No Man's Land - David Baldacci - E-Book

No Man's Land E-Book

David Baldacci

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Beschreibung

Spezialagent Puller ermittelt in seinem persönlichsten und schwersten Fall

Dreißig Jahre ist es her, dass John Pullers Mutter spurlos verschwand. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Doch nun tritt plötzlich eine frühere Freundin der Familie mit einer ungeheuerlichen Behauptung auf: Puller senior hätte damals seine eigene Frau ermordet. Tatsächlich zeigt sich, dass der Beschuldigte in der fraglichen Nacht nicht im Militäreinsatz war, wie stets behauptet, sondern heimlich nach Fort Monroe zurückgekommen ist. Fatal daran: Puller senior ist seit Längerem dement und kann nichts zu seiner Verteidigung vorbringen. Also liegt es an Spezialagent John Puller junior, den Familiennamen reinzuwaschen. Was er nicht weiß: Auf der anderen Seite der USA ist gerade ein Schwerverbrecher aus dem Gefängnis freigekommen. Auch ihn zieht es nach Fort Monroe – um finstere Rache zu nehmen für etwas, was ihm vor dreißig Jahren angetan wurde ...

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DAVID BALDACCI

NO MAN’S LAND

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Norbert Jakober

Zum Buch

Vor dreißig Jahren verschwand John Pullers Mutter Jackie spurlos. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Doch nun tritt plötzlich eine frühere Freundin der Familie mit einer ungeheuerlichen Behauptung auf: Puller senior hätte damals seine eigene Frau ermordet. Tatsächlich zeigt sich, dass der Beschuldigte in der fraglichen Nacht nicht im Militäreinsatz war, wie stets behauptet, sondern heimlich nach Fort Monroe zurückkam. Puller senior selbst kann nichts zu seiner Verteidigung vorbringen, weil er schon seit längerer Zeit schwer dement ist. Also liegt es an Spezialagent John Puller junior, den Fall gemeinsam mit seinem Bruder Bobby aufzuklären.

Was er nicht weiß: Auf der anderen Seite der USA ist gerade ein Schwerverbrecher aus dem Gefängnis ausgebrochen. Auch ihn zieht es nach Fort Monroe – um finstere Rache zu nehmen für etwas, was ihm vor dreißig Jahren angetan wurde …

Zum Autor

David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit über 130 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. In seiner Bestseller-Serie um Spezialermittler John Puller sind bereits erschienen: Zero Day, Am Limit und Escape.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel No Man’s Land bei Grand Central Publishing/Hachette Book Group Inc., New York

Copyright © 2016 by Columbus Rose, Ltd.

Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung

mehrerer Fotos von Shutterstock (ostill, Smileus, Jerry Voss)

Redaktion: Wolfgang Neuhaus

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-22086-0V002

www.heyne-verlag.de

Zur Erinnerung an Lynette Collin,

die uns allen ein Engel war

1

Paul Rogers wartete darauf, dass sie kamen, um ihn zu töten.

Seit zehn Jahren schon, seit er im Gefängnis saß, hatte er damit gerechnet.

Nun musste er noch vierundzwanzig Stunden überstehen.

Dann konnte er leben.

Rogers war eins fünfundachtzig groß und gut achtzig Kilo schwer. Kaum etwas davon war Fett. Wer seinen gestählten Körper sah, hätte kaum glauben können, dass er bereits über fünfzig war. Vom Hals abwärts sah er aus wie das Modell eines Athleten. Jeder Muskel war hart und perfekt ausgebildet.

In seinem Gesicht jedoch hatten die Jahre so deutliche Spuren hinterlassen, dass er viel älter wirkte. Seine Züge waren hart und kantig, die Haut rau und wettergegerbt, obwohl er in den zehn Jahren hinter Gittern keinen Sonnenstrahl gesehen hatte. Sein Haar war noch dicht, aber nahezu völlig ergraut. Um Augen und Mund hatten sich zahllose Falten eingegraben, und die breite Stirn war von tiefen Furchen durchzogen.

Sein zerzauster Bart zeigte das gleiche Grau wie sein Kopfhaar. Im Gefängnis waren Bärte eigentlich verboten, aber niemand hier hatte den Mumm, von Paul Rogers eine Rasur zu verlangen.

Das Markanteste an seinem Aussehen waren die Augen unter den buschigen Brauen. Sie waren von einem blassen, wässrigen Blau und wirkten leblos, kalt und leer.

Rogers setzte sich auf, als er sie kommen hörte. Zwei Paar Schuhe im Gleichschritt.

Er hatte noch vierundzwanzig Stunden vor sich. Kein gutes Zeichen.

Die Tür schwang auf, und zwei Wärter standen vor ihm.

»Okay, Rogers«, sagte der Ältere der beiden. »Gehen wir.«

Rogers stand auf, schaute die Männer verwirrt an.

»Ich weiß, eigentlich wäre es erst morgen so weit«, fuhr der Wärter fort, »aber vom Gericht wurde offenbar ein falsches Datum eingetragen. Deinem Antrag auf Bewährung ist stattgegeben. Du bist ein freier Mann.«

Wie benommen trat Rogers vor und hielt den Wärtern die Unterarme hin, damit sie ihm Handschellen anlegen konnten.

Der Ältere schüttelte den Kopf. »Keine Ketten mehr.« Dennoch entging Rogers nicht, dass der Mann den Griff seines Schlagstocks etwas fester umfasste und eine Ader in seiner Schläfe pulsierte.

Die Wärter führten ihn über einen langen Gang, an dem sich zu beiden Seiten verschlossene Zellentüren reihten. Die Häftlinge dahinter unterhielten sich, doch als Rogers in Sicht kam, verstummten sie und beobachteten schweigend, wie er vorüberging, ehe sie wieder zu flüstern begannen.

Rogers betrat einen kleinen Raum, wo er frische Kleidung bekam, blank geputzte Schuhe, seinen Ring, seine Uhr und dreihundert Dollar in bar. Dreißig Mäuse für jedes Jahr hinter Gittern, so sah es die großzügige Regelung in diesem Bundesstaat vor.

Zum Schluss bekam er das vielleicht Wichtigste, eine Busfahrkarte, mit der er in die nächste Stadt gelangen konnte.

Rogers schlüpfte aus dem Gefängnisoverall, zog frische Unterwäsche und die neuen Sachen an. Den Gürtel musste er straff um seine schmale Taille schnallen, damit die Hose nicht rutschte, doch die Jacke saß eng um seine breiten Schultern. Die neuen Schuhe waren eine Nummer zu klein und drückten an den Zehen. Er schnallte sich die Uhr um das Handgelenk, stellte sie nach der Uhr an der Wand, steckte die dreihundert Dollar in die Jackentasche und zwängte den Ring auf seinen kräftigen Finger.

Die Wärter führten ihn zum Haupttor. Dort bekam er eine Mappe mit den Bewährungsauflagen, in denen detailliert aufgelistet war, was er zu tun und zu lassen hatte. Zu seinen Pflichten gehörten regelmäßige Treffen mit seinem Bewährungshelfer; außerdem gab es strenge Vorgaben hinsichtlich seiner sozialen Kontakte für die Dauer der Bewährung. Hinzu kam, dass er die Gegend nicht verlassen durfte und Personen mit Vorstrafen meiden musste. Zu guter Letzt durfte er sich nicht mit Drogen erwischen lassen und keine Waffe besitzen oder tragen.

Endlich schwang das mit Hydraulik betriebene Metalltor auf und gab Rogers zum ersten Mal seit zehn Jahren den Blick frei auf die Welt außerhalb der Gefängnismauern.

Er trat hinaus.

»Viel Glück«, sagte der ältere Wärter. »Ich will dich hier nie mehr sehen.«

Das massive Tor schloss sich hinter Rogers.

Der ältere Wärter schüttelte den Kopf. »Wenn ich wetten müsste«, sagte er zu seinem jungen Kollegen, »ich würde drauf setzen, dass wir den bald wiedersehen.«

»Warum?«

»Paul Rogers hat in den zehn Jahren, die er hier war, vielleicht fünf Worte gesprochen. Aber der Blick, den er manchmal hatte …« Der Wärter schauderte. »Wir haben ein paar schlimme Psychos hier, aber keiner von denen war mir so unheimlich wie Rogers. Diese Augen – als wäre nichts dahinter. Nichts. Er hat zweimal Bewährung beantragt, aber nicht bekommen, weil er der Bewährungskommission so eine Scheißangst eingejagt hat mit seinem Blick. Na ja, beim dritten Versuch kam er offenbar freundlicher rüber.«

»Was hat er eigentlich verbrochen?«

»Er hat jemanden umgebracht.«

»Und nur zehn Jahre bekommen?«

»Mildernde Umstände, nehme ich an.«

»Hat hier mal jemand versucht, ihn zu schikanieren?«, fragte der junge Wärter.

»Rogers schikanieren? Hast du je gesehen, wie besessen er trainiert? Er ist älter als ich, aber er könnte die schwersten Jungs hier zu Brei schlagen. Ich glaube, er hat nachts gerade mal eine Stunde geschlafen. Bei meinen Runden hab ich ihn dann morgens um zwei in seiner Zelle hocken sehen, wie er vor sich hin starrte oder Selbstgespräche führte und sich dabei den Schädel rieb. Unheimlich, sag ich dir. Trotzdem wollten ihm zwei der brutalsten Hurensöhne zeigen, wer im Knast das Sagen hat, als er herkam.«

»Und?«

»Einer ist seither gelähmt, der andere sitzt im Rollstuhl und sabbert sich an, weil ihm Rogers einen bleibenden Hirnschaden verpasst hat. Mit einem Schlag hat er ihm den Schädel gebrochen. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.«

»Wie ist er denn an die Waffe gekommen?«

»Waffe? Er hat das mit bloßen Händen getan.«

»Heilige Scheiße!«

Der ältere Wärter nickte nachdenklich. »Damit hat er sich einen bleibenden Ruf verschafft. Nie wieder ist ihm jemand in die Quere gekommen. Vor einem solchen Typen haben sie hier Respekt. Hast ja erlebt, wie mucksmäuschenstill die anderen wurden, als er an ihren Zellen vorbeikam. Alle hatten Schiss vor ihm, ohne dass er einen Finger krumm machen musste. Aber er war wirklich ein Typ, wie ich ihn hier drin noch nie gesehen habe.«

»Wie meinst du das?«

»Als er zu uns kam, haben wir ihn gründlich gefilzt – einschließlich aller Körperöffnungen.«

»Und?«

»Er hat Narben.«

»Viele Knackis haben Narben.«

»Nicht so welche. Er hat riesige Narben an beiden Armen und Beinen, am Kopf, am ganzen Oberkörper, sogar an den Fingern. Unheimlich, sag ich dir. Wir konnten nicht mal seine Fingerabdrücke nehmen, weil er keine hat. So was hab ich noch nie gesehen. Und ich hoffe, das bleibt mir in Zukunft erspart.«

»Wie ist er zu den Narben gekommen?«

»Keine Ahnung. Wie ich schon sagte, er hat in den zehn Jahren hier keine fünf Worte gesprochen. Wir konnten ihn ja nicht zwingen, uns zu erzählen, woher er die Narben hat. Vielleicht gehörte er einem perversen Kult oder so an, oder man hat ihn gefoltert … obwohl, dazu hätte es in seinem Fall ein ganzes Bataillon gebraucht. Im Grunde will ich’s gar nicht wissen. Rogers ist ein Freak. Und ich bin froh, dass wir ihn los sind.«

»Aber es wundert mich schon, dass man ihn überhaupt rauslässt.«

»Mich auch«, murmelte der Ältere. »Gnade Gott den armen Schweinen, die diesem Hundesohn in die Quere kommen.«

2

Rogers nahm einen tiefen Atemzug. Als er ausatmete, bildeten sich kleine weiße Wölkchen in der kalten Luft, die sich rasch verflüchtigten.

Ein paar Sekunden stand er einfach nur da, um sich zu orientieren. In gewisser Weise war es so, als würde er neu geboren und aus dem Mutterschoß in eine Welt eintreten, von der er Augenblicke zuvor noch gar nicht gewusst hatte, dass sie existierte.

Sein Blick schweifte von links nach rechts, dann hinauf zum Himmel. Gut möglich, dass sie Hubschrauber schickten, um ihn zu töten.

Aber da war kein Hubschrauber.

Da war niemand, der ihn abschießen wollte.

Vielleicht lag es daran, dass so viel Zeit verstrichen war. Drei Jahrzehnte. Die Leute starben, Erinnerungen verblassten.

Oder hielten sie ihn für tot?

Das wäre ein Fehler, ihr Scheißer.

Rogers dachte an den Irrtum beim Entlassungsdatum.

Falls sie kamen, dann wahrscheinlich erst morgen.

Zum Glück gab es auch an den Gerichten Schlamperei.

Rogers folgte den Hinweisen in seinen Entlassungspapieren und ging zu der Bushaltestelle, die aus vier rostigen Stangen, einem Dach und einer Holzbank bestand, die abgesessen war von all denen, die in den vergangenen Jahrzehnten darauf gewartet hatten, von hier wegzukommen.

Während Rogers auf den Bus wartete, zog er die Bewährungsunterlagen aus der Jackentasche und warf sie in den Mülleimer. Er hatte nicht vor, die Bewährungsberatung in Anspruch zu nehmen. Für ihn gab es Wichtigeres zu tun, weit weg von hier.

Rogers berührte eine Stelle links an seinem Hinterkopf und fuhr mit dem Finger vom Hinterhauptbein über die Lambdanaht nach oben. Dann weiter über das Scheitelbein bis hinauf zur Scheitelnaht. Diese Teile des Schädels schützten wichtige Bereiche des Gehirns.

Früher hatte Rogers das, was man ihm hier eingepflanzt hatte, als tickende Zeitbombe empfunden.

Heute war es für ihn etwas, das zu ihm gehörte, sein Ich.

Er ließ die Hand sinken und beobachtete, wie der Bus am Straßenrand hielt. Zischend öffneten sich die Türen. Er stieg ein, zeigte dem Fahrer sein Ticket und ging nach hinten.

Ein Schwall von Gerüchen schlug ihm entgegen: gebratenes Essen, Schweiß, billiges Parfum. Die Leute im Bus starrten ihn an, als er an ihnen vorbeiging. Die Finger der Frauen schlossen sich fester um ihre Handtaschen. Die Männer musterten ihn teils furchtsam, teils abweisend, die geballten Fäuste zum Zuschlagen bereit. Die Kinder starrten ihn mit großen Augen an.

So wirkte er nun einmal auf die Leute, das war ihm klar.

Rogers setzte sich auf einen Platz ganz hinten, wo der Gestank aus der Toilette unerträglich war – außer für jemanden, der noch Schlimmeres gerochen hatte. Rogers hatte sehr viel Schlimmeres gerochen und erlebt.

Schräg gegenüber saßen ein Mann Mitte zwanzig und eine Frau im gleichen Alter. Die Frau saß auf dem Gangsitz. Ihr Freund war ein Hüne, eins fünfundneunzig groß, muskelbepackt. Die beiden hatten Rogers als Einzige nicht angestarrt, als er nach hinten gegangen war, weil sie zu beschäftigt gewesen waren, den Mund des anderen mit der Zunge zu erkunden.

Als der Bus losfuhr, lösten sie sich voneinander, und der Riese starrte feindselig zu Rogers herüber. Rogers erwiderte seinen Blick, bis der Mann zur Seite sah. Auch die junge Frau wurde nun auf ihn aufmerksam. Sie lächelte ihn an.

»Sind Sie gerade rausgekommen?«, fragte sie.

Rogers schaute auf seine Kleidung hinunter. Wahrscheinlich waren es die Standardklamotten für entlassene Häftlinge. Vielleicht bestellten sie die Sachen in großen Mengen, einschließlich der Schuhe, die immer eine Nummer zu klein waren, damit die Ex-Knackis niemandem davonlaufen konnten. Vielleicht war sogar die Busstation bei den Leuten in der Gegend als Knasthaltestelle bekannt. Das würde die Blicke erklären, die sie ihm beim Einsteigen zugeworfen hatten.

Rogers wäre nie auf die Idee gekommen, das Lächeln der jungen Frau zu erwidern, also nickte er nur als Antwort auf ihre Frage.

»Wie lange waren Sie drin?«

Er hielt alle zehn Finger hoch.

Sie schaute ihn mitfühlend an. »Eine lange Zeit.« Sie schlug die Beine übereinander, sodass ein nacktes, schlankes Bein in den Mittelgang ragte und Rogers ihre makellose helle Haut bewundern konnte.

Bis zur nächstgelegenen Stadt war der Bus fast eine Stunde unterwegs. Die ganze Zeit baumelte der hochhackige Schuh verführerisch am nackten Fuß der Frau.

Rogers wandte den Blick nicht eine Sekunde davon ab.

Als sie in den Busbahnhof einfuhren, war es dunkel. Fast alle Fahrgäste stiegen aus. Auch Rogers, der den Bus als Letzter verließ.

Als er auf dem Asphalt stand, sah er sich um. Mehrere Fahrgäste wurden von Freunden oder Verwandten begrüßt. Andere holten ihre Sachen aus dem Gepäckraum hinten im Bus. Rogers stand nur da und ließ den Blick schweifen, wie zuvor schon, draußen vor dem Gefängnis. Er hatte keine Freunde oder Verwandten, die ihn hätten empfangen können, und kein Gepäck.

Doch er wartete darauf, dass etwas geschah.

Der junge Riese, der ihn so düster angestarrt hatte, holte sein Gepäck und das seiner Freundin. Währenddessen kam die junge Frau auf Rogers zu.

»Sie sehen aus, als könnten Sie ein bisschen Spaß vertragen.«

Er schwieg.

Sie blickte zu ihrem Freund. »Ich verbringe den Abend heute nicht mit ihm«, raunte sie Rogers zu. »Wie wär’s, wenn wir uns ein paar schöne Stunden machen, nur wir zwei? Ich kenne da was Nettes, wo wir hingehen können.«

Rogers schwieg.

Als ihr Freund mit einem Seesack und einem kleinen Koffer zurückkam, nahm die Frau ihn am Arm und ging mit ihm davon, drehte sich aber noch einmal zu Rogers um und zwinkerte ihm zu.

Rogers’ Blick folgte dem jungen Paar, das die Straße hinunterging, bis es abbog und aus seinem Blickfeld verschwand.

Nun setzte er sich in Bewegung und ging in dieselbe Gasse. Die beiden waren ihm bereits ein gutes Stück voraus.

Rogers griff sich an den Kopf, fuhr mit dem Finger über dieselben Stellen wie zuvor, als folgte er dem Lauf eines gewundenen Flusses.

Das junge Paar war gerade noch in Sichtweite. Dann bogen sie ab und verschwanden erneut aus seinem Blickfeld.

Rogers beschleunigte seine Schritte und folgte ihnen um die Ecke.

Der Schlagstock traf ihn mit voller Wucht am Arm. Krachend barst das Holz. Die obere Hälfte des Stocks wirbelte durch die Luft und prallte gegen die Mauer.

»Scheiße!«, rief der Hüne, der zugeschlagen hatte. Der Seesack lag offen auf dem Boden. Die junge Frau stand zwei Meter hinter ihrem Freund. Sie hatte sich geduckt, als der Schlagstock zerbrochen und in ihre Richtung gewirbelt war. Dabei war ihr die Handtasche entglitten.

Der Riese ließ den Rest des Schlagstocks fallen, zückte ein Schnappmesser und ließ die Klinge herausschnellen.

»Ich will die dreihundert Mäuse, Mr. Ex-Knacki. Und den Ring. Die Uhr auch. Los, her damit, sonst endest du mit dem Messer im Bauch.«

Dreihundert? Offenbar wussten die beiden, was zehn Jahre im Gefängnis wert waren.

Rogers drehte den Hals nach rechts, spürte das leise Knacken. Er schaute sich um. In den hohen Ziegelwänden auf beiden Seiten der Gasse gab es keine Fenster, also gab es auch keine Zeugen. Und die Gasse war dunkel, weit und breit niemand zu sehen.

»Hast du verstanden?«, blaffte der junge Mann und baute sich drohend vor Rogers auf.

Der nickte.

»Dann rück die Kohle und die anderen Sachen raus! Bist du doof oder was?«

Rogers schüttelte den Kopf. Er war keineswegs doof. Und er würde nichts herausrücken.

»Wie du willst.« Mit einem Satz sprang der Mann nach vorn und stieß zu.

Rogers wehrte den Angriff ab, doch die Klinge schnitt tief in seinen Arm. Nur ließ er sich davon nicht aufhalten, denn er spürte nichts. Während das Blut seinen Ärmel durchtränkte, packte er die Hand mit dem Messer und drückte zu.

Der Hüne ließ das Messer fallen. »Scheiße, Scheiße!«, kreischte er. »Lass los, verdammt, lass los!«

Rogers ließ nicht los. Der Mann sank auf die Knie und versuchte vergeblich, die Finger des Gegners von seiner Hand zu lösen.

Entgeistert verfolgte die junge Frau die Szene.

Mit der freien Hand griff Rogers langsam nach unten, hob den abgebrochenen Griff des Schlagstocks auf.

Der Hüne blickte zu ihm hoch. »Bitte nicht, Mann.«

Rogers schwang den Stock mit solcher Wucht, dass sich Knochenstücke, vermischt mit grauer Hirnhaut, aus dem zertrümmerten Schädel lösten.

Er ließ die Hand des Toten los. Der schlaffe Körper kippte seitwärts auf den Asphalt.

Die Frau wich schreiend zurück. Sie blickte zu ihrer Handtasche, wagte aber nicht, danach zu greifen.

»Hilfe!«, schrie sie. »Hilfe!«

Rogers ließ den Schlagstock fallen und schaute sie an.

Zu dieser Stunde war das Viertel leer und verlassen, deshalb hatte das Pärchen diese Gasse für seinen Hinterhalt ausgesucht. Hier war niemand, der einem Menschen in Not helfen konnte. Die beiden hatten sich dadurch einen Vorteil ausgerechnet. Doch kaum hatte Rogers die Gasse gesehen, hatte er gewusst, dass es ein Vorteil für ihn war.

Dass sie ihm eine Falle stellen wollten, war ihm schon in dem Moment klar gewesen, als die Frau ihn im Bus angelächelt hatte. Schließlich war ihr toter Freund in ihrem Alter und gut aussehend. Rogers dagegen war weder das eine noch das andere. Das Einzige, was sie von ihm gewollt hatte, trug er in der Jackentasche, am Handgelenk und am Ringfinger.

Wahrscheinlich beraubten die beiden regelmäßig Männer, die aus dem Gefängnis entlassen wurden.

Diesmal waren sie an den Falschen geraten.

Die Frau wich zur Ziegelmauer zurück. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Bitte«, flehte sie, »bitte, tun Sie mir nichts. Ich sag keinem, was Sie getan haben. Ich schwör’s! Bitte!«

Rogers bückte sich und hob das Schnappmesser auf.

Sie begann zu schluchzen. »O Gott, nein. Bitte … ich … Er hat mich gezwungen. Er hat gesagt, wenn ich nicht mitmache, passiert mir was.«

Rogers trat auf sie zu und betrachtete ihr bebendes Gesicht. Es ließ ihn kalt, hatte keine Wirkung auf ihn – so wenig wie das Messer, das in seinen Arm geschnitten hatte.

Er spürte nichts, rein gar nichts.

Sie wollte, dass er Mitleid mit ihr hatte. Das wusste Rogers, und er verstand es. Doch es war ein Unterschied, ob man etwas verstand oder etwas empfand.

Ein himmelhoher Unterschied.

Rogers empfand nichts. Nicht für sie. Nicht für sich selbst.

Er rieb sich den Kopf, tastete über die eine Stelle, als könnten seine Finger durch Knochen und Hirnmasse greifen und herausreißen, was dort drinsteckte. Es brannte höllisch, wie jedes Mal in solchen Augenblicken.

Rogers war nicht immer so gewesen. Manchmal, wenn er lange und angestrengt nachdachte, konnte er sich verschwommen an einen anderen Menschen erinnern.

Er blickte auf das Messer, das lediglich eine stählerne Verlängerung seiner Hand war, und lockerte den Griff.

»Lassen Sie mich gehen?« Die Stimme der Frau war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich … ich mag Sie wirklich.«

Rogers trat einen Schritt zurück.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich verspreche Ihnen, ich werde es keinem sagen.«

Rogers machte noch einen Schritt zurück.

Du könntest einfach weggehen, sagte er sich.

Sie blickte über seine Schulter, riss plötzlich die Augen auf. »Ich glaube, er hat sich bewegt«, sagte sie atemlos. »Sind Sie sicher, dass er tot ist?«

Rogers drehte sich zu dem Mann am Boden um.

In diesem Moment nahm er die huschende Bewegung im Augenwinkel wahr. Die Frau hatte sich ihre Handtasche geschnappt und eine Waffe hervorgerissen. Rogers sah, wie die Mündung des Revolvers nach oben zuckte, um auf seine Brust zu zielen.

Blitzschnell schlug er zu und sprang zur Seite, um dem Blutschwall aus ihrer aufgeschlitzten Kehle auszuweichen.

Sie sackte nach vorne, schlug mit dem Gesicht zuerst auf dem Asphalt auf. Ihre Schönheit war für immer ruiniert – nicht, dass es noch von Bedeutung gewesen wäre. Der Revolver landete klappernd auf dem Boden.

Rogers nahm das Geld aus der Brieftasche des jungen Mannes und aus der Handtasche der Frau und steckte die Scheine ein, fein säuberlich gefaltet. Dann legte er den zerbrochenen Schlagstock in die Hand der jungen Frau und steckte den Revolver in ihre Handtasche. Das Schnappmesser drückte er in die Hand des toten Mannes.

Sollten die Cops sich den Kopf darüber zerbrechen, was hier passiert war.

Notdürftig verband er seinen Arm, um die Blutung zu stillen. Dann ließ er sich einen Moment Zeit, um das Geld zu zählen.

Sein Guthaben hatte sich soeben verdoppelt – was erfreulich war, denn er hatte eine lange und schwierige Reise vor sich.

Nach all den Jahren wurde es Zeit, dass er sich auf den Weg machte.

3

John Puller blickte auf seinen schlafenden Vater. Der alte Mann lag in seinem Bett, das in dem Zimmer stand, das sein ganzes Zuhause geworden war.

John fragte sich, für wie lange noch.

Puller senior hatte in den letzten Wochen eine Veränderung durchgemacht. Und das hatte nicht nur mit seinem sich verschlechternden Gesundheitszustand zu tun.

Robert, der ältere seiner beiden Söhne, der in einem Militärgefängnis in Leavenworth, Kansas, eingesessen hatte, war vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen worden. Nun hatte er seinen Dienst als Offizier der United States Air Force wieder angetreten. Das Wiedersehen zwischen Puller senior und Bobby hatte John Puller, dem jüngeren Sohn, Tränen der Rührung in die Augen getrieben.

Doch nach der Freude des alten Mannes über Bobbys Freilassung war eine spürbare Verschlechterung eingetreten, zumindest, was seinen geistigen Zustand betraf. Körperlich war der ehemalige Drei-Sterne-General in einer viel besseren Verfassung als die meisten Männer seines Alters. Doch der immer noch kräftige Körper war an einen zunehmend nachlassenden Verstand gebunden. Möglicherweise hatte der alte Mann nur durchgehalten, um noch mitzuerleben, wie sein Ältester rehabilitiert wurde. Vielleicht gab er jetzt, da dieses Ziel erreicht war, den Kampf auf. Vielleicht war sein Lebenswille erschöpft.

Während John Puller seinen Vater betrachtete, fragte er sich, was hinter den wie aus Granit gemeißelten Gesichtszügen zum Vorschein käme, würde der alte Mann erwachen. Sein Vater war der geborene Kommandant, der dafür gelebt hatte, Männer in die Schlacht zu führen. Genau das hatte er mehrere Jahrzehnte lang mit beträchtlichem Erfolg getan und dafür fast jede Auszeichnung und Beförderung erhalten, die die Armee vorsah. Doch kaum war Puller senior aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, war es, als hätte jemand einen Schalter in ihm ausgeknipst, und er war schnell zu dem geworden, was er heute war.

Die Ärzte sagten, es handle sich um eine Spielart der Demenz, die sich ständig verändere – leider nicht zum Besseren.

Für John Puller war es wie ein Prozess, den sein Vater unweigerlich verlieren würde.

Bobby war auf einem Auslandseinsatz und würde noch Monate fort sein. John war soeben von einer Ermittlung in Deutschland zurückgekehrt und zu seinem Vater gefahren, gleich nachdem das Flugzeug gelandet war.

Es war schon spät, aber er hatte seinen Erzeuger längere Zeit nicht gesehen. Und so saß er nun an dessen Bett und fragte sich, welche Version seines Vaters zum Vorschein kam, wenn der alte Mann erwachte.

Puller senior, der Befehle brüllende Kommandant?

Der Schweigsame?

Der Mann mit den leblosen Augen, die ins Leere starrten?

John zog die ersten beiden Varianten eindeutig der letzteren vor.

Es klopfte an der Tür. John erhob sich und öffnete.

Zwei Männer standen vor ihm. Einer trug die Uniform eines Colonels, der andere war in Zivil.

»Ja?«, fragte Puller.

»John Puller junior?«, erkundigte sich der Mann in Zivil.

»Der bin ich. Und Sie sind?«

»Ted Hull.« Der Mann zückte seinen Ausweis. »CID. Zwölfte MP in Fort Lee.«

»Und ich bin Colonel David Shorr«, stellte der Uniformierte sich vor.

Puller kannte ihn nicht. Aber es gab eine Menge Colonels in der Army.

Puller trat aus dem Zimmer und schloss die Tür. »Mein Vater schläft. Was kann ich für Sie tun? Geht es um einen Einsatz? Eigentlich habe ich zwei Tage Urlaub. Sie können gern mit Don White sprechen, meinem befehlshabenden Offizier.«

»Wir haben bereits mit ihm gesprochen«, erklärte Shorr. »Er hat uns gesagt, wo wir Sie finden.«

»Okay. Worum geht es?«

»Es geht eigentlich um Ihren Vater, Chief Puller. Aber es betrifft mit Sicherheit auch Sie.«

Da Puller Chief Warrant Officer bei der CID war, der Militärstrafverfolgungsbehörde der United States Army, wurde er zumeist mit »Chief« angesprochen. Im Gegensatz zu seinem Vater und seinem Bruder hatte er nicht die Militärakademie in West Point absolviert und stand deshalb nur im Rang eines Unteroffiziers.

»Ich verstehe nicht, Sir«, sagte er.

Mit seinen gut eins neunzig überragte Puller die beiden Männer, die ihm gegenüberstanden. Die Körpergröße hatte er vom Vater, seine ruhige Art von der Mutter. Sein Dad kannte nur zwei emotionale Zustände: laut und Alarmstufe DEFCON 1.

»Es gibt einen Besucherraum, den Gang hinunter«, schlug Shorr vor. »Dort können wir reden.«

Er ging voraus in den leeren Besucherraum, ließ die anderen eintreten und schloss die Tür. Sie setzten sich. Puller nahm den beiden Männern gegenüber Platz.

Shorr warf Hull einen Blick zu und nickte auffordernd, worauf Hull einen Umschlag hervorholte, mit dem er gegen seine Handfläche tippte.

»Dieser Brief ist in Fort Eustis eingetroffen«, begann der CID-Mann. »Dort wurde er an mein Büro weitergeleitet. Wir haben ihn gelesen und ein wenig nachgeforscht. Als wir erfuhren, dass Sie heute zurückkommen, sind wir gleich losgefahren, um mit Ihnen zu sprechen.«

»Ich bin an der JBLE stationiert«, fügte Colonel Shorr erklärend hinzu. »Deshalb habe ich damit zu tun.«

Puller nickte. Er wusste, dass die Joint Base Langley-Eustis, kurz JBLE, in der Tidewater-Region lag, die Norfolk, Hampton und Newport News, Virginia, umfasste. 2010 waren Fort Eustis in Newport News und die Langley Air Force Base im nahen Hampton zu einem neuen Stützpunkt zusammengefasst worden, der intern als JBLE bekannt war.

»Transport und Logistik«, merkte Puller an.

Shorr nickte. »Ganz recht.«

»Die Zwölfte MP hat ihr Hauptquartier in Fort Lee«, erklärte Hull. »Wir bilden zugleich das Büro der Militärstrafverfolgungsbehörde an der JBLE. Ich bin mal da, mal dort. Prince George County ist nicht allzu weit von Tidewater entfernt.«

Wieder nickte Puller. Das alles war ihm bekannt. »Was steht in dem Brief?«

Er fragte es mit einem flauen Gefühl im Magen, denn sein Vater hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Brief von seiner Schwester in Florida bekommen. Puller war daraufhin in den Sunshine State aufgebrochen und wäre beinahe nicht mehr lebend zurückgekehrt.

»Der Brief war an unser CID-Büro adressiert. Geschrieben hat ihn eine Lynda Demirjian.« In Hulls Erklärung schwang die Frage mit, ob Puller der Name dieser Frau etwas sagte. »Erinnern Sie sich an sie?«

»Ja. Aus Fort Monroe. Ich war noch ein kleiner Junge.«

»Richtig. Sie hat in Ihrer Nähe gewohnt, als Ihr Vater dort stationiert war – damals, bevor die gesamten Aktivitäten nach Fort Eustis verlegt wurden. Lynda war eine Freundin Ihrer Familie. Genauer gesagt, war sie mit Ihrer Mutter befreundet.«

Puller dachte an die Zeit vor dreißig Jahren und sah in seiner Erinnerung eine kleine, füllige Frau mit hübschem Gesicht vor sich, die gern gelächelt und die besten Kuchen gebacken hatte, an die Puller sich erinnern konnte.

»Warum schreibt sie an die CID?«

»Leider ist sie schwer krank. Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium.«

»Das tut mir aufrichtig leid.« Puller warf einen Blick auf den Brief.

»Sie hat diesen Brief an die CID geschrieben, weil sie nicht mehr lange zu leben hat. Sie möchte etwas loswerden, das sie schon lange beschäftigt.«

Puller wurde ungeduldig. »Und was hat das mit mir zu tun? Ich war damals ein Junge.«

»Ihr Bruder ebenfalls«, warf Shorr ein.

»Sie gehören nicht zur MP, Sir«, stellte Puller fest.

Shorr schüttelte den Kopf. »Aber man war offenbar der Meinung, es könnte nicht schaden, einen Offizier zu unserem … nun ja, Treffen zu schicken.«

»Warum das?«, fragte Puller.

»Mrs. Demirjians Ehemann Stan hat mit Ihrem Vater in Fort Monroe gedient. Natürlich ist er längst im Ruhestand. Erinnern Sie sich an ihn?«

»Ja. Er war mit meinem Vater in Vietnam. Sie haben sich lange gekannt. Aber können Sie mir jetzt endlich verraten, was in dem Brief steht?«

»Vielleicht lesen Sie ihn am besten selbst, Chief«, schlug Hull vor und reichte ihm den Brief. Er war drei Seiten lang und allem Anschein nach in einer Männerhandschrift verfasst.

»Mrs. Demirjian hat ihn nicht selbst geschrieben?«, fragte Puller.

»Nein, sie ist schon zu schwach. Sie hat den Brief ihrem Mann diktiert.«

Puller breitete die Blätter auf dem kleinen Tisch neben seinem Stuhl aus und begann zu lesen. Die beiden Männer beobachteten ihn aufmerksam.

Die Sätze waren lang und weitschweifig; Puller konnte sich vorstellen, wie die todkranke Frau sich bemüht hatte, ihre Gedanken zu sammeln. Dennoch waren sie eher ungeordnet. Wahrscheinlich stand sie unter der Wirkung starker Medikamente, als sie den Brief diktiert hatte. Puller fand die Entschlossenheit dieser Frau bewundernswert.

Nach ein paar einleitenden Worten kam Puller zum eigentlichen Inhalt des Briefes.

Seine Hand begann zu zittern.

Es war, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt.

Er las weiter, immer schneller, und sein fassungsloses Gesicht spiegelte den atemlosen Wortschwall der sterbenskranken Frau wider.

Als er fertig war, blickte er auf.

Hull und Shorr sahen ihn erwartungsvoll an.

»Die Frau behauptet, mein Vater habe meine Mutter umgebracht.«

»Ja«, bestätigte Hull. »Genau das.«

4

»Das ist doch absurd!«, entfuhr es Puller. »Als meine Mutter verschwunden ist, war mein Vater außer Landes.«

Ted Hull warf Colonel Shorr einen kurzen Blick zu und räusperte sich. »Wie gesagt, wir haben ein bisschen nachgeforscht …«

»Moment. Wann ist der Brief angekommen?«

»Vor einer Woche.«

»Und Sie erzählen mir das erst jetzt?«

»Chief Puller«, warf Shorr ein, »mir ist klar, dass das nicht einfach für Sie ist.«

»Da haben Sie verdammt recht!«, fuhr Puller auf, rief sich dann aber in Erinnerung, dass sein Gegenüber einen deutlich höheren militärischen Rang innehatte, und fügte ruhiger hinzu: »Das ist … unbegreiflich, Sir.«

»Eben weil es sich um eine so schwerwiegende Anschuldigung handelt, wollten wir der Sache erst nachgehen, bevor wir Sie damit konfrontieren.«

»Und was haben Ihre Ermittlungen ergeben?«

»Ihr Vater war tatsächlich im Ausland, kam aber einen Tag früher als geplant zurück. Er war bereits in Virginia, in der Gegend von Fort Monroe, als Ihre Mutter verschwand.«

Puller blieb einen Moment lang das Herz stehen. »Das beweist noch lange nicht, dass er etwas damit zu tun hat.«

»Keineswegs. Aber wir haben uns die damalige Ermittlungsakte angesehen. Ihr Vater hatte angegeben, zum fraglichen Zeitpunkt außer Landes gewesen zu sein. Das wurde durch die vorliegenden Dokumente bestätigt. Aus diesem Grund kam man damals zu dem Schluss, dass er in keiner Weise etwas mit dem Verschwinden Ihrer Mutter zu tun haben könne.«

»Und warum behaupten Sie jetzt etwas anderes?«

»Weil wir zusätzliche Unterlagen und Belege ausfindig gemacht haben, aus denen hervorgeht, dass Ihr Vater mit einem Privatjet zurück in die Staaten geflogen ist und nicht mit einem Transportflugzeug des Militärs, wie es ursprünglich geplant war.«

»Ein Privatjet? Wem soll der gehört haben?«

»Das wissen wir noch nicht. Sie dürfen nicht vergessen, das alles ist dreißig Jahre her.«

Puller rieb sich die Augen. Es war unfassbar, womit man ihn hier konfrontierte. »Ich weiß, wie lange es her ist. Ich war ja dabei. Mein Bruder und ich. Und mein Vater. Es war die Hölle für uns. Es hat die Familie auseinandergerissen.«

»Das kann ich verstehen«, beteuerte Hull. »Aber der Punkt ist, Ihr Vater hat damals angegeben, zum fraglichen Zeitpunkt außer Landes gewesen zu sein, die Unterlagen belegen jedoch etwas anderes.« Er ließ die Konsequenzen seiner Feststellung unausgesprochen im Raum stehen.

Es war Puller, der sie in Worte fasste. »Sie behaupten also, er hat gelogen? Kann es nicht sein, dass die Unterlagen, die Sie gefunden haben, fehlerhaft sind? Dass sein Name auf der Passagierliste stand, beweist noch nicht, dass er tatsächlich im Flugzeug gesessen hat.«

»Natürlich müssen wir unsere Nachforschungen vertiefen«, entgegnete Hull.

Puller sah die beiden Männer an. »Sie haben noch mehr in der Hand, nicht wahr? Sonst würden Sie nicht hier sitzen.«

»Ich hätte beinahe vergessen, womit Sie Ihr Geld verdienen«, räumte Shorr ein. »Sie sind natürlich damit vertraut, wie solche Ermittlungen ablaufen.«

»Also, was haben Sie noch in der Hand, Colonel?«

»Darüber können wir im Moment nicht sprechen, Chief«, stellte Hull klar. »Die Ermittlungen laufen noch.«

»Sie haben also Ermittlungen eingeleitet, aufgrund eines Briefes, den eine sterbenskranke Frau über Ereignisse geschrieben hat, die dreißig Jahre zurückliegen?«

»Und aufgrund der Tatsache, dass Ihr Vater nicht im Ausland war, wie er damals angegeben hat«, rechtfertigte sich Hull. »Hören Sie, Chief, wenn wir nicht auf diesen Punkt gestoßen wären, würden wir dieses Gespräch gar nicht führen. Es ist ja nicht so, dass es mir Spaß macht, eine Army-Legende vom Sockel zu holen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Damals hat man vielleicht Dinge unter den Teppich gekehrt, die man nicht hätte verschweigen sollen. Die Army hat immer wieder Prügel eingesteckt, weil sie nicht transparent genug war.« Er hielt inne, blickte zu Shorr.

Der übernahm das Wort. »Es wurde eine offizielle Ermittlung eingeleitet, Chief Puller, und jetzt nehmen die Dinge ihren Lauf. Aber wenn keine neuen Hinweise gefunden werden, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendetwas dabei herauskommt. Die Army hat nicht vor, den Ruf Ihres Vaters zu ruinieren, nur weil eine todkranke Frau einen Brief schreibt.«

»Von welchen neuen Hinweisen sprechen Sie?«, hakte Puller nach.

»Wir haben Ihnen das alles anvertraut, weil wir der Meinung waren, Sie sollten es wissen, Chief Puller. Nicht mehr und nicht weniger«, stellte Shorr unmissverständlich klar. »Die Sache liegt jetzt bei der CID, aber wir wollten Sie über den Stand der Dinge informieren, vor allem über den Brief. In Anbetracht des Gesundheitszustands Ihres Vaters hielten wir es für angebracht, Sie über die Situation in Kenntnis zu setzen.«

Puller wusste nicht, was er erwidern sollte.

»Wir werden Sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal dazu befragen müssen, Chief. Auch Ihren Bruder. Und Ihren Vater, versteht sich.«

»Mein Vater ist dement.«

»Das ist uns klar. Aber wir haben gehört, dass er lichte Momente hat.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

Shorr erhob sich, Hull ebenso. »Danke für Ihre Zeit, Chief«, sagte der Colonel. »Agent Hull wird sich bei Ihnen melden.«

»Haben Sie mit Lynda Demirjian gesprochen?«, fragte Puller. »Und mit ihrem Mann?«

»Noch einmal, die CID wird Sie kontaktieren«, entgegnete Hull ausweichend. »Danke für Ihre Zeit. Es tut mir leid, dass ich Ihnen etwas so Unerfreuliches mitteilen musste.«

Die beiden Männer gingen hinaus, während Puller dasaß und auf den Fußboden starrte.

Nach einigen Augenblicken zog er sein Handy hervor und tippte eine Nummer ein.

Es läutete zweimal, ehe Bobby sich meldete.

»Hallo, kleiner Bruder. Hör mal, es passt gerade nicht so gut. Falls du in Virginia bist, bin ich dir acht Stunden voraus. Kann ich dich in …«

»Bobby, wir haben ein Riesenproblem. Es geht um Dad.«

Bobby Puller zögerte keine Sekunde. »Was ist passiert?«

Puller erzählte seinem älteren Bruder, was sich zugetragen hatte.

Bobby schwieg eine Zeit lang. Alles, was John hörte, war sein Atmen. Dann fragte er: »Kannst du dich an den Tag erinnern?«

John lehnte sich im Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe draußen gespielt. Ich weiß noch, dass ich zum Fenster geschaut und Mom gesehen habe, im Bademantel, ein Handtuch um den Kopf. Sie muss gerade aus der Dusche gekommen sein.«

»Nein, ich meine später.«

»Später? Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«

»Das glaube ich nicht. Wir haben noch zu Abend gegessen, danach ging Mom weg. Die Tochter unserer Nachbarn kam zum Aufpassen rüber.«

Puller richtete sich auf. »Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«

»Wir haben auch nie wirklich darüber gesprochen, John.«

»Wohin ist Mom an dem Abend gegangen?«

»Ich weiß es nicht. Zu einer Freundin, nehme ich an.«

»Und sie ist nicht mehr zurückgekommen?«

»Offensichtlich nicht«, erwiderte Bobby ein wenig gereizt. »Und jetzt hören wir plötzlich, dass Dad schon in der Gegend war, als es passierte. Der Polizei hat er erzählt, er wäre noch unterwegs gewesen.«

»Dad hat das ausgesagt? Woher weißt du das?«

»Weil CID-Agenten bei uns zu Hause waren, gleich am nächsten Tag. Dad war auch schon zu Hause. Sie haben mit ihm gesprochen. Wir waren oben, aber ich habe alles mitgehört.«

»Warum erinnere ich mich an nichts davon, Bobby?«

»Du warst gerade mal acht. Du hast gar nicht verstanden, worum es geht.«

»Du warst selbst noch keine zehn.«

»Ich war nie ein richtiges Kind, John, das weißt du. Außerdem war es eine traumatische Zeit für uns. Vielleicht hast du ja etwas mitbekommen, hast es aber verdrängt. Ein Selbstschutzmechanismus.«

»Sie werden uns vernehmen. Auch Dad.«

»Na und? Uns können sie gern vernehmen. Und bei Dad wird es ihnen nicht viel bringen.«

»Vielleicht versteht er trotzdem, worum es geht. Dass sie ihn verdächtigen, Mom umgebracht zu haben.«

»Das werden wir kaum verhindern können, John. Es ist eine offizielle Ermittlung. Du weißt besser als jeder andere, was das heißt. Du kannst nichts dagegen tun.«

»Ich muss einen Anwalt für Dad finden.«

»Kennst du einen guten?«

»Shireen Kirk. Sie war lange Militärjuristin und hat vor Kurzem eine eigene Kanzlei eröffnet.«

»Dann solltest du sie anrufen.«

»Erinnerst du dich an Lynda Demirjian?«, fragte John.

»Ja. Nette Frau, hat leckeren Kuchen gebacken. Sie und Mom waren gut befreundet.«

»Kann es sein, dass Mom sie an dem Abend besucht hat?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bobby. »Mom hat mir nicht gesagt, wohin sie geht.«

»Lynda Demirjian ist überzeugt, dass Dad sie umgebracht hat.«

»Ich frage mich, wie sie darauf kommt. Okay, die CID hat herausgefunden, dass Dad schon im Land war, als es passierte, obwohl er das Gegenteil behauptet hat. Aber das ist erst herausgekommen, nachdem Lynda diesen Brief geschrieben hat. Sie muss andere Gründe für ihre Behauptung haben.«

»Ich werde herausfinden, welche Gründe das sind.«

»Glaubst du wirklich, sie werden dich ermitteln lassen? Es geht um Dad. Verdammt, die haben dich auch an meinen Fall nicht rangelassen, falls du dich erinnerst.«

»Und du erinnerst dich sicher, dass es mich nicht wirklich davon abgehalten hat, mich mit deinem Fall zu beschäftigen. Kein bisschen.«

»Es hätte dich leicht deine Laufbahn kosten können. Ich rate dir, lass die Finger davon.«

»Wir können nicht untätig zusehen, Bobby.«

»Also gut. Vielleicht kann ich ein paar Dinge checken. Ich melde mich, falls es etwas Interessantes gibt.«

»Du glaubst aber nicht, dass Dad …« Puller konnte es nicht aussprechen.

»Die Wahrheit ist, wir können es nicht mit Sicherheit wissen. Ich nicht, und du auch nicht.«

5

Es war Paul Rogers’ dritter Tag in Freiheit. Und er hatte die Zeit genutzt. Er war bereits tausend Meilen vom Gefängnis entfernt.

Er hatte einen Bericht über den Doppelmord in der Gasse gefunden. In der Zeitung stand, die Polizei gehe von einem tödlichen Streit eines jungen Paares aus. Nachdem die beiden zuvor noch gesehen worden waren, wie sie sich in einem Bus geküsst hatten, müsse es zu einer Auseinandersetzung gekommen sein.

Ja, dachte Rogers, eine Auseinandersetzung gab es tatsächlich.

An seinem zweiten Tag in Freiheit hatte er einen klapprigen Chevy vom Gelände einer Autowerkstatt gestohlen und sich dazu auf einem Abschlepphof Nummernschilder besorgt. An diesem Tag hatte er sechshundert Meilen zurückgelegt, und heute bereits dreihundert.

Einen großen Teil seines Geldes hatte er für Benzin und Essen ausgegeben. Geschlafen hatte er im Wagen, nachdem er einen abgeschiedenen Platz gefunden hatte. Er hatte sich Schuhe gekauft, die passten, außerdem eine zweite Hose, ein Hemd, eine neue Jacke, Unterwäsche, Socken und eine Baseballmütze. Dazu Verbandszeug für seinen Arm und eine billige Lesebrille, obwohl seine Sehschärfe exzellent war und er im Dunkeln fast so gut sehen konnte wie eine Katze.

Schließlich hatte er sich noch einen Haarschneider und einen Rasierer besorgt. Der Bart war nun ab, sein Kopfhaar ebenfalls. Sogar die Augenbrauen hatte er abrasiert.

Im Spiegel erkannte Rogers sich kaum wieder. Er hoffte, dass es bei anderen genauso war, vor allem bei der Polizei.

Die Narbe hinten links am Kopf war nun sichtbar. Er spürte sie deutlich, wenn er mit dem Finger darüberfuhr.

Rogers hatte noch zweihundert Dollar übrig und einen weiten Weg vor sich. Unterwegs machte er bei einem Diner halt. Während er an der Theke aß, behielt er durch den großen Spiegel an der Wand das Geschehen hinter sich im Auge.

Zwei Polizisten kamen herein und setzten sich an einen Tisch in der Nähe. Rogers zog sich die Kappe tiefer ins Gesicht und konzentrierte sich auf sein Essen und die Zeitung, die er vor sich liegen hatte.

In den letzten zehn Jahren hatte sich die Welt in mancher Hinsicht verändert. In anderer Hinsicht überhaupt nicht.

In vielen Ländern herrschte Krieg.

Terroristen ermordeten unschuldige Menschen.

Die amerikanische Politik war geprägt von Stillstand und Blockade.

Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer.

Die Mittelschicht schrumpfte zusehends.

Alle schienen irgendwie wütend zu sein, und viele brachten ihre Wut lautstark zum Ausdruck.

Der Anfang vom Ende, dachte Rogers, obwohl es ihm scheißegal war, dass es mit den USA und der Welt insgesamt bergab ging. Er musste einfach nur zu seinem Ziel gelangen. Unterwegs gab es noch ein paar Dinge zu klären, aber wenn er dort war, würde sein Plan feststehen.

Sein einziges Problem bestand darin, dass viel Zeit vergangen war. Nicht bloß zehn Jahre – das wäre keine große Sache gewesen. Nein, es waren insgesamt drei Jahrzehnte. Leute zogen um. Leute starben. Firmen machten dicht. Die Zeit blieb nicht stehen, Dinge änderten sich. Die Bedingungen konnten heute ganz andere sein als damals.

Dennoch konnte und wollte er nicht zögern. Es gab keinen Grund, warum er das, was er sich so lange vorgenommen hatte, nicht in die Tat umsetzen sollte.

Absolut keinen Grund.

Nachdem er gegessen hatte, legte er das Geld auf die Theke und marschierte an den Cops vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er schloss die Tür hinter sich und ging zum Auto. Als er losfuhr, wurde es bereits dunkel.

Die Wunde am Arm verheilte gut. Sie hatte sich nur minimal entzündet. Der Verband war unter seiner neuen Jacke verborgen.

Er fuhr weiter ostwärts.

Schlaf brauchte er nicht viel. Eine Nachtruhe legte er nur deshalb ein, weil er seinen Rhythmus an den der anderen anpassen wollte, um nicht aufzufallen. Es gab so viele Kleinigkeiten, mit denen er unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Und wenn Leute auf ihn aufmerksam wurden, vor allem solche mit Dienstwaffen, war er geliefert. Aber das würde er nicht zulassen.

Nie mehr.

Er hob die Hand an den Kopf, fuhr mit dem Finger über die Narbe. Er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als der Eingriff vorgenommen worden war. Über dreißig Jahre war das her. Damals hatten sie unglaubliche Dinge mit ihm angestellt.

Seine Gedanken quälten ihn – auch jene, die er nicht mehr hatte, nicht mehr haben konnte. Bei dem Vorfall in der Gasse, als die Frau ihn angefleht hatte, sie zu verschonen, hatte er sich plötzlich an etwas erinnert. Es war nur ein winziger Splitter gewesen, der flüchtige Hauch einer Erinnerung, an die er nicht herankam, weil eine unüberwindliche Mauer ihn daran hinderte. Aber da war etwas. Irgendetwas, das er anders gemacht hätte, wenn er noch der wäre, der er einmal gewesen war.

Doch dieser Mann war er nicht mehr. Nicht annähernd. Und er würde nie mehr als den Hauch einer Erinnerung daran haben.

Das hatten sie ihm damals natürlich nicht gesagt. Warum sollten sie auch? In einer Welt, in der jeder nur so viel wusste, wie er zur Bewältigung seiner Aufgaben wissen musste, gab es keinen Grund, es ihm zu verraten.

Er nahm die Hand von der Narbe am Kopf. Es gab ohnehin keine Hoffnung für ihn, zu seinem früheren Leben zurückzukehren.

Er schlief im Auto, in einer Seitenstraße einer Stadt, in der er sich nicht lange aufhalten würde.

Zwei Tage später war er seinem Ziel wieder achthundert Meilen näher gekommen. Bestimmt gab es mittlerweile einen Haftbefehl gegen ihn, da er nicht zum vorgeschriebenen Treffen mit dem Bewährungshelfer erschienen war. Vielleicht hatten sie die Bewährungsunterlagen gefunden, die er in den Mülleimer bei der Bushaltestelle geworfen hatte. Das zeigte ihnen mehr als deutlich, dass er nicht vorhatte, die Auflagen zu erfüllen, die an seine vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis geknüpft waren.

So wie er es sah, hatte er genug bezahlt für das, was er getan hatte, indem er zehn Jahre in einem Käfig eingesperrt gewesen war.

Er hatte nur noch fünfzig Dollar übrig.

Am nächsten Morgen fuhr er zu einer Baustelle und bot seine Dienste an. Für hundert Dollar würde er zehn Stunden arbeiten.

Seine Aufgabe bestand darin, Zementsäcke von einem Lastwagen zu einem Lastenaufzug in einer Gebäudeecke zu schleppen, die für die großen Laster zu schmal war. Drei andere Männer waren für die gleiche Arbeit eingeteilt, alle in den Zwanzigern. Rogers trug mehr 25-Kilo-Säcke als die drei anderen zusammen. Er sprach kein Wort und beachtete die anderen gar nicht. Zehn Stunden lang schleppte er Zementsäcke die dreißig Meter vom Lkw zum Aufzug, mit einer zwanzigminütigen Pause, um ein Sandwich zu essen und einen Kaffee zu trinken.

»Danke, dass du uns beschissen aussehen lässt, Opa«, ätzte einer der drei, als sie mit der Arbeit fertig waren.

Rogers drehte sich zu dem Mann um. Sein Blick fiel auf die Drosselvene, die sich unter der Fettschicht abzeichnete. Er hätte die Ader mit zwei Fingern zerquetschen und zuschauen können, wie der Mann innerhalb einer Minute verblutete. Aber was hätte das für einen Sinn gehabt?

»Gern geschehen«, sagte er.

Als der junge Kerl verächtlich schnaubte, fixierte Rogers ihn eindringlich. Er sah ihn nicht wirklich an, blickte mehr durch ihn hindurch, fixierte eine Stelle auf der anderen Seite seines Schädels.

Der Mann blinzelte. Sein verächtlicher Blick verschwand, und er zog eilig mit seinen Kumpanen ab.

Da tat Rogers etwas sehr Seltenes.

Er lächelte. Nicht etwa, weil er den jungen Kerl eingeschüchtert hatte. Er hatte schon viele Männer eingeschüchtert und nie darüber gelächelt.

Er ging zurück zu seinem Wagen, stieg ein, steckte das Geld ein und warf einen Blick auf die Straßenkarte, die er gekauft hatte.

Die Grenze zu Virginia war noch zweihundert Meilen entfernt. Und bis zu dem Ort, zu dem er wollte, waren es noch einmal gut dreihundert Meilen.

Rogers hätte allen Grund gehabt, müde und erschöpft zu sein, doch er war es nicht. Er war überhaupt nicht, wie und was er sein sollte, in keiner Hinsicht.

Er war, was er war – was immer das sein mochte.

Bei einem Diner hielt er an und ging hinein. Er bestellte etwas zu essen, trank seinen Kaffee und zwei Gläser Wasser und ließ seine Gedanken zu dem Punkt zurückschweifen, an dem alles angefangen hatte.

Er ballte eine Hand zur Faust, betrachtete sie. Die Haut war nicht die seine; sie bestand aus einem künstlichen Material, aber damit konnte er umgehen. Weit weniger greifbar war das andere, das sie ihm eingepflanzt hatten. Er konnte es nicht beeinflussen und nicht entfernen, also gehörte es in gewisser Weise zu ihm.

Das ist, was ich bin. Paul Rogers. Das Produkt eines geheimen Plans.

Die Narben waren mit den Jahren verblasst, vor allem an den Fingern. Aber für Rogers würde es immer so sein, als hätte man sie ihm eben erst zugefügt.

Er erinnerte sich, wie er sich in diesem Bett aufgesetzt hatte, in blutige Verbände gewickelt. Und er hatte sich … anders gefühlt.

Sein altes Selbst, sein richtiges Selbst, war für immer verschwunden.

Er rieb seinen Ring aus Platin, den ihm jemand gegeben hatte, der für ihn wichtig gewesen war.

Innen war etwas eingraviert. Rogers musste nicht nachsehen; die Worte hatten sich in sein Gehirn gebrannt.

Zum Wohle aller.

Er hatte einmal an diese Worte geglaubt. Aber das war damals gewesen, und jetzt war jetzt.

Heute glaubte er an nichts mehr.

Er aß, den Kopf tief gesenkt. Er war hungrig, konnte aber sehr lange überleben, ohne zu essen und zu trinken. Er würde noch durchhalten, wenn ein durchschnittlicher Mann längst an Entkräftung oder Dehydrierung gestorben wäre. Genauso war es mit dem Schlafen. Nach zwei Wochen ohne Schlaf begann ein normaler Mann zu halluzinieren. Wenig später war er tot, weil das Gehirn und die anderen Organe nach und nach ausfielen.

Aber das waren rein physiologische Vorgänge. Es kam darauf an, diese Prozesse zu verlangsamen, wie bei einem Tier im Winterschlaf. Von den Tieren konnte der Mensch eine Menge lernen, was das Überleben betraf. Auf diesem Gebiet waren Tiere dem Menschen weit überlegen.

Im Grunde bin ich kein Mensch mehr, sondern ein wildes Tier, eine gottverdammte Bestie, vielleicht die gefährlichste Kreatur überhaupt, weil ich außer diesem Unbeherrschbaren in mir noch mein menschliches Gehirn habe.

Rogers aß zu Ende, lehnte sich zurück und rieb sich die Narbe am Kopf. Als er einen Schluck Kaffee nahm, verzog er das Gesicht und atmete scharf ein.

Der Schmerz kam ohne Vorwarnung.

Es war der einzige Schmerz, den er nicht ignorieren konnte. Die Wunde am Arm machte ihm nichts aus. Er hatte den Schnitt kaum gespürt. Der Schmerz im Kopf aber war etwas vollkommen anderes.

Sie hatten es ihm nie wirklich erklären können, obwohl es doch sein Gehirn war. Das wichtigste Organ, das er besaß. Das, was ihn zu ihm selbst machte. Auch wenn es in seinem Fall bewirkte, dass er nicht mehr er selbst war.

Er bezahlte die Rechnung, ging hinaus zum Wagen und fuhr ans andere Ende der kleinen Stadt. Dort parkte er, um ein paar Stunden Nachtruhe einzulegen.

Während die Zeit verging, lag er in der Dunkelheit und starrte ans Autodach. Es zeigte deutliche Abnutzungsspuren, jede Menge Flecken und Kratzer.

Auch bei Rogers hatten die Jahre ihre Spuren hinterlassen, doch er hatte sich nie energiegeladener gefühlt als jetzt.

Erst in seinem letzten Jahr im Gefängnis waren ihm bestimmte Bereiche seines Gehirns wieder zugänglich geworden. Deshalb hatte er seine ganze Kraft und Entschlossenheit zusammengenommen und vor dem Bewährungsausschuss die richtigen Dinge gesagt. Er hatte sich reuig gezeigt, hatte beteuert, aus seinen Fehlern gelernt zu haben und in Zukunft ein gutes, produktives Leben führen zu wollen. Er war sogar aufrichtig gewesen, zumindest in vielen Belangen. Aus seinen Fehlern hatte er tatsächlich gelernt. Und er wollte produktiv sein. Sogar ein paar Tränen hatte er sich abgerungen.

Doch Reue empfand er nicht. Zu einer solchen Emotion war er gar nicht mehr fähig.

Er hatte nur noch ein Ziel.

Und dieses Ziel war, so hoffte er, nur noch fünfhundert Meilen entfernt.

Er würde an den Anfang zurückkehren, um zum Ende zu gelangen.

Aber was war mit den Überresten seines alten Ich? Mit jenem Bereich seines Gehirns, von dem sie ihn getrennt hatten und den er erst vor Kurzem wiedergefunden hatte?

Er konzentrierte sich darauf.

Der Mann war jung, noch keine zwanzig. Nett, freundlich, vertrauensselig.

Das war sein Fehler gewesen. Das blinde Vertrauen.

Es war immer die gleiche Geschichte: ein Fremder in einem fremden Land. Keine Freunde, keine Verbündeten, niemand, an den er sich wenden konnte.

Er war gekommen, weil er sich ein besseres Leben erhofft hatte, wie Millionen vor ihm.

Ein besseres Leben hatte er nicht gefunden. Es hatte vielmehr damit geendet, dass ein anderer in seinem Körper lebte. Er wusste es und konnte es dennoch nicht beeinflussen. Er konnte nicht wieder der Mensch werden, der er einst gewesen war. Er hatte es versucht. Im vergangenen Jahr, als es ihm endlich gelungen war, die Mauer zu durchbrechen. Damals hatte er den verzweifelten Versuch unternommen, die Faust zu öffnen und sich zu befreien von diesem Drang, andere zu verletzen, zu verstümmeln, zu töten.

Doch er hatte keine nennenswerten Fortschritte gemacht.

Dieser Penner auf der Baustelle hatte Glück gehabt, dass es Rogers irgendwie gelungen war, die Sache mit einer sarkastischen Bemerkung abzutun, statt sie mit einem tödlichen Hieb zu beenden.

Eigentlich war es eine läppische Geschichte. Unbedeutend, uninteressant.

Doch für ihn hatte es sich wie ein Sieg angefühlt, dass er sich zurückgehalten hatte.

Deswegen hatte er gelächelt.

Eine gewisse Kontrolle ist mir geblieben. Ein klein wenig nur, aber immerhin so viel, dass ich nicht jedes Mal gleich zuschlagen muss. Ich kann mich umdrehen und weggehen.

Nachdem er im Gefängnis mit den Männern aneinandergeraten war, die ihm ihren Willen hatten aufzwingen wollen, hatten sie ihn in eine Einzelzelle gesteckt. Es war für alle Beteiligten besser gewesen, dass er allein war. Kein Wärter wollte noch einmal eingreifen müssen, wenn Paul Rogers in eine Schlägerei geriet.

Danach hatte sich niemand mehr mit ihm angelegt. Niemand hatte das Monster in ihm gereizt, das dicht unter der Haut lauerte.

Doch als Rogers nun die Augen schloss, um auszuruhen, kehrten seine Gedanken zu dem jungen Mann zurück, der eben erst in diesem Land angekommen war, mit einem anderen Namen und einer vollkommen anderen Vorstellung von seiner Zukunft. Ein netter junger Mann, dem die Welt offenstand.

Diesen Mann gab es längst nicht mehr. Geblieben war das Monster.

Und das Monster hatte noch eine Sache zu erledigen.

6

Puller saß auf dem Stuhl, den Blick auf seinen Vater gerichtet, der immer noch schlief.

Colonel Shorr und Agent Hull waren schon vor längerer Zeit gegangen.

Jetzt, am späten Abend, war es still im Veteranenkrankenhaus. Puller war in das Zimmer seines Vaters zurückgekehrt und sah ihm beim Schlafen zu, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte.

Als Puller senior hierhergekommen war, hatte er noch des Öfteren lichte Momente gehabt. Es hatte aber nicht mehr gereicht, um allein leben zu können. Zu groß wäre das Risiko gewesen, dass er das Haus niederbrannte, indem er eine Suppendose in die Mikrowelle stellte oder den Gasherd aufdrehte, um die Küche zu beheizen.

Puller hatte sich damals auf ein Spiel eingelassen. Er war in die Rolle des »XO« geschlüpft, des ausführenden Offiziers seines Vaters, der sich täglich zum Dienst meldete und sich von dem Alten herumkommandieren ließ. Er war sich dabei ziemlich blöd vorgekommen, aber die Ärzte hatten gemeint, es werde seinem Vater den Übergang in das nächste Stadium der Krankheit erleichtern. Also war Puller eine Zeit lang dabeigeblieben.

Heute war das nicht mehr nötig. Sein Vater hatte das nächste Stadium erreicht. Die Ärzte meinten, dass es kein Zurück mehr gäbe.

Es waren triste Aussichten für einen Drei-Sterne-General, der eigentlich einen vierten Stern hätte bekommen müssen, und die Medal of Honor noch dazu. Aber die Mächtigen, die im militärischen Bereich genauso ihre Spielchen trieben wie im zivilen Leben, hatten ihm den vierten Stern und die höchste militärische Auszeichnung der amerikanischen Regierung vorenthalten.

Dennoch war Puller senior eine Legende in den Streitkräften, wo man ihn immer noch als »Durchbruch-Puller« kannte. Schon als Kapitän des Basketballteams in West Point hatte er seine herausragenden Führungsqualitäten gezeigt. Sein Team hatte nie die Meisterschaft gewonnen, aber jede Mannschaft, die Pullers Team besiegt hatte, musste sich irgendwie doch als Verlierer gefühlt haben. Puller ging mit der gleichen Verbissenheit und demselben unbeugsamen Siegeswillen in jede Auseinandersetzung, ob auf dem Schlachtfeld oder auf dem Basketballplatz. Wenn man gegen ihn antrat, war es immer wie eine Schlacht.

Kurz nach dem Koreakrieg besuchte er die Militärakademie in West Point und bedauerte, dass der Krieg zu Ende war, bevor er Gelegenheit hatte, dort zu kämpfen.

Als Kommandeur in Vietnam hatte er kaum je ein Gefecht verloren.

Seine Luftlandedivision, die 101. Airborne, auch als »Screaming Eagles« bekannt, bestand aus zehn Infanteriebataillonen und einem halben Dutzend Artillerieeinheiten, unterstützt von drei Fliegerbataillonen mit Kampfhubschraubern und Transportflugzeugen. Sie waren 1967 in Vietnam eingetroffen und hatten sich quer durch das zentrale Hochland gekämpft. Einer ihrer berühmtesten Einsätze war die Schlacht um Hügel 937 gewesen, besser bekannt als »Hamburger Hill«. Puller senior hatte mitten im Kampfgeschehen gestanden und sein Regiment auf extrem schwierigem Terrain gegen einen verbissen kämpfenden Feind geführt. Er war zweimal verwundet worden, ohne auch nur einmal das Schlachtfeld zu verlassen. Nachdem sie ihn zusammengeflickt hatten, hatte er über Funk weiter seine lautstarken Befehle erteilt und seinen Männern haarklein erklärt, wie sie in das nächste Gefecht zu gehen hatten.

Während seiner Zeit in Vietnam hatte Puller senior alles umgesetzt, was seine Vorgesetzten ihm aufgetragen hatten. Den Boden, den er erkämpft hatte, gab er nicht wieder her. Mehrmals war er drauf und dran gewesen, von einem Feind überrannt zu werden, der den Tod in der Schlacht als Ehre erachtete. Er hatte so manchen feindlichen Soldaten getötet und wäre selbst mehrere Male um ein Haar getötet worden – auch von der eigenen Seite, wenn wieder mal eine verirrte Bombe gefährlich nahe an den Stellungen der Amerikaner explodiert war. Durchbruch-Puller kannte keine Gnade und erwartete keine, und von seinen Männern verlangte er ständig Höchstleistungen.

Die 101. Airborne war die letzte Division, die aus Vietnam abzog, nachdem sie mehr als zwanzigtausend Tote und Verwundete zu verzeichnen hatte – mehr als das Doppelte der Verluste dieser Division im Zweiten Weltkrieg.

Siebzehn Angehörige der 101. wurden für ihren Einsatz in Vietnam mit der Medal of Honor ausgezeichnet. Viele fanden, Puller hätte der achtzehnte sein müssen, darunter alle Männer, die unter ihm gedient hatten. Doch es hatte nicht sein sollen.

Dennoch war er rasch die Karriereleiter hochgeklettert. Als Zwei-Sterne-General war er zum Kommandeur der 101. Airborne Division befördert worden. Er hatte die legendären Fallschirmjäger geprägt wie kaum ein anderer. Noch vor seinem sechzigsten Geburtstag wurde er zum Lieutenant General befördert und bekam seinen dritten Stern.

Man behielt ihn als »Soldatengeneral« in Erinnerung, der stets für seine Leute da war, auch wenn er ihnen und sich selbst alles abverlangte.

Und seinen Söhnen auch, ging es Puller durch den Kopf.

Seine Männer liebten und fürchteten ihn. Vielleicht war es immer mehr Furcht als Liebe gewesen. Und das galt vielleicht nicht nur für die Männer unter seinem Kommando, sondern auch für seine Söhne.

Und nun lag er hier in seinem Bett im Veteranenkrankenhaus und schlief. Seine Tage als Kommandant waren lange vorbei. Es gab niemanden mehr, der auf ihn hörte, nun, da seine Zeit auf Erden sich dem Ende zuneigte.

John Pullers Gedanken wandten sich wieder der Frage zu, die ihn zutiefst beunruhigte. Ist Dad ein Mörder?

Was sein Bruder Bobby ihm erzählt hatte, war genauso unglaublich wie das, was er von Hull und Shorr erfahren hatte.

Wie konnte es sein, dass er den Tag, an dem er seine Mutter zum letzten Mal gesehen hatte, so verzerrt in Erinnerung hatte?

Seine Mutter hatte am Fenster gestanden, ein Handtuch um den Kopf. Und dann … war sie weg gewesen.

Doch nun erzählte ihm Bobby, sie hätten noch zusammen zu Abend gegessen, und dass ihre Mutter erst danach fortgegangen sei. Die Nachbarstochter sei herübergekommen, um auf die beiden Jungen aufzupassen.

Puller erinnerte sich an nichts davon – nur daran, dass seine Mutter am nächsten Morgen nicht mehr da gewesen war. Und an die Militärpolizisten, die zu ihnen nach Hause gekommen waren. Danach war sein Vater hereingestürmt und hatte jeden angebrüllt, der ihm über den Weg lief.

Und sein Dad sollte die Polizei belogen haben?

Puller betrachtete den schlafenden alten Mann.

Warum hätte er das tun sollen?

Weil er tatsächlich seine Frau umgebracht hatte, Johns und Bobbys Mutter?

Das war undenkbar.

Doch Puller hatte in seiner Laufbahn bei der CID genug gesehen, um zu wissen, dass Menschen zu fast allem fähig waren.

Er dachte an seine Kindheit zurück, an die Zeit bei seinen Eltern. Zwar hatten sie sich manchmal gestritten, aber es war nichts Außergewöhnliches oder gar Bedrohliches gewesen. Der Alte war mit seinen Söhnen strenger umgesprungen als mit seiner Frau.