Ostkind - Arne Kohlweyer - E-Book

Ostkind E-Book

Arne Kohlweyer

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Beschreibung

"Da stand er nun. Marko Wedekind. Am ­Nachmittag seines neunten Geburtstages. Den aktuellen ­Statistiken über die durchschnittliche Lebenserwartung ­eines ­Mannes zufolge hatte er damit drei ­Sechsundzwanzigstel seines Lebens hinter sich. Das konnte er ­ausrechnen, obwohl sie erst im nächsten Schuljahr mit der Bruchrechnung anfangen ­würden. Und trotz ­dieser drei Sechsundzwanzigstel behandelte ihn jeder wie ein kleines Kind. Vor allem seine Mutter. Diskutieren brachte da nicht viel …" "Ostkind" ist ein tragikomischer Roman aus der Sicht ­eines Jungen jener Generation, die alt genug war, um von den Umwälzungen der ­Wiedervereini­gung betroffen zu sein, doch zu jung, um sie real zu begreifen. Seine kindliche Unschuld und seine ­Fragen bringen die Erwachsenen immer wieder in Verlegenheit, sorgen aber auch für unfreiwillige ­Komik.

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Arne Kohlweyer

OSTKIND

Roman

Inhalt

Samstag, 13. Juni 1992

Sonntag, 14. Juni 1992

Montag, 15. Juni 1992

Dienstag, 16. Juni 1992

Mittwoch, 17. Juni 1992

Donnerstag, 18. Juni 1992

Freitag, 19. Juni 1992

Samstag, 20. Juni 1992

Sonntag, 21. Juni 1992

Montag, 22. Juni 1992

Dienstag, 23. Juni 1992

Mittwoch, 24. Juni 1992

Donnerstag, 25. Juni 1992

Freitag, 26. Juni 1992

Samstag, 27. Juni 1992

Anmerkungen

Danksagung

Samstag, 13. Juni 1992

Dunkel war es, so tief unter Wasser. Kaum Tageslicht drang durch die Meeresoberfläche nach hier unten. Marko konnte gerade noch seine Arme und Hände sehen, die ihm den Weg durch das nasse Ungewisse bahnten. Mehr sah er nicht. Dafür konnte er es deutlich hören: Das Singen der Wale.

Angestrengt schaute Marko durch das dicke Glas seiner Taucherbrille. Zu deutlich hörte er es, um nicht jeden Moment auf einen von ihnen zu stoßen. Und tatsächlich! Im trüben Dunkel schwebte ein riesiger Schatten majestätisch vorüber. Ein Blauwal! Oder doch ein Buckelwal? Bevor Marko erkennen konnte, was genau er da bewunderte, war die Silhouette schon wieder verschwunden. Er versuchte, dem Wal zu folgen, ihm hinterherzuschwimmen … doch vergeblich. Er war fort. Und mit ihm entfernte sich der wundersame Gesang, bis vollkommene Stille einkehrte.

Ein kleiner Fisch schwamm direkt an Markos Augen vorbei. So nah, dass er glaubte, der goldgelbe Guppy wäre auf der Innenseite seiner Taucherbrille gefangen. Doch dann war auch er auf und davon.

Marko fror.

Mit seinen Schwimmflossen an den Füßen watete der Junge ans Ufer des kleinen Baggersees. Überall ringsumher ragten Bäume bis ins Wasser hinein, mit Ausnahme des schmalen Sandstrandes.

„Bleib’ mal kurz da stehen.“

Markos Vater Alfred zückte die Fotokamera mit dem schnappenden Spiegel und zielte auf ihn. Marko hielt die Luft an, während an der Kamera gedreht, geschaltet und herumgestellt wurde. Nur seine Taucherflossen waren noch mit Wasser bedeckt und vor dem pfeifenden Wind geschützt. Von der Sonne war schon seit Tagen nichts zu sehen.

„Mach’ hinne, Alfred! Der Junge holt sich ja noch den Tod.“ Markos Mutter stand am Bildrand, mit einem rauen Handtuch bewaffnet, bereit, ihn damit gnadenlos abzurubbeln.

„Ja doch! Einen Moment noch.“

Da war Marion, wie Alfred Markos Mutter mal mehr, mal weniger liebevoll nannte, bereits auf Marko zugestürmt. Wie einen Umhang legte sie ihm das Badetuch über die Schultern und begann ihn abzutrocknen. Seine sieben Jahre und elf Monate ältere Schwester Melanie, die bis dahin abseits gehockt und gelangweilt auf den See hinausgeschaut hatte, erhob sich jetzt und gesellte sich, mit Markos Anziehsachen unterm Arm, zu ihnen.

Da stand er nun. Marko Wedekind. Am Nachmittag seines neunten Geburtstages. Den aktuellen Statistiken über die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes zufolge hatte er damit drei Sechsundzwanzigstel seines Lebens hinter sich. Das konnte er ausrechnen, obwohl sie erst im nächsten Schuljahr mit der Bruchrechnung anfangen würden. Und trotz dieser drei Sechsundzwanzigstel behandelte ihn jeder wie ein kleines Kind. Vor allem seine Mutter. Diskutieren brachte da nicht viel.

„Ifs kang mis aug …“

Marko nahm den Schnorchel aus dem Mund.

„Ich kann mich auch alleine abtrocknen!“

Seine Mutter zögerte kurz, ganz so, als würde sie ernsthaft in Erwägung ziehen, ihrem Sohn den Rest dieser erniedrigenden Prozedur zu ersparen. Dann warf sie ihm den sandpapierartigen Stoff über den Kopf und rieb Haare und Ohren trocken.

„Na, wie gefällt dir dein Geschenk?“, fragte sie.

„Gut“, drang es unter dem Handtuch hervor.

Und das war nicht gelogen. Die Taucherausrüstung gefiel Marko wirklich. Doch eigentlich hatte er sich ein neues Fahrrad gewünscht. Ein Mountainbike. Oder ein BMX-Rad. So eins, wie es alle in seiner Klasse hatten.

„Ich hab’ sogar von Weitem einen Blauwal gesehen!“, berichtete Marko mit einem vom Handtuch verdeckten Strahlen.

Das schien selbst Eindruck auf seine Schwester zu machen. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag ergriff sie das Wort.

„Spinner.“

Nein, Geburtstage waren in seinem Alter nicht mehr dasselbe wie früher, dachte Marko sich, während die Familie in ihrem senffarbenen Trabant die Landstraße entlangtuckerte. In der Ferne ragten die Neubauten von Hohenschönhausen in den Himmel und im Radio erzählte der Nachrichtensprecher von einer jener Sachen, die Marko nur halb verstand: Der Miss Trauens-Antrag der Op-Po-Sitionsparteien gegen Minister Präsident La-fon-täne war gescheitert … Mhm.

Hinter dem Trabbi bildete sich, wie so häufig auf dieser Straße, eine kleine Schlange großer Autos, die aufgrund des Gegenverkehrs nicht vorbeifahren konnten und hupten. Wie so häufig bat Markos Mutter seinen Vater, das Hupen zu ignorieren und ruhig zu bleiben. Und wie so häufig …

„Na fahr’ doch, du Idiot!“

Ein silbergrauer Opel setzte zum Überholen an und zog vorbei. Die ganze Familie wandte die Köpfe, um den drängelnden Fahrer des Kadetts böse anzuschauen.

„So wie der fährt, seh’n wir den eh am nächsten Baum wieder!“, schickte Alfred die besten Wünsche hinterher.

Jetzt erzählte der Nachrichtensprecher mal was Interessantes: In Stockholm war die Fußball-Europameisterschaft gestartet. Schweden und Frankreich hätten im Eröffnungsspiel 1:1 unentschieden gespielt. Und am Abend würde die deutsche Mannschaft in ihrem ersten Gruppenspiel auf die gemein-Schaft unabhängiger Staaten treffen.

Marko beobachtete das nächste Auto beim Überholmanöver. In dem weinroten Volvo saß eine vierköpfige Familie – Mutter, Vater und zwei Kinder. Als er genauer hinsah, erkannte er Alfred dort am Steuer des Wagens, das Lenkrad lässig in der linken Hand und den rechten Arm liebevoll um Marion gelegt. Melanie saß auf der Rückbank, hörte Musik und wirkte dabei glücklich und zufrieden. Sein eigenes Volvo-Spiegelbild hingegen schaute spöttisch zum Trabbi hinüber. Die Blicke der beiden Markos trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Dann war das eckige Schwedenauto nur noch von hinten zu sehen.

Ja, dieser Geburtstag war wirklich anders als die acht davor. Auch wenn Marko sich an seine allerersten Geburtstage nicht erinnern konnte; die letzten Jahre hatte er immer mit seinem besten Freund Martin und seinem zweitbesten Freund Ecki gefeiert. Sie waren zu ihm nach Hause gekommen, wo sie um den Stubentisch Platz nahmen und den Käsekuchen aßen, den seine Mutter ihnen gebacken hatte. Dann packte Marko die mitgebrachten Geschenke aus, bevor Alfred die Jungs bei gutem Wetter zum Baggersee, bei schlechtem Wetter in die Schwimmhalle mit dem Wellenbad oder ins Kino brachte. Doch Martin war vor ein paar Monaten mit seiner Familie nach Drüben gezogen. Und seit seinem letzten Brief vor gut sechs fünfsiebtel Wochen hatte Marko nichts von ihm gehört. Bei Ecki lag die Sache anders. Alfred und Onkel Heiner – Eckis Vater – mochten sich nicht mehr. Das hatte irgendwas mit Onkel Heiners Hals zu tun. Aber genau hatte Marko das nicht verstanden. Jedenfalls wirkte sich das neuerdings schwierige Verhältnis der Väter auch auf Markos Freundschaft zu Ecki aus und führte dazu, dass er seinen neunten Geburtstag ohne Freunde verbringen musste.

Auf dem riesigen Parkplatz, inmitten eines noch riesigeren Komplexes von elf- und achtzehngeschossigen Plattenbauten, stellte Alfred den Trabbi zwischen einem blauen Mazda 626 und einem roten Audi 80 ab. Marion klappte ihren Sitz vor, sodass Marko sich hinauszwängen konnte. Gerade, als auch sein Vater den Fahrersitz nach vorne klappen wollte, erschallte hinter ihnen eine Stimme, die Marko gut kannte.

„Ach, sieh an, der Herr Professor“, sagte die Stimme, die zu Onkel Heiner gehörte.

Ecki und seine Eltern waren im Begriff, in ihren nagelneuen Passat einzusteigen, den sie sich vor ein paar Wochen gekauft hatten. Feierlich öffnete Eckis Vater die Zentralverriegelung.

„Ein Spaziergang mit motorisierter Gehhilfe?“, fragte er in Richtung Alfred.

„Kann sich ja nicht jeder prostituieren, um sich so ’ne Bonzenkarre zu leisten“, entgegnete der und Marko überlegte, ob die beiden Männer früher schon andauernd Wörter benutzt hatten, die er nicht kannte.

Tante Sigrid und Markos Mutter nickten sich zu, sagten aber nichts. Ecki schielte zu Marko herüber. Er hob den Arm und winkte ihm zu.

„Hallo Ecki“, versuchte Marko völlig normal zu klingen.

„Alles Gute zum Geburtstag …“, gratulierte Ecki pflichtbewusst.

„Danke …“

„Hast du das Fahrrad bekommen?“

Onkel Heiner schob seinen Sohn zur Hintertür des Passats. Ecki stieg ein, ohne dass dafür irgendetwas umgeklappt werden musste. Melanie saß noch immer auf der Rückbank des Trabbis.

„Papa?“

Endlich betätigte Alfred den Hebel neben dem Fahrersitz und sie konnte herausschlüpfen. Eckis Vater beobachtete das Ganze genüsslich, während er sich lässig an seine geöffnete Fahrertür lehnte.

„Hach, Technik, die begeistert.“

„Nun steig schon ein, Heiner!“, meldete sich Eckis Mutter vom Beifahrersitz zu Wort.

„Na dann, Professor, immer schön vorsichtig. Sonst fällt’s noch auseinander.“

Eckis Vater ließ seinen Hintern auf den schwarzen Ledersitz gleiten. Er zog die Tür zu, startete den Wagen und fuhr los.

„Blödes Arschloch …“, grummelte Alfred in seinen Bart.

„Alfred! Nicht vor dem Kleinen!“

„Ich bin nich klein!“, stellte Marko klar.

Sicher, verglichen mit seinen Klassenkameraden war er nicht gerade der Größte. Und von den Jungs mochte er tatsächlich der Kleinste sein. Aber das war alles nur eine Frage der Betrachtungsweise. Marko zog es vor, sich als zwölftgrößter Junge seiner Klasse zu sehen.

„Papa, was heißt prostituieren?“, fragte er, als die Familie in Richtung Hauseingang trabte.

„Das verstehst du noch nicht, Spatz“, erwiderte seine Mutter, ehe der Gefragte antworten konnte. „Siehst du, was du deinem Sohn für Wörter beibringst?“

Wie immer, wenn die beiden Männer zusammen Fußball schauten, saß Alfred im Fernsehsessel und Marko machte sich der Länge nach auf dem Zweisitzer breit. Markos Mutter interessierte sich nur für Leichtathletik und Tennis, seine Schwester für rein gar nichts. Der Kommentator des Spiels, ein Mann namens Heribert, erklärte gerade, was er schon vor der Partie und während der ersten Halbzeit erzählt hatte: dass an diesem Abend zum allerersten Mal Spieler aus Ost- und Westdeutschland gemeinsam bei einem großen Fußballturnier antraten. Das hatte ihnen aber bisher nichts genützt. Gegen die GUS lagen sie mit 0:1 hinten.

„Papa?“

„Hm?“

„Warum sind du und Onkel Heiner nicht mehr befreundet?“

Alfred blickte missmutig zu seinem Sohn hinüber.

„Nenn ihn nicht Onkel! Er ist nicht dein Onkel. Der ist nur ein Nachbar.“

„Ich hab ihn aber doch immer Onkel Heiner genannt?!“

„Aber jetzt bist du langsam alt genug, um zu verstehen, dass er nicht dein Onkel ist.“

Wenn Marko genauer darüber nachdachte, machte das natürlich Sinn. Sein Vater und Onkel Heiner hatten keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Onkel Heiner war dünn wie eine Bohnenstange und hatte einen roten Schnauzbart über der Lippe. Durch seine Haare schimmerte schon die Kopfhaut. Alfred hingegen sah eher wie ein großes Gürteltier aus, hatte einen schwarzen Vollbart und ein rundes Gesicht. Wäre Nachbar Heiner sein Onkel, müssten sich die beiden doch ähnlich sehen, oder?

„Und nein, Tante Sigrid ist auch nicht deine richtige Tante.“

Marko dachte an den letzten Sommer zurück, in dem die Sonne geschienen hatte und beide Familien gemeinsam an die Ostsee gefahren waren. Genauso wie in den Jahren davor. Niemand hatte es damals merkwürdig gefunden, wenn er Eckis Eltern mit Onkel und Tante ansprach. Im Gegenteil. Hatten sie es ihm nicht sogar so beigebracht?

„Aber warum seid ihr denn jetzt nicht mehr befreundet, du und Nachbar Heiner?“

„Das verstehst du noch nicht.“

Da war es wieder! Dieses Das verstehst du noch nicht, das sich manchmal als ein Dafür bist du noch zu jung verkleidete. Je älter Marko wurde und je mehr er in der Schule lernte, desto häufiger schmetterten die Erwachsenen es ihm entgegen. Genau wie letztens auf seine Frage, wie denn eine Hand bitteschön treu sein könne.

„Wenn ich doch aber alt genug bin, um zu verstehen, dass Onkel Heiner nicht mein richtiger Onkel ist, warum soll ich dann nicht verstehen, warum …“

„Tor für Deutschland!!!“, brüllte der Mann, der Heribert hieß, ihm ins Wort.

„TOOOOR!!!“

Während sein Vater den Treffer regungslos zur Kenntnis nahm, sprang Marko vom Zweisitzer auf. Mit wedelnden Armen hüpfte er durch die Wohnung. Euphorisch riss er den orangefarbenen Vorhang von Alfreds selbst gebauter Holzwand zur Seite, die seinen Teil des Zimmers von dem seiner Schwester trennte. Melanie saß an ihrem Schreibtisch über ihren Hausaufgaben. An den Wänden hingen Poster von dem berühmten Schauspieler Luke Perry und von einer Musikband, die sich Depeche Mode nannte. Das Bild, auf dem ein junger Typ mit Kopftuch sein Kinn auf seinen Unterarmen ablegte und dabei in die Kamera starrte, musste neu sein. Zumindest war Marko dieser Johnny Depp bei seinen vorherigen Abstechern in die Zimmerhälfte seiner Schwester nicht aufgefallen.

„1:1 in der letzten Minute! Wunderschöner Freistoß von Häßler!“

„Kannst du gefälligst anklopfen?!“, raunzte Melanie ihn genervt an.

Doch da war er schon zurück in den Flur gehopst und stieß die Tür zum Schlafzimmer der Eltern auf.

„1:1! Häßler in der …“

Marko stockte. Seine Mutter lag auf dem Bett, von der Tür abgewandt. In Zeitlupe drehte sie sich zu ihm um und lächelte ihn mühevoll an.

„Ich hab nicht gewusst, dass du schläfst“, entschuldigte er sich.

„Ich hab Montag einen wichtigen Termin. Und da will ich mich dieses Wochenende noch ein wenig ausruhen.“

„Ein Vor-Stellungs-Gespräch?“

„Ja …“, zögerte Marion die Antwort einen Tick hinaus.

„Dann ziehst du diesmal die grüne Bluse an, ja? Grün bringt nämlich Glück, weißt du?“

„Ja, mach ich.“

Marko hatte die Tür schon fast hinter sich zugezogen.

„1:1 in der 90. Minute! Durch Häßler!“

Später am Abend saß Marko in seinem kleinen Zimmer an seinem noch kleineren Schreibtisch und trug das Ergebnis des Spiels in den faltbaren EM-Planer ein. Dann nahm er die neueste Ausgabe der MICKY MAUS zur Hand. Eine ganze Woche hatte er auf dieses Heft gewartet und jedem damit in den Ohren gelegen. Fein säuberlich entnahm er die der Zeitschrift beigelegte knallbunte Urkunde. Sie bescheinigte dem Inhaber den Besitz von zehn Quadratmetern Regenwald in Brasilien. Sein Vater meinte, das wäre Quatsch, aber was hatte der schon für eine Ahnung von tropischen Regenwäldern? Was Tiere und Natur anging, war Marko der Experte in der Familie. Mit seinem Füller trug er seinen Namen vorsichtig in die dafür vorgesehene Zeile ein und achtete darauf, das Geschriebene nicht gleich wieder mit seiner eigenen Hand zu verwischen, wie es ihm in der Schule so häufig passierte. Denn so richtig funktionierte der Füller, den seine Mutter ihm extra in einem Fachgeschäft für Linkshänder gekauft hatte, nicht wirklich. Stolz begutachtete Marko sein Werk. Dann pinnte er die Urkunde an die braune Holzwand, die mit Tierpostern aus der Apotheke, einem dreiviertelfertigen Starschnitt von David Hasselhoff aus Melanies alten BRAVOS sowie eigenhändig aus der Fernsehzeitschrift ausgeschnittenen Bildchen von Bud Spencer und Terence Hill beklebt war.

Er griff nach seinem Dosentelefon, dessen Schnur über das Fensterbrett zur Nachbarwohnung hinüberführte, und hielt es an seinen Mund.

„Gepard, bitte kommen“, vernahm Marko dumpf seine eigene Stimme.

Er führte die Dose an sein Ohr, doch außer dem Meer war nichts zu hören.

„Gepard, bitte kommen! Hier Blauwal.“

Wieder nur Rauschen.

„Ecki, bist du da?“

Keine Antwort. Er stellte das Telefon auf seinen Platz zurück und suchte mit dem Zeigefinger auf seinem Globus nach Brasilien. Liebevoll strich er über die Ausmaße des riesigen Landes. Hier besaß Marko nun zehn Quadratmeter Regenwald, die ohne sein Einverständnis niemand abholzen durfte. Eines Tages würde er vielleicht den ganzen Urwald besitzen, mit dem einzigen Ziel, ihn genauso zu belassen, wie er war. Dann versuchte er, mit ausgestrecktem Daumen und Zeigefinger die Entfernung von der DDR (ja, der Globus war schon etwas älter) nach Brasilien abzumessen. Knapp dreieinhalb Handbreit waren die Länder voneinander entfernt.

Sonntag, 14. Juni 1992

Am nächsten Morgen nahm Marko schon vor dem Frühstück am Küchentisch Platz. Von der kürzeren Seite der Eckbank aus beobachtete er seine Mutter dabei, wie sie gehäufte Teelöffel mit Kaffeepulver in das dafür vorgesehene Behältnis der Maschine füllte. Dann nahm sie die Aufbackbrötchen aus dem Tiefkühlschrank und steckte sie in den Backofen. Marko atmete erleichtert auf. Keine Brötchen mit dem Teig aus der Dose diesmal. Die hasste er fast noch mehr als Lakritze, wenn auch weniger als Ananas.

„Melanie?! Möchtest du auch ’nen Kaffee?“, rief seine Mutter in die Wohnung hinein.

Melanie antwortete nicht. Sie war in ihrem Zimmer und schlief. Zumindest hatte Marko an diesem Morgen noch keine Geräusche aus ihrer Zimmerhälfte vernommen.

„Ich will einen!“, erwiderte stattdessen er, indem er sich kerzengerade aufrichtete.

„Och Marko. Wie oft denn noch: Kaffee ist nichts für dich, hm? Ich kann dir gerne mal Kinderkaffee mitbringen, wenn du möchtest.“

Das hatte sie ihm tatsächlich schon ein paar Mal gesagt. Aber soo oft nun auch wieder nicht.

„Ich will keinen Kinderkaffee! Ich will richtigen.“

„Das heißt Ich möchte … Ich möchte keinen Kinderkaffee. Sag mal bitte deiner Schwester Bescheid, dass wir gleich frühstücken.“

Er sprang auf und tippelte an dem heißen Backofen vorbei, in dem die milchfarbenen Aufbackbrötchen ihren Eisfilm verloren. Aus dem Badezimmer drang das elektrische Schneiden von Alfreds Rasierer. Marko öffnete den Vorhang zu Melanies Zimmerhälfte, wo seine Schwester noch immer im Bett lag, die Steppdecke bis zu den Ohren gezogen.

„Frühstück!“

„Hau ab!“, vibrierte es dumpf unter der Decke hervor.

„Mama fragt, ob du auch Kaffee möchtest.“

Melanie drehte sich von ihm weg und legte sich eines ihrer zwei Kissen über den Kopf. Ohne groß darüber nachzudenken, trat er näher an das Bett heran, schnappte sich einen Zipfel der Bettdecke und zog sie mit einem Ruck fort. Melanie schrie auf.

„Spinnst du?! Raus aus meinem Zimmer! Sofort!“

Hastig bedeckte sie mit dem einen Arm ihren entblößten Oberkörper. Mit der anderen Hand erwischte sie von ihren umherliegenden Kuscheltieren das Monchhichi mit dem fehlenden Daumen und warf es nach ihm. Marko versuchte auszuweichen, wurde aber trotzdem am Rücken getroffen. Theatralisch ließ er sich zu Boden fallen und hielt sich das Schienbein – in bester Manier eines Fußballprofis, der gefoult worden war.

Mit einem Bein auf dem Teppich gelang es Melanie, ihre Bettdecke zurückzuerobern.

„Verschwinde, du Spinner!“

Wie jedes Mal, wenn es zum Frühstück die Tiefkühlaufbackbrötchen gab, pulte Markos Mutter den Teig aus den aufgeschnittenen Hälften und legte ihn neben ihren Teller. Dann bestrich sie die ausgehöhlten Überbleibsel mit Margarine.

„Das geht so nicht! Ich bin die Einzige in meiner Klasse ohne eigenes Zimmer!“

„Du hast doch ein eigenes Zimmer …“, erwiderte Alfred aufrichtig erstaunt.

„Das ist doch kein eigenes Zimmer! Ich bin siebzehn und muss mir einen Raum mit meinem kleinen Bruder teilen!“

„Du wirst erst nächsten Monat siebzehn! Und ich bin nicht klein! Ich bin schon neun, verdammt!“

„Nicht fluchen!“, schaltete sich Marion in die Diskussion ein.

„Und warum kann ich nicht wenigstens sonntags mal ausschlafen?“, fuhr Melanie fort.