Ostfriesenfalle - Klaus-Peter Wolf - E-Book
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Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Von Borkum nach New York. Der fünfte Fall für Ann Kathrin Klaasen und Frank Weller Wie kommt Markus Poppinga ins Restaurant Ben Ash in Manhattan? Eine Klassenkameradin will ihn dort gesehen haben, dabei ist Markus vor drei Jahren tot in seiner Wohnung auf Borkum gefunden worden. Seine Eltern haben ihn eindeutig identifiziert. Die trauernde Mutter trägt die Überreste ihres Sohnes, zu einem bläulich schimmernden Diamanten gepresst, in Herzchenform geschliffen, an einer Kette um den Hals. Doch wer ist der Mann, den die Zeugin für Markus hält?

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Klaus-Peter Wolf

Ostfriesenfalle

Kriminalroman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Polizeiinspektion Aurich, das [...]»Die Zehn Gebote sind [...]Der Atlantik hatte die [...]Okay, dachte der Terminator. [...]Ubbo Heide wirkte magenkrank [...]Rupert wirkte blass. Sein [...]Lesen Sie mehr von [...]Pressestimmen

Die Polizeiinspektion Aurich, das Restaurant Smutje in Norden, die Europaschule in Westerstede, den Kartoffelkäfer auf Borkum, die Landschaft, Fähren und Häuser gibt es in Ostfriesland wirklich. Und selbst im Restaurant Ben Ash in New York habe ich mehrfach gegessen.

Doch auch, wenn dieser Roman ganz in einer realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung und die Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

»Die Zehn Gebote sind deswegen so unmissverständlich und klar, weil an ihnen keine Expertenkommission mitgearbeitet hat.«

Ubbo Heide, Kripochef Aurich

»Der liebe Gott weiß alles, aber Ann Kathrin Klaasen weiß natürlich alles besser.«

Rupert, Kommissar, Kripo Aurich

»Ich liebe sie!«

Frank Weller, Kommissar, Kripo Aurich

Der Atlantik hatte die Farbe der Nordsee. Das Geräusch der Wellen klang zum Verwechseln ähnlich. Die Möwen waren auch nicht frecher als auf Norderney, aber es roch anders. Da war ein künstlicher Geschmack in der Luft, ein bisschen wie altes Frittieröl.

Was sind wir nur für komische Menschen, dachte Ann Kathrin Klaasen. Da fliegen wir fast neun Stunden, um ein paar Tage in New York zu verbringen, aber kaum angekommen, halten wir es nicht mehr aus und fahren eine Stunde U-Bahn, um von Manhattan nach Coney Island ans Meer zu kommen.

Alle paar Meter saß ein Rettungsschwimmer auf seinem Hochstand.

»Die Jungs kenne ich aus Baywatch«, lachte Weller.

Ann Kathrin kommentierte das nicht, schmunzelte aber.

»Was ist?«, fragte Weller verunsichert.

»Die Jungs von Baywatch sehen doch immer aus wie diese jungen Männer in der Werbung, die angeblich so gerne Müllermilch trinken. Aber die hier sehen eher nach täglich zwei Sixpack Bier aus.«

Unwillkürlich zog Weller den Bauch ein. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher, die Füße im nassen Sand. Ann Kathrin genoss es, wenn die Ausläufer der Wellen ihre Knöchel umspülten. Weller hielt Abstand, als hätte er Angst, die Wellen könnten beißen.

Im Hintergrund drehte sich das Riesenrad des Vergnügungsparks, und auf der Achterbahn kreischte eine Schulklasse aus Denver.

»Die Sandstrände auf den ostfriesischen Inseln gefallen mir besser«, sagte Ann Kathrin. »Das hier ist lange nicht so schön wie die Weiße Düne auf Norderney oder der Sandstrand auf Spiekeroog oder Borkum.«

Weller wich einer Welle aus und zeigte auf die Hochhäuser hinter sich. »Verglichen damit sind die Bausünden da auch erträglich.«

Wir gehören so sehr an die Küste, dachte Ann Kathrin. Wir tragen die Nordsee in uns.

Weller versuchte, an den Essensständen und Imbissbuden ein Matjesbrötchen zu bekommen oder wenigstens einen Bismarckhering. Aber nicht mal ein Krabbenbrötchen ließ sich auftreiben. Aus lauter Not bestellte Weller sich dann Fish and Chips. Das fettige Zeug kriegte er aber beim besten Willen nicht runter. Während Ann Kathrin genüsslich, das Gesicht der Sonne zugewandt, in ihren Cheeseburger biss, warf Weller ein bisschen verschämt, als würde er etwas Ungesetzliches tun, sein Essen in den Mülleimer.

Sie waren vor zwei Tagen in Newark gelandet und mit dem Taxi, an dem großen Gefängnis zwischen Flughafen und Holiday Inn vorbei, nach Manhattan gefahren. Dieser Anblick hatte Ann Kathrin nicht in Ruhe gelassen.

Jetzt, angesichts der Möwen, die einen Mülleimer umgekippt hatten und sich um die Beute stritten, sagte Ann Kathrin: »Ich glaube, ich weiß, warum sie das Gefängnis zwischen Flughafen und Hotel gebaut haben. Das war eine sehr bewusste Entscheidung. So will man die Sehnsucht der Gefangenen wachhalten.«

Weller machte eine schnelle Handbewegung, um die Möwen zu verjagen, aber die ließen sich dadurch nicht beeindrucken. Sie zerfetzten, mit den Flügeln schlagend, eine Plastiktüte, aus der Hamburgerreste fielen.

Dies hier war kein Urlaub, aber auch keine offizielle Dienstreise. Sie hatten hier keinerlei polizeiliche Befugnisse. Scheinbar durfte hier jeder eine Waffe tragen, nur die beiden nicht.

Aus der Ferne verschoben sich die Perspektiven. Von Amerika aus war Aurich eine kleine Küstenstadt in Europa, nah bei Hamburg und Hannover. Von Aurich aus waren Hamburg und Hannover vier Stunden weit weg, und wenn man Pech hatte, musste man dreimal umsteigen, um mit Bus und Zug hinzukommen, dachte Weller.

Sie waren gekommen, um eine Person zu überprüfen. Eine junge Frau behauptete, ihren alten Klassenkameraden Markus Poppinga im Restaurant Ben Ash in Manhattan gesehen zu haben. Das Problem war nur, Markus Poppinga war vor drei Jahren auf Borkum tot in seiner Ferienwohnung gefunden worden.

Seine Eltern hatten die Leiche eindeutig identifiziert, und die trauernde Mutter trug inzwischen die Überreste ihres Sohnes zu einem bläulich schimmernden Diamanten gepresst, in Herzchenform geschliffen, an einer Kette um den Hals.

Nun hätte die Aussage einer hysterischen jungen Frau in diesem Fall sicherlich keine weiteren Ermittlungen ausgelöst, wäre es nicht Insa, die Tochter des Leiters der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund, Ubbo Heide, gewesen.

Weller und Ann Kathrin wohnten gegenüber vom Ben Ash im Wellington-Hotel an der 7th Avenue, also mittendrin im Gewühl. Die Alarmsirenen der NYPD heulten noch viel öfter als in den Kinofilmen, aus denen die beiden dieses unverwechselbare Geräusch kannten.

Es war schon ein besonderes Erlebnis für Weller, mit Ann Kathrin Zeit in Manhattan zu verbringen. Er hatte sich vorgestellt, die Ermittlungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren, gerade genug, um Ubbo Heide beruhigen zu können, denn eigentlich ging es nur darum, dass er vor seiner Tochter nicht als untätiger Idiot dastehen wollte, fand Weller. Aber das sagte er natürlich nicht.

Ann Kathrin hatte neben dem schnarchenden Weller die ersten zwei Nächte kaum ein Auge zutun können. Egal, ob sie das Fenster geöffnet oder geschlossen hielt, von draußen drang ein nervtötender Lärm herein. Die Alarmsirenen der New Yorker Polizei wurden von Hupkonzerten abgelöst. Jeder Autofahrer schien direkt vor dem Wellington-Hotel demonstrieren zu müssen, dass seine Hupe noch funktionierte.

Die dünne Gardine half überhaupt nicht gegen die grellen Lichter, und das heißfeuchte Klima New Yorks tat Ann Kathrin gar nicht gut. Sie hatte ständig eine Schweißschicht auf der Haut und wünschte sich zurück an den Deich nach Ostfriesland.

 

Ann Kathrin hatte Karten für ein Broadwaymusical ergattert. Weller traute sich nicht, ihr zu sagen, dass er eigentlich keine Lust hatte. Er hatte im Flieger einen Fußballkrimi von Ulli Schubert um einen homosexuellen Profispieler begonnen, und der Roman war jetzt so spannend, dass er die letzten Seiten von »Gefoult« unbedingt lesen wollte. Eigentlich interessierte Weller sich nicht für Fußball und für Schwule schon gar nicht, aber er wusste kurz vor Schluss immer noch nicht, wer der Täter war, und das ärgerte ihn als Kommissar sehr.

Der Anfang des Buches hatte ihm gut gefallen. Wenn mein bisheriges Leben ein Buch oder ein Film wäre, in dem ich selbst die Hauptrolle spielte, dann würde ich den Autor zwingen, den Anfang komplett neu zu schreiben. Damit konnte Weller sich identifizieren. In den Zeilen fand er sich wieder, deshalb hatte er das Buch spontan in der Flughalle am Kiosk gekauft.

Er sah jetzt schon Ann Kathrins Gesicht vor sich, wie sie ihm spöttisch klarmachte, dass der Krimi schließlich nicht weglaufen würde, das Broadwaymusical aber schon. Außerdem wollte sie ihn einladen, und da konnte er doch schlecht nein sagen.

Beim Lesen war Weller in seine Kindheit als Schüler zurückkatapultiert worden. Er musste an seinen alten Deutschlehrer, Hans-Helmut Brinkmann, denken, der bei einer Schülerdisco Drafi Deutschers »Marmor, Stein und Eisen bricht« mit überheblichem Lächeln kritisiert hatte. So mies seien deutsche Schlager, dass die sogenannten Songwriter nicht mal richtig Deutsch könnten.

»Das ist kein Schlager«, hatte Weller Drafi damals verteidigt, »das ist Deutschrock! Und was für Fehler sollen denn da drin sein?«

Brinkmann hatte nur auf das Stichwort gewartet. Er verzog den Mund, hob sein Kinn und sprach, als würde er höhere Töchter an einer Schweizer Privatschule unterrichten: »Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht. Fällt Ihnen dabei nichts auf, Herr Weller?«

So spitz, wie er das »Herr« betonte, musste an dem Satz irgendetwas falsch sein. Aber Frank kam nicht drauf. Im Ansehen seines Deutschlehrers sank er dadurch auf das Niveau von Insekten, und seine Deutschzensur sollte sich von dieser Niederlage nie wieder erholen.

»Es muss heißen: Marmor, Stein und Eisen brechen. Plural, Herr Weller. Plural. Der Schlagerfuzzi singt aber Singular.«

Verwirrt hatte Weller geantwortet: »Marmor, Stein und Eisen brechen, aber unsere Liebe nicht, reimt sich doch nicht.«

Das war dem Deutschlehrer nicht mal eine Antwort wert.

Jahre später, Weller war schon bei der Kriminalpolizei, sah er Hans-Helmut Brinkmann wieder, und zwar im Fernsehen. Er stand in einer brüllenden Menge und feierte ein gewonnenes WM-Spiel. Er grölte mit den anderen ein Lied, das nur aus einer einzigen Zeile zu bestehen schien: »Es gibt nur ein Rudi Völler! Ein Rudi Vööööller!«

Das hatte Weller gutgetan. Er hatte sich damals sogar an den Computer gesetzt und wollte eine E-Mail an seinen ehemaligen Deutschlehrer schreiben. Die ersten Sätze hatte er schon vorformuliert. Es müsse heißen: »Einen Rudi Völler. Akkusativ, Herr Brinkmann. Akkusativ.«

Er hatte die E-Mail nie abgeschickt. Aber doch nie dieses Bild vergessen, von seinem singenden Deutschlehrer, »es gibt nur ein Rudi Völler«.

Ulli Schuberts Krimi erinnerte ihn daran, und vielleicht mochte er das Buch schon allein deswegen.

Sie sahen Mamma Mia. Ann Kathrin hatte das Musical schon in Hamburg angeschaut und war begeistert gewesen. Er musste damals mit. Sie hatte zwei Karten besorgt, weil sie mit ihrem Sohn Eike »etwas ganz Besonderes machen wollte«. Aber Eike hatte sie versetzt. Weller war eingesprungen, und jetzt musste er schon wieder mit.

Er steckte sich den Schubert-Krimi ein. Er musste nur noch ein paar Seiten lesen. Dann, als sie bei geschlossenem Vorhang im Theater saßen und auf den Beginn der Vorstellung warteten, nahm Ann Kathrin seine Hand und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir beide in einem Musical am Broadway. Ist das nicht romantisch?«

»Ja«, sagte er, »total. Ich muss mal.«

»Beeil dich, bevor es anfängt.«

Er saß dann auf der Toilette und las seinen Krimi zu Ende. Er hörte die Klingel nicht. Er verpasste den Anfang, aber er erwischte den Mörder!

 

Die Freiheitsstatue kam Ann Kathrin merkwürdig klein vor. Weller wollte mit der Fähre von Manhattan nach Liberty Island, aber Ann Kathrin bestand darauf, über die Brooklyn Bridge zu gehen.

Weller hatte ein mulmiges Gefühl dabei. Er sprach nicht gern darüber, aber in solchen Höhen fühlte er sich nicht wohl. Es machte ihm nichts aus, zu Hause im Distelkamp auf dem Garagendach herumzuklettern. Er konnte auch auf einer Leiter stehen und die Kirschen pflücken – all das war kein Problem. Aber auf einer Hängebrücke über den East-River zu gehen, entsprach nicht Wellers Vorstellungen von einem entspannten Urlaub. Ebenso wenig hatte er Lust, Bungee zu springen oder im 32. Stockwerk eines Hochhauses Fenster zu putzen.

Er befürchtete, am Ende wolle Ann Kathrin sogar noch aufs Empire State Building, 84 Stockwerke hoch. Er gestand sich nicht gerne ein, dass er Probleme damit hatte. Es reichte doch schon, dass sie daheim in Norden seine Chefin war. Er wollte wenigstens in der Freizeit ein bisschen auftrumpfen und eine gewisse Überlegenheit bewahren.

Weller hatte tolle Gegenvorschläge. Es gab ja wahrlich genug anzuschauen in New York. Aber Ann Kathrin bestand auf der Brooklyn Bridge.

Sie zitierte den Lyriker Walt Whitman, der angeblich gesagt hatte, ein Gang über die Brooklyn Bridge befreie die Seele.

So, wie sie den Namen »Walt Whitman« aussprach, war er ein bedeutender Literat. Weller kannte sich zwar in der amerikanischen Kriminalliteratur aus, Raymond Chandler, Dashiell Hammett, Cornell Woolrich, das waren seine Helden, aber dieser Walt Whitman hatte nie einen bedeutenden Krimi verfasst, und Lyrik war nicht gerade Wellers Hauptlektüre. Trotzdem nickte er beeindruckt, als Ann Kathrin diesen Whitman zitierte, und ahnte, dass jeder weitere Widerspruch sinnlos war.

Auf der Brücke hatte er Mühe, zu atmen. Ein Ostfriese, dachte er, gehört aufs platte Land. Das hier war für ihn mindestens so grauenhaft wie ein Urlaub in den Alpen. Skifahren in St. Moritz oder Wandertage auf dem Großglockner und seinen Gletschern. In achtzig Metern Höhe über dem East-River bekam Weller kaum noch Luft, während Ann Kathrin begeistert den herrlichen Blick auf die Skyline Manhattans pries und das Ganze manchmal »phantastisch«, dann wieder »surrealistisch« und schließlich »völlig irre« fand.

»Lass uns weitergehen«, sagte Weller, rang nach Luft und versuchte, nicht auf die Skyline, sondern auf seine Füße zu gucken. Er kam sich erbärmlich vor und hatte Angst, hier komplett zu versagen. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt.

Ann Kathrin wollte ihn fotografieren, und er sollte auch noch lächeln und vor dem Geländer posieren.

»Mensch, lach doch mal!«, forderte sie ihn auf. »Wir schicken das heute Abend deinen Töchtern, das ist schneller als jede Postkarte. Ihr Vater auf der Brooklyn Bridge … Und du stehst da wie ein Schluck Wasser in der Kurve!«

 

Während Weller und Ann Kathrin über die Brooklyn Bridge gingen, standen Wellers Töchter Jule und Sabrina nicht weit von seinem Arbeitsplatz, der Polizeiinspektion in Aurich, entfernt vor Dinis Disco Schlange. Sie hatten sich heftig geschminkt, was ihre ohnehin leicht aristokratischen Züge, die sie vermutlich von ihrer Mutter hatten, noch unterstrich und sie ein wenig hochnäsig, ja, zickig aussehen ließ. Verbunden mit ihrem betont selbstsicheren Auftreten, hofften sie, man würde sie vielleicht mit irgendwelchen VIPs verwechseln, die auf der Durchreise von London nach Paris in Aurich Zwischenstation machten.

Gemeinsam mit Stefan Raider, der sich Stevie nannte und Joachim Neumann, der sich gern mit Joe Dark anreden ließ, hatten sie draußen im Auto schon ein bisschen vorgeglüht. Die süßen Alcopops schmeckten ungefährlich nach Limonade, aber Jule hatte schon glasige Augen, und unter der Schminke brannten Sabrinas Wangen.

Sabrina hatte mit Joe Dark auf dem Rücksitz gesessen, und sie fand, dass er verdammt gut küsste. Sie klebten aneinander, und alle paar Minuten tauschten sie ihre Kaugummis von Mund zu Mund aus, und jeder kaute das des anderen weiter.

Joe Dark hatte Sabrinas Lippenstift am Hals. Jule schielte immer zu Sabrina und Joe herüber, denn ihr Stevie küsste lange nicht so gut. Im Gegenteil, er sabberte dabei ziemlich herum und roch nach Pommes und Zigarettenqualm. Trotzdem wollte Jule nicht zurückstehen, und immerhin gehörte Stevie das Auto, und er hatte den Kofferraum noch voll mit Drinks.

In der Disco, sagte er, sei das schweineteuer und dann könne man doch besser ab und zu runter zum Auto gehen, dort ein bisschen frische Luft schnappen und im Wagen etwas trinken.

Jule hatte das zunächst sogar geglaubt und fand den sparsamen Zug an Stevie durchaus sympathisch, aber Sabrinas Grinsen machte ihr klar, dass etwas anderes dahintersteckte.

»Der hat Liebessitze im Auto«, raunte sie in Jules Ohr. »Der will dich da draußen vernaschen, meine Süße.«

Die beiden hatten sich eigentlich geschworen, zusammenzubleiben, egal was passierte, aber die beiden jungen Männer machten die Sache kompliziert. Sabrina konnte sich durchaus vorstellen, mit Dark etwas in dem alten BMW anzufangen. Jule war da noch zögerlich. Sie hatte sich ihre erste Liebesnacht eigentlich anders vorgestellt, vielleicht nicht gerade in einem Himmelbett mit seidener Wäsche, aber doch auch nicht auf irgendeinem Parkplatz hinten im Auto.

Dark wollte eigentlich schon vor der Disco draußen mit den Mädchen »eine Tüte durchziehen«, aber Jule hatte mit Haschisch und Alkohol schlechte Erfahrungen gemacht und sich geschworen, nie wieder beides zusammen zu nehmen.

Stevie fand das ein bisschen spießig und zickig, aber er stand auf Jungfrauen und war sich sicher, eine vor sich zu haben, als sie den Joint ablehnte.

Er behauptete, den Türsteher zu kennen, und es sei alles überhaupt kein Problem. So wie sie aussähen, würden sie ihn sowieso aus dem Anzug hauen. Aber dann wollte er doch ihren Ausweis sehen und blieb hart. Er wollte keinen Ärger mit den Bullen provozieren, und so landeten die vier wieder im Auto.

Stevie schlug vor, zu einer Kuhweide am Waldrand von Aurich-Oldendorf zu fahren. Dort hatte er angeblich mal bei einer Vatertagsparty mitgemacht, mit Kuhfladen-Roulette und der Crossroads-Blues-Rock-Band. Das sei für Partys ein geradezu magischer Boden, und sie vier könnten doch auch gut eine Fete alleine feiern.

»Was hast du denn auf ’ner Vatertagsparty zu suchen? Und wie bist du überhaupt in die Ü-30-Fete reingekommen?«, lachte Dark.

Sie bogen auf der Leerer Landstraße rechts ab. Das Letzte, was Sabrina auf dem Rücksitz sah, war das Schild nach Schirum, ab dann wehrte sie sich nur noch gegen die vielen Hände, die Dark plötzlich zu haben schien.

Das Spiel machte ihr durchaus Spaß. Er schob seine Hand unter ihren Kleidungsstücken nach vorn. Sie stoppte die Hand. Er zog sie ganz zurück, aber das Gebiet, das er berührt hatte, galt als erobert, und beim nächsten Versuch setzte er dort wieder an und versuchte, ein paar Zentimeter zu gewinnen.

Es war klar, wie alles enden würde. Auf dem Weg dahin wollte sie es ihm aber nicht zu einfach machen. Sie hatte nicht vor, eine leichte Beute zu werden. Sie wollte sich erobern lassen.

Jule klappte die Sichtblende herunter. Dahinter befand sich ein Schminkspiegel. Sie wollte sich aber eigentlich gar nicht die Lippen nachziehen, sondern nur ihre ältere Schwester beobachten. Sabrina war immer ein Stück weiter als sie, ihr immer ein bisschen voraus. Einerseits gefiel Jule das. Es machte ihr Mut, knapp hinter Sabrina in deren Fußstapfen zu laufen. Doch manchmal hatte sie auch große Lust, ihre Schwester einfach zu überholen. Dies schien nicht so ein Abend zu werden, aber noch war er ja nicht zu Ende.

Sie nahm einen Schluck von dem Red Bull-Wodka-Gemisch, aber Stevie zog ihr die Dose weg und lachte: »Du hast doch schon Flügel, mein Engel! Gib mir mal den Ferrari.« Dann legte er den Kopf in den Nacken und trank.

»Hey, gib mir auch noch was!«, kicherte Jule.

Die Scheinwerfer des BMW ließen die Bäume wie lebendige Wesen erscheinen, die mit ihren Armen versuchten, nach dem Wagen zu greifen und ihn zu stoppen. Ihnen kam ein Mitsubishi entgegen. Den Citroen dahinter sahen sie nicht. Er setzte zum Überholen an. Der Mitsubishi schlingerte und stieß den Citroen an. Dann blieb der Citroen zurück.

Der Mitsubishi fuhr Schlangenlinien. Er kam ihnen auf ihrer Seite entgegen. Die Wagen krachten frontal gegeneinander, prallten dann voneinander ab und überschlugen sich, jeder zu einer anderen Straßenseite hin. Dort blieben die Fahrzeuge liegen.

Der Citroen drehte sich auf der Fahrbahn. Dann, nach einer kurzen Schrecksekunde, raste der Wagen in Richtung Aurich davon.

Eine Weile schien die Zeit stillzustehen und nichts zu geschehen. Dann öffnete sich im Mondlicht die Fahrertür des auf dem Dach liegenden BMW. Aber es stieg niemand aus. Nur ein Schrei gellte über die Wiesen.

 

Als hätte er diesen Schrei gehört, zuckte Weller zusammen. Er musste urplötzlich an seine Kinder denken, an Jule und Sabrina und diese ganze unwürdige Situation.

Wann hatte er sie eigentlich zum letzten Mal gesehen? Sie lebten bei seiner Exfrau, Renate, und es gab scheinbar heftige Probleme. Kein Wunder, bei Mädchen in dem Alter, dachte er.

Lange hatte er nicht mehr so sehr wie jetzt gespürt, dass die Mädchen ihren Vater brauchten. Am liebsten hätte er die nächsten Tage mit ihnen verbracht, statt Sehenswürdigkeiten in New York abzulatschen.

»Ich weiß vielleicht jetzt, wie man sich auf der Brooklyn Bridge fühlt«, sagte er, »aber ich habe keine Ahnung, was in meinen Töchtern vorgeht.«

»Herrjeh, willst du jetzt die Stimmung restlos kaputtmachen?«, fragte Ann Kathrin. »Was soll das? Wir sind hier, an diesem besonderen Ort der Welt. Wir kommen vielleicht nie wieder hierhin. Sollen wir uns jetzt Gedanken über die Probleme zu Hause machen?«

Sie ging ein paar Meter vor, in Richtung Manhattan. Sie brauchte jetzt Abstand zu Weller. Sie wollte sich von dieser miesepetrigen Energie nicht einfangen lassen.

Irgendein Mist ist dem Glück immer im Weg, dachte sie grimmig. Entweder läuft es beruflich schief, oder einer ist krank, hat Ärger mit seinem Expartner, die Waschmaschine leckt, oder die Kinder zicken rum. »Kann nicht auch mal etwas einfach gut sein, und man ist fröhlich und amüsiert sich?«, fragte sie mehr sich selbst als Weller. Aber sie sagte es laut vor sich hin, gegen den Wind, und wurde von einem Rentner aus Wuppertal in glänzender Joggingkleidung überholt, der sich über die heimatlichen Klänge freute und ihr fröhlich zuwinkte. »Genau, junge Frau, genau so ist es! Man darf sich im Leben nicht alles verderben lassen. Es macht sonst keinen Spaß mehr, wenn es keinen Spaß macht!«

Am liebsten wäre Ann Kathrin neben ihm her gejoggt, aber dafür war sie nicht passend angezogen, und irgendwie tat Weller ihr natürlich auch leid. Sie blickte sich zu ihm um. Er war jetzt gut zwanzig Meter hinter ihr und hielt sich mit beiden Händen am Brückengeländer fest.

Erst jetzt erkannte sie die ganze Wahrheit. Ihm ist schlecht vor Angst, dachte sie. Er hält die Höhe nicht aus.

Sie lief zu ihm, legte eine Hand zwischen seine Schulterblätter und fragte: »Ist dir nicht gut?«

»Doch, doch, ist schon alles in Ordnung. Du hast ja recht. Tut mir leid, dass ich so scheiße drauf bin. Aber mir fällt das nicht leicht. Du bist freier und unabhängiger als ich. Du bezahlst, wenn wir ins Musical gehen. Du legst die Dollars auf den Tisch, wenn wir gut essen gehen oder …«

»Ach. Hör doch auf. Du hast Höhenangst. Meinst du, ich sehe das nicht? Komm, wenn du willst, können wir zurückgehen.«

Er sah sie tapfer an. »Nein. Ich werde jetzt mit dir über diese Brücke gehen. Bis Manhattan. Das soll ja die Seele befreien, hat der Weihnachtsmann gesagt, oder wie der Typ heißt.«

»Walt Whitman, Frank. Walt Whitman heißt er.«

»Okay. Dann wollen wir mal sehen, ob der Typ recht hat.«

 

Sie frühstückten bei Ben Ash, wo Insa Heide angeblich ihren toten Klassenkameraden Markus Poppinga gesehen hatte. An den Wänden hingen, eingerahmt wie Familienfotos, Bilder von Al Pacino, Elvis und Sylvester Stallone.

Weller und Ann Kathrin saßen an einem kleinen Tisch am Fenster. Ann Kathrin, die angeblich eine Diät machte, bestellte sich Pancake mit Heidelbeeren und Sirup. Weller nahm einen Bagel mit Cheese and Bacon.

Ann Kathrin legte das Foto von Markus Poppinga auf den Tisch.

Weller staunte. »Willst du jetzt hier ernsthaft mit Befragungen beginnen?«

»Wir müssen etwas tun. Wir können hier nicht einfach Urlaub auf Ubbos Kosten machen.«

Weller grinste über Ann Kathrins Naivität. »Aber bitte, Ann, was denn sonst? Er wird vor seiner Tochter gut dastehen. Er hat sie ernst genommen und von seinen Rücklagen, die eigentlich für einen geruhsamen Lebensabend bestimmt waren, privat unseren Flug nach New York bezahlt. Wir kommen zurück, sagen, dass das ein Hirngespinst war, und alles ist okay …«

Ann Kathrin drehte, als die Kellnerin heranstöckelte, das Foto um. Sie bekamen Kaffee in dicken Pötten, und Ann Kathrin protestierte: »Und was sollen wir berichten? Dass wir über die Brooklyn Bridge gegangen sind und Mamma Mia gesehen haben?«

Weller probierte den Kaffee und verzog den Mund. Er sehnte sich zurück zu seiner Espressomaschine. Für ihn war das hier nur lauwarmes, schwarzes Wasser.

Ann Kathrin schmeckte der Kaffee.

Weller aß seinen Bagel mit Heißhunger, staunte aber über die fünf Pfannkuchen, die Ann Kathrin nacheinander verdrückte. Als der Teller mit der Riesenportion vor ihr auf dem Tisch stand, hätte er jede Wette gehalten, dass sie nicht mal die Hälfte verputzen könnte. Als sie Sirup auf den Letzten träufelte, gab er die Hoffnung auf, den Rest zu bekommen. Er hätte ihr nur zu gern geholfen.

Jetzt sagte er: »Interessante Diät.«

»Hm, finde ich auch«, antwortete Ann Kathrin und bestellte sich zum Nachtisch Eier mit Speck.

Die Kellnerin beachtete Ann Kathrin kaum, flirtete aber unverhohlen mit Weller. Dem schmeckte bei so viel Beachtung sogar der Kaffee gleich besser.

Entweder hatte sie einen Narren an ihm gefressen, oder sie spekulierte auf ein gutes Trinkgeld, folgerte Ann Kathrin. Weller winkte fast verlegen ab, setzte sich aber kerzengerade hin und warf im Fenster einen Blick auf seine Frisur.

Die junge Frau fragte, ob sie beide Touristen seien, wie ihnen New York gefalle, ob sie schon auf dem Empire State Building gewesen seien, und Weller scherzte, er kenne das nur aus den berühmten King-Kong-Verfilmungen. Das sei doch das Gebäude, auf dem so gerne Riesenaffen herumkletterten.

Sie lachte und zeigte ihre perfekten Zahnreihen, die so weiß waren, dass sie auf Ann Kathrin unecht wirkten.

»Sie ist keine Kellnerin«, kombinierte Ann Kathrin.

»Warum?«, fragte Weller. »Sie macht das doch ganz gut. Und ich finde sie ausgesprochen freundlich.«

Er sah hinter ihr her. Sie hatte einen Schlitz im Kleid und durchtrainierte, muskulöse Beine.

»Guck dir doch mal ihre Schuhe an. Nicht nur die Beine.«

Weller zuckte mit den Schultern, als wüsste er gar nicht, wovon Ann Kathrin redete. Sie fuhr unbeirrt fort: »Keine echte Kellnerin läuft in High Heels rum. Da kriegt sie in kürzester Zeit Rückenprobleme.«

Sie wollte wenigstens guten Gewissens sagen können, dass sie es versucht hatte, also hielt sie der Kellnerin das Foto hin. »Wir suchen diesen Mann. Haben Sie ihn schon einmal gesehen?«

Die Frisur der jungen Frau erinnerte an einen Motorradhelm. Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Aber Ann Kathrin und Weller waren als Polizisten erfahren genug, um sofort zu bemerken, dass die Frau sich zusammenriss. Ihre Pupillen erweiterten sich schreckhaft.

»Was wollen Sie von ihm?«, fragte sie.

»Wir sind Freunde aus Deutschland.«

Die Kellnerin schüttelte den Kopf.

»Nein«, lächelte sie jetzt, sie kenne ihn nicht.

Weller und Ann Kathrin mussten sich nicht einmal ansehen. Sie waren sich sofort einig. Die junge Frau sagte die Unwahrheit.

Ann Kathrin spürte es wie ein Kribbeln auf der Haut. Es konnte also etwas dran sein an der Sache. Vielleicht gab es hier zumindest eine Person, die Markus Poppinga ähnlich sah. Mit so einem Ergebnis könnten sie getrost nach Ostfriesland zurückfliegen, aber sie brauchten einen Namen und eine Adresse.

Ann Kathrin bat darum, mit dem Chef sprechen zu dürfen. Das gefiel weder der Kellnerin noch Weller.

»Ann«, zischte er, »wir haben hier keinerlei …«

»Ich darf doch einen Freund suchen!«

Der Chef sei morgens nie da, flötete die Kellnerin betont freundlich, winkte aber einen griechisch aussehenden Kollegen herbei. Er eilte mit breitem Lächeln heran. Mit raumnehmenden Gesten fragte er, was er für seine Gäste tun könne. Ann Kathrin zeigte ihm das Foto.

Der Alexis-Sorbas-Typ blickte sich sofort zu der Kollegin mit der Prinz-Eisenherz-Frisur um. Weller registrierte, wie sie ihn wortlos zum Schweigen brachte. Der Kellner blieb höflich, behauptete aber, diesen Jungen nicht zu kennen. Dann wandte er sich einem anderen Gast zu, der einen »Deutschen Schokoladenkuchen« bestellt hatte.

Erstaunt beobachtete Weller, wie ein mächtiges Stück dunkler Torte serviert wurde. Er hatte so einen Kuchen in Deutschland noch nie gesehen.

Sie aßen stumm auf. Ann Kathrin zahlte für beide und gab fünf Dollar Trinkgeld, was Weller übertrieben fand.

Draußen auf der 7th Avenue gingen die zwei in Richtung Times Square auf die blitzenden Lichter zu. Neben ihnen hupte ein Taxi. Weller sagte: »Okay. Sie lügen beide. Aber warum?«

»Die Kellnerin hat sich heftig erschreckt.«

»Ich war schon froh, dass du nicht ihre Personalien festgestellt und ihr eine Vorladung gegeben hast.«

»Ihren Namen hätte ich aber schon gerne.«

Ein Bettler mit einem Pappschild um den Hals wurde von fröhlichen Touristen aus den Niederlanden fotografiert. Auf seinem Pappkarton stand mit roter Schrift geschrieben: I don't bullshit you. I need your money for beer and drugs.

Weller übersetzte laut: »Ich bescheiße euch nicht. Ich brauche euer Geld für Bier und Drogen.«

Bei so viel Ehrlichkeit war sogar Weller bereit, etwas zu spenden, aber im letzten Moment dachte er dann doch an seine Schulden und ließ es bleiben. Er lebte sowieso schon wieder über seine Verhältnisse.

»Ubbo zahlt euch den USA-Aufenthalt. Das sind im Grunde Flitterwochen, und ihr müsst nicht mal heiraten«, hatte Rupert neidisch gespottet. In Wirklichkeit zahlte Ubbo Heide den Flug und das Hotel. Aber all diese Extraausgaben, vom Frühstück übers Taxifahren bis zu den Drinks und den Sehenswürdigkeiten, den Musicals und den Shows, all das sprengte Wellers Rahmen. Ann Kathrin zahlte ohne zu murren für ihn mit. Er fühlte sich schon wie ein Gigolo. Im Gegensatz zu ihr musste er mit seinem Gehalt Unterhalt für beide Töchter und seine Exfrau zahlen. Ihm blieben knapp neunhundert Euro.

Ann Kathrin riss ihn aus seinen Gedanken. »Wir brauchen ihren Namen und ihre Adresse. Ich wette, sie führt uns direkt zu Markus Poppinga.«

Weller stöhnte: »Ann! Markus Poppinga ist tot. Er hängt – makaber genug – seiner Mutter um den Hals.«

»Siehst du, eben das gefällt mir auch nicht. Damit ist jede Nachprüfbarkeit für uns dahin. Kein Sarg. Keine Leichenreste. Keine DNA-Spuren.«

»Willst du die Kleine jetzt beobachten oder was?«

Vor Weller stöckelten zwei Italienerinnen mit waffenscheinpflichtigen Stilettos über die Gitter der U-Bahn-Schächte. Weller rechnete damit, dass wenigstens eine von ihnen gleich umknicken und hinfallen würde. Er war bereit, sie aufzufangen, aber nichts geschah. Ann Kathrin beobachtete ihn amüsiert.

»Wir können Ubbo schlecht sagen, dass eine Frau mit Prinz-Eisenherz-Frisur auf das Foto komisch reagiert hat.«

»Was willst du? Einen Privatdetektiv engagieren? Die Kollegen werden uns kaum helfen …«, sagte Weller und zeigte versonnen auf den Stützpunkt der New Yorker Polizei.

Das muss ich fotografieren, dachte er. Eine Polizeiinspektion mit flackernder Neonleuchtschrift.

»Bordelle in Ostfriesland sehen seriöser aus als hier das Polizeipräsidium«, grinste er.

Während er mit seinem Handy Fotos machte, stellte Ann Kathrin sich vor, wie das in Aurich aussähe oder in Norden. In Leuchtreklamebuchstaben: Polizeiinspektion! Es fehlten eigentlich nur noch ein paar Uniformierte, die einen Stepptanz aufs Straßenparkett legten, und die Broadwaymusicalkulisse wäre perfekt.

»Hättest du nicht Lust, die Süße mal zum Essen einzuladen?«

Weller glaubte, dass Ann Kathrin das nicht ernst meinte, trotzdem empörte er sich gespielt: »Das ist jetzt hoffentlich nicht dein Ernst!?«

»Warum nicht? Sie ist bestimmt nicht abgeneigt und zeigt dir gerne die Stadt. Gegen ein kleines Trinkgeld und …« Ann Kathrin flüsterte den Rest des Satzes mit leicht erotischer Stimme in sein rechtes Ohr: »… und für dich macht sie es vielleicht sogar umsonst. Also aus purer Völkerfreundschaft.«

»Ann, bitte …« So, wie sie ihn ansah, hatte Protest seinerseits gar keinen Sinn. Trotzdem widersetzte er sich, denn er hatte ganz und gar nicht das Gefühl, hier könnte gerade ein neues, gutes Kapitel in ihrer Beziehung aufgeschlagen werden.

Das Ganze konnte nur als Niederlage für ihn enden. Entweder er bekam nichts aus der Dame heraus, dann würde es hinterher heißen, er hätte nur geflirtet und dabei seinen Job vergessen. Kam er aber – ermittlungstechnisch gesehen – weiter, hätte er ab dann mit dem Nimbus eines Frauenverführers zu kämpfen, dem die Herzen nur so zuflogen, und der diese Gunst für seine Zwecke ausnutzte.

Er erkaufte sich eine kleine Atempause, indem er eine Postkarte der Brooklyn Bridge erstand und sich am Times Square zwischen die flirrenden Lichter der wohl aufdringlichsten Werbung der Welt setzte und geradezu meditativ darin versank, eine Postkarte an seine Töchter zu schreiben.

Liebe Jule, liebe Sabrina!

Über diese Brücke ist euer Papa gegangen.

Er unterschrieb nicht mit Papa oder Frank, sondern mit Walt Whitman. Er war sich sicher, seine Töchter würden googeln, wer das war und dann schwer beeindruckt sein, dass ihr Vater nicht nur Kriminalschriftsteller zitierte, sondern auch Lyriker kannte.

Ann Kathrin stand die ganze Zeit auf der Treppe neben ihm, sah wie hypnotisiert auf die Sony-Werbung und wartete auf seine Entscheidung.

»Und was machst du in der Zeit?«, fragte er.

Sie lächelte.

 

Ein Teilstück der Straße war immer noch gesperrt. Der ostfriesische Wind ließ die weiß-roten Markierungsbänder knattern. Die Autos auf dem Feld wirkten wie kunstvoll in die Landschaft integrierte Objekte, die den Verfall der mobilen Gesellschaft demonstrieren sollten. Zweckentfremdete Fahrzeuge. Karosserien, die aus dem Boden wuchsen.

Rupert musste an den Roten Platz in St. Gallen denken, wo der Asphalt weich und rot war. Dieses irritierende Gefühl unter den Füßen. Sitzbänke waren mit diesem Zeug übergossen, und ein Auto schien daraus hervorgewachsen zu sein und war doch gleichzeitig darunter begraben.

Ja, daran musste Rupert denken, vielleicht, weil der Boden unter seinen Füßen jetzt ebenfalls weich war und eine Hummel um seinen Kopf brummte, genau wie vor zwei Jahren in St. Gallen. Er schloss für einen Moment die Augen und erinnerte sich an die kurze, aber heftige Affäre mit der Schweizer Kollegin, die er danach nie wieder gesehen hatte.

»Wieso holt man uns bei einem Verkehrsunfall?«, fragte Rupert spitz. »Vielleicht sollen wir in Zukunft auch noch Strafmandate schreiben? Wir haben ja sonst nichts zu tun.«

Sylvia Hoppe fixierte Rupert. Er war offensichtlich genau so, wie ihre Kolleginnen es ihr geschildert hatten. Ein trinkfester, sangesfroher Macho. Sie war von Köln der Liebe wegen nach Ostfriesland gezogen, und solche Typen kannte sie zur Genüge.

»Die Fahrerin des Mitsubishi war splitterfasernackt. Wir dachten, das interessiert euch!«, gab sie schnippisch zurück.

Rupert zog die Augenbrauen hoch. »Allerdings.«

Abel von der Spurensicherung winkte Rupert zu sich. »Die sind frontal ineinandergeknallt, und wenn du mich fragst, war da noch ein drittes Fahrzeug im Spiel.«

Abel wollte Rupert die Spuren auf der Straße erklären, zeigte sie dann aber doch lieber auf dem Display der Digitalkamera. Dort kamen sie besser zur Geltung, fand Abel.

Rupert schlug nach der Hummel.

»Nicht«, sagte Abel. »Das macht die nur nervös. Am besten bleibt man ganz ruhig und tut gar nichts.«

»Wenn ich solche Sprüche höre!«, brummte Rupert sauer. Am liebsten hätte er sein Pfefferspray gegen die Hummel benutzt. Er hasste alles, was flog, Stacheln hatte und Töne machte.

»Sieh mal hier«, sagte Abel und hielt den Fotoapparat so, dass die Sonne erneut zu sehr auf das Bild schien. »Da war eindeutig ein drittes Fahrzeug im Spiel. Wir haben das Reifenprofil bereits. Der Fahrer hat sich möglicherweise einer Unfallflucht schuldig gemacht. Zumindest ist es fragwürdig, warum er uns nicht gerufen hat. Der Unfall wurde erst viel später gemeldet, von einem ehemaligen Kapitän der …«

»Geschenkt«, sagte Rupert. Er schielte zu Sylvia Hoppe rüber. Er kannte die Kollegin noch nicht, aber er konnte sie auf Anhieb nicht leiden, und er wusste auch genau, warum. Sie hatte so einen nörgelnden Ton in ihrer Stimme, als sei sie sich zu fein, um durch den Mund zu sprechen und benutzte deshalb die Nase. Sie war schmal und hinten flach, genau wie die Schweizerin, die ihm ins Ohr geflüstert hatte, er würde als Mann von Tag zu Tag unattraktiver für sie, und sie könne sich selbst nicht erklären, wie sie auf ihn hereingefallen sei.

»Die Leiche ist schon in der Gerichtsmedizin …«, sagte sie, und es klang wie eine nasale Antwort auf Ruperts fragenden Blick.

»Da waren Drogen im Spiel«, erklärte Rupert. »Was sonst? Diese Kids feiern und saufen, spielen Sexspielchen und am Ende …« Er ließ die beiden Hände gegeneinanderklatschen.

Abel nickte. »In dem BMW wurden Scherben gefunden und Dosen Alcopops und Bier. Die Nackte …«

»… war garantiert zugedröhnt«, prophezeite Rupert großspurig.

Abel hatte auch Bilder von der nackten Leiche. Sie war höchstens zwanzig und ihr Schädel kahl rasiert.

»Warum tun die jungen Dinger sich so etwas an?«, fragte Rupert und meinte – für Abel ganz klar – die fehlende Frisur.

»Habt ihr schon die Eltern verständigt?«

Sylvia Hoppe mischte sich ein. Rupert hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Er konnte diesen Ton kaum ertragen.

»Wir haben den Halter des Fahrzeugs ermittelt. Die Fahrerin war nicht die Besitzerin. Der Halter ist ein gewisser …«, sie blätterte in einem Block. »Alexander Okopenko aus Westerstede.«

»Und?«, fragte Rupert eine Spur zu aggressiv. »Hat sie den Wagen geklaut? Ist sie seine Freundin? Frau? Tochter?«

»Wir haben unter der angegebenen Adresse noch niemanden erreicht.«

»Das Bürschchen knöpfe ich mir selbst vor. Vielleicht sollten wir auch die Freunde vom Rauschgiftdezernat …«

Abel nickte. Eine nackte Frau, nachts, mit überhöhter Geschwindigkeit. Er war sicher, dass sie ein Drogennest ausheben würden.

»Das Fahrzeug selber müssen wir uns noch genauer ansehen. Kann durchaus sein, dass es für Drogentransporte eingesetzt wurde. Der Wagen wurde umgebaut. Das ist in den TÜV-Papieren nicht vermerkt. Der Kofferraum wurde künstlich erweitert. Das Ganze ist recht geschickt gemacht. Da wollte jemand Schmuggelware transportieren oder Menschen verstecken.«

»Ich war mal in Westerstede, zur großen Rhododendronschau. Das ist ganz märchenhaft. Der Marktplatz war ein einziges Blütenmeer. Damals habe ich mich in Ostfriesland verliebt. Danach erst in meinen Mann«, schwärmte Sylvia Hoppe.

Rupert verdrehte die Augen. Diese zugereisten Ostfrieslandbegeisterten gingen ihm zunehmend auf die Nerven. Die freuten sich bei Flut jedes Mal, wenn das Meer wiederkam, und staunten, dass es dann bei Ebbe wieder verschwand.

»Westerstede gehört nicht mehr zu Ostfriesland«, knurrte er, »das ist das Ammerland.«

Sylvia Hoppes Augen verengten sich zu Schlitzen, und das lag nicht an der Sonne. Sie kannte Männer wie Rupert. Sie hatte zwei von seiner Sorte geheiratet. Die mussten ständig Frauen belehren, um sich zu beweisen, was für tolle Hechte sie waren.

»Wissen Sie, Kollege Rupert«, sagte sie betont dienstlich, »was ich höchst interessant finde?«

Rupert reagierte mit einem Schulterzucken. Sie sah ihm an, dass er auf der Hut war und fuhr fort: »Sie interessieren sich für die nackte Frau, aber überhaupt nicht für die vier verletzten Insassen des anderen Fahrzeugs.«

»Stimmt«, sagte Rupert. »Genau deswegen habt ihr mich doch auch gerufen.«

Er drehte sich um, um diese Sylvia Hoppe nicht länger sehen zu müssen. Er ärgerte sich darüber, dass er immer noch seiner Schweizer Affäre hinterhertrauerte, und er war sauer, weil Weller und Ann Kathrin bezahlten Urlaub in New York machen konnten und er nicht. Er fühlte sich mal wieder benachteiligt. Zu kurz gekommen. Selbst die Sonne regte ihn auf und der blaue Himmel. Das Wetter passte nicht zu dem Unfall und der Leiche und seiner schlechten Laune. Er fand, es hätte regnen und stürmen sollen. Auch ein ordentliches Gewitter wäre ganz nach seinem Geschmack gewesen. Blitz und Donner sollten Eis schleckende Touristen vertreiben und Platz machen für schwer schuftende, unterbezahlte Menschen wie ihn.

Er stand jetzt vor dem Dienstwagen und hätte am liebsten gegen die Tür getreten, dann ließ sich die Hummel auf dem Dach nieder. Er betrachtete das pelzige Tier voller Groll. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und nahm den Ostfriesischen Kurier vom Rücksitz. Er rollte die Zeitung zu einer Waffe zusammen und schlug damit zu. Es ging ihm gleich besser.

Sofort wies Sylvia Hoppe ihn zurecht: »Hummeln sind durch das Bundesnaturschutzgesetz geschützt.«

»Ja, dann können Sie mich ja jetzt anzeigen, Frau Hupe.«

»Hoppe. Das werden Sie sich doch noch merken können, oder, Herr Kollege?« Dann belehrte sie ihn: »Hummeln sind staatenbildende Insekten. Im Aberglauben stellten sie die Verkörperung von Hexen dar. Kerzen aus Hummelwachs wurden gerne geweiht, bevor die Verbrennung von Hexen begann.«

»Toll«, spottete Rupert. »Muss ich mir merken, falls ich mal zu einer Hexenverbrennung eingeladen werde.«

Sie ignorierte seinen Seitenhieb und fuhr fort, als sei er sehr wissbegierig: »Es gibt allerdings auch die Mär, sie seien geldbringende Kobolde. Dem Volksglauben nach haben Sie sich gerade von jedem Geldzufluss abgeschnitten.«

Rupert stieg ins Auto. Es war warm und roch nach geschmolzenem Käsebrot.

Er konnte das nicht auf sich sitzenlassen. Er gönnte ihr den Triumph nicht. Zum Glück fiel ihm noch eine kluge Antwort ein: »Ich weiß, und nach den Gesetzen der Aerodynamik kann eine Hummel nicht fliegen, weil ihre Flügel im Verhältnis zum Gewicht zu klein sind.«

Sylvia Hoppe nickte. »Aber weil die Hummel keine Ahnung von Aerodynamik hat und nichts über ihr Unvermögen weiß, kümmert sie sich nicht darum und fliegt trotzdem.«

Blödes Weib, dachte Rupert und zischte: »Müssen Sie immer das letzte Wort haben?«

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie nichts mehr sagen wollten, Herr Kollege.«

Rupert gab Gas und drehte das Radio voll auf. Radio Ostfriesland brachte Pink Floyd, »The Wall«. Rupert grölte mit: »It’s just another brick in the wall!«

 

In gewisser Weise tat es Renate Weller gut, ihren Ex nicht zu erreichen. Die Töchter hatten einen schweren Autounfall, und ihr Vater amüsierte sich mit seiner Geliebten in New York. Sein Handy war dort nicht erreichbar, und natürlich hatte er ihr keine Hoteladresse hinterlassen. Sie war wütend auf ihn, und diese Wut half ihr, mit ihrer Angst fertig zu werden.

Die Gefühle fuhren mit ihr Achterbahn. Sie machte sich Vorwürfe. Sie kannte die Männer nicht, in deren Auto ihre Kinder verunglückt waren. Sie stand vor den Polizisten als Idiotin da, fand sie. Überhaupt, seit sie von Frank geschieden war, hatte sie ein Problem mit der Polizei. Wenn sie gut behandelt wurde, dann glaubte sie, das geschehe aus Rücksicht auf ihren Namen. Wenn sie sich aber ungerecht behandelt fühlte, dann konnte das natürlich nur daran liegen, dass seine Kollegen ihr eins auswischen wollten, weil sie bei den Unterhaltsforderungen hart geblieben war.

Jetzt saß sie im Café der Ubbo-Emmius-Klinik und trank einen Tee. Sie sah ihr Gesicht im Spiegel und erschrak. Ihr sorgendurchfurchtes Gesicht kam ihr vor wie das einer fremden, alten Frau.

Mit Sabrina hatte sie sogar schon sprechen können. Aber die Ärzte kämpften seit Stunden um das Leben von Julia. Sie durfte nicht einmal einen Blick auf die Kleine werfen. Man hatte ihr nahegelegt, nach Hause zu gehen und sich hinzulegen. Schließlich hatte man ihr ein Bett zur Verfügung gestellt, und die Schwester hatte ihren Blutdruck gemessen. »Nicht, dass Sie uns hier noch einen Schlaganfall bekommen …«, hatte die nette junge Frau besorgt gesagt und ihr einen Tee angeboten. Es kam auch ein Geistlicher, aber mit dem wollte Renate nicht sprechen. Es kam ihr auf schreckliche Weise so vor, als würde sie ihrer Jüngsten damit den Todesstoß versetzen.

 

Die Kellnerin hieß Samantha Davis und war nur zu gern bereit, Weller New York zu zeigen. Sie wollte unbedingt mit ihm aufs Empire, sie fand, wer nicht auf dem Empire war, sei gar nicht in New York gewesen. Der Ausblick mache die Seele frei. Das hatte Weller schon einmal gehört, und er grinste in sich hinein. Er suchte Ausreden, aber sie hatte eine freundlich-fordernde Art, die ihn fast entwaffnete.

Dann waren die Schlangen so lang, und die Menschen drängten sich in solchen Massen ins Gebäude, dass Weller schon in der Wartehalle Platzangst bekam, bevor er überhaupt eine Karte hatte. Fast ängstlich fragte er: »Kann man da auch zu Fuß hoch, oder muss man mit einem Fahrstuhl …«

Sie lachte und tippte sich an die Stirn. »Zu Fuß? Fünfundachtzig Stockwerke?«

Er schob vor, das Warten dauere einfach zu lange, doch sie zwinkerte ihm zu, es würde sich aber lohnen. Danach sei der Sex einfach großartig.

Wellers Wirbelsäule schien zu brennen. Er wusste nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte. War das ein typischer New Yorker Witz? Eine Redensart? Bewarben die hier so ihre Sehenswürdigkeiten? Die Brooklyn Bridge befreit die Seele. Das Empire-State-Building verbessert den Sex.

Er lächelte sie an und stellte sich vor, man würde so für Ostfriesland werben:

Für ein erfülltes Sexualleben fahren Sie mit Ihrem Partner an die Nordsee. Norderney hilft bei Phobien. Die Weiße Düne macht angstfrei. Borkum macht schlank. Langeoog hilft gegen Krebs. Wenn Sie eine preiswerte Scheidung wollen, besuchen Sie die Krimi-Insel Juist. Spiekeroog macht intelligent. Steigern Sie Ihren IQ mit einem Besuch im Künstlerhaus.

Samantha Davis riss ihn aus den Gedanken. Sie schmiegte sich an ihn und fuhr mit einer Hand an seiner glühenden Wirbelsäule entlang.

Jetzt kapierte Weller. Sie meinte das ernst. Er war nicht so der Frauenaufreißer, sondern kam sich in solchen Situationen eher linkisch und unbeholfen vor.

Er hatte gleich das Gefühl, alles falsch zu machen. Wie weit sollte er gehen? Wie könnte er das Ann Kathrin erklären? Gab es eine Möglichkeit, Samantha Davis loszuwerden, ohne sie zu verletzen? Oder sollte er sich etwa auf sie einlassen?

Während er noch darüber nachdachte, innerlich ins Schwimmen geriet und zornig auf Ann Kathrin wurde, weil das alles doch eine himmelschreiend blöde Idee war, kamen sie an der Kasse an. Sie wollte zwar mit ihm ins Bett, aber die Eintrittskarten fürs Empire sollte er schon zahlen.

 

Ann Kathrin saß im Ben Ash an der Theke und trank ihr zweites Budweiser. Der Mann hinter der Theke sah aus wie ein Inder mit durchaus europäischen Zügen. Er sprach fließend Französisch mit einer Dame, die einen verrückten Hut trug und deren Gesicht Ann Kathrin an einen Truthahn erinnerte. Dann kamen zwei Männer in den Laden, die von ihrem Auftreten her deutlich Stammkunden waren. Sie nahmen die zwei freien Barhocker neben Ann Kathrin und musterten sie geradezu unverschämt.

Ann Kathrin nutzte die Lage, zog das Foto von Markus Poppinga und zeigte es vor. »Haben Sie diese Person hier schon einmal gesehen?«

Der mit dem Schnauzbart schüttelte den Kopf, aber der andere mit dem Bauchansatz und der geschwollenen Unterlippe griff nach dem Bild und sah es sich genauer an.

»Sind Sie ein Fan?«

»Fan?« Damit hatte Ann Kathrin nicht gerechnet. »Wie meinen Sie das, Fan?«

»Na, der ist Musiker. Ziemlich gut. Folk. Spielt abends manchmal bei B.B.King. Das ist ein Musikrestaurant nicht weit von hier.«

Jetzt wollte der Schnauzbart das Foto doch noch einmal sehen. Dann nickte er, als sei der Groschen endlich gefallen. »Ja, klar. Der sitzt manchmal da.« Er deutete auf einen Platz am Fenster.

Ann Kathrin wusste den Namen immer noch nicht. Sie wollte eine direkte Frage vermeiden. Sie fand schon ihren Einstieg dilettantisch. Auf keinen Fall wollte sie so weitermachen und die Menschen abschrecken.

Sie begann, von sich zu erzählen. Sie sei aus Deutschland. Dieser Junge sei vor ein paar Jahren verschwunden. Die Eltern machten sich Sorgen. Vielleicht sei der Musiker ja dieser junge Mann.

Sie fand ihre Geschichte gut und nah an der Wahrheit. Der mit dem Schnauzbart bestellte noch eine Runde Bier.

Die Zapfanlage war beeindruckend, für die kleine Theke eigentlich viel zu groß, aber das Bier kam dann fast schaumlos in Plastikbechern. Es war für Ann Kathrin so widersprüchlich wie die ganze Stadt. Wer unter so eine stylische Zapfanlage Plastikbecher stellt, lässt aus seiner Lavazza-Kaffeemaschine auch Espresso in Papptassen tröpfeln, dachte sie.

»Sie sind also kein Fan.«

»Nein«, gab sie kleinlaut zu, wodurch sie die beiden Männer sofort für sich einnahm. Sie kannte das Verhalten von sich selbst. Gab ein Beschuldigter im Verhör ohne Not zu, an einer Stelle die Unwahrheit gesagt zu haben, bekamen seine anderen Aussagen einen umso höheren Wahrheitsgehalt, selbst wenn sie unwahrscheinlich klangen. Sie war ein paar Mal auf solche Tricks hereingefallen.

Der mit dem Bauchansatz und der geschwollenen Unterlippe fragte jetzt halb scherzhaft: »Privatdetektiv?«

Ann Kathrin legte den Zeigefinger über die Lippen und flüsterte: »Psst.«

Das fand ihr Gegenüber gut. Er zwinkerte ihr zu und hielt ihr die Hand hin: »John Silver.«

Ann Kathrin nahm die Hand. »Klaasen.«

»Bob ist nicht aus Deutschland. Es muss eine Verwechslung sein.«

»Er nennt sich Bob?«

»Yes. Bob Wine, und er spielt Gitarre wie ein Gott. Er singt nur Mist, aber ich könnte ihm den ganzen Tag zuhören.«

Ann Kathrin prostete den Männern zu. Es war jetzt ihr drittes Bier, aber sie spürte nichts von dem Alkohol, dabei hatte sie noch gar nichts gegessen. Sie bestellte sich ein Pastrami-Sandwich und rechnete mit zwei Scheiben weißem Toastbrot, zwischen denen ein Stückchen Wurst lag und vielleicht noch ein Salatblatt und eine Tomatenscheibe. So etwas für den kleinen Hunger zwischendurch.

Sie bekam einen Klumpen rotes Fleisch. Es waren viele dünne Scheiben, die einen faustgroßen Haufen ergaben – also wenn man Klitschkos Faust als Maßstab nahm. Obendrauf ein winzig wirkendes Stück Weißbrot, das vermuten ließ, dass sich unter dem Fleischberg das Gegenstück dazu befand. Neben der Cholesterinbombe lag eine verlorene Gurke. Es sah aus wie eine Mahlzeit, die in ihrer Heftigkeit aus Fleischessern Vegetarier machen konnte.

Einen Augenblick dachte sie daran, es zurückgehen zu lassen. Dann probierte sie und stopfte alles mit einer Gier in sich hinein, die mit jedem Bissen größer wurde.

Der Geschmack war vergleichbar mit sehr würzigem Schinken. Sie schämte sich fast, weil sie die Portion vor den Augen der Männer so verschlang.

»Ja«, sagte sie dann und wischte sich mit einer Serviette die Lippen ab. »Eine Verwechslung. Wahrscheinlich haben Sie recht.«

Sie wollte ins Hotel gehen und eine E-Mail an Ubbo Heide schicken. Sie hatte eine einfache Frage: War Markus Poppinga musikalisch?

Sie zahlte und wehrte ein weiteres Bier ab, das John Silver ihr aufdrängen wollte. Sie stieß auf und dachte, dass ein Schnaps ihr jetzt guttun könnte.

Da deutete John Silver auf die Tür: »Da ist er ja.«

Ann Kathrin sah den jungen Mann. Er wirkte lässig, entspannt, und schlenderte genau zu dem Tisch, den Silver als seinen Stammplatz bezeichnet hatte.

Ann Kathrin drehte den Männern an der Theke den Rücken zu. Sie tippte etwas in ihr Handy. Für alle sah es so aus, als ob sie eine SMS schreiben würde. In Wirklichkeit fotografierte sie Bob Wine. Das Gerät machte das typische Schnarren beim Fotografieren, aber Ann Kathrin hustete in das Geräusch hinein, um es zu übertönen.

Sie konnte keinen günstigen Bildausschnitt wählen, es wäre zu auffällig gewesen, wenn sie das Auge der eingebauten Kamera deutlich auf ihn gerichtet hätte. Sie fotografierte ihn noch ein zweites Mal, aber er drehte den Kopf zur Seite, und das Bild fing nur seinen Hinterkopf ein. Trotzdem musste das reichen.

John Silver hielt ihr ein Pillendöschen hin, hüstelte selbst demonstrativ und tippte dann auf seine Halspastillen. »Good!«, lachte er.

Ann Kathrin entschied sich, die Sache jetzt sofort hier zu einem Ende zu bringen. Den Rest der Zeit konnten sie und Weller dann mit bestem Gewissen hier Urlaub machen.

Sie räusperte sich und ging auf den Tisch zu. John Silver und sein Kumpel beobachteten sie. Ann Kathrin spürte ihre Blicke auf ihrem Hintern.

Bob Wine brauchte keine Speisekarte. Er bestellte sich einen mexikanischen Burger und eine Coke.

Ann Kathrin prägte sich seine Erscheinung genau ein. Er sah Markus Poppinga tatsächlich ähnlich. Die Kopfform war gleich. Lippen und Mundpartie auch. Die Augen standen ähnlich dicht zusammen. Er hatte einen athletischen Körperbau, war gut einen Meter achtzig groß und wog kaum mehr als fünfundsiebzig Kilo, schätzte sie. Seine Schultern waren breit, seine Haltung gerade und seine Hüften schmal. Schuhgröße 43, höchstens 44. Die Finger feingliedrig und lang. Er hatte lockiges Haar, Ann Kathrin vermutete aber, dass die Haare gefärbt waren und die Locken nicht echt. Sein Strohblond war ihr zu makellos, um natürlich zu sein. Wahrscheinlich hielt er sich in einem Bodybuildingcenter fit oder er machte Kampfsport.

Ann Kathrin hatte sich antrainiert, Körper zu lesen. Es war im Prinzip ganz einfach. Fußballer hatten zum Beispiel kräftige Beine, aber im Vergleich dazu meist unterentwickelte Oberkörper.

Bob Wines Körperbau war ausgeglichen. Der betrieb nicht einfach irgendeinen Sport aus Leidenschaft. Der hielt sich sehr bewusst fit. Gleichzeitig bestellte er einen Burger und eine Cola. Wenn das sein Lieblingsessen war, musste er verdammt hart trainieren, um so auszusehen.

Der Knöchel seines rechten Beines lag quer über dem Knie des linken. Mit einer Hand stützte er sich auf dem rechten Schienbein ab. Die andere lag locker auf dem Tisch. Er trug eine Jeans, ein weißes T-Shirt mit Knöpfen, eine braune Wildlederjacke und schwarze, italienische Schuhe, die Ann Kathrin sich gut für ihren Frank hätte vorstellen können. Allerdings wäre der niemals bereit gewesen, ein paar Hundert Dollar für Schuhe auszugeben.

Wer immer dieser junge Mann war, arm war er nicht. Kaum vorstellbar, dass er sein Geld mit seiner Gitarre in Restaurants verdiente – oder schätzte sie die Verdienstmöglichkeiten in New York falsch ein?

Er registrierte, dass Ann Kathrin ihn abschätzte und wich mit dem Oberkörper deutlich zurück. Er griff sich an die Lederjacke, als wolle er sie schließen und stellte die Beine nebeneinander.

Wenn Ann Kathrin sich nicht täuschte, blähte er bewusst seinen zweifellos imposanten Brustkorb auf. Er lächelte sie an. Sie empfand sein Lächeln als gekünstelt, aber das war ihr seit ihrer Ankunft hier bei Menschen gehäuft so vorgekommen, als habe es hier staatlich geförderte Lächel-und-Grins-Fortbildungen gegeben.

Sie lächelte zurück. »Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?«

Sie sprach ihn bewusst auf Deutsch an, und er reagierte sofort mit heftiger Verunsicherung. Da war ein Flackern in seinen Augen und eine latente Aggression.

»Sie brauchen nicht zu erschrecken«, beruhigte Ann Kathrin ihn und setzte sich unaufgefordert. »Ich suche jemanden, dem Sie sehr ähnlich sehen. Markus Poppinga aus …«

Er schüttelte die Locken und machte eine abwehrende Handbewegung, als wolle er ein lästiges Tier verscheuchen.

Er behauptete, ihre Sprache nicht zu verstehen. Dabei kam es ihr so vor, als hätte sein amerikanisches Englisch einen norddeutschen Zungenschlag.

Bob Wine rief etwas zum Barkeeper, das sie nicht verstand, und federte vom Stuhl hoch. Er ging in Richtung Toilette. Sie folgte ihm. Es war eine lange Treppe nach unten. Plötzlich duckte er sich und lief in die entgegengesetzte Richtung. Sie wollte ihn aufhalten. Er stieß sie weg. Dann rannte er los.

Ann Kathrin kam sich tölpelhaft vor. Sie fiel hin und rollte über sechs, sieben Stufen, bis vor die Toilettentür. Sie hörte seine schnellen Schritte über sich.

Zum Glück hatte sie sich nichts gebrochen, aber ihre Hüfte tat höllisch weh, und als sie sich erhob, jagte ein brennender Schmerz durch ihren Rücken bis in den Nacken. Trotzdem nahm sie die Verfolgung auf.

Wine rannte in Richtung Central Park. Auf der 7th Avenue war es voll. Der Touristenstrom machte es ihr schwer, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Bei der Carnegie Hall sah sie ihn nicht mehr, und heftige Seitenstiche hinderten sie daran, weiterzulaufen. Sie stützte sich auf und rang nach Luft. Eine schwarzhäutige Dame, die selbst gebückt lief und aussah, als ob sie ihren hundertsten Geburtstag schon hinter sich hätte, fragte Ann Kathrin, ob sie Hilfe benötige. Ann Kathrin bedankte sich und machte ein paar Schritte vorwärts. Dann reckte sie sich. Sie erblickte seine blonde Mähne in der Menge und gab sich Mühe, ihm zu folgen. Außer Atem sah sie zu, wie er im Central Park verschwand.

Sie wollte bei Rot hinterher. Ein Taxifahrer bremste wütend und schimpfte. Ein berittener Polizist näherte sich und sah Ann Kathrin streng an. Sie hätte ihm zu gerne ihre Dienstmarke gezeigt und ihn aufgefordert, die Personalien von dem blonden Athleten im Park festzustellen. Aber sie wusste, dass das sinnlos war.

Sie legte den Kopf in den Nacken und gab für heute geschafft auf. Aber sie war sich sicher, Markus Poppinga gefunden zu haben, den auf Borkum gestorbenen Sohn, der angeblich zu einem blauschimmernden Diamanten gepresst den Hals seiner Mutter zierte.

 

Weller überlebte den engen Fahrstuhl und die Aussicht vom Empire State Building. Danach schleppte Samantha Davis ihn ins Jimmy’s Corner. Die schlauchförmige Bar mit der langen Theke war vollgehängt mit Fotos von Boxchampions und deren Kämpfen. Weller fragte sich, ob eine junge Frau sich hier wohlfühlte oder ob dies nur ein wunderbarer Ort war, um Männer abzuschleppen.

Er hatte aus Samantha noch gar nichts herausbekommen, wenn er mal davon absah, dass er jetzt wusste, wie sie hieß – falls Samantha Davis wirklich ihr richtiger Name war. Schließlich hatte er nicht ihre Personalien überprüft. Er dachte darüber nach, es auf witzige Weise zu tun. Er könnte zum Beispiel sagen, es sei in Good old Germany so üblich, sich gegenseitig den Ausweis zu zeigen, bevor man miteinander ins Bett stieg.

Womit er wieder beim Thema war. Immerhin, wenn er mit zu ihr nach Hause ging, wüssten sie, wo Samantha wohnte. Er wog ab, ob das kommunizierbar war. Wie sollte er Ann Kathrin das erklären? Ja, klar, ich habe mich von ihr abschleppen lassen, aber nur, weil ich sonst beim besten Willen nie erfahren hätte, wo und wie sie wohnt. Das mit dem Geschlechtsverkehr würde ich jetzt nicht überbewerten, Ann, es war – sagen wir mal – eine gezielte Undercoveraktion. Und außerdem – das weiß doch jeder, ist praktisch eine Binsenweisheit – bei der Zigarette danach werden auch die abgebrühtesten Typen gesprächig …

Nein, das ging alles gar nicht. Sie waren als Paar nach New York gekommen, und er hatte keine Lust, die Stadt als Single zu verlassen.

Samantha Davis bestellte zwei Margaritas. Weller stand eigentlich gar nicht auf Cocktails, ließ sie aber gewähren. Schlimmer als das Empire State Building konnten die Drinks auch nicht für Kreislauf und Magen sein.

»Bist du mit ihr verheiratet?«, fragte Samantha Davis.

»Nein«, lachte Weller, froh, die Wahrheit sagen zu können.

»Ist sie deine Schwester?«

Er antwortete nicht, sondern stellte, ganz wie bei Gesprächen mit Zeugen, eine Gegenfrage: »Der Mann auf dem Foto … hattest du mal was mit dem?«

Sie trat einen Schritt zurück und tat empört.

Er setzte nach: »So eine kleine Affäre?«

»Wie kommst du darauf?«

Weller spielte den Frauenkenner. Er stupste mit dem Zeigefinger ihre Nase an. »Ich habe es deiner Nasenspitze angesehen.«

Sie schlug mit der offenen Hand nach seinem Finger wie nach einer lästigen Fliege. »Nein«, behauptete sie, »ich hatte keine Affäre mit ihm. Er ist nur ein Stammgast und …«

Sie schwieg und wandte sich von Weller ab.

»Und was?«

»Und ein sehr guter Musiker.«

»Ha!«, lachte Weller. »Du hattest doch etwas mit ihm!«

Sie boxte Weller spielerisch gegen die rechte Schulter. »Nein, habe ich gesagt!«

»Warum nicht?«

»Warum nicht?«, fragte sie empört. »Fragt man so etwas in Good old Germany?«

»Ja. Hier nicht?« Weller fand, dass er mit seiner Befragung wunderbar vorwärts kam.

Die Margaritas wurden in Gläsern mit Salzrand serviert, die in einer Männerhand für Wellers Geschmack ein bisschen schwul wirkten, aber der trockene Tequiladrink schmeckte ihm sogar. Gutgelaunt bestellte er gleich eine zweite Runde.

»Also gut, wenn du es genau wissen willst«, sagte Samantha und schob provozierend die Hüften vor. »Er wollte nicht.«

Na, dachte Weller, da hat er ja mit mir etwas gemeinsam. Das sagte er aber nicht.

 

Als Ubbo Heide die Akte auf den Schreibtisch bekam, stockte ihm für einen Moment der Atem. Die kriminaltechnische Untersuchung des Mitsubishi war erschütternd. Hinten im Kofferraum waren Blutspuren von acht verschiedenen Personen gefunden worden. Der Wagen war zu einem Fluchthelfer- oder Schmugglerfahrzeug umgebaut worden. Der Kofferraum hatte die dreifache Größe. Darin hätten bequem mehrere Leichen transportiert werden können.

Eine nackte Frau am Steuer und Blutspuren im Kofferraum. Ubbo Heide ahnte, genau wie seine Kollegen, dass sie vor einem Albtraum standen.

Dabei war der zweite am Unfall beteiligte Wagen in den Hintergrund geraten. Junge Leute. Schwerverletzt, aber lebendig. Bierdosen. Neun Gramm Haschisch und diese typischen, süßen Mischgetränke, die kein Mensch mag, der älter als fünfundzwanzig ist. Solche Unfälle gehörten zu jedem Wochenende.

Joachim Neumann, der sich Joe Dark nannte, war polizeibekannt. Zwei Festnahmen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Eine Anzeige wegen Verführung Minderjähriger. Verfahren eingestellt. Er wurde selbst einmal Opfer einer Schlägerei. Ein aufgebrachter Vater hatte ihm zwei Zähne rausgeschlagen und den Umgang mit seiner Tochter verboten. Ein kleines Licht. Früher oder später landeten solche Gestalten im Gefängnis oder im Entzug. Danach entschied sich ihre weitere Karriere.

Ubbo Heide war lange genug bei der Truppe, um zu wissen, dass aus einigen dieser »Fehlstarter«, wie er sie gerne nannte, später oft wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft wurden. Sozusagen zu den Säulen gehörten, auf denen diese Gesellschaft aufgebaut war.

Die anderen drei waren aus polizeilicher Sicht Unbekannte. Aber genau dort verbarg sich das Drama, das Ubbo Heides gereizten Magen, der sich gerade erst nach einer Haferschleimdiät und mehr als fünfzig Litern Kamillentee auf dem Weg der Besserung befand, augenblicklich wieder übersäuern ließ. Er griff zu dem einzigen Mittel, das ihm wirklich half, wenn er spürte, dass die ätzende Säure seine Magenwände attackierte: Marzipan von ten Cate. Er hatte wie immer ein Brot in der Schreibtischschublade. Weiß, fast rosa, ohne Schokoladenüberzug oder irgendwelchen Schnickschnack.

Er biss hinein und schloss für einen Moment die Augen. Stefan Raider war ein unbeschriebenes Blatt für ihn. Aber dann kamen die Namen der Mädchen. Jule und Sabrina Weller.

Seine Hand zitterte, als er zum Telefonhörer griff und nach Rupert verlangte.

 

Rupert saß im Auto und war auf dem Weg nach Westerstede. Er ärgerte sich noch immer über Sylvia Hoppe und seine Schweizer Exfreundin. Sylvia Hoppe hatte auch etwas von Ann Kathrin Klaasen, wenn er es recht bedachte, und zwar genau die Eigenschaften, die ihn unendlich nervten.

Ubbo Heide! Der hatte ihm gerade noch gefehlt. An seiner hohen Stimmlage erkannte Rupert sofort, dass Ubbos Magensäfte nur so blubberten.

»Wer hat die Angehörigen der Unfallopfer informiert?«, fragte Ubbo Heide gereizt.

Rupert war erleichtert. Was immer da schiefgelaufen war, er glaubte, ihn könnte das nicht betreffen. »Keine Ahnung«, sagte er. »Vermutlich die Kollegin Hoppe. Die Personalien der nackten Toten konnten ja noch gar nicht festgestellt werden. Deswegen bin ich auf dem Weg nach Westerstede, zum Halter des Mitsubishi. Ein gewisser Alexander Okopenko. Ich werde mir das Bürschchen mal vornehmen. Sieht doch schwer nach einer Drogengeschichte aus.«

»Weißt du, wer die beiden verletzten Mädchen aus dem BMW sind?«

»Nein, aber wir haben ihre Papiere. Sie hatten Ausweise bei sich, ganz im Gegensatz zu dieser nackten …«

Ubbo Heide holte tief Luft und stieß sie stöhnend aus. Jetzt wusste Rupert, dass er einen Fehler gemacht hatte.

»W … Wer sind diese Mädchen denn? Irgendwelche Promikids?«

»Nein. Es sind die Töchter von Frank Weller.«

»Ach, du Scheiße.«

»Ja, das kannst du wohl sagen. Hat ihn irgendjemand informiert?«