One Red Paperclip - Kyle MacDonald - E-Book

One Red Paperclip E-Book

Kyle MacDonald

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Beschreibung

Im Juli 2005 bietet der junge Arbeitslose Kyle MacDonald eine rote Büroklammer im Internet an. Sein Ziel war es, so lange Gegenstände mit anderen Interessenten zu tauschen, bis er ein Haus erhalten würde: Bargeldlos und gegen persönliche Abholung. Ein Jahr und 14 Tauschdeals später geht der Traum in Erfüllung: Kyle wird stolzer Besitzer eines Hauses in Kipling, Kanada. Das Buch erzählt nicht nur von den kuriosen Tauschgegenständen, sondern vor allem von Kyles faszinierenden Begegnungen mit den ursprünglichen Besitzern. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 354

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Kyle MacDonald

One Red Paperclip

Biete Büroklammer – suche Haus. Die verrückteste Internet-Tauschaktion der Welt

Aus dem Englischen von Katy Albrecht

FISCHER Digital

Inhalt

Für Mom und Dad [...]Kapitel 1 WennKapitel 2 »Bigger and Better« war ziemlich abgefahrenKapitel 3 Ein FischkuliKapitel 4 Ein TürknaufKapitel 5 Ein CampingkocherKapitel 6 Ein roter GeneratorKapitel 7 Ein Party-SetKapitel 8 Ein berühmtes SchneemobilKapitel 9 Eine Fahrt nach YahkKapitel 10 Ein KastenwagenKapitel 11 Ein PlattenvertragKapitel 12 Ein Jahr in PhoenixKapitel 13 Ein Nachmittag mit Alice CooperKapitel 14 Eine Kiss-SchneekugelKapitel 15 Eine NebenrolleKapitel 16 Ein Haus in KiplingKapitel 17 Saskatchewans größte Einweihungsparty aller ZeitenEpilog: Grandpa reißt es rausDanksagungen

Für Mom und Dad und alle, die dafür gesorgt haben, dass du bist, wie du bist.

Wenn

Wenn du den Kopf bewahrst, da rings die Massen

längst kopflos sind und dich als Anlass sehn,

dir treu sein kannst, wenn alle dich verlassen,

und dennoch ihren Wankelmut verstehn;

kannst warten du und langes Warten tragen,

lässt dich mit Lügnern nie auf Lügen ein,

kannst du dem Hasser deinen Hass versagen

und doch dem Unrecht unversöhnlich sein –

 

Wenn du kannst träumen, doch kein Träumer werden,

nachdenken und gleichwohl kein Grübler sein;

wenn dich Triumph und Sturz nicht mehr gefährden,

weil beide du als Schwindler kennst, als Schein;

kannst du die Wahrheit sehn, die du gesprochen,

verdreht zum Köder für den Pöbelhauf,

siehst du als Greis dein Lebenswerk zerbrochen

und baust mit letzter Kraft es wieder auf –

 

Wenn du auf EINES Loses Wurf kannst wagen

die Summe dessen, was du je gewannst,

es ganz verlieren und nicht darum klagen,

nur wortlos ganz von vorn beginnen kannst;

wenn du, ob Herz und Sehne längst erkaltet,

sie doch zu deinem Dienst zu zwingen weißt

und durchhältst, auch wenn nichts mehr in dir waltet

als nur dein Wille, der »durchhalten!« heißt –

 

Kannst du zum Volke ohne Plumpheit sprechen,

und im Verkehr mit Großen bleibst du schlicht;

lässt du dich nicht von Freund noch Feind bestechen,

schätzt du den Menschen, überschätzt ihn nicht;

füllst jede unerbittliche Minute

mit sechzig sinnvollen Sekunden an:

Dein ist die Erde dann mit allem Gute,

und was noch mehr, mein Sohn: Du bist ein Mann!

 

»If« von Rudyard Kipling

Übersetzung von Lothar Sauer

 

***

 

Dom und ich gehen um die Ecke.

Überall sind Leute.

Hunderte.

Die ganze Stadt.

Im wahrsten Sinne des Wortes.

Wir gehen nach vorn vor die Menge und treffen Bert und Pat.

Wir geben ihnen die Hände.

Scheu winken wir der Menge zu, und die Zeremonie beginnt. Wir stehen auf, als die Nationalhymne gespielt wird.

Mom und Dad stehen genau hinter uns.

Es werden Reden gehalten und Einführungsworte gesprochen.

Pat, die Bürgermeisterin, hebt ein Blatt Papier hoch.

»Hier in meiner rechten Hand halte ich den Grundbucheintrag für dieses Haus hier. Es ist mir eine Ehre, Kyle MacDonald nun darum zu bitten, mit seinem Tauschobjekt hervorzutreten und dieses Papier zu unterschreiben, damit der Tausch besiegelt ist.«

Die Zuschauer applaudieren. Ich trete vor. Die Menge wird still.

Ich lächle und übergebe mein Tauschobjekt.

Pat reicht mir einen Stift.

Ich unterschreibe den Grundbucheintrag.

Wir lächeln beide.

Pat sagt: »Um es amtlich zu machen, brauchen wir einen Zeugen. Gord, bist du bereit?«

Gord, in seiner Mountie-Uniform, tritt vor und unterzeichnet den Grundbucheintrag.

Pat sagt: »Herzlich willkommen in Kipling.«

Wir schneiden mit einer Schere ein rotes Band durch.

Dom und ich gehen Hand in Hand die Treppe hinauf.

Ich greife vor und öffne die Haustür.

Ich drehe mich um, um den Leuten noch etwas zu sagen.

Meine Lippen fangen an zu zittern.

Es ist alles so wirklich.

So perfekt.

So still.

Dom hält meine Hand.

Wir sagen Danke.

Wir winken der Menge zu.

Und treten durch die Tür.

In unsere Zukunft.

»Bigger and Better« war ziemlich abgefahren

Es war die beste Idee aller Zeiten: Bigger and Better, größer und besser. Da war was dran. »Bigger and Better« war ein Spiel, eine Mischung aus Schnitzeljagd und dem »Süßes, sonst gibt’s Saures«-Spiel an Halloween. Man fing mit einem kleinen Ding an, ging von Tür zu Tür und fragte, ob jemand das Ding gegen etwas Größeres und Besseres tauschen möchte. Sobald man getauscht hatte, klingelte man beim Nächsten und versuchte, dieses Ding wieder gegen etwas Größeres und Besseres einzutauschen. Wenn man richtig gut war, hatte man irgendwann etwas in der Hand, das wirklich sehr viel größer und besser war als das, mit dem man angefangen hatte.

 

Man fing beispielsweise mit einem Löffel an. Man ging damit zu den Nachbarn, und die gaben einem dafür vielleicht einen einzelnen Stiefel. Mit dem Stiefel ging man dann noch ein Haus weiter, und dort sagten sie garantiert: »Das ist ja toll, ich kann einen Stiefel gebrauchen, ich habe nämlich letzte Woche aus Versehen einen aus dem Autofenster geworfen, als ich ihn nur auf die Rückbank legen wollte. Ich habe da eine alte Mikrowelle. Willst du den Stiefel gegen die Mikrowelle tauschen?«

Dann nickte man, nahm die Mikrowelle, rannte so schnell wie möglich zu seinen Freunden und gab damit an. Man konnte dann eine tolle Geschichte über die Mikrowelle erzählen und starrte von da an auf jeden einzeln am Straßenrand herumliegenden Stiefel und fragte sich, ob es der Stiefel war.

Ein paar Wochen später hatte man dann seine Mutter im Zimmer stehen: »Sag mal, ich kann meinen antiken Löffel nicht finden, hast du ihn vielleicht gesehen?« Man schüttelte den Kopf, und sie fragte noch: »Und weißt du vielleicht, wie diese stinkende alte Mikrowelle in unsere Garage kommt?«

»Bigger and Better« war richtig abgefahren.

 

Ich bin in Kanada aufgewachsen, in Port Moody, einem Vorort östlich von Vancouver. Meine Freunde auf der High School erzählten aufregende Geschichten von »Bigger and Better«. Eine Gruppe hatte mal mit einem Penny angefangen und so lange getauscht, bis sie noch am selben Nachmittag eine Couch hatten. Andere begannen mit einer Wäscheklammer und hatten am Abend einen Kühlschrank. Es ging auch das Gerücht um, dass in einem Nachbarvorort ein paar Kinder morgens mit einem Zahnstocher losgezogen waren und am Abend desselben Tages ein Auto erhandelt hatten. Ein Auto! Natürlich wusste niemand genau, ob diese Geschichten wirklich alle stimmten, aber das machte nichts. Vorortlegende hin oder her, jeder wusste, dass es im Grunde möglich war. Alles war möglich. Und wir konnten es kaum erwarten, was alles möglich sein würde.

Wir waren 16 und hatten gerade den Führerschein gemacht. Es juckte uns in den Füßen, auf ein Gaspedal zu treten. Wir hatten nur das eine im Kopf: Autos. Wir wollten sein wie Marty McFly aus »Zurück in die Zukunft«. Wir wollten einen frisch gewachsten, schwarzen Toyota Pick-up Baujahr 1985 schräg in der Garage einparken und dabei die Räder eingeschlagen lassen, um Sportlichkeit zu zeigen. Wir wollten am Wochenende mit Jennifer zu einer großen Party am See fahren. Fast alles schien möglich. Irgendwann in der Zukunft würde ein durchgeknallter Wissenschaftler ein Flügeltüren-Auto mit einem Durchflusskondensator erfinden und aus Versehen in die Vergangenheit zurückgeschickt werden, um alle falschen Entscheidungen, die wir im Leben getroffen hatten, zu revidieren und uns die Möglichkeit zu geben, unseren Traum auszuleben und, sagen wir, Science-Fiction-Autor zu sein.

Es war möglich.

Eines Abends sahen wir uns an und nickten uns zu. Es war der optimale Abend. Es würde klappen. Wir würden es schaffen. Wir würden so lange »Bigger and Better« spielen, bis wir ein Auto bekamen. Heute noch. Wir brauchten nichts weiter als einen Zahnstocher. Wir fanden keinen Zahnstocher, deshalb »fanden« wir das Nächstbeste: einen Tannenbaum vom örtlichen Tannenbaumverkauf.

Wir nahmen den Baum und trugen ihn zu einem Haus, in dem noch Licht brannte. Wir klopften. Dann hörten wir Schritte. Wir sahen uns an: Wir waren kurz davor, ein Auto zu bekommen. Ein Schatten kam zur Tür und griff nach der Klinke. Ein Auto, noch ehe der Tag zu Ende war! Die Tür ging auf. Ein Mann trat heraus, sah uns mit dem Tannenbaum dastehen, verzog abschätzend das Gesicht und fragte: »Ja?« Wir erzählten rasch, dass wir »Bigger and Better« spielten und erklärten voller Erwartung, dass wir noch heute Abend ein Auto erhandeln wollten. Er musste nichts weiter tun, als uns etwas für den Baum zu geben. Irgendetwas. Er sah den Tannenbaum an, lachte kurz und sagte: »Tut mir leid, Jungs, ich würde euch gerne helfen, aber ich kann leider keinen zweiten Tannenbaum gebrauchen.« Er drehte sich um und deutete auf einen Tannenbaum, der so kunstvoll verziert war, wie wir noch keinen zuvor gesehen hatten. Er strahlte glänzend weiß. Ein Traum von einem Tannenbaum. Wir besahen unser ärmliches Bäumchen, ließen die Köpfe hängen und spürten, wie sich unser Traum von einem Auto in Luft auflöste. Er zuckte mit den Schultern und sagte zum Abschied: »Vielleicht probiert ihr’s mal nebenan? Viel Glück!«

Wir sahen unseren Baum an und entschieden, dass es für heute schon zu spät sei, um noch »Bigger and Better« zu spielen. Morgen würden wir es nebenan versuchen. Ja, morgen war ein guter Tag dafür. Morgen würde ein guter Tag sein, um ein Auto zu erhandeln.

Aber wir spielten an keinem nächsten Tag mehr »Bigger and Better«.

Wir hörten damit auf, weil es nicht so einfach war, wie wir es uns vorgestellt hatten.

Das war zehn Jahre her. Zehn Jahre waren seit diesem Abend vergangen, an dem wir »Bigger and Better« gespielt hatten. Inzwischen war eine Menge passiert. Ich hatte meinen High-School-Abschluss gemacht, war gereist, hatte neue Leute kennengelernt, verschiedene Jobs gehabt und einiges erlebt. Ich hatte sogar Al Roker, dem Wettermann der NBC-Today-Show, die Hand geschüttelt. Aber das »Bigger and Better«-Spiel von damals habe ich nie weiter gespielt. Trotzdem hielt ich es noch immer für die beste Idee aller Zeiten.

Ich blickte in die Ferne und überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. Ein Auto für einen Zahnstocher. Das war grundsätzlich möglich. Ich dachte darüber nach, wie man heutzutage ein Auto für einen Zahnstocher bekommt, setzte ein selbstbewusstes Gesicht auf und blickte weiter in die Ferne, als ob das etwas helfen würde. Es wäre eine tolle Szene für einen Abenteuerfilm gewesen, nur dass in der Ferne nicht die Sonne über den Überresten einer soeben ausgelöschten, bösartigen Zivilisation oder über dem sturmumtosten Vorsprung in der Steilwand eines bis dahin unbezwungenen Gipfels unterging. Die Ferne war eine unverputzte Wand, keine eineinhalb Meter von mir entfernt. Diese Wand gehörte zu der Ein-Zimmer-Wohnung, in der ich mit meiner Freundin Dominique in Montreal wohnte.

Im Sommer zuvor war ich mit Dom nach Montreal gezogen, weil sie dort einen Job als Flugbegleiterin bei einer Fluggesellschaft bekommen hatte, die jedoch inzwischen längst pleite war. Sie hatte aber ziemlich bald einen neuen Job in der Ernährungsberatung eines Krankenhauses. Wir waren seit drei Jahren zusammen. Dom arbeitete, während ich in die Ferne blickte und in Erinnerungen an jugendliche Abenteuer schwelgte. Dom hatte Arbeit, während ich »Arbeit suchend« war. Ich suchte seit fast einem Jahr Arbeit und überbrückte die Zeit damit, hin und wieder für Freunde Produkte auf Messen zu promoten.

Aber es gab nicht viele solcher Messen, und ich war bloß ein ganz normaler Kerl. Was tat ich da? Ich hatte fast eine Stunde lang die Wand angestarrt. Beinahe einen ganzen Nachmittag verplempert. Mir fiel die Bewerbung wieder ein. Der Lebenslauf, das Anschreiben, meine Zukunft, mein Versuch, einen Job zu bekommen.

Bald war die Miete fällig, und ich konnte Dom nicht noch weiter auf der Tasche liegen. Das hatte ich schon einige Monate getan. Das musste aufhören. Jetzt war ich dran mit dem Geldverdienen. Ich las meinen Lebenslauf auf dem Computer durch.

Unser Wirtschaftslehrer in der Schule hatte mal eine Motivationspredigt gehalten. Er sagte: »Ich müsst euch an potenzielle Arbeitgeber nur richtig verkaufen! Ihr müsst eure Fähigkeiten richtig darstellen!« Dann zeigte er uns auf dem Overhead-Projektor die fünf Geheimnisse des idealen Lebenslaufs. Und dieser ideale Lebenslauf funktionierte wirklich. Binnen einer Woche hatte jeder von uns einen Job bei irgendeiner Fast-Food-Kette. Vor zehn Jahren war ein Stapel Burger umsonst eine ziemlich tolle Angelegenheit. Wenn ich meinen Lebenslauf nicht bald schrieb, würde Dom mich irgendwann abservieren. Ich musste mir etwas ausdenken. Sehr bald. Ich stellte mir selbst eine einfache Frage: Wollte ich die fünf Geheimnisse des idealen Lebenslaufs wirklich anwenden, oder wollte ich etwas anderes?

Ich wollte mich an niemanden verkaufen. Ich wollte irgendetwas machen. Ich wollte etwas herausfinden. Ich wollte leben. Heute war ich kein kleiner Punk mehr, der sich einen Tannenbaum »auslieh« und noch bei seinen Eltern wohnte. Ich war ein arbeitsloser 25-Jähriger, der froh sein konnte, eine Freundin zu haben, die beide Anteile der Miete zahlte, während er »Arbeit suchend« war.

Ich hatte es satt, anderen auf der Tasche zu liegen, ich hatte es satt, »Arbeit suchend« zu sein, und ich wollte keine schönfärbenden Umschreibungen für meine Arbeitslosigkeit mehr. Eigentlich wollte ich nur eines: Ich wollte für meinen Lebensunterhalt selbst sorgen. Ich wollte Brötchen verdienen. Ich wollte diesen Teufelskreis durchbrechen. Dom arbeitete hart für ihr Geld und schaufelte es direkt in die Taschen unseres Vermieters. Sicher, Miete zahlen ist nicht das Schlimmste. Es hat ja auch etwas für sich, wenn man theoretisch bei Nacht und Nebel alle seine Sachen zusammenpacken und außer Landes fliegen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch, viele Vermieter sind nette, vertrauenswürdige Menschen, ich wollte nur nichts mit ihnen zu tun haben. Wenn man ein bisschen Zeit und Mühe investiert, können eigene vier Wände ein richtiges Zuhause werden. Eine Mietwohnung aber bleibt immer nur der Ort, von dem man noch nicht weggezogen ist. Meine Vorstellung war, abends nach Hause zu kommen, meinen Hut an die Garderobe zu hängen, die Decke zu betrachten und zufrieden zu lächeln, weil diese Decke mir gehörte. Ein eigenes Dach über dem Kopf. Mit dieser Zimmerdecke konnten wir alles anstellen. Wenn wir wollten, könnten wir ein Tarnmuster daranmalen oder sie verspiegeln. Niemand hätte dabei ein Wort mitzureden.

Wenn ich klein anfing, in großem Maßstab dachte und dabei noch Spaß hätte, könnte theoretisch alles passieren.

Es war möglich.

Ich dachte einen Moment lang darüber nach, was alles möglich war. Damit es allerdings möglich wurde, musste ich irgendwo anfangen. Ich musste mir ein bisschen mehr Mühe geben als beim ersten »Bigger and Better«-Spiel. Damals, als ich nicht einen einzigen Handel abgeschlossen hatte. »Bigger and Better« hatte mir die letzten zehn Jahre immer hinterhergestarrt. Lachend. Prustend. Ich dachte noch einmal darüber nach. Es würde ein paar Wochen dauern, bis ich einen Job hatte; mit »Bigger and Better« dagegen konnte ich sofort anfangen. In diesem Moment fasste ich einen Entschluss, denn jetzt war der richtige Zeitpunkt. Ich würde nicht nur jetzt »Bigger and Better« spielen, ich würde es auch richtig gut machen. Ich würde der beste »Bigger and Better«-Spieler werden, den die Welt je gesehen hatte. Vielleicht hatte ich auch nur den elegantesten Weg gefunden, mich zu drücken. In jedem Fall musste ich es versuchen. Ich grinste und neigte den Kopf: Der Lebenslauf und das Anschreiben mussten leider warten. Ich hatte bei »Bigger and Better« noch eine Rechnung offen.

Wenn ich es schaffen wollte, brauchte ich etwas, womit ich anfangen konnte. Etwas, das weniger saisongebunden war als ein Tannenbaum. Etwas, das nicht so offensichtlich geklaut war. Etwas Naheliegendes.

Ich sah auf meinen Schreibtisch. Chaos. Ein Haufen Zeug, wild verteilt: Ein Stift, Klebeband, viel zu viele Kabel, ein Tacker, Computerlautsprecher, der Lebenslauf und das Anschreiben, ein nicht abgeschickter Brief, eine Postkarte, eine Bananenschale, ein gerahmtes Bild von einem Adler in der Luft, diverse benutzte Müslischalen in diversen Stadien der Verkrustung. Ich sah noch einmal auf den Lebenslauf und das Anschreiben. Die beiden Blätter wurden von einer roten Büroklammer zusammengehalten.

Einer roten Büroklammer.

Ich löste die Büroklammer von den Blättern und sah sie genau an.

Sie war optimal.

Genau das, was ich brauchte.

Ich musste jetzt nur noch hinausgehen und sie mit jemandem gegen irgendetwas tauschen. Mit Sicherheit gab es jemanden, der etwas zu bieten hatte, was größer und besser war als eine rote Büroklammer. Wer hatte das nicht? Es schien fast zu einfach. Ich würde es schaffen. Ich war fest entschlossen. Die Zeit für »Bigger and Better« war gekommen.

 

Ich legte die rote Büroklammer auf meinen Schreibtisch und machte ein Foto davon. Ich ging zur Tür und griff nach der Klinke. Die Tür schwang auf. Es war so weit! Ich würde es tun. Ich hob einen Fuß, um einen Schritt zu machen. Ja, das war es. Als mein rechter Fuß etwa in Höhe des Türrahmens war, klingelte das Telefon. Mein Fuß hing in der Luft, ragte ein kleines Stück in den Hausflur hinein. Ich drehte mich in Zeitlupe um. Es klingelte noch einmal. Ich bewegte mich langsam von der Tür weg und hin zum Telefonhörer.

»Hallo?«, sagte ich.

»Hey.« Es war Dom.

»Was machst du gerade?«, fragte sie.

»Och, nicht viel«, antwortete ich.

»Hast du deinen Lebenslauf fertig?«

»Fast. Ich mache gerade eine kleine Pause.«

»Aha. Eine Pause. Wie lange sitzt du jetzt schon da dran?«

Ich fühlte mich schuldig. Dom hatte viel Geduld mit mir. Sie bezahlte seit Monaten meinen Anteil der Miete. Sie hätte mich längst vor die Tür setzen können. Nein, an ihrer Stelle hätte ich mich selbst vor die Tür gesetzt. Ich war ihr etwas schuldig. Wir redeten ein bisschen und besprachen das Abendessen.

Ich ging zum Computer zurück und steckte die Büroklammer in mein Portemonnaie. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Rechnungen bezahlen, mit »Bigger and Better«? Mit einem Spiel für Kinder? Ich schüttelte den Kopf und schaltete den Computer an. Ich würde vielleicht irgendwann anders »Bigger and Better« spielen. Wenn ich einen Job hatte, genug Geld verdiente, um meine Miete zu bezahlen, und mal einen freien Tag hatte. Dann konnte ich immer noch »Bigger and Better« spielen.

Der Monitor erwachte zum Leben, und ich arbeitete weiter an meinem Lebenslauf. Im Laufe der nächsten drei Tage zimmerte ich einen einigermaßen zufriedenstellenden Lebenslauf zurecht und schickte ihn als E-Mail halbherzig an ein paar Jobangebote, die ich im Internet gefunden hatte. Ich mailte mir selbst das Bild der roten Büroklammer, damit ich nicht vergaß, mir diesen Spaß zu gönnen, sobald ich einen Job hatte. Und einen freien Tag dazu.

 

So vergingen eine ganze Reihe von Tagen. Je länger ich darauf wartete, dass jemand auf meine Bewerbungen antwortete, desto seltener dachte ich über »Bigger and Better« nach. Die rote Büroklammer verschwand schließlich zwischen Kassenzetteln, Münzen und Fusseln.

Nach einer Weile bekam ich sogar ein paar Einladungen zu Vorstellungsgesprächen. Nichts Großartiges, aber immerhin ehrbare Arbeit. Ich war vor allem dankbar, dass überhaupt jemand geantwortet hatte. Ich ging zu sieben Vorstellungsgesprächen, aber nie mit Begeisterung. Ich funktionierte einfach nur, wie meine Mutter sagen würde. Warum eigentlich? Weil ich ein fauler Trottel war, oder weil die Jobs einfach nicht die richtigen für mich waren? Ich wusste es nicht. Ich wollte das, was ich tat, mit Begeisterung machen. Ich wollte nicht nur überleben, ich wollte etwas erleben. Doch meine Batterien waren fast leer, und mir fehlte die Initiative, die Akkus aufzuladen.

Ein paar Wochen später flog ich mit Dom an die Westküste Kanadas, nach Vancouver, um meine Eltern zu besuchen. Nun, tatsächlich flog natürlich das Flugzeug, Dom und ich saßen auf unseren Plätzen. Eine Woche nach unserer Ankunft gingen Dom und meine Mutter allein aus, und ich ging mit meinem Vater zu meinem Cousin Ty.

Als ich mich während des Gesprächs langweilte, beschloss ich, hier und jetzt auf dem Kaffeetisch meine vierteljährliche Geldbeutelreinigung vorzunehmen. Dabei kam die rote Büroklammer zum Vorschein.

Ich dachte noch einmal über die Idee nach, von einer Büroklammer aus immer weiter zu handeln. Ich machte den Mund auf: »Sagt mal, wie findet ihr die Idee?« Ich erzählte ihnen von »Bigger and Better«, und sie ließen es sich durch den Kopf gehen.

»Mir gefällt’s«, sagte Dad.

»Mir auch«, sagte Ty.

»Aber warum eigentlich eine rote Büroklammer?«, fragte Dad.

»Es war einfach das Erste, was mir ins Auge fiel«, sagte ich.

»Und? Wann tauschst du sie ein?«, wollte Ty wissen.

»Na ja, ich muss erst ein paar Dinge in die Wege leiten, bevor ich anfangen kann.«

»Was zum Beispiel?«, fragte Dad.

»Ich muss ein bisschen Geld verdienen, damit ich Zeit habe zu tauschen. Vielleicht richte ich auch eine Website ein und mache ein besseres Bild von der Büroklammer«, sagte ich und sah meinen Vater an.

»Wieso?«

Da hatte er recht. Wieso musste ich etwas in die Wege leiten? Ich wollte doch bloß diese rote Büroklammer mit jemandem tauschen.

Ich besah mir die rote Büroklammer. Sie war wie ein großes Was-wäre-wenn. Dad beobachtete mich, als ich die Büroklammer anstarrte, und grinste. Dann ließ er sein liebstes »Mäusestrategie«-Zitat hören: »Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?«

Plötzlich überkam mich der Heißhunger auf Käse, und ich fragte mich selbst, was ich wohl tun würde, wenn ich keine Angst hätte. Dad vielleicht sagen, dass er ein Weichei ist? Ich sagte: »Wenn ich keine Angst hätte, würde ich diese rote Büroklammer gegen irgendetwas eintauschen.«

Er lächelte und fragte: »Und? Warum machst du es dann nicht?«

Ich wusste, dass ich im Grunde einfach nur auf die Straße gehen und den nächstbesten Passanten fragen musste, ob er mir etwas für meine rote Büroklammer geben würde, aber ich hatte ein komisches Gefühl dabei.

»Ich will die Leute nicht belästigen, ihnen nicht auf die Pelle rücken, verstehst du?«, sagte ich wahrheitsgemäß. Ich wollte nicht herumlaufen und Leute bedrängen. Es musste irgendwie anders gehen.

Ich sagte: »Wisst ihr, was cool wäre? Wenn die Leute mich ansprechen würden, wenn sie tauschen wollten.« Ich musste an den Mann mit dem traumhaft schönen Weihnachtsbaum denken, den wir mit unserem räudigen, alten, geklauten Tannenbaum belästigt hatten. »Statt wahllos Leute anzuquatschen, wäre es mir lieber, ich würde nur mit Leuten zu tun haben, die auch wirklich tauschen wollen.«

Ty streckte die Arme in die Luft, um uns zu zeigen, dass er etwas begriffen hatte, was eigentlich auf der Hand lag. »Craigslist!«, rief er. »Hast du mal versucht, es in die Craigslist zu setzen? Jeder guckt in die Craigslist.« Die Craigslist ist eine Art »Anzeigenblatt« im Internet; sie ist das populärste amerikanische Netzwerk.

»Kann man da auch Sachen tauschen?«

Ty schüttelte mit gespielter Verzweiflung den Kopf. Ob man da tauschen konnte? Ich sah auf den Kalender, als wir zum Computer hinübergingen. Es war der 12. Juli.

Ty rief die Craigslist von Vancouver auf Ich fand eine Sparte für Tauschgeschäfte. Als angebotenen Artikel gab ich eine rote Büroklammer ein. Ich lud das Bild der Büroklammer, das ich mir selbst gemailt hatte, dazu und beschrieb den Artikel folgendermaßen:

Sie werden vielleicht nicht sonderlich überrascht sein, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass dies ein Foto einer Büroklammer ist. Einer roten. Diese rote Büroklammer thront gerade auf meinem Schreibtisch neben dem Computer. Ich möchte über diese Büroklammer mit Ihnen ins Geschäft kommen und sie gegen etwas Größeres oder Besseres eintauschen, einen Stift beispielsweise oder einen Löffel. Vielleicht auch gegen einen Stiefel. Wenn Sie mir versprechen, auf das Tauschgeschäft einzugehen, komme ich vorbei, egal wo Sie sind, und wir machen den Handel perfekt. Schicken Sie mir also eine E-Mail an [email protected], wenn Sie etwas haben, was größer oder besser ist als eine Büroklammer.

Ich hoffe, wir kommen bald ins Geschäft!

Kyle

 

P.S.: Ich werde versuchen, so lange weiterzutauschen, bis ich ein Haus habe. Oder eine Insel. Oder ein Haus auf einer Insel.

– – – –

Ich klickte auf »senden« und machte mein Anliegen öffentlich. Klar, meine Strategie »ich schicke das in die Welt, irgendwer wird sich schon melden« war ziemlich optimistisch, man könnte auch sagen faul, aber immerhin besser als nichts. Schließlich versuchte ich gerade, eine alberne kleine Büroklammer gegen irgendetwas einzutauschen, was größer und besser war. Wir warteten ein paar Minuten und sahen dann in meine Mailbox. Nichts. Wir warteten nochmal ein paar Minuten. Wieder nichts. Ich wurde langsam nervös. Ich fand Craigslist-Seiten für Städte in der näheren und weiteren Umgebung von Vancouver und Montreal und gab auch dort meine rote Büroklammer ein. Wir warteten wieder ein paar Minuten und fragten dann die Mailbox ab. Es waren tatsächlich einige Angebote für meine Büroklammer gekommen!

Ich habe ein schwarzes Universalbesteck von Spork anzubieten. Ich liebe rote Büroklammern.

– – – –

 

Ich biete dir einen zerbrochenen Bleistift (HB) für deine Büroklammer!

– – – –

Ich habe einen blauen Filzstift, aber ich befürchte, dass das kein faires Geschäft ist, weil er eine Delle in der Seite hat.Wenn du es ernst meinst mit dem Geschäft, würde ich jedenfalls gern diesen Filzstift tauschen. Ich wohne allerdings in Woodbridge, du müsstest schon hierher kommen. Danke! Bethany

– – – –

 

Kyle, ich glaube, du willst wissen, wie weit du kommst, deshalb biete ich dir einen Schrittzähler, der vermutlich aus einem McDonald’s Happy Meal stammt (ewig her, seit ich da mal gegessen habe). Er ist orange und anthrazit und hat sogar eine Uhr mit Weckfunktion. Ich finde, er ist größer und besser als eine Büroklammer. Wenn du Interesse an dem Tausch hast, schicke mir eine Mail, und ich dirigiere dich dann hierher. Jacky

– – – –

Da ich mein Angebot in einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Craigslisten einstellt hatte, wusste ich nun nicht, woher die einzelnen Antworten kamen. (Angebote in den Craigslisten vieler verschiedener Städte einzustellen verbietet sich eigentlich von selbst, wie ich später herausfand.) Ich mailte allen und fragte, wo sie denn wohnten. Ich schrieb die Telefonnummer meiner Eltern in Vancouver dazu und bat alle, dort anzurufen, falls sie in Vancouver seien. Das war mir wichtig, weil ich meine Tauschgeschäfte persönlich abwickeln wollte. Und es sollte bald sein. Wenn ich das schon machte, dann jetzt. Man sollte immer alles sofort machen. Man musste nur anfangen. Wenn man nicht anfing, würde auch nichts passieren. Ich stopfte mein Zeug wieder zurück ins Portemonnaie, und Dad und ich gingen zurück nach Hause. Als wir dort ankamen, waren noch mehr Angebote in meiner Mailbox:

Hi, wir haben ein Fisch-Kuli zu bieten, der sich wirklich wie ein Fisch bewegen kann – hin und her. Ziemlich witzig und auch ganz süß. Willst du ihn? Gib uns Bescheid. Corinna

– – – –

 

Ich habe zufällig eine leere Weinflasche da. Was meinst du? Greif zu – zögere nicht! Chris

– – – –

 

Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe soeben die Anzeige Ihres (Anzeige einsetzen), den/die Sie zum Kauf anbieten und würde gern wissen ob er/es noch im Angebot ist. Ich würde gern Näheres über den aktuellen Zustand und die Höhe Ihres letzten Angebotspreises mit entsprechendem Foto erfahren. Haben Sie im Voraus Dank für Ihre Antwort. Mit freundlichen Grüßen Cousin Malone

– – – –

 

Meine süße babyblaue Büroklammer gegen deine rote!! Ich liebe Rot über alles, es ist meine Lieblingsfarbe, und die rote Büroklammer ist wie geschaffen für mich. Willst du sie tauschen? Ich könnte noch einen tollen, ganz neuen Mini-Radierer dazugeben – nur um sicherzugehen, dass ich diese irre tolle Büroklammer wirklich bekomme!!! Ciao, June

– – – –

 

Ich gebe dir dafür einen himmelblauen Buntstift von Crayola – allerdings ist er benutzt. Raine

– – – –

 

Ich biete dir für deine Büroklammer ein Paar Frauenstiefel. Ich bin ein Mann und trage keine Frauenschuhe, aber ich benutze Papier und könnte deshalb eine Büroklammer gebrauchen.

– – – –

 

Ich habe 1 Kuli, 1 Bleistift, 1 Buntstift, 1 Briefumschlag oder eine kleine Packung Pflaster. Willst du tauschen?

– – – –

 

Wenn du eine Frau bist und gegen eine Tasse Kaffee tauschst, biete ich dir ein Café-Date für deine Büroklammer – vielleicht ja auch noch mehr, mal sehen, wie es läuft. Tschüs, Cesaro

– – – –

Am folgenden Abend kam eine ganze Reihe von Verwandten zu Besuch. Ricky, der Mann meiner Cousine Carmen, sagte zu mir: »He, Kleiner, ich hab ein Geschenk für dich.«

Er gab mir eine Cornflakes-Packung meiner Lieblingsmarke, mit Sammelbildern von berühmten Sportlern.

»Cornflakes? Ricky, das wär doch nicht nötig gewesen …«

»Mach endlich auf, du weißt genau, dass da keine Cornflakes drin sind. Ich dachte mir, weil ihr mir zu Weihnachten ein T-Shirt geschenkt habt, kriegst du jetzt auch mal was von mir«, sagte er.

Mein Bruder Scott und ich hatten Ricky zu Weihnachten ein Wahlkampf-T-Shirt der Demokraten geschenkt und seinem Schwager Ty eins von den Republikanern. Beide haben sie sofort angezogen. Es gibt eben keinen besseren Eisbrecher für eine Party unter dem Weihnachtsbaum als politische T-Shirts. Wunderbar. Ich riss die Packung auf und zog ein kurzärmliges, geknöpftes Arbeitshemd heraus. Es war babyblau mit rosa Nadelstreifen. Ich faltete es aus. Auf der linken Brust war ein Aufnäher mit dem Namen »Ricky« drauf, in sehr plakativer Schrift. Auf der rechten Brust war ein anderer Aufnäher. Darauf stand der Slogan der Herstellerfirma: »Cintas – The Uniform People«.

»Ach nein, Ricky: Dein altes Arbeitshemd!« Ich sah Ricky an und sagte nüchtern: »Das hättest du nicht tun sollen.«

Er grinste, klopfte mir auf den Rücken und sagte: »Nicht der Rede wert, Kleiner!«

Ich zog das Hemd über mein T-Shirt, um guten Willen zu zeigen, und sagte: »Keine Sorge!«

Der Besuch ging kurz vor Mitternacht. Ich sah noch einmal in meine Mailbox. Es kamen immer noch Angebote an: Bleistifte, Buntstifte, Schlüssel, Café-Dates, Unternehmensanschreiben, die mich mit »Sehr geehrte Damen und Herren« ansprachen, so was eben. Eine kam aus Vancouver.

Von: Corinna

Hi, wir sind in Vancouver, nicht weit vom Commercial Drive. Du musst wissen, dass dieser Kuli wirklich etwas ganz Besonderes ist. Er ist aus Holz und kann sich wirklich wie ein Fisch bewegen!!! Er ist bunt: grün, rot und blau. Gib uns Bescheid, wenn du den Tausch machen willst, und wir sind da. Normalerweise würden wir so einen tollen Kuli nicht gegen eine einfache Büroklammer eintauschen, aber dieser Fisch braucht frisches Wasser. Und eine Büroklammer kann man schließlich immer gebrauchen. Wir sind Corinna und Rhawnie.

Wir sprechen uns später.

P.S.: Heißt du nur »Kyle«? Wo wohnst du?

– – – –

Das Telefon klingelte. Es war spät, und ich wollte nicht, dass Mom und Dad sauer wurden. Also rannte ich hin und nahm noch vor dem zweiten Klingeln ab.

»Hallo?«, sagte ich.

»Äh, hallo. Ist da Kyle?« Im Hintergrund war unterdrücktes Gekicher zu hören.

»Ja, das bin ich.«

»Ich bin Rhawnie.« Die Stimme schien zu lächeln. »Und meine Freundin Corinna und ich, ähm, ja, wir haben deine rote Büroklammer in der Craigslist gesehen und wollen mit dir tauschen.«

»Cool, was habt ihr denn zu bieten?«

»Einen Kuli, der aussieht wie ein Fisch. Corinna hat dir eine Mail geschickt.«

»Ja, stimmt!«, sagte ich. »Der Fisch-Kuli.«

»Der ist echt cool«, sagte sie.

»Das glaub ich gern«, sagte ich, »nur, ich fahre morgen Mittag weg. Können wir uns vielleicht morgen Vormittag irgendwo treffen und den Tausch machen?«

»Klar, aber ich fahre früh zur Arbeit«, sagte Rhawnie.

»Wann denn?«, fragte ich.

»Ich stehe um sieben auf und gehe um acht zur Arbeit.«

»Können wir uns kurz vor acht treffen?«

»Geht das vielleicht irgendwo hier in der Nähe?«

»Ja, wahrscheinlich schon. Wo wohnt ihr?«

»Nicht weit vom Commercial Drive«, sagte sie.

»Perfekt, da fahr ich morgen früh sowieso lang. Wo passt es euch?«

»Kennst du den 7-Eleven-Supermarkt an der Ecke First und Nanaimo?«, fragte sie.

»Klar.«

»Wie wärs um Viertel vor acht vor dem 7-Eleven?«, fragte sie.

»Ist gebucht. Wir sehen uns morgen früh«, sagte ich.

»Prima, bis morgen dann«, sagte sie.

Klick.

Es war abgemacht. Morgen würde es sein. Ich sah zur Uhr. Es war drei Minuten nach zwölf. Es war schon morgen.

Haben Sie auch eine Büroklammer?

 

Was »tauschen« Sie, um anzufangen? Was ist der erste Schritt? Er muss ja nicht groß sein. Vielleicht ist es ja nur ein Anruf, oder Sie stellen endlich die Frage, die Sie schon lange beschäftigt. Eine rote Büroklammer gegen einen Kuli zu tauschen, der aussieht wie ein Fisch, ist schließlich keine große Entscheidung. Aber sie ist ein Anfang.

 

Wenn Sie nicht anfangen, wie wollen Sie es dann zu Ende bringen?

 

Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn Sie nicht anfangen, passiert auch nichts. Jedes große Abenteuer beginnt mit einem einzelnen Schritt. Sie müssen nur einen Fuß in die Tür bekommen und dann weitergehen. Ob mit dem rechten oder dem linken Fuß, bleibt Ihnen überlassen.

 

Das Schwerste ist, tatsächlich zur Tür hinauszugehen.

 

Der erste Schritt, der aus dem »Wenn« Wirklichkeit werden lässt, ist die kleinste aller möglichen Entscheidungen. Klar, wenn man zur Tür hinausrennt, muss man sich eine Jacke anziehen oder sich mit Sonnenmilch eincremen, aber das ist doch viel besser, als drin zu hocken und zu überlegen: »Was wäre, wenn?«

 

Fangen Sie klein an, denken Sie in großem Maßstab, und vergessen Sie den Spaß nicht.

 

Wenn es mit kleinen Sachen gelingt, gelingt es vielleicht auch mit großen. Und ein bisschen Spaß zwischendurch schadet auch nicht.

Ein Fischkuli

Ich kannte Rhawnie und Corinna ja bislang nur vom Telefon und der E-Mail. Ich hatte keine Ahnung, wie sie aussahen, aber ich glaubte, ich würde sie schon erkennen. Schließlich gibt es keinen Grund, so früh morgens zu 7-Eleven zu fahren – es sei denn, man fährt am seligen Ende eines Saufgelages mit seinem Taxi dort vor, um seinen Heißhunger auf Mikrowellen-Hamburger zu stillen.

Mom und Dom begleiteten mich. Ich bog auf den Parkplatz ein. Es standen nur wenige Autos dort. Sonst war nichts zu sehen. Mir schoss die Ahnung durch den Kopf, dass ich womöglich das Opfer einer Art Craigslist-Parodie geworden sei. Als ob zwei Frauen so früh am Morgen hier auftauchen würden, bloß um einen Fischkuli gegen eine Büroklammer zu tauschen, dazu noch mit einem Typen, den sie im Internet kennengelernt hatten. Doch wohl kaum. Ich biss mir auf die Lippen. Man will sich das ja selbst nicht so eingestehen. Man funktioniert einfach weiter und tut so, als sei nichts geschehen.

Ich fuhr an einem geparkten Auto vorbei und wählte eine Parklücke aus. Als wir an dem Auto vorbei waren, sah ich zwei Frauen auf dem Bordstein hocken. Sie hatten keine Mikrowellen-Hamburger in der Hand. Ich atmete auf. Nicht so sehr wegen der fehlenden Burger, sondern weil man mich offenbar doch nicht versetzt hatte.

Mom sah zu ihnen hinüber und lachte: »Da sind die beiden ja! Hast du deine rote Büroklammer?«

 

Ich rollte mit den Augen und sagte: »Natüüüürlich, Mom.«

Ich klopfte kurz auf meine Hemdtasche, um ganz sicherzugehen. Sie war drin. Nicht, dass ich es nicht auch so gewusst hätte. Ich machte den Wagen aus und öffnete die Tür. Die beiden Frauen standen auf. Ich lächelte nervös, ich war schüchtern. Es war komisch, jemanden, den man aus dem Internet kannte, plötzlich leibhaftig vor sich zu haben.

»Seid ihr Rhawnie und Corinna?«, fragte ich.

»Ja«, antworteten sie gleichzeitig.

»Ich bin Kyle. Das sind meine Mutter und meine Freundin Dom.«

»Hi«, sagten sie.

»Hi«, sagten wir.

Wir lächelten und benahmen uns sehr höflich. Es war ein bisschen wie am ersten Schultag. Wir machten Smalltalk, dann fragte Rhawnie: »Und, wo ist die rote Büroklammer?«

»Ach ja. Ihr könnt es wohl kaum abwarten?«, fragte ich.

»Ja sicher, wir haben schon so lange darauf gewartet, mal einen Fischkuli gegen eine rote Büroklammer zu tauschen«, sagte Corinna und lachte.

»Wo habt ihr den Fischkuli eigentlich her?«, fragte ich.

»Wir waren beim Bonfire, diesem Musikfestival hier in der Nähe an der Sunshine Coast, und Rhawnie hat ihn auf dem Boden gefunden.«

»Stimmt«, sagte Rhawnie.

Ich zog die rote Büroklammer aus der Hemdtasche und schaute sie nochmal einen Moment lang an. Dann hielt ich sie den beiden hin und sagte: »Da ist sie!«

Corinna warf einen Blick darauf, grinste und sagte: »Die ist ja viel schöner, als ich dachte!«

 

Wir lachten alle, und sie gaben mir den Fischkuli.

Ich hatte soeben ein Tauschgeschäft abgeschlossen. Mom machte ein Foto von den drei Tauschpartnern.

»Und, was habt ihr mit der roten Büroklammer vor?«, fragte ich.

Rhawnie sagte: »Wahrscheinlich kleben wir sie an den Kühlschrank.«

»Und was hast du mit dem Fischkuli vor?«, fragte Corinna.

Ich dachte einen Moment lang nach und grinste. »Ich werde ihn eintauschen.«

»Bei wem?«, fragte Rhawnie.

»Keine Ahnung. Mal sehen, wer sich als Nächstes meldet.«

»Das ist irgendwie eine geniale Art, mit Sachen umzugehen«, sagte Corinna.

»Andererseits …«, sagte ich, »habe ich dann den Fischkuli nicht mehr.«

»Ist doch bloß ein Fischkuli«, sagte sie.

»Stimmt auch wieder.«

Einen unbehaglichen Moment lang sagte niemand mehr etwas, dann sagte ich: »In meiner High School kannte ich ein paar Leute, die haben das als Spiel gespielt und hatten nach einem einzigen Tag ein Auto.«

»Das wäre echt klasse, wenn du auch so lange tauschen könntest, bis du ein Auto hast. Am besten heute noch«, sagte Rhawnie.

Ich lachte und meinte: »Ja, das wäre echt cool, aber ich fahre heute noch nach Seattle und fliege morgen von dort nach Hause. Und soweit ich weiß, kann man im Flugzeug keine Autos mitnehmen.«

Wir lachten alle über diesen albernen Witz. Es entstand nochmals ein unsicheres, allgemeines Schweigen, und ich sah Dom an.

»Ich glaube, wir müssen los. Dom muss ihr Flugzeug noch kriegen.«

Und Rhawnie fügte dazu: »Und ich muss zur Arbeit.«

»Sollen wir dich ein Stück mitnehmen?«, fragte Mom.

»Ich muss in die andere Richtung, nicht zum Flughafen. Ich nehme den SkyTrain«, sagte Rhawnie.

Und ich meinte: »Wir können dich bis zur nächsten Haltestelle mitnehmen. Das liegt für uns auf dem Weg.«

»Gern«, sagte sie.

Wir fuhren mit Rhawnie los. Corinna winkte zum Abschied.

Wir fuhren an Bon’s Off Broadway vorbei, einem wirklich legendären Laden, in dem man den ganzen Tag über frühstücken kann. Ich dachte an meinen Hunger, drehte mich nach hinten zu Rhawnie um und fragte: »Geht ihr manchmal zu Bon’s?«

»Was ist Bon’s?«, fragte sie.

»Das ist dieser Laden, in dem du für ungefähr zwei neunundneunzig ein irre großes Frühstück bekommst. Mit allem: Eier, Schinken, Würstchen, Kartoffeln. Das ist einfach nur gut da«, sagte ich.

Und Dom fragte: »Ihr kennt Bon’s wirklich nicht?« Mom nickte, sie konnte es auch nicht glauben, dass jemand diesen grandiosen Laden nicht kannte. Rhawnie druckste ein bisschen herum und sagte dann: »Na ja, Corinna und ich leben ziemlich vegetarisch, deswegen wäre das wohl nichts für uns.«

»Oh ja, dann«, sagte ich und biss mir auf die Lippen. Wahrscheinlich hatten sie deshalb auch keine Burger in der Hand gehabt.

Wir waren an der Haltestelle des SkyTrain, der örtlichen Magnetschwebebahn, angekommen, und Rhawnie sprang aus dem Wagen. Nun, eigentlich stieg sie ganz normal aus, aber »sprang« klingt eben lustiger. Wir winkten ihr noch zu und fuhren dann weiter.

»Die beiden waren ja wirklich nett!«, sagte Mom.

»Auf jeden Fall«, sagte ich.

»Hat Spaß gemacht«, fügte Mom hinzu.

»Ja, wirklich«, sagte ich.

Der Fischkuli lag auf dem Armaturenbrett. Dom nahm ihn und hielt ihn in der Hand. Das Holz war geriffelt, und wenn man ihn hin und her bewegte, sah er wirklich aus, als ob er schwimmen würde.

Dom bewunderte den Holzfisch und fragte: »Und, was meinst du, bekommst du dafür?«

Ich überlegte kurz. Keine Ahnung. Ich grinste, dachte an verschiedene Möglichkeiten und sagte: »Weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist das überhaupt das Beste an der ganzen Sache. Jeden Moment könnte das Telefon klingeln, und alles würde sowieso ganz anders kommen.«

Ich blickte in die Ferne und blinzelte in das Licht einer Ampel. Sie wurde gerade gelb. Ich nahm den Fuß vom Gas. Gerade als wir langsamer wurden, klingelte mein Handy oder besser gesagt: Es wieherte. Ich hatte mir den Klingelton »Pferd« geladen. Keine Ahnung, was für ein Pferd, Dom tippte auf Deckhengst, ich fand, es hörte sich mehr nach einem Westernpferd an.

Ich klappte das Handy auf.

»Hallo?«

»Hallo, ist da Kyle?«, fragte eine Frauenstimme.

»Ja, am Apparat«, sagte ich. Die Ampel zeigte rot.

Die Frau sagte, sie hieße Annie. »Ich hab deine Anzeige in der Craigslist gesehen. Ich würde gerne mit dir tauschen.«

»Oh, echt?« Ich bremste.

»Ja, ich finde, diese Büroklammer hört sich echt toll an«, sagte Annie.

»Hm, weißt du, ich hab die Büroklammer gerade eingetauscht.«

»Oh.«

Mein Wagen hielt an.

»Bei wem?«, fragte sie.

»Zwei Mädels hier in Vancouver.«

»Oh.«

Pause. Dann war Annie wieder da. »Tauschst du noch mehr rote Büroklammern?«

»Na ja, eigentlich nicht. Ich hatte eine rote Büroklammer. Die hab ich gegen einen Kuli eingetauscht, der aussieht wie ein Fisch, und jetzt will ich diesen Fischkuli gegen etwas anderes eintauschen«, erklärte ich.

»Klingt cool.«

»Ja, das ist echt ein genialer Fischkuli.«

»In deiner Anzeige steht, dass du heute in Seattle bist. Stimmt das?«, fragte sie.

»Ja, ich fliege morgen früh von Seattle nach Montreal zurück. Wir sind heute Nachmittag in Seattle. Willst du den Fischkuli tauschen?«

»Klar, ich hab das ganze Haus voller Zeug.«

»Klingt gut, aber ich bin mit meiner ganzen Familie unterwegs.«

»Kein Problem, kommt vorbei! Bring sie alle mit!« Sie gab mir die Wegbeschreibung durch.

»Prima, dann bis heute Nachmittag.«

»Ja, bis dann.«

Dom sah zu mir herüber. »Wer bitte war das?«

»Das war Annie, sie wohnt in Seattle. Wir wollen heute Nachmittag tauschen.«

»Super!«, sagte Mom.

»Klingt ja gut!«, sagte Dom.

Ich sah hoch zur Ampel. Sie sprang gerade wieder auf Grün um. Ich grinste und gab Gas.

Tauschen Sie es einfach ein.

 

Man kann reden und planen und machen und tun, dann Bedenken bekommen und schließlich viele, viele Ausreden finden, wieso es vielleicht doch sinnvoll wäre, auf besseres Wetter zu warten. Irgendwann aber kommt der Punkt, an dem man begreift, dass es nun mal November ist und es doch eher unwahrscheinlich ist, dass plötzlich auf wundersame Weise die Sonne am Himmel steht, nur um einem ein Zeichen zu geben, dass sich jetzt irgendetwas ereignen könnte. Wenn man will, dass sich etwas ändert, muss man seine Idee in die Tat umsetzen.

 

Jetzt ist vier Worte her.

 

Dies ist offensichtlich ein ziemlich alberner Kommentar, der nur dazu dient, zu verhindern, dass Sie sich zu viele Gedanken machen. Ist es aber doch nicht. Es sei denn, man hält ihn dafür, dann ist er es natürlich. Wenn man ihn analysieren will und ihm Bedeutung beimisst, bin ich damit einverstanden. Aber auch alle Analysen und tiefschürfenden Gedanken verändern diese einfache, neue Weisheit nicht: Jetzt ist nun schon wieder mehr als sieben Worte her.

 

Holen Sie es sich, wenn Sie es wollen.

 

Niemand wird Ihnen etwas auf einem Silbertablett servieren. Es ist nicht so, dass die Leute nicht gerne Dinge auf ein Silbertablett legen und anderen bringen. Das ist wahrscheinlich sogar ganz lustig. Es ist bloß so, dass nur die wenigsten Leute tatsächlich ein Silbertablett besitzen.

Ein Türknauf

Der Wagen war proppenvoll, Mom saß auf dem Beifahrersitz, und Dad, mein Bruder Scott, seine Freundin Rachel und mein Opa saßen hinten. Wir fuhren auf dem Highway I-5