Nur im Weltall ist es wirklich still - Sieglinde Geisel - E-Book

Nur im Weltall ist es wirklich still E-Book

Sieglinde Geisel

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Lese- und Trostbuch für Lärmgeplagte. Wer kennt ihn nicht, den Ärger mit den lauten Nachbarn, der vielbefahrenen Straße und dem Geschrei der Nachtigallen. Schopenhauer, Proust und Kafka klagten über Lärm, Carlyle ließ sich ein schallisoliertes Studierzimmer errichten, bei Kant landete ein zu lauter Hahn im Suppentopf. Doch freilich: Nichts ist persönlicher als die Geräuschempfindung. Was für den einen schön ist, ist für den anderen Tortur. Angeblich kommt eine medizinische Studie zu dem Schluss, dass bei einem Umgebungslärm von 65 Dezibel das Herzinfarktrisiko um über 30 % höher ist als bei 60 Dezibel – allerdings nur bei Männern, bei Frauen nicht. Warum das so ist, weiß niemand. Lärm muss nicht laut sein – auch ein tickender Wecker oder ein tropfender Wasserhahn können einen in den Wahnsinn treiben, während das ohrenbetäubende Brüllen eines Gebirgsbachs als natürlich und damit schön empfunden wird. Nur wer mit Geräuschen umzugehen weiß, kann sie ertragen. Nur im Weltall ist es wirklich still ist ein grundlegendes und dabei höchst unterhaltsames Geräuschbuch, in dem das Verhältnis des Menschen zur Akustik seiner Umwelt über die letzten 2000 Jahre hinweg betrachtet wird. Zahlreiche Ohrenzeugen von Horaz über Lichtenberg, Schopenhauer, Kurt Tucholsky bis John Cage und Hans Magnus Enzensberger kommen zu Wort. Sieglinde Geisel beschreibt auch, was die Menschheit mit und gegen Lärm so alles tut: von der turbulenten Geschichte der Anti- Lärm-Vereine und der Anti-Lärm-Gesetze bis zu dem Paradox, dass die Welt immer lauter wird, weil immer mehr in ihren Autos aus den Städten in die Stille fliehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 149

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



» Buch lesen

» Das Buch

» Die Autorin

» Impressum

Teile dieses Buchs sind 2007 in der Schriftenreihe der

Inhalt

Was ist Lärm? 8

Lärm kommt von unten 14

Der Lärm der Glocken und die Götter 22

Schlachtenlärm 30

Die Lust am Lärm 38

Der Lärm von früher 43

Das Drama des Lärms 51

Die Entdeckung des Lärms 61

Die Begeisterung für den Lärm 77

Wie laut ist zu laut? 89

An der akustischen Mutterbrust 105

In welchem akustischen Raum wollen wir leben? 128

Der Lärm im Kopf 134

Das verbotene Territorium der Stille 143

Leben mit dem Lärm 158

Literaturverzeichnis 163

[Menü]

Der schlimmste Lärm

»Wenn jemand sich die Nägel feilt. Aus irgendeinem Grund machen das viele Frauen morgens in der U-Bahn, da setze ich mich sofort woandershin.«

»Der Schrei eines Tiers, das Schmerzen hat.«

»Ein andauerndes Geräusch, das nicht aufhört. Autobahn zum Beispiel. Aber das gilt natürlich nicht für Geräusche der Natur. Meeresrauschen stört mich gar nicht.«

»Musik, die vor sich hin plätschert, zum Beispiel wenn jemand auf einer Party unkonzentriert auf einer Gitarre herumzupft. Wobei Gitarre sowieso mein absolutes Hass-Instrument ist.«

»Ein aufheulendes Motorrad. Da möchte ich am liebsten eine Pistole ziehen. Ein Schuss – und dann das befriedigende Gefühl, man habe etwas Böses aus der Welt geschafft.«

[Menü]

Was ist Lärm?

Ohne Menschen gibt es keinen Lärm. Die Natur kennt nur Geräusche. Wasser kann tröpfeln, rauschen, tosen; der Wind pfeift, und er versetzt Blätter und Bäume in Schwingungen. Tiere erzeugen ein riesiges Spektrum von Klängen – es reicht vom kaum hörbaren Piepsen einer Maus bis zum Gebrüll des Löwenmännchens, das mit dem Schall sein Revier markiert. Jedes Tier suche sich eine akustische Nische, behauptet der amerikanische Akustiker Bernie Krause. Wenn zwei Tierarten die gleiche Tonhöhe benutzen würden, käme es zu einer Überlagerung der Schallwellen: Die Laute der einen Tierart würden von den Lauten der anderen verdeckt. Da die Fortpflanzung jedoch von der Verständigung abhängt, haben sich in der Evolution jeweils jene Tiere einer Gattung durchgesetzt, die eine Lücke im Frequenzspektrum gefunden hatten. Je mehr Tierarten in einem Habitat beheimatet sind, desto reicher ist der Klang, bis hin zum Extrem des Regenwalds: Hier ist das gesamte Spektrum der hörbaren Frequenzen von Tierstimmen besetzt.

Doch das alles ist kein Lärm. Selbst die lautesten Geräusche, die in der Natur entstehen, wie der Donner oder ein Vulkanausbruch, sind für sich genommen kein Lärm. Dieser entsteht erst im Kopf des Menschen – hier wird entschieden, ob es sich bei einem Geräusch um Lärm handelt. Lärm ist interpretiertes Geräusch, und dazu gehören immer zwei: ein Geräusch und ein Bewusstsein, das auf dieses Geräusch reagiert. Niemand ist bei der Frage nach dem schlimmsten Lärm um eine Antwort verlegen. Doch kaum je erhält man von zwei Menschen die gleiche Antwort. Denn in jedem Kopf wird etwas anderes zu Lärm.

Nicht das Geräusch, sondern die Reaktion darauf entscheidet, wo der Lärm beginnt. Wenn man dem Phänomen des Lärms auf die Spur kommen will, muss man deshalb beim Hörer anfangen. Ganz allgemein kann man sagen: Lärm ist Schall, der irgendjemanden stört, belastet, ängstigt, beunruhigt, ablenkt, aufregt oder nervös macht. Nicht alle Sprachen unterscheiden zwischen Lärm und Geräusch. Mit ›noise‹, ›bruit‹ und ›rumore‹ etwa werden ganz neutral Geräusche bezeichnet, erst in zweiter Linie bedeuten diese Worte auch Lärm.Offenbar reagieren die Deutschen besonders empfindlich auf Lärm, denn die deutsche Sprache hat für Geräusche, die stören, ein besonderes Wort, und zwar ein dramatisches. Etymologisch kommt das Wort Lärm von Alarm, dem alten italienischen Schlachtruf ›all’arme‹ – ›zu den Waffen!‹. Die genaueste und knappste Definition lautet demnach: Lärm ist ein Geräusch, das irgendjemanden alarmiert. Seiner Natur nach ist das Ohr ein Alarm-Organ, von dem in freier Wildbahn maßgeblich das Überleben abhängt, denn bevor der Feind zu sehen ist, ist er zu hören. Das Ohr darf niemals schlafen. Auch in der Nacht filtert es die Geräusche, und ein ungewohnter Laut wird sofort dem Gehirn gemeldet. Noch bevor man überhaupt weiß, was man gehört hat, schießt einem das Blut in den Kopf; das Herz rast, und man sitzt hellwach im Bett, bereit zu Kampf oder Flucht. Ein Adrenalinstoß versetzt den ganzen Körper in Alarmbereitschaft – bei jedem ungewohnten Geräusch aufs Neue.

Doch so entscheidend die Alarmfunktion des Ohrs für das Überleben in der Wildnis auch ist – im modernen Leben des Menschen hat sie ihren Sinn fast völlig verloren. Allenfalls im Straßenverkehr vermag uns das Ohr noch vor Unheil zu bewahren (vorausgesetzt allerdings, wir bewegen uns ohne Kopfhörer durch die Stadt). Kaum je kündigt der Lärm einen Feind an, meist ist es nur ein startendes Flugzeug, ein Pressluftbohrer oder der bellende Hund des Nachbarn. Weil das vegetative Nervensystem jedoch auf die moderne Umwelt mit archaischen Mustern reagiert, können uns selbst die harmlosesten Geräusche seelisch und körperlich massiv unter Stress setzen, ganz so als ginge es jedes Mal um Leben und Tod. Und gar nicht so selten greift tatsächlich jemand zur Waffe. Dann liest man in der Zeitung Meldungen wie diese: »Weil er sich durch Lärm belästigt fühlte, hat ein 52-Jähriger seinen 69 Jahre alten Nachbarn erschlagen. Anschließend zerstückelte er die Leiche und versteckte die sterblichen Überreste im Wald.«

Lärm muss nicht laut sein, um uns zum Wahnsinn zu treiben – ein tickender Wecker, das Tropfen eines Wasserhahns oder das gedämpfte Geräusch des Fernsehers aus der Nachbarwohnung genügen durchaus. Umgekehrt können auch laute Geräusche ein Gefühl der Ruhe vermitteln. Das Rauschen eines Gebirgsbachs etwa würde ein Wanderer auch dann nicht als Lärm bezeichnen, wenn es, in Dezibel gemessen, so laut ist wie der Verkehr auf einer Autobahn, denn aus dem Rauschen eines Bachs macht der Kopf des Wanderers etwas anderes als aus dem Rauschen von Autos. Bei der Frage, ob wir ein Geräusch als Lärm empfinden, spielt seine Ursache eine wichtige Rolle. »Ich bin außerordentlich empfindlich gegen alles Getöse, allein es verliert ganz seinen widrigen Eindruck, sobald es mit einem vernünftigen Zweck verbunden ist«, schreibt Georg Christoph Lichtenberg. Ein Geräusch, dessen Notwendigkeit man einsieht, erträgt man leichter als ein Geräusch, das man für überflüssig und willkürlich hält. Ein Knacken in den Heizungsrohren stört den Schlaf dann besonders stark, wenn man glaubt, mit der Heizung stimme etwas nicht. Erklärt einem der Monteur, dass das Knacken nur deshalb entsteht, weil sich mit der steigenden Temperatur die Metallrohre ausdehnen, stört das Geräusch sofort weniger. Ein Geräusch, das wir verstehen, verliert sein Alarmpotenzial – das Gehirn klassifiziert es nicht mehr in gleichem Maß als Lärm. Ein Lärm, der uns zuvor den Schlaf geraubt hat, verwandelt sich durch unsere Interpretation zu einem Hintergrundgeräusch, das wir vielleicht kaum mehr wahrnehmen.

Doch nicht die Ursache allein bestimmt, ob wir ein Geräusch als Lärm empfinden. Auch unsere innere Einstellung zur Quelle des Geräuschs spielt eine Rolle, denn Lärm ist eine Beziehungsangelegenheit. »Geräusch anhören ist: an fremdem Leben teilnehmen«, stellt, mit einem Seufzer, Kurt Tucholsky fest. Können wir die Nachbarin nicht ausstehen, heult ihr Rasenmäher in unseren Ohren lauter, als wenn wir ein freundschaftliches Verhältnis pflegen. Und: Je weniger Kontrolle man über ein Geräusch hat, desto stärker die Qual. Wir ertragen das Klavierüben des Nachbarn besser, wenn wir wissen, dass unsere Bitte um Ruhe im Notfall erhört wird.

Die meisten Geräusche, die wir als Lärm wahrnehmen, werden von anderen Menschen verursacht. Dies gilt auch für Tiere. Wenn man von einem krähenden Hahn geweckt wird, richtet sich die Wut gegen den Bauern, der ihn krähen lässt. Und der kläffende Hund geht erst recht auf das Konto seines Herrn. »Hundebesitzer sind die rücksichtslosesten Menschen auf der Welt«, schreibt Tucholsky. Seiner Meinung nach sollten Menschen, die Hunde in Mietwohnungen halten, »mitsamt ihrem Köter« aus der Wohnung gejagt werden.

[Menü]

Lärm kommt von unten

Kaum je empfinden wir Geräusche der Natur als Lärm. Das Meeresrauschen entsteht unabhängig vom Menschen, deshalb kann es uns nicht zu einer Antwort drängen – wir sind nicht gemeint. Lärm entsteht erst im Zusammenleben der Menschen, deshalb führt das Nachdenken über den Lärm unweigerlich zu sozialen Fragen. Wer belästigt wen? Und wer darf wen belästigen? Am Lärm entscheidet sich die Machtfrage, denn nur wer Macht hat über andere, darf auch über ihre Ohren herrschen. Die Geräusche der Mächtigen sind per definitionem kein Lärm. Sie alarmieren niemanden, denn sie bestätigen die herrschende Ordnung und haben daher den Anschein der Legitimität. Lärm kommt immer von unten. Wir empören uns über die Geräusche von Bauarbeitern, Saufbrüdern, Straßenmusikern, Motorradfahrern und Halbstarken – weil sie in der sozialen Hierarchie ganz unten stehen, müssen wir ihren Schall nicht hinnehmen.

Die Götter haben Macht über die Menschen, und auch hier gilt das Lärmtabu. In einer der mesopotamischen Überlieferungen der Sintflut wird die Katastrophe als Folge eines Lärmkonflikts zwischen Göttern und Menschen dargestellt. Der sumerische Mythos von Atrahasis geht auf die Zeit von 1800 v. Chr. zurück. Während im Gilgamesch-Epos der einzige Überlebende der Flut Utnapishtim heißt, ist es hier der weise Atrahasis, der durch die Warnung eines Gottes der Flut in einem Boot entgeht – beide sind Vorläufer-Figuren von Noah im Alten Testament. Nach diesem Mythos mussten ursprünglich die Götter alle harte Arbeit verrichten, und das gefiel ihnen gar nicht. Sie erheben sich gegen den Gott Ellil, der seinerseits die großen Götter anruft. Es wird beschlossen, dass die Mutter-Göttin Sterbliche schaffen soll, die für die Götter die mühseligen Arbeiten verrichten müssen. Aus der kleinen Schar von ursprünglich je sieben Männern und Frauen wird mit der Zeit ein großes Volk. Mit der Zahl der Menschen jedoch wächst auch der Lärm, den sie verursachen, und Ellil wird es allmählich zu viel.

»Sechshundert Jahre, weniger denn sechshundert vergingen,

Das Land wurde zu weitläufig, zu zahlreich das Volk.

Das Land lärmte wie ein schnaubender Stier.

Der Gott wurde ruhelos wegen des Getöses,

Ellil musste ihr Lärmen anhören.

Er wandte sich an die großen Götter:

›Das Lärmen der Menschheit ist zu groß geworden,

Ich verliere Schlaf über ihrem Getöse.‹«

Als Gott muss sich Ellil den Lärm der Menschen nicht gefallen lassen. Doch die Seuchen, Dürren und Hungersnöte, die er ihnen schickt, mindern nicht den Lärm der Menschen, sondern nur ihre Arbeitskraft, und so beschließt Ellil, alles in einer Sintflut zu ertränken. Ähnlich wie beim Turmbau zu Babel im Alten Testament hatten die Menschen mit ihrem Lärmen ihre Kompetenzen gegenüber jener Macht überschritten, die sie erschaffen hatte. Bezeichnenderweise ertränkt in diesem Mythos die Sintflut die Menschen nicht nur, sie übertönt sie auch. Durch den Schall, den er über die Erde bringt, bezeugt der Gott Ellil seine Macht.

»Die Flut brüllte wie ein Stier,

Wie der Schrei des Wildesels war das Heulen der Stürme,

Dunkelheit war überall, es war keine Sonne.«

In den Mythen finden seelische Bedürfnisse eine Erfüllung, die der Einzelne selbst oft nicht ausdrücken kann, deshalb sprechen sie heute noch zu uns. Mit der Sintflut, die endlich Stille über die Erde bringt, nehmen wir stellvertretend Rache an denen, deren Lärm wir ausgesetzt sind. Wer unter Lärm leidet, sinnt auf Mord. Man möchte die anderen zum Schweigen bringen, am liebsten für immer – ein Wunsch, dessen Erfüllung Allmacht verspricht. Denn wer die anderen zum Schweigen bringt, herrscht über die Welt.

An der Lizenz zum Lärm lässt sich ablesen, wie die Macht in einer Gesellschaft verteilt ist. Im alten Rom gab es unter den Sklaven einen ›silentiarius‹, der in großen Haushalten mit vielen Sklaven für Ruhe zu sorgen hatte. Im 47. Brief an Lucilius verteidigt Seneca die Sklaven und kommt dabei auch auf ein Redeverbot zu sprechen, das damals offenbar galt: »Aber die unglücklichen Sklaven dürfen ihre Lippen nicht bewegen, und wäre es auch nur, um ein Wort zu sagen. Mit dem Rohrstock wird auch das leiseste Gemurmel unterdrückt. Und selbst ganz unwillkürliche Anfälle wie Husten, Niesen, Schlucken machen dabei keine Ausnahme. Schwer büßen muss jeder, der das Stillschweigen auch nur durch ein Wort unterbricht. Ganze Nächte stehen sie nüchtern und stumm. Kein Wunder also, wenn sie über ihren Herrn reden, da sie vor ihm nicht reden dürfen.« In patriarchalischen Gemeinschaften ist es selbstverständlich, dass der Vater bei Tisch seine Stimme erhebt, während die anderen zu schweigen haben – von den Kindern heißt es gar, man solle sie sehen, aber nicht hören. Ehrfurcht und Demut sind die stillen Tugenden derer, die sich unterordnen sollen, und deshalb ist ihr Lärm eine politische Äußerung. Sobald die Machtlosen laut werden, droht der Umsturz. Die Jugendlichen, die in ihrem Zimmer die Lautsprecher aufdrehen, kündigen den Eltern den Gehorsam auf, und umgekehrt steht ein Lehrer auf verlorenem Posten, wenn es ihm nicht gelingt, lärmende Schüler zur Ruhe zu bringen. Das Machtspiel mit dem Lärm gehört zum Erwachsenwerden, doch in den Straßen wird aus dem Machtspiel Ernst: Kein Volksaufstand ohne Radau und Krawall. Schreien kostet nichts, deshalb ist Lärm die Waffe der Machtlosen und der Motor der Revolutionen. Wer die Macht hat, darf lärmen, und wer lärmt, nimmt sich die Macht – der Lärmrausch ist immer mit einem Machtrausch verbunden. Lärm setzt das Denken außer Kraft, in doppelter Hinsicht: Zum einen verliert eine lärmende Menge ihre Hemmungen, und zum anderen ist sie leicht zu manipulieren. Dies machen sich populistische Bewegungen zu Nutze. Sie erteilen dem Volk eine Lärmlizenz und versetzen es damit in einen Machtrausch, in dem es zu allem bereit ist. Volksferne Diktatoren schweigen, populistische Führer dagegen laden das Volk zum Feiern ein. Massenaufmärsche, Megafone und Hitlers gebrüllte Reden gehörten zum Lärm-Arsenal, mit dem es den Nationalsozialisten gelang, ein Volk zu Mördern zu machen.

Lärm ist als Machtdemonstration deshalb so wirksam, weil man sich gegen den Schall nicht verteidigen kann. Ohne physische Gewalt lässt sich mit Schallwellen ein Territorium besetzen: Wer den Lärm nicht hören will, muss das Feld räumen. Diesen Trick nutzen viele Tierarten, um ihr Revier zu markieren, und auch beim Menschen verbergen sich hinter Lärmkonflikten oft Machtkämpfe. Die Jugendclique, die im Park ihre Boombox aufdreht, genießt mit der lauten Musik auch das erhebende Gefühl, innerhalb der Reichweite des Schalls über die akustische Hoheit zu verfügen. Mit der Bitte, die Musik leiser zu drehen, macht man den Lärmverursachern das Revier streitig, deshalb besteht bei Lärmkonflikten die Gefahr von Handgreiflichkeiten. Viele ziehen es instinktiv vor, sich ein ruhigeres Plätzchen zu suchen.

In den eigenen vier Wänden allerdings ist das nicht möglich, hier kommt der Lärm einer akustischen Enteignung gleich. Die Ohnmacht, die man angesichts der Invasion durch den Schall der anderen erlebt, wird noch gesteigert, wenn der Nachbar seinen Schall als Barrikade benutzt. Ist die Musik laut genug, kann er das Klingeln an der Tür nicht hören – und er will es auch nicht hören. »Durch nichts, aber auch durch nichts kann man Menschen so aus dem Häuschen bringen als dadurch, dass man ihnen verbietet, gewohnten Lärm zu machen«, schreibt Tucholsky. Denn wer sich über den Lärm der Nachbarn beschwert, erlaubt sich seinerseits einen Übergriff auf fremdes Territorium. Er besetzt den Raum des anderen negativ und wird damit ebenfalls zum Aggressor. Wenn man bei jedem Geräusch damit rechnen muss, dass der Nachbar mit dem Besenstiel an die Zimmerdecke klopft, fühlt man sich nicht mehr zu Hause.

[Menü]

Der schlimmste Lärm

»Der Säbeltanz von Chatschaturian und ein bayrisches Bierzelt – so ungefähr stelle ich mir die Hölle vor.«

»Wenn mich etwas aufweckt: der Wecker der Nachbarn, den ich durchs offene Fenster höre, oder eine Tür, die zugeschlagen wird.«

»Eine CD, die hängenbleibt. Dieses Repetiergeräusch halte ich nicht aus, da drehe ich völlig durch.«

»Die Patrouille Suisse mit ihrer Kunstflieger-Staffel. Wenn die ihre Übungsflüge machen, zittern bei uns die Gläser im Schrank, ein sinnloser Lärm, der Tausende von Menschen beeinträchtigt. Das gehört verboten!«

»Ein tropfender Wasserhahn. Die Gestapo hat das als Foltermethode benutzt.«

[Menü]

Der Lärm der Glocken und die Götter

Das lauteste Geräusch, das die Natur hervorbringt, ist auch ihr geheimnisvollstes. Der Donner hat keine Schallquelle – es ist, als käme er aus dem Nichts. Auch wenn wir heute wissen, wie er entsteht, scheuen wir doch davor zurück, ihn als Lärm zu bezeichnen, denn trotz allem Fortschritt haben wir auch heute keine Macht über den Donner. Die Menschen früherer Zeiten konnten sich für den Donner keinen anderen Ursprung vorstellen als eine göttliche Macht. Der Donnerkeil verleiht Zeus, Jupiter und Donar Unbesiegbarkeit. Wer Macht hat über den Schall, hat Macht, und so befinden sich Donner und Blitz als Waffe immer in der Hand des Mächtigsten der Götter.

Wo es nur einen Gott gibt, gebietet dieser auch über den Donner. Im Alten Testament begegnet Jahwe seinem Volk im Donner, sei es um ihm zu drohen und es zu bestrafen, sei es, um sich ihm zu offenbaren. Wie Gott kennt auch der Schall keine Grenzen. Er durchdringt alles, und das stets offene Ohr gewährt dem Wort Gottes ohne Umwege Einlass ins Bewusstein der Menschen. Alle drei monotheistischen Religionen bevorzugen das Hörbare gegenüber dem Sichtbaren, denn nur in der Unsichtbarkeit liegt die Macht. Wenn Gott spricht, muss alles andere ruhen. »Im Anfang war das Wort«, heißt es deshalb, und »Du sollst dir kein Bildnis machen«. Über ein Bild kann der Betrachter verfügen, denn es existiert auch außerhalb seines Bewusstseins. Er bestimmt, wann und aus welcher Distanz er es betrachtet, und wenn er es nicht mehr sehen will, schließt er die Augen. Hören dagegen ist eine intime Form der Wahrnehmung. Es macht den Hörer zum Komplizen des Gehörten, denn dieses nimmt erst in seinem Bewusstsein Gestalt an. Gegenüber Gott ist der Akt des Zuhörens schon ein Gehorchen, denn allein Gott bestimmt, wann er zu den Menschen spricht. Die Menschen müssen sich seinem Wort zuwenden, solange es erklingt.

Jede Zivilisation, jede Epoche klingt anders, denn mit jedem technischen Fortschritt entlässt der Mensch, dessen Stimme von Natur aus keine große Reichweite hat, neue Geräusche in die Welt, wohl oder übel. Als die Menschen lernten, Metall zu bearbeiten, entstanden Klänge, wie sie noch niemand gehört hatte. »Nun erst klirrte die Härte des Eisens, schnarrten die Sägen – Menschen der Urzeit spalteten noch mit Keilen die Stämme«, schreibt Vergil in Georgica. Cicero beneidet im fünften Buch der Gespräche in Tusculum die Gehörlosen, weil sie »das Kreischen der Säge, wenn sie geschärft wird«, nicht hören