Gut, Wyllym. Ausgezeichnet! Ich wusste, dass ich mich diesbezüglich ganz auf Ihre Sorgfalt und Ihre Besonnenheit würde verlassen können.«

»Das könnt Ihr, Euer Exzellenz. Ganz ohne Zweifel sogar. Ich vermute, dann bleibt nur noch die Frage, ob Ihr Fortschrittsberichte wünscht oder nicht.«

»Im Augenblick zumindest nichts in Schriftform, denke ich«, antwortete Clyntahn nach kurzem Nachdenken. »Schriftliche Vermerke werden nur zu gern aus dem Kontext gerissen zitiert, insbesondere von den Leuten, die es genau darauf anlegen, auf diese Weise ihren eigenen Zielen dienlich zu sein. Halten Sie mich auf dem Laufenden, aber immer nur mündlich! Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, dann möchte ich so viele Ketzer benennen können wie irgend möglich. Und natürlich möchte ich detaillierte, namentlich unterzeichnete und beglaubigte Abschriften ihrer entsprechenden Geständnisse erhalten.«

»Ich verstehe, Euer Exzellenz.« Rayno erhob sich und beugte sich dann vor, um erneut den Ring zu küssen, der das Symbol für Clyntahns hohes Amt war. »Bei allem Respekt, Euer Exzellenz, ich denke, ich sollte nun wieder zu meiner Arbeit zurückkehren. Ich muss einige Mitarbeiter auswählen und mich vergewissern, dass die Brüder, die ich für diese Aufgabe einteile, voll und ganz Eure Ängste und Befürchtungen verstehen.«

»Das erscheint mir eine ausgezeichnete Idee, Wyllym«, entgegnete Clyntahn und geleitete den Erzbischof zum Ausgang seiner Suite. »Wirklich eine ausgezeichnete Idee! Und wenn Sie die betreffenden Brüder auswählen, dann bedenken Sie, dass Shan-wei wahrhaft verschlagen ist. Sollte es in der Rüstung auch nur eines einzelnen Eurer Inquisitoren eine Scharte geben, so wird sie diese zweifellos finden und auszunutzen wissen. Diese Verantwortung ist einfach zu gewaltig, die möglichen Konsequenzen zu übermächtig, um das geschehen zu lassen. Vergewissern Sie sich, dass alle wahrhaft geschützt sind von der Rüstung aus Gottes Eigenem Licht und gegürtet mit der Willensstärke, der Entschlossenheit und dem festen Glauben, das zu tun, was getan werden muss, so schmerzlich es ihnen auch erscheinen mag! Wir sind ganz und gar Gott verpflichtet, Wyllym. Die Zustimmung oder Ablehnung lediglich sterblicher, fehlbarer Menschen darf uns niemals von unserer Aufgabe abhalten, unsere wahrhaft erschreckenden Pflichten zu erfüllen – was auch immer hier von uns verlangt werden mag. Wie Schueler uns gelehrt und Langhorne selbst bestätigt hat: ›Rücksichtslose Härte beim Streben nach Gottgefälligkeit vermag niemals eine Sünde zu sein.‹«

»Jawohl, Euer Exzellenz«, gab Rayno leise zurück. »Ich werde dafür Sorge tragen, dass nicht nur ich, sondern wir alle in den Tagen, die noch kommen werden, die Weisheit dieser Worte niemals vergessen.«

November,im Jahr Gottes 892

.I.

Ferayd, Ferayd-Sund,Königreich Delferahk

Die Charisianer erwiesen ihren besiegten Feinden sämtliche militärische Ehren.

Immerhin!, schoss es Sir Vyk Lakyr durch den Kopf, während er die steile Planke emporstieg und dann durch die Einstiegsluke das Deck von HMS Destroyer erreichte. Die Bootsmannspfeife, die schmerzlich schrill (und anscheinend endlos) gepfiffen hatte, während er die Planke erklomm, verstummte dankenswerterweise endlich. Der junge Lieutenant, der ihn mit ernstem Gesicht begrüßte, legte zum förmlichen Salut die rechte Faust an die linke Schulter.

»Der Admiral entbietet Ihnen respektvoll seinen Gruß und bittet Sie, sich zu ihm in sein Arbeitszimmer an Bord zu gesellen, Mein Lord«, erklärte der Lieutenant.

Meine Güte, wie höflich!, dachte Lakyr, während ihm wieder einmal schmerzlich bewusst wurde, wie sehr ihm doch das vertraute Gewicht des Schwertes fehlte, das eigentlich an seinem Gürtel hängen sollte. Natürlich hatte er das Schwert schon seit ganzen zwei Tagen nicht mehr. Nicht mehr, seit er es zum Zeichen der Kapitulation an Admiral Rock Points Ressortoffizier ausgehändigt hatte.

»Ich danke Ihnen, Lieutenant«, sagte er laut. Der Lieutenant deutete eine kurze Verneigung an, dann machte er kehrt, um seinen ›Gast‹ unter Deck zu führen.

Lakyr mühte sich nach Kräften, nicht staunend den Mund weit aufzureißen, als sie vom Oberdeck des charisianischen Schiffes – dem ›Spardeck‹, wie sie es nannten – zum Batteriedeck hinabstiegen. HMS Destroyer war gewaltig. Sie war mit Abstand das größte Schiff, das Lakyr jemals betreten hatte. Allerdings wirkten mindestens eines oder zwei ihrer Begleitschiffe noch größer, die vor dem, was früher einmal der Hafen der Stadt Ferayd gewesen war, vor Anker gegangen waren. Doch was noch beeindruckender war als die immense Größe, waren Anzahl und Gewicht der Kanonen an Bord. Die kurzen, gedrungenen Karronaden auf dem Spardeck wussten bereits Entsetzen zu verbreiten. Die Ungeheuer aber, die auf dem Batteriedeck kauerten, versprachen noch entsetzlicher zu sein. Es waren mindestens dreißig Stück, und Lakyr hatte bereits gesehen, welchen Schaden die dreißig Pfund schweren Kanonenkugeln an den Verteidigungsanlagen des Ufers angerichtet hatten.

An den minimalen Verteidigungsanlagen, die wir überhaupt hatten, dachte Lakyr.

Sonnenlicht strömte durch die geöffneten Geschützpforten und erhellte das, was sonst zweifellos eine düstere Höhle gewesen wäre. Vielleicht aber auch gar nicht so düster, dachte Sir Vyk, als er und der Lieutenant einen breiten, hell glimmenden Lichtstrahl durchquerten, der durch das lange, schmale Gitterwerk der Hauptluke im Spardeck fiel. Der Geruch verbrannten Schießpulvers hing immer noch in der Luft, obwohl man das Deck peinlichst gesäubert und sämtliche Schotts abgeschrubbt hatte. Mit Leintüchern verhängte Luftschächte sorgten dafür, dass auch das Schiffsinnere stets mit frischer Atemluft versorgt wurde. Nun, es war auch nur ein Hauch von Pulvergeruch, kaum noch wahrzunehmen, eher zu erahnen als wirklich zu riechen.

Vielleicht sind es, ganz prosaisch, auch nur Spuren eines anderen Rauchs, dachte Lakyr. Schließlich lag eine gewaltige Wolke, tiefschwarz und dicht, schwer über der Stadt, die zu beschützen man ihm einst aufgetragen hatte. Obwohl der Wind landeinwärts wehte, also nicht aufs Meer hinaus, hatte der Geruch brennenden Holzes Sir Vyk bis an Bord der Destroyer verfolgt. Zweifellos hing dieser Brandgeruch im Tuch seiner eigenen Kleidung.

Lakyr und der Lieutenant erreichten eine geschlossene Tür, eingelassen in eine dünne Wandung, die offensichtlich mit Leichtigkeit entfernt werden konnte, sobald das Schiff auf einen Kampf vorbereitet wurde. Davor stand ein Marine in Uniform Wache; in der Hand hielt er eine Muskete mit aufgepflanztem Bajonett. Der Lieutenant ging an ihm vorbei und klopfte mit den Fingerknöcheln fest gegen die Holztür.

»Ja?«, antwortete ihm eine tiefe Stimme.

»Sir Vyk Lakyr ist hier, Mein Lord«, erklärte der Lieutenant.

»Dann bitten Sie ihn herein, Styvyn!«, erwiderte die tiefe Stimme.

»Selbstverständlich, Mein Lord«, gab der Lieutenant zurück, öffnete die Tür und trat höflich einen Schritt zur Seite.

»Mein Lord«, murmelte er und deutete mit einer eleganten Handbewegung auf die Tür.

»Ich danke Ihnen, Lieutenant«, erwiderte Lakyr und trat an ihm vorbei.

Lakyr hatte damit gerechnet, sein ›Gastgeber‹ werde ihn unmittelbar auf der anderen Seite der Tür erwarten. Doch diese Erwartung wurde enttäuscht. Der Lieutenant folgte Sir Vyk durch die Tür. Dabei gelang es dem jungen Mann irgendwie – wie genau, das hätte Lakyr später niemandem erklären können -, den Besucher immer noch an den vorgesehenen Bestimmungsort zu geleiten, obwohl er die ganze Zeit über respektvoll mindestens einen halben Schritt hinter Lakyr blieb.

Auf diese Weise erreichte Lakyr, geradewegs durch die Kabine hindurch, eine zweite Tür. Aufmerksam blickte er sich um, nahm das Mobiliar wahr, das ihn hier umgab. Da war das Porträt einer Frau, die jeden eintretenden Besucher freundlich anlächelte, ein paar Sessel, ein kleines Sofa, ein gewachster, auf Hochglanz polierter Esstisch, umgeben von einem halben Dutzend Stühlen. Es fand sich auch eine sehr hübsche Standuhr mit einem Zifferblatt aus Elfenbein, die gleichmäßig tickte, ein poliertes Weinregal aus einem dunklen, exotischen Holz sowie eine Vitrine mit Glastür, hinter der man Kristallkaraffen und Glastulpen erkennen konnte. Die gesamte Einrichtung ließ die Kabine gemütlich und einladend wirken. Das sorgte dafür, dass der gewaltige, sorgsam gesicherte Achtunddreißigpfünder, dessen Mündung die geschlossene Geschützpforte berührte, jedem Besucher nur noch deutlicher ins Auge fallen musste.

Der Lieutenant folgte Lakyr auch durch die zweite Tür, und Sir Vyk blieb wie angewurzelt stehen, als er vor sich das gewaltige Heckfenster des Schiffes erkannte. Er hatte es schon von dem kleinen Ruderboot aus gesehen, mit dem er das Hafenbecken durchquert hatte. Also hatte er eigentlich gewusst, dass es sich über die gesamte Breite der Destroyer erstreckte – er hatte es gewusst, aber er hatte es trotzdem nicht begriffen. Es war etwas völlig anderes, diese gewaltige Fensterfront von der Innenseite her zu sehen, wie Lakyr sich eingestehen musste. Eine gläserne Doppelflügeltür, genau inmitten der gewaltigen Glasfront, führte auf eine Heckgalerie, die sich ebenso wie die Fenster selbst über das gesamte Heck des mächtigen Kriegsschiffes erstreckte. Auch wenn Sir Vyk es von seinem derzeitigen Standpunkt aus nicht sehen konnte, war er sich sogar ziemlich sicher, dass diese Galerie auch noch seitlich an einem Teil der hinteren Deckaufbauten entlangführte.

Die Kabine, die er jetzt betreten hatte, war taghell: Die windgepeitschte Oberfläche des Hafenbeckens warf den Schein der Sonne zurück, sodass noch mehr Licht durch die gewaltige Fensterfront fiel. Vor diesem beinahe schon schmerzenden Gleißen zeichnete sich die schwarze Silhouette eines Mannes ab.

»Sir Vyk Lakyr, Mein Lord«, murmelte der Lieutenant.

»Ich danke Ihnen, Styvyn«, erwiderte die dunkle Silhouette und trat einen Schritt vor. Etwas daran, wie sein Gegenüber sich bewegte, erschien Lakyr sonderbar. Aber er hätte es nicht benennen können, bis der fremde Mann aus dem Gleißen heraustrat und Lakyr erkannte, dass Admiral Rock Points rechter Unterschenkel auf einem Holzbein ruhte.

»Sir Vyk«, begrüßte ihn Rock Point.

»Mein Lord.« Lakyr deutete eine Verbeugung an, und für einen kurzen Moment schien der Hauch eines Lächelns Rock Points Lippen zu umspielen. Tief in seinem Herzen aber bezweifelte Lakyr, dass der Admiral wirklich gelächelt hatte. Angesichts der Unnachgiebigkeit, mit der Rock Point sämtliche Befehle Kaiser Caylebs in Bezug auf Lakyrs Stadt ausgeführt hatte, erschien Sir Vyk ein Lächeln schlichtweg unangemessen.

»Ich habe Sie an Bord gebeten, damit wir noch ein kurzes Gespräch führen können, bevor wir nach Charis zurückkehren«, erklärte ihm Rock Point nun.

»Zurückkehren, Mein Lord?«, fragte Lakyr höflich nach.

»Kommen Sie, Sir Vyk!« Rock Point schüttelte den Kopf, und dieses Mal war sein Lächeln deutlich einfacher als solches zu erkennen. »Wir hatten doch nie die Absicht, hierzubleiben, Sie verstehen, nicht wahr? Und …«, schlagartig verschwand das Lächeln wieder, »… es gibt hier ja nun auch nichts, was einen längeren Aufenthalt lohnenswert machen würde, oder?«

»Jetzt nicht mehr, Mein Lord.« Es gelang Lakyr nicht ganz, Verbitterung – und Zorn – zu unterdrücken. Rock Point legte den Kopf ein wenig zur Seite.

»Es überrascht mich nicht, dass Sie die Folgen unseres kleinen Besuches hier als wenig angenehm erachten, Sir Vyk. Andererseits möchte ich doch behaupten, wenn man bedenkt, was hier im August geschehen ist, hat mein Kaiser noch beachtliche Zurückhaltung walten lassen, meinen Sie nicht auch?«

Lakyr lag schon eine scharfe, zornige Erwiderung auf der Zunge, doch er verbiss sie sich. Widerspruch war hier wohl kaum angebracht.

Rock Point wandte sich um und blickte erneut durch das große Heckfenster hinaus, betrachtete den dichten Qualm, der wie ein Leichentuch über Ferayd lag. Mehr als ein Drittel aller Gebäude der Stadt waren in Flammen aufgegangen, um zu dieser gewaltigen Rauchdecke beizutragen. Doch Rock Point hatte Lakyrs Truppen, die sich bereits ergeben hatten, trotzdem gestattet, einen halbkreisförmigen Feuerschutzstreifen um den Teil der Stadt zu ziehen, den zu zerstören man ihn geheißen hatte. Kaiser Caylebs Anweisungen hatten ausdrücklich besagt, im Umkreis von zwei Meilen des Ufers von Ferayd solle kein einziges Gebäude mehr stehen – und Rock Point hatte diesen Befehl mit äußerster Präzision ausgeführt.

Und, so musste sich Lakyr unwillig eingestehen, durchaus auch mit Mitgefühl. Zivilisten, deren Häuser in dem Gebiet lagen, das es niederzubrennen galt, hatte er gestattet, ihre kostbarste Habe mitzunehmen – vorausgesetzt, sie war hinreichend transportabel -, bevor die Fackeln entzündet worden waren. Und der charisianische Admiral hatte auch keinerlei Gewaltexzesse seiner Truppen geduldet. Angesichts dessen, was mit den Besatzungsmitgliedern der charisianischen Handelsschiffe geschehen war – man hatte sie einfach abgeschlachtet, nachdem Vikar Zhaspahr angeordnet hatte, ihre Schiffe zu beschlagnahmen -, war das deutlich besser als alles, was Lakyr auch nur zu hoffen gewagt hatte.

Natürlich, dachte er, während er Rock Point fest anschaute, bleibt da immer noch diese interessante kleine Frage, wie genau wohl die Anweisungen aussehen mögen, die der Admiral hinsichtlich des Garnisonskommandanten erhalten hat, der für dieses Massaker verantwortlich war.

»Ich bin mir sicher, die Bevölkerung hier wird nur allzu froh sein, uns nicht mehr zu sehen«, fuhr Rock Point fort. »Ich würde gern annehmen, dass die Menschen hier, wenn erst einmal ein wenig Zeit ins Land gegangen ist, begreifen werden, wie sehr wir uns bemüht haben, so wenige von ihnen wie nur möglich zu töten. Aber es war nun einmal völlig unmöglich, all das, was hier geschehen ist, einfach zu akzeptieren, ohne ein entsprechendes Zeichen zu setzen.«

»Damit haben Sie wohl Recht, Mein Lord«, gab Lakyr zu und nahm sich innerlich zusammen. Der letzte Satz des Admirals ließ vermuten, dass er selbst, Sir Vyk Lakyr, schon bald erfahren würde, was genau Charis mit den Offizieren vorhatte, deren Truppen die Gräueltaten verübt hatten, derentwegen Rock Point überhaupt nach Ferayd gekommen war.

»Der wahre Grund dafür, dass ich Sie an Bord der Destroyer gebeten habe, Sir Vyk«, sagte Rock Point, fast als habe er die Gedanken des Delferahkaners gelesen, »ist, dass ich eine Nachricht meines Kaisers an Ihren König zu übermitteln habe. Dies hier …«, mit einer Hand deutete er auf das rauchverhangene Panorama, das durch das gewaltige Fenster zu erkennen war, »… ist natürlich bereits Teil eben dieser Nachricht, aber es ist beileibe noch nicht alles.«

Er hielt inne und wartete ab; Lakyrs Nasenflügel bebten.

»Und der Rest, Mein Lord?«, fragte er schließlich pflichtschuldig. Das erwartungsvolle Schweigen des Admirals hatte ihm keine andere Wahl gelassen.

»Der Rest, Sir Vyk, ist, dass wir wissen, wer in Wahrheit die Beschlagnahmung unserer Schiffe angeordnet hat. Wir wissen, wessen Agenten den Zugriff … überwacht haben. Doch weder mein Kaiser noch das Reich Charis sind bereit, Delferahk für in jeder Hinsicht unschuldig zu halten, was die Ermordung so vieler charisianischen Bürger betrifft, daher dieser Angriff.« Erneut deutete er auf den dichten Qualm. »Sollten weitere unserer Bürger anderenorts ermordet werden, so soll Delferahk und die Welt wissen, dass Kaiser Cayleb dort ebenso unnachgiebig zuschlagen wird. Und es wird auch keinen Frieden geben zwischen jenen, die Charis oder einen seiner Bürger angreifen, selbst wenn dies auf Weisung und Geheiß korrupter Männer wie Clyntahn und dem Rest der ›Vierer-Gruppe‹ geschieht. Aber unser wahrer Feind sind die Männer in Zion. Denn diese Männer haben sich dafür entschieden, Gottes Eigene Kirche zu verderben und zu vergiften. Und das, Sir Vyk, ist der wahre Grund dafür, dass ich Sie hierher an Bord gebeten habe. Sie sollen Folgendes wissen: Mein Kaiser wird Sie ebenso wie die militärischen Befehlshaber, die Ihnen unterstellt sind, für die Ihnen zur Last gelegten Gräueltaten zur Verantwortung ziehen. Aber mein Kaiser versteht, dass das, was hier in Ferayd geschehen ist, nicht auf Ihren Wunsch hin geschah und auch nicht das war, was Sie beabsichtigt hatten. Deswegen wird man Sie, sobald wir hier fertig sind, wieder an Land gehen lassen, damit Sie König Zhames eine schriftliche Nachricht von Kaiser Cayleb überreichen können.«

»Tatsächlich, Mein Lord?« Es gelang Lakyr nicht ganz, seine Überraschung – und seine Erleichterung – zu verbergen, und Rock Point stieß ein belustigtes Schnauben aus.

»Zweifellos hätte ich an Ihrer Stelle auch mit einem deutlich … unerfreulichen Ende dieses Gesprächs gerechnet«, sagte er. Doch dann verhärtete sich seine Miene unverkennbar. »Allerdings fürchte ich, dass die unerfreulicheren Dinge noch nicht ganz vorbei sind. Folgen Sie mir, Sir Vyk!«

Nach Rock Points Unheil verheißenden Worten waren Lakyrs Nerven wieder bis zum Zerreißen gespannt. Zu gern hätte er den charisianischen Admiral gefragt, was er damit meine, fürchtete aber, er werde es nur allzu rasch selbst herausfinden. Und so folgte Lakyrs Rock Point aus der Kabine, ohne ein Wort zu sagen.

Trotz seines Holzbeins stieg der Admiral mit überraschend geschickten Bewegungen die steilen Stufen zum Oberdeck hinauf. Zweifellos hat er mittlerweile reichlich Übung darin, ging es Lakyr durch den Kopf, während er dem Admiral folgte. Doch als der Kommandant der besiegten Garnison von Ferayd wieder auf dem Spardeck stand, war jeder Gedanke an Rock Points beachtliche Geschicklichkeit mit einem Mal wie fortgeblasen.

Während sie beide sich unter Deck aufgehalten hatten, war die Mannschaft der Destroyer damit beschäftigt gewesen, Taue von den Rahnocks des Schiffes herabzulassen. Insgesamt waren es sechs: An jedem Ende der jeweils untersten Rah aller drei Masten des Schiffes hing eines.

Während Lakyr noch zuschaute, ungläubig und wie betäubt, grollte wie Donner, der in der Ferne allmählich über Bergwipfel zieht, Trommelwirbel auf. Das tiefe Grollen vermischte sich mit dem Geräusch unzähliger nackter Füße, die über Deck liefen, und dem Aufschlagen schwerer Stiefel auf den sauber gescheuerten Planken, als Matrosen und Marines auf den Ruf dieses Donnergrollens hin auf die Oberdecks ihrer Schiffe gestürmt kamen. Dann wurden sechs Männer über das Deck geschleift, geradewegs auf die bereits vorbereiteteten Schlingen zu – sechs Männer in priesterlichen Soutanen, geziert mit den purpurnen Schwertern und Flammen des Schueler-Ordens.

»Mein Lord …!«, setzte Lakyr an. Aber Rock Point vollführte sofort eine knappe Handbewegung: eine scharfe Geste, rasch und ruckartig, das erste Anzeichen echten Zorns, das Lakyr bei dem Charisianer erlebte. Und diese kurze Handbewegung schnitt Lakyrs aufkeimenden Protest ebenso effizient ab, wie ein Schwert das zu tun vermocht hätte.

»Nein, Sir Vyk«, gab Rock Point harsch zurück. »Das ist der Rest der Nachricht meines Kaisers – nicht nur an König Zhames gerichtet, sondern auch an diese Mistkerle in Zion. Wir wissen, wer dieses Massaker provoziert hat, und wir wissen, dass derjenige, der es angeordnet hat, wusste, dass seine Lakaien genau das tun würden, was sie tatsächlich auch getan haben. Und wer charisianische Bürger ermordet, wird sich der charisianischen Justiz stellen müssen … ganz egal, wer er ist.«

Lakyr musste heftig schlucken und spürte deutlich, wie ihm plötzlich der Schweiß auf die Stirn trat.

Das hätte ich mir nicht träumen lassen, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf. Nein, darauf wäre ich wirklich nie und nimmer gekommen! Diese Männer dort sind Priester – geweihte Priester, Diener von Mutter Kirche! Die können doch nicht einfach …

Doch die Charisianer konnten nicht nur, sie taten es auch. Und trotz all seines Entsetzens über die Respektlosigkeit dessen, was hier geschah, musste Sir Vyk Lakyr sich doch eingestehen, dass er den Charisianern ihre Handlungsweise zumindest in einem Winkel seines Herzens nicht zu verübeln vermochte.

Unter den Gefangenen erkannte er Pater Styvyn Graivyr, Bischof Ernyst Jynkyns’ Intendanten, den ranghöchsten Angehörigen des Offiziums der Inquisition. Graivyr wirkte wie betäubt, sein Gesicht war kalkweiß … entstellt von Entsetzen. Die Hände hatte man ihm hinter dem Rücken gefesselt – Gleiches galt für die fünf anderen Inquisitoren, die bei ihm standen. Im selben Augenblick begann sich Graivyr gegen seine Fesseln aufzulehnen, seine Schultern zuckten. Der Bischof schien sich dieses Kampfes nicht einmal bewusst zu sein. Denn sein Blick hing an der Henkersschlinge, die auf ihn wartete, und er bewegte sich wie ein Mensch, der tief in einem Albtraum gefangen ist.

Auch er hätte sich nicht träumen lassen, einem Kirchenmann könne so etwas geschehen, begriff Lakyr. Doch er war zu entgeistert, um etwas anderes zu begreifen: Im Aufruhr der Gefühle, der ihm das Hirn vernebelte, schwang erstaunlicherweise ein ganz bestimmtes mit: Befriedigung.

Graivyr war nicht der einzige Inquisitor, der angesichts der Schlinge schlichtweg nicht glauben wollte, ihm könne der Tod durch den Strang drohen. Einer der anderen Gefangenen setzte sich noch deutlich heftiger zur Wehr als Graivyr, lehnte sich mit aller Macht gegen den eisernen Griff der Marines mit ihren steinernen Mienen auf, die ihn immer weiter zu dem wartende Tau schleppten, und plapperte unverständlichen Protest. Und während Lakyr die unfassbaren Ereignisse beobachtete, die sich vor seinen Augen abspielten, hörte er das Grollen weiterer Trommeln aus den Bäuchen der anderen Schiffe.

Er wandte den Blick vom Deck der Destroyer ab, und sein Gesicht verkrampfte sich noch mehr, als er begriff, dass von den Rahen der anderen Schiffe weitere Taue herabhingen. Er versuchte nicht einmal, sie zu zählen. Wahrscheinlich wäre sein entsetzter Verstand dazu ohnehin nicht in der Lage gewesen.

»Wir haben sämtliche Überlebenden befragt, bevor mein Kaiser den Befehl ausgab, Sir Vyk«, sagte Rock Point, und seine raue Stimme nahm Lakyrs ganze Aufmerksamkeit gefangen. »Schon bevor wir nach Ferayd aufgebrochen sind, wussten wir, wessen Stimmen es waren, die ›Heiliger Langhorne, und keine Gnade!‹ geschrien hatten, als Ihre Männer an Bord unserer Schiffe gekommen sind. Aber wir haben uns nicht ausschließlich auf diese Aussagen verlassen, als wir die Schuldigen ausfindig zu machen suchten. Graivyr ist nicht auf die Idee gekommen, jemand, abgesehen von den Mitarbeitern des Offiziums der Inquisition selbst, könne seine geheimen Aufzeichnungen lesen. So bedauerlich das für ihn auch sein mag: Er hat sich getäuscht. Diese Männer wurden nicht nur aufgrund der Aussagen irgendwelcher Charisianer verurteilt, sondern aufgrund ihrer eigenen schriftlich abgefassten Aussagen und Berichte. Aussagen und Berichte, in denen sie voller Stolz erklären, ja sogar damit prahlen, mit welchem Eifer sie Ihre Truppen, Sir Vyk, aufgehetzt hätten: ›Tötet die Ketzer!‹«

Die Augen des Charisianers waren kälter als das Eis des Nordens, und Lakyr konnte den Zorn, der in seinem Gegenüber loderte, beinahe körperlich spüren … und auch den eisernen Willen, mit dem der Baron eben jenen Zorn im Zaum hielt.

»Abschriften dieser Aussagen und Berichte werden auch König Zhames zugänglich gemacht – und ebenso dem Rat der Vikare in Zion«, fuhr Rock Point ruhig fort. »Die Originale werden zusammen mit mir nach Tellesberg zurückkehren, damit wir sicher sein können, dass sie nicht auf geheimnisvolle Art und Weise einfach verschwinden. Was Ihr König mit dem ihm zur Verfügung gestellten Material anfängt – ob er die Abschriften veröffentlicht, sie vernichtet oder sie Clyntahn zurückgibt -, ist ganz allein seine Entscheidung. Aber was auch immer König Zhames tun mag, bei uns wird es keine Heimlichkeiten geben: Wir werden nichts tun, was nicht jeder erfahren darf. Wir werden ganz gewiss sämtliche Beweise veröffentlichen, und im Gegensatz zu den Männer und Frauen – und Kindern! -, die in Ferayd ermordet wurden, Sir Vyk, wurde jedem dieser Männer hier der Beistand des Klerus zugestanden, nachdem das Urteil gefällt war. Und im Gegensatz zu den Kindern, die in diesem Hafen an Bord ihrer eigenen Schiffe abgeschlachtet wurden, zusammen mit ihren Eltern, gibt es keinen einzigen der Verurteilten, der nicht genau wüsste, wofür er hier gehängt wird.«

Wieder schluckte Lakyr heftig, und Rock Point drehte sich ruckartig zu Graivyr um.

»Jahrhundertelang war es die Inquisition, die jegliche Strafe im Namen der Kirche zumaß. Vielleicht hat es auch Zeiten gegeben, in der diese Strafen wahrlich gerechtfertigt und gerecht zugemessen wurden. Doch diese Zeiten sind vorbei, Sir Vyk. Gott hat es nicht nötig, zu unzivilisierter Grausamkeit zu greifen, um Sein Volk wissen zu lassen, was Er von ihm verlangt, und diese Männer – und andere wie sie – haben sich viel zu lange hinter Seinem Namen versteckt. Sie haben Ihn dazu genutzt, den Konsequenzen ihres eigenen ungeheuerlichen Handelns zu entgehen. Sie haben ihr Amt und ihre Autorität dazu genutzt, nicht Gott oder auch nur Gottes Eigener Kirche zu dienen, sondern widerlichen, korrupten Menschen wie Vikar Zhaspahr. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass sie, und jeder, der handelt wie sie, endlich eines begreifen: Der Ornat, den sie missbraucht haben, wird Mörder und Peiniger nicht länger vor der Gerechtigkeit schützen! Diese Männer haben nicht einmal im Traum daran gedacht, sie könnten für ihre Missetaten dem Tod ins Auge blicken müssen. Sie werden feststellen, dass sich etwas geändert hat … und vielleicht werden zumindest einige ihrer Kollegen aus dem Offizium der Inquisition klug genug sein, aus diesem Beispiel zu lernen.«

Lakyr starrte sein Gegenüber an, dann räusperte er sich.

»Mein Lord«, krächzte er heiser, »bedenken Sie doch, was Sie tun!«

»Oh, ich kann Ihnen versichern, ich habe lange und reiflich nachgedacht«, sagte Rock Point, und seine Stimme klang nun ebenso unnachgiebig, wie sein Name das vermuten ließ. »Und Gleiches gilt für meinen Kaiser und meine Kaiserin.«

»Aber wenn Sie das tun, dann wird die Kirche …«

»Sir Vyk, die Kirche hat tatenlos zugesehen, als die ›Vierer-Gruppe‹ den Plan geschmiedet hat, mein gesamtes Königreich abzuschlachten. Die Kirche hat zugelassen, von Menschen wie Zhaspahr Clyntahn regiert zu werden. Die Kirche ist zum wahren Diener der Finsternis auf dieser Welt geworden, und tief in ihren Herzen müssen alle, die zur Priesterschaft zählen, das längst wissen. Nun, wir wissen es ebenfalls. Im Gegensatz zur Kirche werden wir nur die wahrhaft Schuldigen hinrichten lassen, und im Gegensatz zur Inquisition weigern wir uns, in Gottes Namen zu foltern und Unschuldigen Geständnisse abzupressen. Aber die Schuldigen werden wir hinrichten lassen, und das beginnt hier und jetzt!«

Lakyr wollte noch etwas hinzufügen, doch dann schloss er den Mund wieder.

Er wird es sich nicht anders überlegen, dachte der Delferahkaner. Ebenso wenig wie ich selbst, hätte ich von meinem König einen derartigen Befehl erhalten. Und, so gestand er sich unwillig ein, es ist ja auch nicht so, als hätte sich Mutter Kirche nicht längst selbst zum Feind von Charis gemacht. Und auch was die Schuld dieser Männer dort betrifft, täuscht sich der Admiral nicht.

Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, erschütterte Lakyr tief: Dass er derart Ungeheuerliches auch nur zu denken wagte, bescherte ihm geradezu körperlichen Schmerz. Aber der Gedanke, einmal gefasst, ließ sich nicht wieder zurücknehmen. Tief in Lakyrs Herzen brachte er zudem etwas zum Klingen. Mit einem Mal konnte Lakyr wieder den eigenen Zorn spüren, die eigene Abscheu darüber, dass Graivyr und seine Mit-Schueleriten etwas, das eine gewaltlose Ergreifung charisianischer Händler hier in Ferayd hätte sein sollen – hätte sein können -, in ein Massaker verwandelt hatte.

Vielleicht, sagte eine kaum hörbare Stimme aus den verborgenen Tiefen seines Herzens heraus, ist es wirklich an der Zeit, dass jene, die im Namen der Kirche morden, zur Rechenschaft gezogen werden.

Das war der schrecklichste Gedanke von allen. Denn ihm musste ein Rattenschwanz an anderen Gedanken folgen, ein dräuendes Gebirge aus Gedanken, das nicht nur vor ihm, Sir Vyk Lakyr, aufragte, sondern vor jedem einzelnen Menschen auf der ganzen Welt. Während Lakyr noch zuschaute, wie an Deck von HMS Destroyer den Männern, die sich immer noch wanden, die Schlingen um den Hals gelegt wurden, wusste er, dass er hier die Saat betrachtete, der letztendlich all jene anderen Gedanken und Entscheidungen entspringen würden. Diese Hinrichtungen waren die klare Aussage, dass Menschen für ihr Handeln stets als Menschen zur Rechenschaft gezogen würden, dass man es jenen, die zum Mord anstifteten, die im Namen Gottes folterten und brandschatzten, nicht mehr länger gestatten würde, sich hinter ihren priesterlichen Gewändern zu verstecken. Und das war der wahre Fehdehandschuh, den das Charisianische Kaiserreich der Kirche des Verheißenen vor die Füße zu schleudern wagte.

Die letzte Schlinge wurde dem letzten Verurteilten um den Hals gelegt und festgezogen. Zwei der Priester an Deck der Destroyer warfen sich immer noch verzweifelt hin und her, als glaubten sie, auf diese Weise den rauen Hanfseilen entrinnen zu können. Es erforderte bei jedem von ihnen zwei Marines, um sie festzuhalten. Dann erneut ein Trommelwirbel wie Donnerhall – und Stille.

Lakyr hatte deutlich gehört, wie einer der verurteilten Inquisitoren ohne Unterlass geplappert und um Gnade gebettelt hatte. Doch die anderen standen in völligem Schweigen an Deck, als seien sie nicht mehr in der Lage zu sprechen, als hätten sie endlich begriffen, dass nichts von dem, was sie noch hätten sagen können, irgendetwas an dem zu ändern vermochte, was hier geschehen würde.

Vom Achterdeck der Destroyer aus blickte Baron Rock Point sie an; sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, seine Augen düster.

»Durch Ihre eigenen Worte, durch Ihre schriftlichen Berichte und Aussagen wurden Sie überführt, zum Mord an Männern, Frauen und Kindern angestiftet zu haben. Selbst wenn wir davon nichts wissen, so weiß doch Gott Selbst, welche anderen Gräueltaten Sie noch begangen haben, wie viel Blut Ihre Hände befleckt, während Sie im Dienste jenes korrupten Menschen standen, der sich in die Gewänder des Großinquisitors kleidet. Aber Sie selbst haben sich für diese Morde verurteilt, die Sie hier begangen haben, und das ist mehr als hinreichend.«

»Gotteslästerer!«, schrie Graivyr, die Stimme halb erstickt von Zorn und Furcht gleichermaßen. »Dafür, dass Sie das Blut Gottes Eigener Priester vergießen, werden Sie und Ihr ganzes verderbtes ›Kaiserreich‹ für alle Zeiten in der Hölle schmoren!«

»Es ist gut möglich, dass hier jemand in der Hölle schmoren wird, dafür nämlich, dass er das Blut Unschuldiger vergossen hat!«, entgegnete Rock Point mit eisiger Stimme. »Ich selbst werde einst vor Gottes Gericht treten und dabei nicht fürchten, das Blut, das an meinen Händen klebt, könne mich in Seinen Augen verdammen. Können Sie dasselbe sagen, ›Priester‹?«

»Ja!« Graivyr sprach das Wort voller Leidenschaft aus. Und doch ist da noch etwas anderes, halb verborgen im Ton seiner Stimme, dachte Lakyr. Ein Hauch von Furcht, einer Furcht vor etwas, das weit über das Entsetzen angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes hinausging. Zumindest ein Funken … ja, ein Funken Ungewissheit, als man ihn nun vor die Schwelle des Todes brachte. Was würden er und die anderen Inquisitoren vorfinden, wenn sie schließlich von Angesicht zu Angesicht vor den Opfern der Inquisition stünden?

»Dann wünsche ich Ihnen viel Freude mit Ihrem Selbstvertrauen«, erwiderte Rock Point mit eisenharter Stimme dem ehemaligen Intendanten. Er nickte den Matrosen zu, die das andere Ende der Taue hielten.

»Vollstreckt das Urteil!«, sagte er.

.II.

Merlin Athrawes’ Kabine,HMS Kaiserin von Charis,hisholmianische See

Sergeant Seahamper musste ein Naturtalent sein. Zu diesem Ergebnis kam Merlin Athrawes, während er zuschaute, wie sich Kaiserin Sharleyans persönliche Leibwache im Gebrauch der Pistole versuchte.

Und, dachte Athrawes und hätte sich beinahe ein schiefes Grinsen gestattet, für Sharleyan gilt das auch! Nicht sehr damenhaft! Er verkniff sich ein leises Lachen. Andererseits: Die Lady hat wirklich einen ganz eigenen Stil, nicht wahr?

Hätte jemand zufällig einen Blick in Merlins kleine, beengte Kabine an Bord der Königin von Chans geworfen, hätte er zweifellos vermutet, Merlin schlafe. Schließlich war es an Bord des Flaggschiffs dieser Flotte bereits zwei Stunden nach Sonnenuntergang, auch wenn es daheim, in Tellesberg, noch mehrere Stunden lang helllichter Tag bleiben würde. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang mochte vielleicht ein wenig früh sein. Captain Athrawes war allerdings eingeteilt, die Morgenwache für Kaiser Cayleb zu übernehmen. Also war es durchaus sinnvoll, wenn der Captain so früh wie möglich zu Bett ging. Im Augenblick lag er ausgestreckt in seiner hülsenartigen Hängematte, die von der Decke der Kabine herabgelassen war. Sanft schwankte sie im Takt der Dünung. Die Augen hatte Athrawes geschlossen; er atmete tief und regelmäßig. Doch sosehr es auch danach aussah, eigentlich atmete er überhaupt nicht. Das hatte das Individuum, das als Merlin Athrawes bekannt war, schon in den letzten neunhundert Jahren nicht ein einziges Mal getan. Tote Frauen mussten nun einmal nicht atmen; und PICAs hatten derart einschränkende Dinge ebenfalls nicht nötig.

Eigentlich bestand auch keinerlei Notwendigkeit für Athrawes, so etwas wie Schlaf – oder auch Atmung – vorzutäuschen. Es war nicht damit zu rechnen, dass jemand ungebeten während der dienstfreien Zeit der persönlichen Leibwache Kaiser Caylebs in dessen Kabine hereinstürmen würde. Und selbst wenn dem doch so wäre, waren Merlins Reflexe nun einmal ebenso übermenschlich schnell, wie sein Gehör übermenschlich empfindlich war. Jemand, dessen ›Nervenimpulse‹ sich einhundert Mal schneller fortbewegten als die eines jeden biologischen Lebewesens, hätte immer noch reichlich Zeit, rechtzeitig die Augen zu schließen und mit dem ›Atmen‹ anzufangen. Doch Merlin hatte nicht die Absicht, sich selbst bei Kleinigkeiten wie diesen zu Nachlässigkeiten hinreißen zu lassen. Es kursierten schon jetzt genügend sonderbare Geschichten über Seijin Merlin und seine beachtlichen Fähigkeiten.

Natürlich kam selbst das unglaublichste Gerücht der Wahrheit nicht einmal ansatzweise nahe, und Merlin hatte die Absicht, es dabei auch zu belassen, solange dies eben möglich war. Wenn er das irgendwie schaffte, bedeutete das: für alle Zeiten. Das war der ganze Grund dafür, dass er sich dafür entschieden hatte, die Bühne als Seijin zu betreten. Die Seijin waren jene Kriegermönche, die in vielen, ja in unzähligen Legenden hier auf dem Planeten Safehold eine Rolle spielten. Den Seijin wurden derart viele verschiedene wundersame Fähigkeiten zugeschrieben, dass sich fast alles, was Merlin zu tun in der Lage war, mit der richtigen Handbewegung abtun ließe.

Vorausgesetzt natürlich, es gelingt demjenigen, der diese Handbewegung vollführt, dabei ernst zu bleiben, rief er sich selbst ins Gedächtnis zurück.