Ostfriesenmoor - Klaus-Peter Wolf - E-Book + Hörbuch

Ostfriesenmoor Hörbuch

Klaus-Peter Wolf

4,5

Beschreibung

An dieser Küste ist das Verbrechen zu Hause Ann Kathrin Klaasens siebter Fall führt sie ins Uplengener Moor Idyllisch und unendlich weit erstreckt sich das grüne Land hinter dem Deich. Niemand vermutet hier Böses. Doch jetzt liegt eine Leiche im Moor. Der Mörder hat geschickt mit Hilfe eines Metalldrahtes einen menschlichen Körper nachgeformt und darüber die Haut gespannt. Wer tut so etwas? Und vor allem: Wer kann so etwas? Dann wird in Norddeich ein Kind entführt. Hat der Moor-Mörder ein neues Opfer gefunden?

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Zeit:5 Std. 39 min

Sprecher:Klaus-Peter Wolf

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Klaus-Peter Wolf

Ostfriesenmoor

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Den Anblick dieser Leiche würde Ann Kathrin Klaasen nie vergessen: Der Täter hat mit Hilfe eines Metalldrahtes den Körper eines toten Mädchens nachgeformt und darüber die Haut gespannt. Wie bei einem Fliegengitter, nur viel stabiler … und beweglich. So stand es im Obduktionsbericht. Dann hat er sein Werk im Moor versenkt. Wer tut so etwas? Und vor allem: Wer kann so etwas? Ann Kathrin Klaasen ist sprachlos, als sie das ganze Ausmaß erkennt, mit dem der Täter hier zu Werke ging. Während das Team in Aurich ersten Hinweisen nachgeht, wird in Norden ein Kind vor der Apotheke gestohlen. Und bald darauf verschwindet ein zweites Kind. Sucht der Moor-Mörder nach weiteren Opfern? Für Ann Kathrin Klaasen beginnt eine der schaurigsten Ermittlungen ihres Lebens.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über zwölf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

 

Besuchen Sie auch die websites des Autors:

www.klauspeterwolf.de

www.ostfrieslandkrimis.de

Inhalt

»Hochqualifizierte Spezialisten haben die [...]

Holger Bloem beobachtete das [...]

Weller stand im Distelkamp 13 [...]

Thomas Schacht stellte sein [...]

Kind, das ist nicht [...]

Ja, meine kleine Ina, [...]

Lesen Sie mehr von [...]

»Hochqualifizierte Spezialisten haben die Titanic gebaut.

Deppen wie wir die Arche.«

Ubbo Heide, Kripochef Aurich

»Die ganze Welt versinkt im Chaos.

Aber ich soll eine ordentliche Akte anlegen …«

Rupert, Kommissar, Kripo Aurich

»Ich stelle mir den Weltuntergang genau so vor:

Wir können mit einem guten Glas Rotwein in der Hand und einer Tüte Chips vor dem Fernseher sitzen und live dabei sein, während sich die Experten darüber streiten, ob das, was gerade passiert, technisch überhaupt möglich ist.«

Ann Kathrin Klaasen, Hauptkommissarin, Kripo Aurich

Holger Bloem beobachtete das Kranichpärchen durch das Teleobjektiv seiner analogen Canon. Ruhig hielt er das schwere Teleobjektiv mit dem Lederhandgriff.

Ein brütendes Graukranichpärchen im Uplengener Moor. Das ist eine ornithologische Sensation, dachte er und drückte auf den Auslöser.

Der Diafilm surrte in der Kamera.

Der große Vogel reckte den langen Hals und sah sich nervös um. Die federlose rote Kopfplatte schwoll an.

Holger Bloem war noch gut hundertfünfzig Meter von den Tieren entfernt. Er fragte sich, ob sie das Geräusch gehört hatten. Einerseits war er froh, diese Bilder mit seiner alten Kamera schießen zu können, andererseits war das nicht ganz lautlos.

Er konnte Männchen und Weibchen nicht voneinander unterscheiden. Beide Tiere bauten am Nest und, wenn er sich in den letzten Stunden nicht getäuscht hatte, brüteten sie auch abwechselnd.

Ein Schwarm Schnepfenvögel rauschte vom Ufer des Lengener Meeres ins Wasser. Es kam ihm so vor, als ob die Tiere mit den langen Schnäbeln vor etwas fliehen würden. Aber er ließ sich nicht ablenken und konzentrierte sich auf die Kraniche, die sich jetzt gegenseitig die Federn putzten.

Holger Bloem hatte ein paar hervorragende Aufnahmen gemacht. Er stellte sich bereits vor, wie sie im »Ostfriesland-Magazin« wirken würden, und fragte sich, ob er schreiben sollte, wo genau er die Tiere beobachtet hatte. Oder musste er befürchten, damit einen Besucherstrom auszulösen, der die scheuen Vögel vertreiben würde?

Er suchte nach dem ersten Satz.

In vielen Kulturen galten Kraniche als Botschafter des Friedens und des Glücks.

Wieder reckte ein Tier den Kopf hoch, und Holger Bloem fühlte sich von den roten Augen geradezu erwischt. Es war ein zorniger, stechender Blick, der gar nicht zu dem anmutigen Vogel passte, der sich so liebevoll um seine Brut kümmerte.

Ich werde eine ganze Serie über Moore in Ostfriesland schreiben, dachte er. Allein dieser Hochmoorsee hier ist eine eigene Reportage wert. Ein Vogelparadies.

Er versuchte jetzt, geräuschlos in eine erhöhte Position zu kommen. Ohne die Tiere aufzuschrecken, wollte er einen Blick in ihr Nest ermöglichen. Da war Gestrüpp im Weg, das vor dem Nest aus dem Wasser ragte.

Bloem veränderte den Blickwinkel, aber immer waren diese blöden Äste vor den Kranichen im Bild.

Ganz so, als wollte er sich auf dem Foto nicht verdecken lassen, pickte ein Kranich jetzt nach einem der Äste und zerrte ihn aus dem Wasser.

Braves Tier, dachte Holger Bloem und fotografierte. Doch der Kranich zog mit dem Ast noch mehr hoch. Da hing etwas dran. Es war schwer.

Holger Bloem nahm ein paar Schnappschüsse mit, dann lief ihm ein Schauer über den Rücken.

Es musste ein Irrtum sein. Eine Spiegelung des Wassers. Eine optische Täuschung.

Der Vogel zerrte zweimal voller Wut, dann ließ er den Ast ins Meer zurückplatschen, und Holger Bloem blieb mit dem Gefühl zurück, eine menschliche Hand gesehen zu haben und einen Arm bis zum Ellenbogen.

Jetzt bereute er, die Szene nicht mit seiner Digitalkamera fotografiert zu haben. Dann hätte er sich einfach das letzte Bild im Display anschauen können. Aber so musste erst ein Diafilm entwickelt werden.

Er zögerte. Sollte er warten, ob der Vogel sein Glück noch einmal versuchen würde?

Es war Wasser in Holger Bloems Schuhe gekommen. Er überlegte die nächsten Schritte. Er konnte jetzt schlecht in die Redaktion nach Norden zurückfahren. Dort konnten zwar Schwarzweißfilme rasch entwickelt werden, aber die Diafilme erforderten mehr Aufwand und wurden normalerweise zu CEWE-Color nach Oldenburg geschickt. Das war nur ein Katzensprung von hier aus, wenn er Gas gab, keine fünfzehn Minuten.

Er pirschte rückwärts. Noch im Auto fragte er sich: Habe ich eine Moorleiche entdeckt oder nur eine seltsam geformte Astgabel gesehen?

Über ihm verdeckte eine Wolke die Sonne. Sie sah aus wie ein lachendes Kindergesicht mit aufgeblähten Wangen.

Manchmal, dachte Holger Bloem, treibt die Natur Späße mit uns. Aber das flaue Gefühl im Magen sagte ihm, dass er es hier nicht mit einem solchen Schabernack der Natur zu tun hatte, sondern am Beginn einer grausamen, nur zu realen Entdeckung stand.

Ann Kathrin Klaasen saß in Aggis Huus in Neßmersiel auf dem Sofa. Sie hatte sich mächtig über den Zaun geärgert, mit dem der freie Zugang zum Meer versperrt worden war. Sie wollte keinen Eintritt bezahlen, um an der Nordsee zu stehen, aber es ging ihr nicht so sehr ums Geld, sondern niemand hatte das Recht, der Landschaft durch solche Zäune den Zauber zu nehmen. Gerade erst war sie aus Dornumersiel wutentbrannt abgefahren, weil dort auch so ein Ding die Landschaft verschandelte.

Um etwas gegen den Frust zu tun, hatte sie sich einen Windbeutel bestellt, die Spezialität hier, mit viel Sahne und Eierlikör eine kalorienhaltige Köstlichkeit. Jetzt stand dieser Windbeutel vor ihr und war so gigantisch, dass der Name Sturmsack wohl besser dazu gepasst hätte.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dieses Ding allein zu verdrücken, gab sich aber Mühe und genoss dabei jeden Bissen. Eigentlich trank Ann Kathrin nicht gern Tee, sondern viel lieber Kaffee, doch hier bestellte sie sich immer wieder gern einen Sanddorntee. Das tat sie auch jetzt. Allein der Duft stimmte sie friedlich.

Der Mann am Tisch gegenüber stand auf. Er hatte gut fünfzehn Kilo zu viel und schob seinen Bierbauch in Ann Kathrins Nähe. Er bewunderte ein T-Shirt vom FC St. Pauli an der Wand, auf dem offensichtlich die ganze Mannschaft unterschrieben hatte.

»Entschuldigen Sie, junge Frau«, sagte er, »ich bin auch St.-Pauli-Fan, und da wundert man sich doch, hier so ein T-Shirt zu finden.«

Ann Kathrin nickte nur und versuchte, sich wieder in ihr Buch zu vertiefen. Ein Spaziergang am Meer, um schließlich in Aggis Huus herumzusitzen, einen Tee zu trinken und ein gutes Buch zu lesen, so stellte sie sich einen entspannenden Nachmittag vor.

»Ich habe Sie vorhin schon gesehen«, sagte der Mann. »Sie haben auch keinen Eintritt zahlen wollen. Weder hier noch in Dornumersiel.«

Ann Kathrin nickte wieder und schaute in ihr Buch.

»Wenn ich Urlaub mache, will ich mich nicht fühlen wie beim Hofgang in einer Justizvollzugsanstalt«, lästerte der Mann. »Da muss es einen grundsätzlichen Unterschied geben, und das haben die scheinbar hier vergessen. Wir werden abreisen.«

»In Norddeich gibt es so einen Quatsch noch nicht«, sagte Ann Kathrin.

Der Mann drehte sich um und rief jetzt viel lauter als notwendig zu seiner Frau: »Hast du gehört? In Norddeich ist das anders. Sollen wir da hinfahren?«

»Ich hab’s gehört, Wilhelm. Ich bin doch nicht schwerhörig. Jetzt lass die Dame in Ruhe, du siehst doch, sie will lesen.«

»Ja und? Ich stör sie doch nicht!«

Ann Kathrin nahm einen Schluck Tee und hob ihr Buch höher, um dem St.-Pauli-Fan zu zeigen, dass sie tatsächlich etwas anderes vorhatte, als sich mit ihm zu unterhalten.

»Was lesen Sie denn da? Ist das ein Kinderbuch? Da ist ja eine Pusteblume drauf.«

Ann Kathrin stöhnte. »Das Buch heißt: Lass los, was deine Seele belastet. Rita Pohle hat es geschrieben. Ich würde es jetzt gerne weiterlesen.«

»Siehst du! Nun lass die Dame doch in Ruhe! Komm, setz dich wieder hierhin.«

»Jetzt sei mal ruhig, Sieglinde, wir unterhalten uns gerade.«

»Nein«, sagte Ann Kathrin, »wir unterhalten uns nicht. Sie reden. Ich möchte lesen.«

Falls Sie unter chronischem Zeitmangel leiden, sich fremdbestimmt oder als Opfer Ihrer Aktivitäten fühlen, sollten Sie Ihre Zeit selbst in die Hand nehmen!

Genau wegen dieses Satzes hatte sie das Buch gekauft.

Obwohl der Mann immer noch vor ihr stand und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aß sie tapfer ihren Windbeutel und las dabei:

Fragen Sie sich bei jedem neuen Termin: Muss der unbedingt sein? Lassen Sie auf keinen Fall zu, dass andere über Ihre Zeit verfügen und Sie verplanen. Enttarnen Sie Zeiträuber, egal, ob menschlicher oder organisatorischer Natur, und meiden Sie sie.

Ann Kathrin blickte vom Buch auf und sah dem Mann jetzt hart ins Gesicht. Ja, das war genau so ein Zeiträuber.

Sie wollte ihn jetzt einfach wegschicken. Sie suchte noch nach einem Satz, der nicht allzu verletzend für ihn wäre, da heulte ihr Handy los wie ein einsamer Seehund auf der Sandbank bei Ebbe.

»Hör mal, Sieglinde«, rief Wilhelm, »ihr Handy klingt wie ein Seehund! Das ist ja originell!«

Ann Kathrin kannte die Nummer im Display nicht. Es war kein beruflicher Anruf, aber noch bevor sie das Gespräch annahm, hatte sie ein schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber. Wann hatte sie sie zum letzten Mal angerufen? Wann zum letzten Mal besucht?

Später würde sie oft über diesen Moment nachdenken. Sie wusste, dass es um ihre Mutter ging, noch bevor sie die Stimme der Krankenschwester hörte.

»Mein Name ist Jutta Schnitger von der Ubbo-Emmius-Klinik in Norden. Spreche ich mit Ann Kathrin Klaasen?«

»Ja, das bin ich.«

»Frau Klaasen, ich habe Ihre Telefonnummer in der Handtasche Ihrer Mutter gefunden. Ihre Mutter ist bei uns.«

Ann Kathrins Puls war sofort auf hundert, und ihr Blutdruck schoss auf einhundertsechzig zu neunzig. Es brummte so sehr in ihren Ohren, dass sie Mühe hatte, die Frau am Handy zu verstehen.

»Ihre Mutter hatte einen Schlaganfall. Sie liegt auf Station 12, Zimmer 1.«

»Kann ich sie sprechen?«

»Ich fürchte, das geht nicht, Frau Klaasen. Besser, Sie kommen und machen sich selbst ein Bild von der Situation.«

»Ist meine Mutter in Lebensgefahr?«, fragte Ann Kathrin erschrocken.

»Nein, das ganz sicher nicht. Aber ihr Sprachzentrum ist getroffen, und es fällt ihr schwer, sich zu artikulieren.«

Während sie telefonierte, versuchte Ann Kathrin, Wilhelm nicht anzusehen. Stattdessen starrte sie auf eine Hexenpuppe, die neben dem Schrank stand, in dem viele verschiedene Teekannen ausgestellt waren. Jetzt war es ein bisschen, als würde die Hexe sie angrinsen, als sei diese Figur gerade für einen kurzen Moment lebendig geworden.

»Ich komme sofort«, sagte Ann Kathrin und drängte an dem Touristen vorbei, der ihr Hilfe anbot, falls sie jetzt irgendetwas brauche. Sie lehnte dankend ab und wollte nach vorne zur Kasse, um zu bezahlen, aber dann ging sie noch einmal zu ihrem Tisch zurück und baggerte sich mit der Gabel eine Riesenportion Sahne in den Mund. Sie hatte das Gefühl, in nächster Zeit eine Menge Energie zu brauchen.

Allein die Anwesenheit von diesem Bloem machte Rupert schon sauer. In seiner Vorstellung hockte dieser Journalist stundenlang gemütlich irgendwo in der freien Natur und beobachtete Vögel, während er selbst sich seit zwei Tagen den Hintern an diesem Schreibtisch wund saß und sinnlosen Papierkram erledigte, den sonst keiner machen wollte und der vermutlich in Hannover von irgendwelchen Sesselpupsern für irgendeinen Willi-Wichtig erfunden worden war, nur um gute Kriminalisten wie ihn an ihrer Arbeit zu hindern. Das Motto hieß jetzt: Ihr sollt keine Verbrecher fangen, es reicht, wenn ihr Formulare ausfüllt, das aber bitte gründlich.

Rupert ärgerte sich, dass er die Sektflasche auf seinem Schreibtisch nicht schnell versteckt hatte. Er hielt nicht viel von Journalisten und von Holger Bloem überhaupt nichts. Immerhin hatte der ein großes Porträt über Ann Kathrin Klaasen gemacht, und in der Aufwertung ihrer Arbeit sah Rupert eine Abwertung seiner eigenen.

Er bot Holger Bloem keinen Stuhl an. Das wäre ja noch schöner, dachte er grimmig. Er beugte sich vor und holte zu einer großen Geste aus.

»Also nochmal ganz langsam, Herr Bloem. Sie haben da also gemütlich bei einem Kasten Bier die Füße ausgestreckt und irgendwelche Vögel beobachtet.«

Rupert rollte den Stuhl ein Stück zurück und legte die Füße auf die Schreibtischkante.

»Kraniche. Ich habe Graukraniche beobachtet, nicht irgendwelche Vögel. Und ein Kasten Bier war ganz sicher nicht im Spiel. Ich trinke nicht während der Arbeit, und wenn ich fahre, schon mal gar nicht.«

»Hm.« Rupert gefiel die Antwort nicht. Er fühlte sich blöd angemacht. Sollte das eine Anspielung auf die Sektflasche sein? Er deutete auf die Flasche und log: »Ein Geschenk von einem Opfer, weil wir den Täter erwischt haben.«

»Ja. Sehr interessant. Aber kann ich jetzt nicht doch besser Kommissarin Klaasen sprechen?«

»Ich sagte Ihnen doch, dass sie nicht da ist. Haben Sie was an den Ohren?«

Holger Bloem zeigte Rupert jetzt das auf DIN-A4-Format vergrößerte Bild.

»Da. Sehen Sie selbst.«

Rupert betrachtete das Foto voller Missgunst, ohne es in die Hand zu nehmen.

»Ein hässlicher Vogel zieht etwas aus dem Wasser. Wollen Sie sich damit bei ›Jugend forscht‹ bewerben, oder was? Ich dachte, Sie sind Zeuge eines Verbrechens geworden?«

Holger Bloem tippte mit dem Finger auf die entscheidende Stelle. Dabei kam er Rupert so nah, dass er roch, was der gegessen hatte. Ein Drei-Gänge-Menü: Currywurst, Pommes und Mayonnaise.

»Das da ist eine Hand«, erklärte Holger Bloem.

Rupert lachte laut. »Ja. Mit viel Phantasie kann man darauf kommen. Und hier hinten im Gebüsch, das könnte zum Beispiel ein Troll sein oder auch ein Waldschrat.«

Holger Bloem hatte gehofft, sich auf einem anderen Niveau unterhalten zu können. Es gab hier hervorragende Kriminalbeamte. Ubbo Heide, Frank Weller, Ann Kathrin Klaasen, Sylvia Hoppe. Aber er musste ausgerechnet an diesen Rupert geraten.

»Was erwarten Sie jetzt von uns? Sollen wir das ganze Gebiet abriegeln? Mit Tauchern kommen, um das Meer nach einer Leiche zu durchsuchen?«

Rupert klatschte sich mit der Hand gegen den Kopf. »Lengener Meer! Man sieht schon daran, wie bescheuert die Ostfriesen sind. Sie nennen ihr Meer See und ihre Seen Meere.«

Als würde ihm das erst jetzt bewusst werden, schüttelte Rupert verständnislos den Kopf.

»Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über Geographie zu diskutieren, Herr Kommissar. Ich glaube, dort liegt eine Leiche. Und Taucher wird man kaum brauchen. Das Lengener Meer ist höchstens einen Meter tief. Wenn überhaupt.«

»Und warum sind Sie dann nicht einfach ins Wasser gestiegen und haben die Leiche herausgeholt, sofern da eine war – was ich bezweifle.«

»Weil dort ein Kranichpärchen nistet, und ich wollte die Vögel nicht aufschrecken.«

Rupert musste so sehr lachen, dass seine Füße von der Schreibtischkante rutschten und auf den Papierkorb knallten. Der fiel um. Rupert zeigte auf Holger Bloem und feixte: »Der war gut! Der war echt gut! Den sollten Sie in Ihrer Witzbeilage veröffentlichen.«

»Wir haben keine Witzbeilage.«

»Na, dann gehören Sie wohl auch zu diesen bescheuerten Tierschützern, die für Millionen Steuergelder einen Tunnel unter der Autobahn her bauen, damit die brünstigen Frösche nicht plattgefahren werden.«

Holger Bloem machte einen Schritt in Richtung Tür. Dann blieb er aber noch einmal stehen, sah Rupert an und fragte: »Hat Ihnen eigentlich schon mal jemand gesagt, Herr Kommissar, dass Sie ein unglaublich analytischer Kopf sind?«

Rupert setzte sich anders hin. Sollten sich etwa seine geheimen Träume erfüllen, und endlich würde mal etwas Positives über ihn in der Zeitung stehen?

Er fuhr sich über die Haare, als sollte er gleich fotografiert werden und müsste nur rasch seine Frisur noch in Form bringen.

»Ja, äh … wie?«

»Ich habe gefragt, ob Ihnen noch nie jemand gesagt hat, was für ein guter Polizist Sie sind. Wie wichtig Sie für Ostfriesland sind. Dass wir noch mehr solch klarer analytischer Köpfe wie Sie ganz dringend bräuchten.«

»Nein«, sagte Rupert verunsichert, »das hat noch nie jemand zu mir gesagt.«

»Hm. Und wissen Sie was? Ich befürchte, das wird auch so bald nicht passieren.«

Rupert brauchte einen Moment zu lange, um zu begreifen, dass Holger Bloem ihm gerade ganz schön einen eingeschenkt hatte.

Bloem war schon im Flur, aber Rupert lief ihm hinterher, riss die Tür auf und schrie: »Glauben Sie ja nicht, dass Sie mit solchen Frechheiten bei mir durchkommen! Nun kommen Sie schon wieder rein! Sie benehmen sich ja wie eine beleidigte Pastorentochter!«

So hatte Ann Kathrin Klaasen ihre Mutter noch nie gesehen. Sie wusste, dass die Frau mit den wirren Haaren dort auf der Bettkante ihre Mutter war. Doch etwas in ihr weigerte sich, diesen Gedanken anzunehmen.

Sie sah sich selbst als kleines Mädchen im Zimmer stehen, mit trotzig verschränkten Armen, den Kopf schräg, stampfte sie wütend mit dem Fuß auf und protestierte: Nein, das will ich nicht! Das kann nicht wahr sein!

Ich darf mich jetzt nicht von dem kleinen Kind beherrschen lassen, das ich einmal war, dachte sie. Ich bin eine erwachsene Frau. Hauptkommissarin in Aurich. Ich habe einen fast erwachsenen Sohn, einen bescheuerten Exmann und jetzt eine Mutter, die dringend Hilfe braucht.

Ihre eigenen Ermahnungen brachten sie in die Kompetenz zurück. Trotzdem war das Kind in ihr gerade so lebendig, dass sie es am liebsten aus dem Krankenzimmer geführt hätte. Das hier war nichts für Kinder, sondern eine Aufgabe für Erwachsene.

Ihre Mutter hielt sich mit einer Hand an der Stange fest, an der eine Infusion hing. Sie suchte etwas. Ihre Blicke irrten durch den Raum. Sie wirkte verloren, wie aus der Welt gefallen.

»Suchst du etwas, Mama?«

Ann Kathrin ahnte, was die Mutter vorhatte. Helga glitt aus dem Bett, ignorierte die Schuhe, obwohl sie mit dem linken Fuß dagegen stieß, und bewegte sich auf die Tür zu. Sie schwankte nach links.

Ann Kathrin befürchtete, ihre Mutter könnte stürzen. Sofort war sie bei ihr und hielt sie fest.

»Mama? Willst du zur Toilette?«

Jetzt sahen die beiden Frauen sich an, und Ann Kathrin schossen augenblicklich die Tränen in die Augen, denn sie verstand: Meine Mutter erkennt mich nicht. Sie fragt sich gerade, wer ich bin.

Offensichtlich wollte ihre Mutter etwas sagen. Sie öffnete den Mund. Zwischen ihren Lippen zog der Speichel Fäden. Aber dann kamen keine Worte, sondern nur ein Lallen und Pfeifen.

»Pfft … Baba po ab.«

Ann Kathrin brauchte einen Moment, um den Schrecken zu verarbeiten. Dann sagte sie so sachlich wie möglich: »Ich habe dich nicht richtig verstanden. Was hast du gesagt?«

Die Mutter guckte zornig, als sei Ann Kathrin ein ungezogenes Kind, das nicht hören will, und wurde jetzt lauter.

»Baba po ab! Pfft!«

»Ich verstehe dich nicht, Mama.«

Sie kam sich blöd vor, weil sie diese Worte sagte, und sie spürte, dass sie damit den Zorn der alten Dame auf sich zog, die nicht wahrhaben wollte, dass sie, die ehemalige Lehrerin, die auf geschliffene Aussprache und korrekte Grammatik Wert legte und bis vor kurzem noch Thomas Mann und Franz Kafka gelesen hatte, nicht mehr in der Lage war, einfache Worte verständlich zu formulieren.

Ann Kathrin schaffte es, ihre Mutter zur Toilette zu begleiten und auf der Schüssel zu platzieren. Sie wusste nicht, ob es besser war, dabeizubleiben oder ihrer Scham folgend draußen vor der Tür zu warten. Sie hatte Angst, der Ständer mit der Infusion könnte umkippen und ihre Mutter verletzen. Sie stellte ihn sicher hin, nahm die rechte Hand ihrer Mutter und legte sie um den Ständer.

»Halt das hier schön fest«, sagte sie, wie zu einem kleinen Kind, das auf die Gefahren seiner Umgebung aufmerksam gemacht werden musste.

Dann lehnte Ann Kathrin sich vor der halb geöffneten Toilettentür an die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Sie hörte Urin in die Schüssel rauschen und wusste, dass nichts in ihrem bisherigen Leben sie auf das vorbereitet hatte, was in den nächsten Wochen auf sie zukommen würde.

Ich muss mit den Ärzten sprechen, dachte sie. Ich brauche Gewissheit.

Rupert tippte rein vorsichtshalber einen Bericht. Er hatte die Sektflasche in den Papierkorb gestellt und trank einen Schwarztee ohne Kluntje und Sahne.

Der bekannte Journalist Holger Bloem erschien heute um …

Rupert sah auf die Uhr. Doch bevor er die Zeit eintrug, korrigierte er den Satz. Nein, »der bekannte Journalist«, das war doch wohl zu viel der Ehre. In so einem Bericht musste die Wahrheit stehen.

Der Journalist Holger Bloem erschien heute um 14 Uhr 25 in der Polizeiinspektion. Er machte einen verwirrten Eindruck und erzählte dummes Zeug, um sich wichtig zu machen.

Rupert rieb sich die Hände und grinste. Ja, genau so war es.

Er sah sich die Fotos an, die Holger Bloem ihm dagelassen hatte.

Sylvia Hoppe, die Kollegin mit dem schmalen Hintern und der unerträglich nasalen Stimme, kam herein und fragte: »Hast du Ann Kathrin irgendwo gesehen?«

Rupert zuckte nur mit den Schultern. Er wusste, wie neugierig Frauen waren, und natürlich schaffte es Sylvia Hoppe nicht, an den Fotos vorbeizugehen.

»Na«, fragte Rupert, »was siehst du da drauf?«

»Einen Kranich, der einen Ast aus dem Wasser zieht. Und daran hängt eine Hand mit einem abgerissenen Unterarm. Wer hat denn diesen grausigen Fund gemacht? Ist das dein Fall?«

Rupert nickte. »Ja. Ich sammle solchen kranken Mist.«

Dann löschte er, was er gerade über Holger Bloem geschrieben hatte, und formulierte erneut.

Der Journalist Holger Bloem vom Ostfriesland-Magazin erschien heute um 14 Uhr 25 in der Polizeiinspektion und gab zu Protokoll, er habe beim Fotografieren im Uplengener Moor ein brütendes Kranichpärchen knipsen wollen und dabei zufällig einen abgerissenen Arm entdeckt.

Sylvia Hoppe war schon nicht mehr im Raum. Rupert überlegte es sich noch einmal und löschte die Stelle mit dem Kranichpärchen.

Wer weiß, dachte er, was die Verrückten sonst noch daraus machen. Ich werde jetzt dafür sorgen, dass wir den Rest der Leiche bergen, sofern sie da im Moor ist. Da stört das Kranichpärchen nur im Protokoll. Ich muss aufpassen, dass nicht irgendwelche wildgewordenen Tierschützer die Suche nach der Leiche verzögern, bis das Federvieh seine Jungen zur Welt gebracht hat.

Er fragte sich, wie groß solche Kranicheier wohl waren und ob man sie in die Pfanne hauen konnte. Er hatte mal in Südafrika aus Straußeneiern gemachte Rühreier gegessen. Eine Köstlichkeit, fand er.

Abel kratzte sich. Seit er dieses neue, hellblaue Hemd trug, juckte seine Haut an den Oberarmen, den Schultern und der Wirbelsäule. Am liebsten hätte er sich, wie ein Bär am Baum, den Rücken am Türrahmen gescheuert.

Seine Mutter hatte früher jedes Hemd, jede Unterhose und jede Jeans gewaschen, bevor er die neuen Sachen anziehen durfte. Er hatte es immer blödsinnig gefunden, saubere, frische Kleidung aus der Verpackung direkt in die Waschmaschine zu stecken. Jetzt begriff er, warum. Dieses Hemd, das ihm so gut stand und ihn aussehen ließ wie einen Banker und nicht wie einen Polizisten, war garantiert mit irgendeinem Giftzeug imprägniert worden.

»Also«, sagte Abel, »nochmal ganz langsam. Wir sollen irgendwo im Uplengener Moor eine Leiche suchen? Willst du das ganze Gelände umgraben? Weißt du, wie groß das ist? Kannst du das nicht ein bisschen genauer eingrenzen?«

Rupert ärgerte sich, dass er Bloem nicht nach genauen Koordinaten gefragt hatte.

»Naja, es muss am Rand vom … also praktisch nah am Ufer vom Lengener Meer sein.«

Abel tippte sich an die Stirn. »Na, das ist ja jetzt viel genauer.«

Er setzte sich und rieb seinen Rücken zunächst unauffällig an der Lehne. Das tat gut. Er versank geradezu in dem Genuss und vollzog immer kunstvollere Verrenkungen auf dem Bürostuhl.

»Es kann nicht so schwer zu finden sein«, erklärte Rupert. »Wir haben ja diese Fotos hier.«

Abel rutschte fast vom Stuhl. »Na, dann frag doch den Fotografen. Er kann uns hinführen.«

Das passte Rupert nun gar nicht. Er wollte Bloem nicht um Mithilfe bitten. Er wollte mit diesem Typen am liebsten überhaupt nichts zu tun haben.

»Es kann ja nicht so schwer zu finden sein. Da nisten diese Vögel.«

Abel setzte sich gerade hin, rollte ein Blatt Papier zusammen und versuchte, damit eine schwer zu erreichende Stelle zwischen den Schulterblättern zu kratzen.

»Mensch, Rupert, diese Moore sind Vogelparadiese. Da gibt es jede Menge Nistplätze. Das ist so, als würdest du sagen, wir suchen eine Kneipe, wo es Bier gibt.«

»Das sind besondere Vögel. Der Bloem hat von einer orthopädischen Sensation gesprochen …«

»Einer orthopädischen Sensation?«

Rupert schüttelte den Kopf. »Nein, von einer orthographischen …«

Ihm wurde klar, dass er sich verrannt hatte, aber ihm fiel das verdammte Wort nicht ein. Es lag ihm auf der Zunge, aber …

»Was hat das denn mit Rechtschreibung zu tun?«, fragte Abel.

Da hatte Rupert das Wort und tat so, als hätte Abel ihn nur falsch verstanden.

»Ornithologische Sensation habe ich gesagt. Also, ich meine, hat Bloem gesagt. Jedenfalls meint er, diese Viecher dürften nicht gestört werden.«

»Na, das riecht nach Ärger.«

»Muss ja keiner wissen.«

»Hm.« Da gab Abel Rupert gerne recht.

Dieses Naturschutzgebiet war ein idealer Ort, wenn man seinen Gedanken nachhängen wollte.

Weller beobachtete den Himmel. Er hatte das Gefühl, in diesem flachen Land bis zum angrenzenden Marschland der Jadebusenküsten gucken zu können, aber Kraniche sah er nicht.

Weller hatte beschlossen, Ann Kathrin einen Heiratsantrag zu machen. Nach der Katastrophenehe mit Renate hatte er sich eigentlich geschworen, nie wieder die zweite Hauptrolle in einem Ehedrama spielen zu wollen. Doch mit Ann Kathrin war irgendwie alles anders. Sie gehörten so sehr zusammen. Alles erschien ihm natürlich, fast wie vorherbestimmt.

Er überlegte, wie er das machen sollte. So ein Heiratsantrag war nicht unwichtig. Alles musste stimmen. Der Ort. Die Zeit.

Brauchte er ein Geschenk? Blumen?

Er stellte sich das Bild vor. Sie kam nach Hause in den Distelkamp.

Er hatte gekocht und Blumen besorgt.

Sollte er auf die Knie gehen, um seinen Spruch aufzusagen?

Überhaupt, was sollte er sagen?

Er war nicht gerade das, was man eine gute Partie nannte. Er hatte Unterhaltsverpflichtungen gegenüber zwei Töchtern und einer Exfrau und besaß nicht mehr, als in zwei Koffer passte. Ann Kathrin dagegen hatte dieses Haus und solide Wertpapieranlagen bei der Sparkasse Aurich-Norden.

Für einen Moment befürchtete er, sie könnte ihn auslachen, aber tief in sich drin wusste er, dass das Unsinn war. Vermutlich wartete sie seit langer Zeit auf seinen Antrag. Ja, in der Beziehung war sie altmodisch.

Er drehte sich zu seinen Kollegen um. Rupert glaubte die Stelle gefunden zu haben, aber er verwechselte nur einen Graureiher mit einem Kranich, was Abel zu der Bemerkung veranlasste, Rupert verstehe eben nichts von Vögeln. Das Wort von sprach er bewusst gedehnt aus, sodass man auch vom Vögeln verstehen konnte.

Rupert brauste sofort auf und erwähnte seine Dankesbriefe von Frauen aus dem In- und Ausland.

Abel stand nah bei Weller und raunte: »Na, wer’s glaubt … Seine Frau macht jedenfalls einen ziemlich unbefriedigten Eindruck auf mich.«

Weller mochte solche Gespräche nicht. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie über Ann Kathrin und ihn herzogen, weil er jünger war als sie.

»Also, ich rufe jetzt Holger Bloem an und bitte ihn, uns zu zeigen, wo genau …«

In dem Moment erhob sich keine hundert Meter von ihnen entfernt ein Kranich und stieß einen Schrei aus, der wie eine persönliche Warnung klang, die Weller regelrecht erschreckte.

Helga pfefferte den Filzstift in die Ecke. Sie wollte nicht schreiben. Ihre Hand zitterte viel zu sehr.

Aber Ann Kathrin gab nicht auf. Sie hatte eine neue Idee.

Sie fuhr auf den Parkplatz hinter der Piratenschule und lief auf den Neuen Weg. Sie brauchte einen Spielzeugladen oder ein Geschäft für Schulbedarf. Sie sollte Buchstaben kaufen. Vielleicht war es ihrer Mutter möglich, mit Buchstaben Wörter zu legen, wenn ihr das Sprechen und Schreiben zu schwer fiel.

Im Spielwarenladen Sternschnuppe fand sie, was sie suchte. Es waren bunte Plastikbuchstaben, jeder gut drei Zentimeter groß. Damit musste es klappen.

Erst als Ann Kathrin abgehetzt wieder bei ihrem froschgrünen Twingo ankam, fiel ihr auf, dass sie gerannt war.

Sie hatte einen Zettel hinter dem Scheibenwischer. Mist. Das Knöllchen kam zu Recht, sie hatte vergessen, einen Parkschein zu ziehen.

Sie beschloss, sich jetzt nicht darüber zu ärgern, sondern düste zum Krankenhaus zurück, froh über ihre Idee mit den Buchstaben.

Als sie ins Zimmer kam, war ihre Mutter nicht da. Nach einem ersten Schrecken, sie könnte in der Zwischenzeit verstorben oder schlicht weggelaufen sein, erfuhr Ann Kathrin von der vietnamesischen Schwester, die Platt sprach, ihre Mutter sei zur CT.

Ann Kathrin bestellte sich unten im Café ein Stückchen Erdbeertorte und einen Latte macchiato. Sie mochte diese ostfriesische Art, zwischen Erdbeeren und Boden eine Schicht Pudding zu verstecken, so wurde alles saftig und schmeckte auch ohne Sahne.

Gerade hatte sie noch richtig heftigen Hunger verspürt, aber jetzt bekam sie kaum einen Bissen runter. Der Magen war leer und knurrte nach Nahrung, aber im Hals saß etwas, das nicht bereit war zu schlucken.

Sie walkte sich das Gesicht durch und kämpfte mit den Tränen. Sie fühlte sich überfordert. Sie musste mit dem behandelnden Arzt reden und sich genau informieren, aber sie schrumpfte gerade wieder zu dem kleinen Mädchen, das sie einmal gewesen war.

Sie vermisste ihren Vater so schrecklich, sie hätte schreien können.

»Ich schaff das nicht allein, Papa!«

Sie sah sich um. Hatte sie das wirklich gerade laut gerufen oder nur gedacht?

Da vorne am Fenster saß ein Pärchen. Sie im Bademantel und verheult, er im Hawaiihemd und fast versteinert. Eine Dame um die siebzig mit bewundernswert silbernen Haaren las den Kurier.

Niemand schien etwas bemerkt zu haben.

Ann Kathrin überlegte, ob sie ihrer Mutter ein Stückchen Kuchen mit nach oben nehmen sollte.

Sie sah auf ihr Handy. Sie hatte Weller noch gar nicht informiert. Wie sollte sie ihm das sagen? War so etwas überhaupt für eine SMS geeignet? Gab es nicht Dinge, die man sich besser von Angesicht zu Angesicht sagte …?

Sie hatte eine Nachricht von Weller:

Wir sind im Uplengener Moor.

Ich liebe dich, Ann.

Sie drehte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Mein Gott, dachte sie, habe ich nah am Wasser gebaut. So eine SMS reicht aus, und ich könnte schon wieder heulen.

Jetzt wimmelte es hier von Menschen, nur die Kraniche waren weg. Kollegen von der Spurensicherung fragten sich, was sie denn bitte schön hier für Spuren sichern sollten. Die Taucher sahen angeblich in der Brühe nichts, und Rupert diskutierte per Handy mit Ubbo Heide, dem Chef der Kripo Aurich-Wittmund über die Frage, ob eine Hundertschaft angefordert werden sollte, um das Gelände abzusuchen oder nicht.

Abel fotografierte das Kranichnest, vermisste aber das Ei. Er verdächtigte insgeheim Rupert, das oder die Eier beiseitegeschafft zu haben, um Schwierigkeiten mit Tierschützern aus dem Weg zu gehen. Wo es keine Eier gab, konnte auch kein Vogelpärchen beim Brüten gestört werden.

Überhaupt kam Abel sich überflüssig vor. Er galt als hervorragender Tatortfotograf. Er konnte mit Spheron 360-Grad-Aufnahmen machen. Er hatte Fortbildungen und Kurse belegt, aber plötzlich galt seine Kunst nichts mehr. Alle redeten nur von Holger Bloems Foto. Jeder kannte es inzwischen. Es war, als hätte er King Kong beim Besteigen des Empire State Buildings fotografiert.

Fast schmerzhaft vermisste Abel Ann Kathrin Klaasen. Die hatte seine Arbeit immer zu schätzen gewusst. Sie sagte manchmal Sätze wie: »Ich brauche das alles. Mach auch eine Totale. Du bist unser Gedächtnis, Abel. Jetzt ist noch alles klar, aber bald schon wird es Probleme geben, die Lage der Dinge einzuordnen.«

Genau so etwas brauchte er jetzt, aber niemand zeigte ihm, wie wichtig seine Arbeit war.

Holger Bloem war inzwischen, informiert durch Wellers Anruf, auch vor Ort. Weder Rupert noch Bloem wirkten begeistert, als sie sich sahen. Auch Abel verzog den Mund, was Bloem aber nicht mitkriegte.

»Ich habe die Presse nicht gern am Tatort, bevor unsere Arbeit abgeschlossen ist …«, maulte Rupert.

»Der ist jetzt nicht Presse, sondern Zeuge!«, betonte Weller.

Holger Bloem nahm die leicht feindselige Stimmung zur Kenntnis und sagte: »Ich bin beides. Dadurch, dass ich Zeuge wurde, verliere ich ja nicht meinen Presseausweis.«

Rupert verzog den Mund. »Also, als Zeugen brauchen wir Sie nicht. Wir haben das Scheißvogelnest gefunden. Und als Journalist sind Sie hier im Moment nicht gefragt, da müssen Sie schon die offizielle Pressekonferenz abwarten … falls es eine gibt.«

Holger Bloem ärgerte sich schon, überhaupt gekommen zu sein, da entdeckte er etwas zwischen den Ästen einer Buche. Er sah genauer hin. Er wollte jetzt nichts Falsches sagen.

»Wir haben das Nest, aber weder eine abgehackte Hand noch sonst etwas … Wenn wir jetzt auch noch eine Hundertschaft anrücken lassen und dann ist da nichts als heiße Luft, dann …«

Rupert schlug in die Luft, als gelte es, einem Gegner durch die Deckung zu boxen.

Holger Bloem zeigte auf die Buche. »Ich glaube, da hängt, was Sie suchen.«

Weller war mit ein paar Schritten am Baum. Dabei trat er neben den Weg, und sein rechter Fuß versank mit einem schmatzenden Geräusch.

»Verdammt, er hat recht! Da oben hängt etwas!«

Das Erschrecken über das, was er da oben sah, ließ Weller das eigentliche Wort nicht aussprechen.

Abel fotografierte sofort. Das war seine Chance. Der Aufnahme würde man nicht ansehen, wer das Objekt im Baum zuerst gesehen hatte.

Endlich hatte Abel eine Möglichkeit, Bloem auszustechen.

Rupert versuchte sofort, die Entdeckung für sich zu nutzen, und schimpfte: »Ja, bin ich denn nur von Idioten umgeben? Ihr sucht alle nur unten! Vielleicht guckt auch mal einer nach oben?! Das sind Vögel!« Er flatterte mit den Armen, als ob er versuchen wollte abzuheben. »Vögel! Die fliegen! Da kann schon mal etwas im Baum landen.«

Es war ein Kinderarm mit einer Hand daran. Den dazugehörigen Körper fanden Taucher Minuten später nur wenige Meter vom Ufer entfernt.

Holger Bloem wurde schlecht. Da war er nicht der Einzige.

Ann Kathrins Mutter saß vor den Buchstaben und schob sie auf dem Beistelltischchen hin und her. Ann Kathrin stand neben ihr am Bett und streichelte ihren Kopf.

Helga sprach in einem durch. Es war ein anstrengender Silbensalat, ohne Punkt und Komma. Höchstens Ausrufezeichen oder Fragezeichen waren herauszuhören.

Mit dem Verlust der Selbstkontrolle über die eigene Sprachproduktion kam ein unstillbarer Rededrang, der für die sonst eher wortkarge Frau bis zur körperlichen Erschöpfung führte.

Der behandelnde Arzt nannte es »sensorische Aphasie« oder auch »Logorrhoe«. Er sprach von einem Schlaganfall und davon, dass sie einen langen, schweren Weg vor sich hätten, aber er machte Ann Kathrin Mut. Alles, so verstand sie, könnte auch wieder gut werden.

Sie hätte den Arzt küssen können. Seine ruhige, väterliche Art tat ihr gut.

Dann fegte ihre Mutter mit einer unwirschen Handbewegung die bunten Plastikbuchstaben durchs Zimmer.

Ein Besuch der Pathologie in Oldenburg gehörte nicht gerade zu Ruperts Lieblingsbeschäftigungen. Weil Ann Kathrin sich aber offensichtlich mit Ubbo Heides Genehmigung ausgeklinkt hatte, fuhren Rupert und Weller gemeinsam hin.

Sie schwiegen sich im Auto eine Weile an. Dann fragte Rupert: »Wie läuft es denn so zwischen Ann Kathrin und dir?«

»Darüber möchte ich nicht reden.«

»Oh, so schlecht?«

Weller biss sich auf die Lippen. Er wollte sich mit Rupert nicht auf private Gespräche über Frauen einlassen. Aber jetzt platzte er doch damit heraus: »Im Gegenteil. Ich war noch nie so glücklich. Sie ist eine wunderbare Frau.«

»Na, zu dem Thema gibt es aber auch ganz andere Ansichten.«

Es gelang Rupert jedes Mal, Weller mit Bemerkungen über Ann Kathrin auf Hundertachtzig zu bringen. Weller hätte seinem Kollegen jetzt am liebsten eine reingesemmelt, aber er beherrschte sich. Immerhin saß Rupert hinterm Steuer.

Inzwischen wusste Weller, dass Ann Kathrin bei ihrer Mutter in der Ubbo-Emmius-Klinik war, aber auch das ging Rupert nichts an, fand er.

»Ich frage mich«, sagte Weller so dienstlich wie möglich, »wie so ein Kinderarm einfach abreißen kann. Ob das ein Tier war?«

»Wer weiß, wie lange das Kind im Wasser lag. Moorleichen sollen ja Hunderte von Jahren alt werden können, ohne zu verwesen. Ich denke, das ist gar kein echter Fall für uns. Viel zu lange her. Es sucht ja auch keiner mehr den Mörder von Ötzi oder wie diese Mumie hieß, die sie im Gletscher gefunden haben.«

»Das Kind trug eine Jeans mit Reißverschluss und Gummistiefel. Unwahrscheinlich, dass sie vor ein paar hundert Jahren solche Klamotten getragen haben.«

Rupert hielt in Oldenburg bei McDonald’s.

»Das ist nicht die Pathologie«, stellte Weller fest.

»Hm. Aber ich habe Hunger und gehe jetzt amerikanisch essen. Solche Leichenfunde schlagen mir immer auf den Magen. Ich kann nach Besuchen in der Pathologie manchmal tagelang nichts essen.«

Weller blieb im Auto und rief Ann Kathrin an. Er hätte sie jetzt zu gern dabeigehabt. Dieser gruselige Fund im Moor kam Weller vor wie die berühmte Spitze eines Eisbergs, und sie saßen auf der führerlosen Titanic und steuerten direkt darauf zu.

Ann Kathrins Stimme war anders als sonst. Sie hatte ihre Wärme verloren, da war so ein leicht hysterischer Klang.

»Wie sieht es aus mit deiner Ma?«, fragte er.

Ann Kathrin sprach ruckartig, in einem abgehackten Satzstaccato, als müsse sie die Worte mit großem Druck herauspressen.

Weller hatte sie schon in vielen Situationen erlebt. Wenn andere ausflippten oder panisch wurden, dann reagierte sie oft besonnen, klarsichtig und unerschrocken, doch jetzt stand sie praktisch unter Schock.

Er hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, aber mehr als ein kurzes Gespräch, bis Rupert seinen doppelten Big Mac verdrückt hatte, war nicht drin.

Sie wollte gar nicht von der Situation ihrer Mutter im Krankenhaus erzählen. Sie fragte stattdessen nach, was er über die Sache im Uplengener Moor zu berichten hatte.

»Das wuppen wir schon, Ann, denk jetzt an dich und deine Ma.«

»Ihr seid nicht gerade das Dreamteam der ostfriesischen Polizei, Rupert und du.«

»Ja, aber wir sind auch nicht Dick und Doof. Wir haben das hier voll im Griff, Ann.«

Ann Kathrin hatte Angst, ihn beleidigt zu haben. Das Gefühl, alles falsch zu machen, wurde übermächtig in ihr. »Ihr seid echt nicht wie Dick und Doof …«

Es klang wie eine Entschuldigung.

Weller vervollständigte ihren Satz: »Ja, weil keiner von uns dick ist …«

Sie wertete seinen Versuch, sie aufzuheitern, als Liebesbeweis. Sie war kurz davor, sich zum Lachen zu zwingen, nur um ihm einen Gefallen zu tun. Nur die Befürchtung, es könnte falsch und gekünstelt klingen, hielt sie davon ab. Nein, gute Laune vorzutäuschen, war jetzt nicht ihr Ding.

»Es erschüttert mich so sehr, dass ich gar nicht zu ihr durchdringe. Der Arzt sagt, sie würde mich durchaus verstehen, könnte nur selbst nichts formulieren, weil die Wortfindungsstörungen …«

»Ich weiß«, sagte Weller, »das war bei meiner Schwiegermutter damals genauso. Sing ihr etwas vor.«

»Häh?« Ann Kathrin fühlte sich auf verletzende Weise nicht ernst genommen und abgeschoben.

»Im Ernst, Ann, der Gesang kommt aus einer anderen Gehirnregion oder so. Ich kann dir das auch nicht erklären, aber jedenfalls hat es bei meiner Schwiegermutter nach einem Schlaganfall funktioniert. Sie konnte nicht mehr sprechen, wohl aber die alten Schlager singen. Mendocino … Rote Lippen soll man küssen … Junge, komm bald wieder … Der Junge mit der Mundharmonika … oder auch Udo Jürgens’ Siebzehn Jahr blondes Haar …«

Weller begann vor Begeisterung das Lied zu singen.

»Es reicht, Frank. Danke.«

Rupert kam aus dem McDonald’s. Er hatte sein Hemd mit Mayonnaisespritzern beschlabbert. Er nestelte an seinem Hosenschlitz herum.

»Also, Ann … Wir gehen jetzt in die Pathologie. Ich leg es dir nochmal ans Herz: Versuche es mit der heilenden Kraft des Singens. Und keine falsche Scheu oder Scham. Schlager oder alte Volkslieder können in so einer Situation Wunder wirken …«

Rupert ließ sich in den Sitz plumpsen. Verständnisvoll sah er Weller an. Er äffte seinen Kollegen nach: »Schlager können Wunder wirken … Kriegt sie ihre Tage oder was?«

Weller ballte die Faust. »Halt einfach die Fresse, Rupert. Kapiert? Ich will kein Wort mehr hören.«

Rupert machte eine Bewegung, als würde er seinen Mund abschließen und den Schlüssel durchs Autofenster auf den Parkplatz werfen.

»Kein Wort!«, ermahnte Weller ihn noch einmal.

Dann schwiegen sie bis zur Pathologie.

Das Gebäude in der Taubenstraße 28 wirkte auf Weller, als hätte man Norman Bates’ Elternhaus weiß angestrichen.

Weller besuchte dieses Haus nicht gern. Ihm war unheimlich zumute, wenn er nur in die Nähe kam. Ihm wurde bewusst, dass auch sein Leben endlich war. Irgendwann würde auch er kalt und gefühllos sein, sodass man ihn aufschneiden und in Einzelteile zerlegen konnte, ohne dass er laut um Hilfe brüllen würde.

Sie kannten die junge Frau noch nicht, die sich als Professorin Dr. Marion Hildegard vorstellte und eher wie eine Studentin wirkte.

Der Umgang mit Leichenteilen muss gut für die Haut sein, dachte Rupert und fragte sich, wie alt sie war. Er schätzte sie auf Ende zwanzig, aber damit lag er vermutlich gut zehn Jahre daneben.

Eine Frau Professor Doktor sollte nicht so aussehen, fand er. Der Preis für so einen Titel musste mindestens aus Falten, Übergewicht, einer dicken Brille und schlechter Haut bestehen, damit auf der Welt noch ein bisschen Gerechtigkeit erhalten blieb.

Frauen wie diese Professorin hätten vor Rupert in erotischen Dessous tabledancen können, ohne dass sich bei ihm das Geringste regte. Sie waren ihm zu intellektuell. Frauen, die zu schlau waren, fand er unsexy. Sie turnten ihn einfach ab. Rupert fühlte sich ihnen unterlegen und wollte sich auf keinen Fall einwickeln lassen.

Er ging hinter ihr her. So einen Po bekam man nicht einfach von Mutter Natur geschenkt, dafür musste man lange trainieren. Er schätzte dreimal wöchentlich eine Stunde auf dem Stepper.

Sie habe so etwas noch nie gesehen, betonte sie.

Weller gab ihr recht. »So eine mumifizierte Moorleiche findet man ja wirklich nicht alle Tage.«

Sie gab den beiden eine heftig riechende Creme, die sie sich unter die Nase schmierten, dann führte sie sie in den Obduktionsraum.

Weller fröstelte. Das Kind lag auf einem silbern glänzenden Tisch.

Rupert sah gar nicht hin. Ihm reichte es, wenn er später den Bericht bekam.

Tote Kinder verfolgten ihn in nächtliche Traumwelten, das gab er nicht zu, aber so war es, und er hasste es. Umso erfreuter war er, den hochgereckten Hintern der Putzfrau zu sehen, die in der Ecke etwas aufwischte.

»Wir haben es nicht mit einer mumifizierten Moorleiche zu tun, Herr Weller«, erklärte Frau Professor Dr. Hildegard.

Als Männer noch richtige Kerle waren, wurden um solche Ärsche Kriege geführt, dachte Rupert. Erst viel später ging es dann um Gold, Ehre, Öl und all solchen Quatsch.

Dass dieses gebärfreudige Becken offensichtlich einer Putzfrau gehörte und nicht einer vergeistigten Akademikerin, wirkte geradezu erotisierend auf Rupert. Sein Jagdinstinkt war augenblicklich geweckt.

»Sondern?«, fragte Weller und sah Professor Hildegard an.

Sie schwieg und betrachtete amüsiert Rupert, wie der den Hintern der Putzfrau mit Blicken abtastete.

Sie räusperte sich. Rupert bekam das gar nicht mit.

Eine Spur zu laut fuhr sie fort: »Das Kind wurde ausgestopft.«

Weller glaubte, sich verhört zu haben. »Ausgestopft?«

»Ja, wie man Wirbeltiere ausstopft. Das ist hier erstaunlich gut gemacht. Wer immer das war, hatte eine Menge Fachwissen. So eine Taxidermie erfordert …«

Weller wurde schlecht. Er versuchte, das zu überspielen.

»Taxi … was?«

»Taxidermie nennt man die Kunst, Tierkörper in möglichst natürlicher Form für Ausstellungszwecke haltbar zu machen. Früher wurden Tiere einfach ausgestopft wie Kopfkissen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden die Tierkörper entsprechend ihrer Anatomie in eine Haltung gebracht, die sie fast lebendig aussehen lässt. Die gegerbte Haut wird auf einen Grundkörper aus Gips oder Plastik aufgebracht. Dazu braucht man Grundkenntnisse in Statik, Anatomie und Ethologie.«

Weller stöhnte.

Rupert überlegte, mit welchem Spruch er diese Frau am besten anmachen konnte. Generalangriff. Der erste Satz musste sitzen.

Sollte er es ganz direkt machen? Sind Sie das Senftöpfchen, in das ich mein Würstchen stecken werde?

Oder lieber: Hat das weh getan, als du vom Himmel gefallen bist, Engel?

Am liebsten hätte er den Putzeimer über ihr ausgegossen und dann gesagt: Jetzt aber schnell raus aus den nassen Klamotten …

Aber das ging nicht, er war ja leider nicht alleine mit ihr hier.

Er brauchte einen sozial verträglicheren, nicht zu kompromittierenden Spruch. Er wollte Weller und dieser Akademikertussi keine große Angriffsfläche bieten.

»Wollen Sie damit sagen, Frau Professor, jemand hat dieses Kind …«

Weller konnte es gar nicht aussprechen.

»Schauen Sie selbst.«

Sie wollte es ihm zeigen, doch er sah überall hin, nur nicht auf den Kinderkörper.

»Solche Dermoplastiken müssen eigentlich in klimatisierten Räumen aufbewahrt werden, sonst reißt die Haut. Sehen Sie, hier und hier … In der Gerbung wird bis heute meist Alaun verwendet, dadurch kommt es zu einer Art Säurefraß. Das können Sie hier und hier beobachten. Große Teile des Rückens sind betroffen. Die Haut zerfällt ganz einfach.«

Die Putzfrau drehte sich um. Sie trug ein Seidentuch mit ostfriesischem Rosenmuster um den Hals.

Jetzt sah Rupert ihr Gesicht. Sie hatte große, klare Augen, porzellanblau, aber praktisch keine Lippen. Sie lächelte Rupert an. Ihr Blick ging ihm durch und durch. Ein warmer Schauer rieselte seine Beine entlang.

Ein Anmachspruch nach dem anderen jagte durch seinen Kopf.

Wenn du zu kaufen wärst, würde ich dich klauen, denn ich fürchte, so etwas Wertvolles könnte ich mir bei meinem Gehalt gar nicht leisten.

Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick, oder soll ich besser noch einmal reinkommen?

Entschuldigung, ich habe meine Telefonnummer vergessen. Kann ich deine haben?

Ich bin imADAC. Darf ich dich abschleppen?

Alles Mist. Mist. Zu plump. Nicht witzig genug. Statt sie locker anzubaggern, stand er hier rum wie ein Schluck Wasser und trat von einem Bein aufs andere, als sei das hier seine erste Tanzstunde.

Er wusste nicht wohin mit seinen Händen. Er griff an den Tisch, um sich abzustützen.

»Vorsicht«, sagte die Putzfrau. »Unser erster Prosektor, Dr. Dietrich, hat sich schon 1935 bei einer Autopsie einen Streptokokkeninfekt eingefangen und ist daran verstorben.«

Rupert zuckte zusammen. Er hatte die Leiche gar nicht berührt, sondern nur den Tisch, auf dem sie lag, aber er hätte sich trotzdem am liebsten die Hände in Salzsäure gereinigt. Er wischte sie sich an den Hosenbeinen ab.

Sie lächelte noch immer, und er fragte sich, ob das gerade ihr üblicher Anmachspruch gewesen war.

»Seitdem hat sich hier viel geändert. Zum Beispiel die Hygienebestimmungen. Ich putze hier nicht einfach, ich …«

Sie wurde mit einer scharfen Geste von Professor Dr. Hildegard unterbrochen. »Bitte, Frauke …«

Sie drehte sich sofort um. »Entschuldigung.«

»Nicht doch«, sagte Rupert, »Ich … ähm … ich finde das sehr interessant.«

»Wie lange ist das Kind schon tot?«, fragte Weller.

»Ein paar Jahre. Mindestens vier oder fünf. Vielleicht mehr. Aber im Moor lag sie noch nicht lange. Höchstens ein paar Wochen, sonst hätten wir eine andere Kleintiersituation. Die Leiche ist kaum angefressen …«

Rupert wollte etwas Schlaues sagen, um Frauke zu beeindrucken. Für einen Anmachspruch war es jetzt eh zu spät, aber er bildete sich ein, sie hätte interessiert geguckt.

»Wie ist sie ums Leben gekommen? Können Sie das schon sagen?«, fragte Weller.

Rupert polterte: »Na, das ist vielleicht eine blöde Frage! Wie sie ums Leben gekommen ist! Würdest du es überleben, wenn man dich ausstopft?«

»Das Mädchen kann an einer Krankheit gestorben sein. Vielleicht wurde sie auch umgebracht, so weit bin ich noch nicht. Sie war zwischen zehn und zwölf Jahren alt, als sie … zu dem wurde, was sie jetzt ist.«

Frauke nahm den Putzeimer und verschwand. Rupert folgte ihr.

Weller blieb mit Professor Dr. Hildegard zurück.

»Entschuldigen Sie meinen Kollegen, er …«

Sie winkte ab. »Schon gut. Seine Aussagen reflektieren nicht gerade die kulturellen oder gar literarischen Traditionen des Abendlandes, aber ich kann damit umgehen. Dieser Raum hier wirkt auf manche Menschen, nun sagen wir, irritierend …«

»Wer«, fragte Weller und schluckte schwer, »kann so etwas getan haben?«

Er bemühte sich immer noch, einen Punkt im Raum zu fixieren, um nicht die Leiche anschauen zu müssen, obwohl er wusste, dass dies seine Aufgabe war.

Ann Kathrin hätte ihn dafür schwer gescholten. Ihrer Meinung nach mussten Polizisten genau hingucken, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können.

Aber er hatte selbst Töchter, und das Ganze fasste ihn viel mehr an als der fünfte Mord im Rotlichtmilieu.

»Das herauszufinden ist Ihre Aufgabe, Herr Kommissar. Aber wenn Sie mich fragen …« Sie kokettierte ein bisschen damit, jetzt die Kriminalistin zu spielen. Seine Unsicherheit gefiel ihr. Sie war daran gewöhnt, dass Menschen hier kleinlaut wurden. »So eine Dermoplastik ist eine Art Kunstwerk. Manche Leute sind durch besonders gelungene Tierpräparationen berühmt geworden. Hier hatte jemand viel Zeit und viel Kenntnis. Das gesamte Fettgewebe muss entfernt werden und …«

»Schon gut, schon gut, so genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen. Heißt das, dass wir in einer bestimmten Szene suchen müssen? Der Täter braucht Kenntnisse, ja, eine Ausbildung.«

Sie nickte. »Im Grunde suchen Sie jemanden wie mich, Herr Weller.«

Ann Kathrin war immer noch sauer auf Weller. Sie nahm ihm die krampfhaften Versuche, sie aufzumuntern, übel. Sie fühlte sich dadurch in ihrer Problematik nicht ernst genommen. Schlager sollte sie singen … Der Junge mit der Mundharmonika … So ein Blödsinn!

Sie begleitete ihre Mutter durch den Flur. Die Frau neben ihr kam ihr merkwürdig fremd vor. Sie krampfte sich in Ann Kathrins rechten Arm, weil sie Angst hatte zu stürzen. Ihr Gang war schlurfend und wacklig.

Die ganze Zeit über redete sie in Richtung Ann Kathrin. Das unverständliche Geblubbere und Gelalle wurde zunehmend aggressiver, fand Ann Kathrin, so, als würde ihre Mutter es ihr übel nehmen, dass sie sie nicht verstand.

Sie fühlt sich genauso unverstanden von mir wie ich mich von Weller, dachte sie. Habe ich mich ihm gegenüber auch nicht klar genug ausgedrückt?

»Mama, du bist hier im Krankenhaus. Alles wird wieder gut. Du hattest einen Schlaganfall. Ich kann nicht verstehen, was du mir sagst. Dein Sprachzentrum wurde getroffen.«

Die Mutter schüttelte den Kopf und wedelte wild mit der rechten Hand vor Ann Kathrins Gesicht herum, während sie sich mit der linken weiterhin an ihr festhielt.

Ich muss ihr Dinge holen, die sie kennt, dachte Ann Kathrin, damit sie sich besser zurechtfindet. Sie braucht ihren eigenen Bademantel. Dinge, die sie erkennt. Vielleicht ein Bild, die eigene Uhr …

Sie beschloss, noch einmal zurückzufahren, um Erinnerungsangebote aus der Wohnung der Mutter zu holen. Bei all den Grobheiten um uns herum müssen wir sensibel bleiben für die kleinen, zwischenmenschlichen Dinge, die doch so unglaublich wichtig sind, dachte sie.

Sie versuchte, es ihrer Mutter zu erklären, doch die wollte sie nicht gehen lassen, hielt sie fast panisch fest, als hätte sie Angst, sie sonst nie wiederzusehen.

»Ich komme zurück, Mama. Ich will dir nur ein paar Sachen holen. Ein Fotoalbum und …«

Helga schüttelte den Kopf und wirkte so, als würde sie ihre Tochter am liebsten ohrfeigen, was sie aber nicht tat.

Ann Kathrin beschloss, noch eine Weile zu bleiben und mit ihrer Mutter im Flur auf und ab zu gehen, bis sie, müde geworden, froh war, im Bett einschlafen zu können.

Beim Spaziergang im Krankenhausflur schweiften Ann Kathrins Gedanken ab. Sie konnte dem Buchstaben- und Silbensalat, der auf sie einprasselte, nicht länger zuhören. Sie tat es vielleicht nur, um ihre Mutter einen Moment lang zum Zuhören zu bringen, damit sie endlich schwieg. Vielleicht wollte sie auch Franks Vorschlag eine Chance geben.

Als sie es tat, fehlte ihr jede Begründung dafür. Sie begann zu singen. Ganz leise, fast verschämt, ganz nah am Ohr ihrer Mutter.

»Schuld war nur der Bossanova,

der war schuld daran.

War’s der Mondenschein …«

Ihre Mutter blieb stehen, schüttelte sich, als würde sie in der Disco tanzen und sang: »Der war schuld daran.«

Ann Kathrin zuckte zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Sofort versuchte sie es erneut.

»Schuld war nur der Bossanova …«

Und ihre Mutter stimmte gleich mit ein:

»Der war schuld daran.«

Ann Kathrin staunte und sang weiter:

»War’s der Mondenschein …«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht zu einem Lachen:

»Nana, der Bossa Nova.«

Ann Kathrin kannte den weiteren Text gar nicht richtig, aber sie wollte jetzt auf keinen Fall aufhören.

Dann standen sie gemeinsam im Flur der Ubbo-Emmius-Klinik, als sei dies eine Bühne, und sangen aus vollem Herzen:

»Als die kleine Jane grade achtzehn war,

Führte sie der Jim in die Dancing Bar.«

Sie sahen sich dabei aus großen Augen an, konnten ihr Glück nicht fassen. Beiden schossen gleichzeitig Tränen in die Augen, dann hielten sie sich fest umklammert und lachten ihr befreiendes Lachen lauthals heraus.

Ann Kathrin fühlte sich, als seien sie unschuldig Verurteilte, denen gerade der Gefängnisausbruch gelungen war …

Danke, Frank, dachte sie, danke. Ich hab dir, verdammt nochmal, Unrecht getan.

Weller wollte zurück nach Aurich, um bei einer ersten Tatortbesprechung alle bisher bekannten Daten und Fakten zu sammeln.

Er stand draußen ans Auto gelehnt und sah sich das Institut für Pathologie an. Jetzt erinnerte ihn das Gebäude noch viel mehr an das Elternhaus von Norman Bates. Die Dachform war genauso geschnitten, es fehlte nur das heruntergekommene Motel. Weller sah sich um, als würde er es in der Taubenstraße suchen.

Er ahnte, wo Rupert war, und konnte es doch gleichzeitig nicht glauben. Hatte er wirklich diese Reinemachfrau abgeschleppt? War das eine Übersprunghandlung, weil er mit dem Anblick der Kinderleiche nicht fertig wurde, oder war er einfach nur notgeil?

Völlig egal. Sie mussten zurück. Sie hatten einen Fall zu lösen. Rupert durfte Affären haben, so viel er wollte, aber nicht während der Dienstzeit.

Weller drückte auf seinem Handy die Kurzwahltaste für Rupert.

Rupert ging auch sofort ran.

Weller schimpfte: »Hey, ich warte hier auf dich wie so ein dummer Junge! Wo bist du?«

Rupert antwortete: »Ich verstehe deine Unsicherheit. Aber ich vertrau dir vollkommen. Du schaffst das auch ohne mich. Es wird ja Zeit, dass du selbständiges Arbeiten lernst.«

»Ey, spinnst du?!«

Weller war sofort klar, dass Rupert keineswegs wirklich ihm antwortete, sondern dass seine neue Freundin neben ihm saß und er sie beeindrucken wollte, indem er sich als großer Zampano aufspielte.

»Ich erwarte deinen Bericht heute Abend auf meinem Schreibtisch. Ich werde später nochmal im Büro vorbeikommen und mir anschauen, wie du den Fall gehandelt hast. Wenn du dich jetzt klug verhältst, wird es einen positiven Eintrag in deine Personalakte geben.«

Weller sprach Klartext: »Meinetwegen kannst du während der Dienstzeit mit deiner kleinen Schnecke herummachen, so lange du willst. Mich stört das nicht. Aber glaub ja nicht, dass ich hier in Oldenburg warte, bis du fertig bist. Dann musst du schon zusehen, wie du nach Hause zurückkommst.«

»Du musst einfach mehr Vertrauen in dich haben. Als ich angefangen habe, war das auch ein Riesenproblem für mich, aber Erfahrung sammelt man nur, indem man Dinge selbständig tut. Trau dich!«

»Meinst du, die ist so blöd und kauft dir den Schmus ab?«

»Ich weiß, dass ich wie ein Vater für dich bin, aber ich kann nicht immer alle Probleme für dich lösen. Wir sind fast gleich alt. Werd erwachsen!«

»Soll ich unserem Chef sagen, dass du eine Verdächtige verhörst oder …«

»Da wird dir schon was einfallen!«

»Wenn du danach entspannter bist und dich wieder auf die Arbeit konzentrieren kannst, soll’s mir recht sein.«

Weller hörte noch ein Kichern von Frauke, dann beendete er das Gespräch.

Bevor Weller über die E 22 in Richtung Aurich fuhr, hielt er am großen Einkaufscenter an. Hier vor dem Famila-Markt im Posthalterweg gab es eine Würstchenbude, die er in guter Erinnerung hatte. Nach einem Besuch im Horst-Janssen-Museum hatte er hier mit Ann Kathrin noch den versäumten Wochenendeinkauf nachgeholt, und der Duft dieser Bratwurst hatte es ihm unmöglich gemacht, einfach ins Auto zu steigen und nach Hause zu fahren.

Jetzt hielt er auf dem großen Parkplatz. Das Gelände war unübersichtlich. Er sehnte sich zurück nach kleinen Tante-Emma-Läden. Das hier hatte in seiner Fülle etwas Erschlagendes an sich. Bei zu viel Werbung und Lichtern wusste er plötzlich nicht mehr, was er eigentlich wollte und wofür er sich entscheiden sollte.

Er wollte schon umkehren, aber dann war wieder dieser Bratwurstgeruch da.

Er aß gleich zwei, und dann ging es ihm besser.

Vielleicht, überlegte er, sollte ich noch einkaufen und heute Abend für Ann und mich etwas kochen. Sie wird völlig fertig sein nach der Geschichte mit ihrer Mutter.

Er wollte etwas Leichtes für sie kochen. Er stellte sich ein Fischgericht vor.

Im Eingangsbereich gab es eine große, offene Buchhandlung. Oltmanns. Die Sehnsucht nach einem ruhigen Leseabend überkam ihn. Ja, einen guten Krimi wollte er in der Hand halten, die Füße auf dem Sofa hochlegen und vielleicht mit einem guten Tropfen Rotwein …

Wie um ihn zu locken, lagen auch noch Neuerscheinungen ostfriesischer Krimiautoren direkt im Eingangsbereich. Barbara Wendelkens »Tod an der Blauen Balje« lachte ihn an. Es kostete ihn Mühe, aber er blieb standhaft.

Ann Kathrin braucht jetzt mich und meine ganze Aufmerksamkeit, dachte er, da kann ich mich nicht mit einem Krimi zurückziehen.

Er kaufte Seelachs ein und Gemüse. Er wollte das alles würfeln und mit gutem Olivenöl im Wok zubereiten. Es würde nur ein paar Minuten dauern, und sie hätten eine gesunde Mahlzeit. Notfalls konnte er das Ganze auch morgen kochen.

Dann, als er rausging, hielt er es doch nicht länger aus. Er griff zu dem Krimi, kaufte ihn fast heimlich, wie eine verbotene Droge, und lief dann zu seinem Auto.

Auf der Höhe von Uplengen überlegte er, noch einmal abzubiegen und sich den Tatort allein anzuschauen, obwohl er sich sicher war, dass der Fundort auf keinen Fall der Tatort war. Aber warum, verdammt, machte sich jemand so viel Mühe, ein totes Kind zu präparieren, bewahrte es jahrelang auf und warf es dann einfach weg?

In dem Moment fiel ihm glühend heiß ein, dass der Täter die Leichenteile ja irgendwo entsorgt haben musste. Die Knochen. Die Innereien. Das Fett. Die Muskelmasse.

Weller schüttelte sich und kämpfte darum, die gute Bratwurst drin zu behalten.

Sie hatten doch nichts weiter gefunden als die Hülle. Der Täter musste das Kind praktisch abgehäutet haben. Aber wo war der Rest geblieben? Lag noch irgendwo ein Skelett?

Erst jetzt wurde ihm deutlich, dass er Frau Professor Dr. Hildegard gar nicht gefragt hatte, ob unter dem Gesicht auch noch ein richtiger Schädel war. Knochen. Oder lag das alles noch im Uplengener Meer?

Er stellte sich vor, wie ein Täter die Innereien eines Menschen nachts an Fische und Vögel verfütterte. Sicherlich würden die ganze Arbeit leisten. Aber dann wären die Knochen noch im See.

Hatte der Täter irgendeinen Bezug zu diesem Ort? Vielleicht stand auch das Opfer in irgendeiner Beziehung zum Moorgebiet.

Immer wieder, wenn er über die Lösung eines Falles nachdachte, erwischte er sich bei dem Gedanken: Wie würde Ann Kathrin es machen?

Ganz sicher würde sie versuchen, alles über Moore in Ostfriesland in Erfahrung zu bringen, über das Ausstopfen von Menschen und Tieren, und schließlich würde sie den Fundort aufsuchen, dort ganz allein sein und hereinspüren, ob der Ort ihr etwas zu erzählen hatte.

Weller stellte sich vor, dass er sich nächtelang dort den Arsch abfrieren könnte, ohne dass der Ort jemals zu ihm sprechen würde, aber bei Ann Kathrin war das anders.

Ich bin nicht Ann Kathrin, sagte er sich zerknirscht. Ich muss andere Methoden anwenden. Damit kommen wir auch zum Ziel.

Der Täter kann nur aus einer klar einzugrenzenden Personengruppe kommen. Die knöpfe ich mir notfalls alle selbst vor.

Aber dann sahen Ann Kathrin und Weller sich nicht in ihrem gemütlichen Zuhause im Distelkamp 13 in Norden wieder, sondern pflichtbewusst bei einer Dienstbesprechung in der Polizeiinspektion Aurich im Fischteichweg.

Es gab auch keine Fisch-Gemüse-Pfanne, sondern Stuten mit Rosinen und dazu Schwarztee.

Rieke Gersema hielt die Tasse mit beiden Händen und beugte ihren Kopf darüber. Der heiße Dampf kondensierte auf ihren Brillengläsern, während sie den Teeduft einatmete.