Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen - Christian Wevelsiep - E-Book

Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen E-Book

Christian Wevelsiep

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Das Bild des "störenden" und "auffälligen" Kindes ist eingängig und plakativ. Aber die Einordnung in eine widerspruchsfreie Pädagogik fällt schwer. Das Buch will daher im Dickicht der disziplinären und fachlichen Aspekte einen verlässlichen Leitfaden an die Hand geben. Es beschäftigt sich dabei zunächst mit den Grundfragen der Disziplin, wobei der Perspektivenwechsel von einer individualisierenden zu einer verstehenden Sichtweise auf das Kind thematisch das Leitmotiv bildet. Der zweite Teil stellt die professionelle Aufgabe eines besonderen Arbeitsbündnisses in den Mittelpunkt und behandelt Konzepte und Ideen, etablierte Verfahren und Methoden, die das Spektrum professioneller Einflussnahme bei sozial-emotionaler Auffälligkeit abbildet. Der dritte Teil des Buches stellt schließlich die institutionellen und organisatorischen Kontexte der Pädagogik in den Mittelpunkt und diskutiert den hohen Anspruch der Inklusion vor dem Horizont oft fragiler und prekärer Lebensläufe.

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Kompendium Behindertenpädagogik

Hrsg. von Heinrich Greving

Christian Wevelsiep

Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023435-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026803-6

epub:    ISBN 978-3-17-026804-3

mobi:    ISBN 978-3-17-026805-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

VORWORT DES HERAUSGEBERS

 

Es existieren zurzeit relativ unterschiedlich strukturierte und gestaltete Lehrwerke zu den verschiedenen Ausprägungen der sog. Behindertenpädagogik, diese sind jedoch häufig recht kategorial orientiert und nehmen aktuelle disziplin- und professionsbezogene Diskurse auf den Feldern der Behindertenhilfe kaum einmal auf. Zudem konzentrieren sich viele dieser Lehrwerke auf das Handlungsfeld der Schule: in diesem und von diesem ausgehend scheint somit ein Großteil der Behindertenpädagogiken stattzufinden.

Die Bände mit dem Reihentitel „Kompendium Behindertenpädagogik“ versuchen dieser Situation Abhilfe zu schaffen, da in jeder der geplanten Publikationen alle Ausprägungen einer je spezifischen behindertenpädagogischen Grundlegung sowohl durch die Perspektiven der Disziplin und Profession als auch durch eine organisations- und handlungsfeldbezogene Lebenslauforientierung beschrieben, analysiert und konzeptuell verortet werden. Auf diesem Hintergrund ist auch die Gliederungslogik aller Bände zu verstehen, in welcher die Autorinnen und Autoren ihre Inhalte durch die Perspektiven dieser drei größeren Kapitel (Disziplin – Profession – Organisationen/Handlungsfelder) fokussieren und darstellen.

Im Hinblick auf die Beschreibung der Disziplin wird es jeweils darum gehen, die theoretischen Begründungsmuster einer je spezifischen Behindertenpädagogik darzulegen, diese historisch zu verorten, die begründenden Leitideen und Modelle vorzustellen sowie Aussagen zu jeweiligen ethischen Positionierungen im Kontext dieser Pädagogik einzunehmen bzw. zu formulieren. Auch wenn der Begriff der „Behinderung“ zurzeit intensiv diskutiert wird, er zudem nicht in allen Punkten kohärent ist, erscheint er im Rahmen der Gesamtdarstellung der hier zu bearbeiteten Themen als Brücke zwischen den einzelnen Teilbereichen und Problemen nutzbar zu sein. Dennoch wird er in den unterschiedlichen Bänden dieser Reihe, im Hinblick auf die jeweilige Thematik, konkret beschrieben, analysiert und gegebenenfalls kritisiert und modifiziert werden. Die Aussagen der einzelnen Bände stellen folglich auch eine kritische Differenzierung und Weiterentwicklung des Begriffes der „Behinderung“ dar. Im Rahmen der Professionsorientierung, also dem zweiten größeren Kapitel des jeweiligen Bandes, werden dann Konzepte, Methoden und Handlungsansätze dargelegt, so wie sie sich im Rahmen dieser Pädagogik, für die jeweils entsprechende Organisation als zielführend erwiesen haben bzw. als relevant erweisen können. In einem letzten größeren Kapitel wird dann die institutionelle Begründung und organisatorische Differenzierung einer je spezifischen Pädagogik erläutert. Hierbei wird auf die lebenslauforientierte Darstellung des pädagogischen Ansatz eingegangen, so dass dieser nicht nur für den Bildungsbereich, sondern auch für weitere behindertenpädagogische Handlungsfelder beschrieben wird. Hierbei unterscheidet die Differenziertheit der Lebenslaufperspektive die verschiedenen pädagogischen Disziplinen, d. h. dass diese in jenen höchst unterschiedlich ausgeprägt ist, wahrgenommen wird und (strukturelle wie inhaltliche) Konsequenzen erforderlich macht.

Einen zentralen weiteren Inhalt bildet der, auch kritisch zu führende, Inklusionsdiskurs: dieser stellt das Querschnittsthema dar, welches in allen drei Unterkapiteln bearbeitet wird – eine innovativ, diffizil und kritisch differenziert dargelegte Positionierung der Inklusion ist folglich das Netz bzw. das Referenzsystem aller Kapitel und Aussagenkomplexe der jeweiligen Bände. Hierbei wird es jedoch, je nach Autorin und Autor und konkretem Thema zu unterschiedlichen Gewichtungen kommen. In der wechselseitigen Durchdringung einer inklusiven Perspektive mit den Themen der Disziplinorientierung, der Professionsbezogenheit und der hierbei relevanten Organisationen und Handlungsfelder leistet demzufolge jeder Band dieser Reihe eine in sich schlüssige und kohärente Gesamtdarstellung des jeweiligen Themenfeldes.

Heinrich Greving

INHALTSVERZEICHNIS

 

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

Teil A: Grundfragen der Disziplin

1 Die Geschichte des Fachs

1.1 Der Aspekt der Unterversorgung

1.2 Die Leitvorstellung der Industriosität

1.3 Gemeinschaft und Sozialisation

1.4 Die Verortung der Disziplin in der Gegenwart

2 Anthropologische Grundfragen des Fachs

2.1 Grundfragen der pädagogischen Anthropologie

2.2 Moderne Pädagogik am Leitfaden systemischen Denkens

2.3 Die Frage nach pädagogischen Konsequenzen

3 Pädagogische Formen der Hilfe zur Erziehung

3.1 Die Organisationsform der Kinder- und Jugendpsychiatrie

3.2 Sozialpädagogische Hilfen zur Erziehung

3.3 Organisationsformen im Bereich der Schule

3.4 Das Problem der Lebensweltferne

4 Die pädagogische Sinngestalt der Beratung

4.1 Das sozial unsichere Kind im Netz der Institutionen

4.2 Der „Sinn“ der Beratung

5 Die pädagogischen Sinngestalten von Fördern, Erziehen, Intervenieren

5.1 Vom Anfang und Ende pädagogischer Professionalität

5.2 Die Sinngestalt der Hilfe zur Erziehung

5.3 Grundfragen der Erziehung – Antworten der Disziplin

5.4 Die Struktur eines möglichen Arbeitsbündnisses

Der Aspekt der Autonomie

Der Aspekt der Verletzbarkeit

Nähe und Distanz

6 Pädagogische Professionalität und inklusive Pädagogik

6.1 Ein strukturtheoretischer Blick auf das Schulsystem

6.2 Die Entwicklung einer inklusiven Kultur und Praxis

6.3 Präventive Praktiken in inklusiven Strukturen

6.4 Pädagogische Professionalität in inklusiven Strukturen

6.5 Inklusion und Macht

Teil B: Grundfragen der Profession: Handlungsbedingungen und -perspektiven

1 Diagnostik und Störungsbild

1.1 Der Begriff der Störung

1.2 Der Stellenwert diagnostischer Verfahren

Medizinische Diagnostik

Behaviorale Diagnostik

Sonderpädagogische Förderdiagnostik

Diagnostik aus Sicht der inklusiven Pädagogik

2 Handlungsperspektiven: Das Problem einer professionellen Einheit

2.1 Die Bedeutung der humanistischen Psychologie für die Profession

2.1.1 Der Ausgangspunkt: singuläre Totalität und personale Würde

2.1.2 Schülerzentrierung und Resilienz

2.1.3 Die Bedeutung von Wertschätzung und Vertrauen

2.2 Der Wert einer lernpsychologischen Perspektive

2.2.1 Ein Praxisbeispiel

2.2.2 Das Muster einer Trainingssitzung

2.2.3 Der Ansatz der Kognition

2.3 Der Wert einer ökologischen Perspektive

3 Die Einheit der Profession und die Frage nach der „guten“ Erziehung

3.1 Konfliktkompetenzen und Lösungen

3.2 Die Notwendigkeit sich allein zu behaupten

3.3 Die Notwendigkeit der Parteinahme

3.4 Die Frage nach der sinnvollen Einheit der Profession

Teil C: Orientierung im Lebenslauf

1 Zwischen Inklusion und Lebenslauforientierung

2 Das Janusgesicht der Prävention

2.1 Die dunkle Seite der Kindheit

2.2 Eine Gesellschaft permanenter Optimierung?

3 Die Schule als krankmachende Institution

3.1 Zum Verhältnis von Kindeswohl und inklusiver Pädagogik

3.2 Sozial-emotionale Entwicklungsstörungen als Grenze der Inklusion?

4 Im Schatten der Gesellschaft – übersehene Motive im Lebenslauf?

4.1 Kultur im Spannungsfeld der Moderne

4.2 Gewalt als Problem

5 Zur Anerkennung einer besonderen Disziplin

6 Abschließende Zusammenfassung

Literatur

Einleitung

 

Eine Einführung in eine wissenschaftliche Disziplin steht immer vor besonderen Schwierigkeiten. Dem Ziel, den Lesern Übersicht und Orientierung zu vermitteln, steht der Vorsatz zur Seite, die Dinge nicht allzu stark zu vereinfachen. Und auch wenn man versucht, möglichst viele wissenschaftlich relevante Aspekte eines Fachs unter einem Dach zu vereinen, ist die Ausweisung einer Position, zumindest eines Leitfadens unverzichtbar. Was könnte ein solcher Leitfaden sein, wenn es um die nicht ganz einfache Disziplin der Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen geht? Der Aspekt der Störung bzw. des störenden, des auffälligen und vielfach belasteten Kindes drängt sich auf. Aber damit erscheint schon eine erste, durchaus charakteristische Schwierigkeit der fachlichen Reflexion. Denn die Störung ist nie ganz auf das einzelne Individuum zentriert, sondern sie betrifft immer auch soziale Umstände, Kontexte, Situationen und Gruppen. Die Darstellung des Fachs zentriert sich insofern nicht um einen einzelnen „Störer“, sondern um ein vielschichtiges Phänomen herum.

Die Pädagogik bei emotionaler und sozialer Entwicklung beschreibt etwas, das man ganz einfach nachvollziehen kann und das doch ein Stück weit entzogen bleibt – nämlich das Störende und Auffällige einer individuellen Entwicklung. In der Geschichte gab es eine Vielzahl von Versuchen, dem Auffälligen einen Namen zu geben und es dementsprechend einzuordnen. Wenn wir im Folgenden dieser klassischen Herangehensweise nicht folgen, dann bleibt zunächst die Reduktion auf das Sichtbare. Im pädagogischen und sozialen Miteinander zeigen sich Störungen des erwarteten Ablaufs. Etwas entspricht nicht den gängigen sozialen Erwartungen, etwas verweist auf eine gestörte Interaktion – aber vielleicht auch auf eine tiefgreifende gestörte Entwicklung. Wie wir – als Vertreter einer Profession – mit dieser Irritation umgehen, darum geht es bei der Pädagogik bei sozialen und emotionalen Störungen. Das Bild, das wir als Praktiker vor Augen haben, könnte eingängiger nicht sein: ein Kind schmeißt sich während des Unterrichts immer wieder auf den Boden und blockiert das Geschehen in der Klasse, es provoziert vielleicht sogar durch sexuell gefärbte Anspielungen, es unterläuft geschickt oder ungesteuert alle Anweisungen und Regeln. Das Bild des „störenden“, des „auffälligen“ Kindes ist eingängig und plakativ. Aber die Einordnung in eine widerspruchsfreie Pädagogik fällt trotzdem schwer: wir können es uns einfach machen und das Verhalten, das wir erkennen, als unerwünschte Störung bezeichnen und dementsprechend drastische Maßnahmen ergreifen. Wir können es uns aber auch etwas schwerer machen und nach den Hintergründen und Verflechtungen, nach den offensichtlichen und versteckten Zusammenhängen fragen. Wir können also anders formuliert versuchen, das Störende und Auffällige auch in der Tiefe zu erfassen. Wenn wir diesen Weg wählen, wird es schwierig, für die Entstehung von sozialen und emotionalen Problemen eindeutige Erklärungen zu erhalten, noch schwieriger wird es sein, die Herkunft der Disziplin, ihr professionelles Selbstverständnis, ihre institutionellen Formen zu beschreiben – schwierig, aber nicht unmöglich.

Teil A: Grundfragen der Disziplin

Die vorliegende Darstellung unterliegt einer Dreiteilung – Grundfragen der Disziplin, Grundfragen der Profession, schließlich Aspekte der Orientierung im Lebenslauf. Der erstgenannte Abschnitt folgt einer Überlegung, die man sehr vereinfachend begründen kann. Es wäre zu fragen, wie es dazu kam, dass störende oder „gestörte“ Kinder in das Zentrum der pädagogischen Aufmerksamkeit gerieten und mit welchen Folgen. Die Pädagogik bei Behinderung hat einen historisch negativen Kern, der immer wieder zum Anlass von Selbstkritik der Disziplin wurde. Der Stachel des Negativen sitzt tief, insofern wir das Negative und Zerbrechliche, den „Defekt“ oder die Schädigung als den Kern einer Profession verstehen. Diesen Widerspruch muss jeder praktisch Tätige für sich aushandeln, von einer nachhaltigen Lösung dieses Problems bleiben wir aber entfernt. Es macht aber durchaus Sinn, wenn wir in pädagogischen Zusammenhängen zunächst einmal von einer Grundbedingung des Menschseins ausgehen, der sogenannten „conditio humana“. Diese besagt ihrer begrifflichen Tradition gemäß nichts anderes, als dass zum Menschsein eine ursprüngliche Verletzbarkeit zählt. Diese „Vulnerabilität“ ist das Gemeinsame der menschlichen Situation, es kennzeichnet aber auch das, was wir mit einer konkreten Schädigung, einem Nachteil, einem „Förderbedarf“ verbinden. Individuelle und soziale Verletzungen können nachhaltig sein und gravierende Folgen haben. Sie können zu Verhaltensauffälligkeiten und Desintegration, zu einer erhöhter Aufmerksamkeit des Umfelds, sprich zu einem Mehraufwand der pädagogischen, diagnostischen und therapeutischen Mittel führen. Aber die Kategorie der Vulnerabilität greift wohl dann zu kurz, wenn sie individualpsychologisch verkürzt wird, wenn die Fachdisziplin lediglich als eine Theorie der Verhaltensgestörten verstanden wird. Sich von dieser Selbstzuschreibung zu distanzieren, ist keineswegs selbstverständlich. Denn jahrzehntelang gab es eine Deutungshoheit der medizinischen und psychotherapeutischen Disziplinen, die von „Verhaltensgestörten“ als einem objektiven Forschungsgegenstand zu berichten wussten. Die „Verhaltensgestörtenpädagogik“, die hiermit eng verbunden war, folgte zwar der Begrifflichkeit des „Störers“, aber dass die Gründe für die Auffälligkeit nicht allein in einer Person zu suchen sind, das war den meisten Vertretern des Fachs wohl von Anfang an bewusst.

Die Darstellung in Teil A soll daher dem Ziel dienen, die besonderen Bedingungen verständlich zu machen, die von einer Semantik der „sittlichen Verwilderung“ oder des „kranken Kindes“ zu einem zeitgemäßen Verständnis sozialer Unsicherheit und sozial/emotionaler Verletzlichkeit führen. Wir versuchen daher, eine Bresche in das Dickicht der verschiedenen Zuschreibungen zu schlagen, indem wir von der Verletzbarkeit der sozialen Bezüge sprechen. Mit dieser Begrifflichkeit soll natürlich keinesfalls der Mensch aus dem Zentrum gerückt werden, er soll auch nicht in dem Sinne entlastet werden, als sei er gerade nicht der aktive Gestalter seiner eigenen Gegenwart. Um dem Selbstverständnis der Disziplin aber nahe genug zu kommen, benötigen wir ein grundlegendes Verständnis der Situation des Menschen. Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen ist keine Pädagogik der oder des Verhaltensauffälligen, sie ist hiermit jedenfalls nicht identisch. Weiter kommen wir mit der Erkenntnis, dass es zu Verletzungen und Irritationen, Abweichungen vom normalen Gang der Dinge in sozialen Systemen kommt und dass auffälliges Verhalten wohl erst in diesem sozialen Sinnzusammenhang zu begreifen ist. Die Pädagogik muss sich daher als eine wissenschaftliche Disziplin verstehen, die das soziale Feld, das zugrunde liegende System oder einfach die je individuelle Situation in den Blick bekommt. Nicht umsonst hat sich die sonderpädagogische Leitformel des „Kindes in erschwerten Lebens- und Lernsituationen“ als wegweisend erwiesen.

Gleichwohl können wir den Ansatz der Verletzlichkeit in einem weiteren Sinne verstehen. Die Verletzung betrifft bestimmte Kinder unter bestimmten Bedingungen in besonderem Maße und eine besondere, aufmerksame Pädagogik lässt sich demnach auch gut begründen. Kinder sind nicht nur verletzbar, sie sind in bestimmten Zusammenhängen auch hochgradig gefährdet. Es gibt dementsprechend ein bestimmtes Erkenntnisinteresse der Disziplin, aber auch ein diskretes Berufsethos der Professionellen, das an der Artikulation des jeweiligen Leidensdrucks ausgerichtet ist. Kinder mit einer hyperaktiven Auffälligkeit können zwar ihr Umfeld stören, aber sie unterliegen meist einem schwierigen Selbstkonzept. Kinder mit Depressionen und Angststörungen fallen nicht selten durch die sozialen Raster, Kinder, die unter Traumatisierungen oder gar Missbrauch leiden, können oberflächliche Zuwendung gar nicht verarbeiten und benötigen tiefreichende Hilfestellungen. Auch das historische Beispiel des klassisch ausgegrenzten „hyperaktiven“ Schülers, der mit einer Eselsmütze in der Ecke einer Schulklasse steht, gehört in diese Aufzählung. Die berufsethische Dimension kommt in diesem Zusammenhang also in besonderem Maße zum Tragen. Es geht zwar oberflächlich betrachtet um die Kompensation von Schädigungen, um pädagogische Hilfestellungen bei Missachtungserfahrungen, aber die konkrete Ausgestaltung dieser Hilfe ist komplex und voraussetzungsreich. Vieles, was als Schädigung objektivierbar ist, zum Beispiel frühkindliche Traumatisierungen und Vernachlässigungen, ist in der konkreten Begegnung gar nicht zum Ausdruck zu bringen; das Naheliegende des störenden und lästigen Verhaltens macht es schwer, zum hintergründigen Leidensdruck des Kindes vorzustoßen, vieles, was an schädigenden Einflüssen aus dem jeweiligen Umfeld auf eine Entwicklung einwirkt, kann nie ganz kompensiert werden. Die Pädagogik und Förderung von Kindern mit sozialen und emotionalen Entwicklungsstörungen steht immer vor der Gefahr, die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns zu bezweifeln, die Hoffnung auf positive Entwicklung aufzugeben, schon weil die Beziehungsdimension immer wieder an Grenzbereiche führt.

Der erste Teil schlägt angesichts dieser besonderen Bedingungen einen Bogen von historischen Zusammenhängen zu gegenwärtigen Grundfragen der Erziehung unter schwierigen Bedingungen. Es soll gezeigt werden, wie sich die sozialgeschichtlichen, aber auch die ideengeschichtlichen Linien bis in die Gegenwart erstrecken, welche wissenschaftlichen Modelle sich als prägend erwiesen haben und schließlich inwiefern man diese Entwicklungsschritte in der gegenwärtigen Aufgabe eines intensiven pädagogischen Arbeitsbündnisses zusammen fassen kann.

Teil B: Grundfragen der Profession

Die Ausführungen in Teil A nehmen das Phänomen der Entwicklungsstörung in einem grundlegenden Rahmen in den Blick, sie integrieren anthropologische, historische und pädagogische Aspekte. Der zweite Teil stützt sich auf diese Grundlage und rückt eher praktische Fragen in den Mittelpunkt. Die Orientierung an der Praxis, der pädagogisch-therapeutische Umgang mit emotional-sozialen Störungen ist in seiner Breite darzustellen. Natürlich können in diesem Rahmen nicht alle professionellen Modelle, Ansätze und Konzepte erschöpfend dargelegt werden. Es bietet sich an vielen Stellen eine exemplarische Darstellung an. Aber es kann doch auch die Behauptung gewagt werden, dass die dargestellten Ansätze im Großem und Ganzen das mögliche Spektrum dessen darstellen, was zum Rüstzeug, zum Instrumentarium gegenwärtiger Entwicklungsförderung betrachtet werden kann. Am Leitfaden der Frage, wie mit Störungen bewusst und zielgerichtet umgegangen werden kann, soll ein Handlungsrahmen gezeichnet werden, der diagnostische und interventionsbezogene Aspekte und entsprechende Hilfen umfasst. Exemplarische Modelle wie die kognitive und kooperative Verhaltensmodifikation, psychodynamische Unterstützungsmodelle oder etwas komplexer: systemische Konsultationen zeigen sinnvolle Möglichkeiten auf, Entwicklungsförderung unter emotional/sozialen Gesichtspunkten zu gestalten. Nicht übersehen werden sollte aber die Rolle des Erziehers und der Erzieherin selbst. Dieser Hinweis mag überraschen, aber er entspringt einer für das Fach nicht unwichtigen Erkenntnis. Im Horizont von pädagogischen Techniken, effektiven „Maßnahmen“ und optimierten Verfahren bleibt der Vorrang der Beziehungsstiftung zu beachten, der jede „technische“ Orientierung durchdringt.

Teil C: Orientierung im Lebenslauf

Im abschließenden Teil wird die Darstellung etwas komplizierter und widerspruchsvoller. Dies hat eine Reihe von darzulegenden Gründen, die in der Natur des Fachs selber liegen. „Die“ Pädagogik bei sozialen und emotionalen Entwicklungsstörungen gibt es nicht. Eine Vielfalt therapeutischer Angebote und „Schulen“, die fachlichen und administrativen Verzweigungen tragen ihren Teil dazu bei. Des Weiteren ist die Orientierung an den individuellen Entwicklungsverläufen der Betroffenen im Sinne des Lebenslaufs ein schwieriges Thema. Vereinfacht gesprochen: die Individuen, die am Beginn ihres Lebens durch sozial-emotionale Entwicklungsstörungen beeinträchtigt wurden, können ihre Probleme durch pädagogische und therapeutische Einflussnahme zum Verschwinden bringen – sie können ihre problematische Situation aber auch weiter mit sich führen und sie gewissermaßen intensivieren. Beide Möglichkeiten der Entwicklung sind zu beachten und es ist wohl keine Schwierigkeit, sich die Problemstellungen vorzustellen, die sich etwa in sozialpädagogischer, präventiver oder gar kriminalpädagogischer Hinsicht ergeben. Thematisiert werden müssten in diesem Zusammenhang neuere Diskurse über Inklusion und Prävention, über Gewalt und Transkulturalität, ohne diese Themen allzu leichtfertig auf die populären gesellschaftlichen Diskurse zu projizieren.

Die „Kultur der Inklusion“ ist als Thema in diesem Kapitel unter besonderen Bedingungen zu lesen. Die inklusive Pädagogik hat weite Teile pädagogischer, aber auch gesellschaftlicher Bereiche erfasst und wartet auf ihre Umsetzung. In unserem Zusammenhang ist freilich von jedem Positivismus Abstand zu halten, vielmehr ist zu fragen, welche Kosten möglicherweise die Semantik der Inklusion für soziale Problemstellungen mit sich führt und dies bedeutet hier, auch kritische „Randaspekte“ der Pädagogik bei emotionalen/sozialen Störungen zu thematisieren: Gewaltphänomene, kulturelle Konflikte, Anerkennungsprobleme. Die abschließenden Überlegungen zu berufsethischen Fragestellungen versuchen eine neue Lesart in das Feld pädagogischer und psychologischer Theorien einzubringen: was sehen wir, wenn wir sozial-emotionale Entwicklungen auf das anthropologische Fundament der Erziehung zurückführen?

Abb. 1: Ausgangssituation und Gliederung des Bandes

TEIL A: GRUNDFRAGEN DER DISZIPLIN

 

Die folgenden Überlegungen zur Disziplin stellen einige Grundgedanken in den Mittelpunkt, die sich in verschiedenen Wendungen aufgreifen lassen. Der erste Abschnitt A, der die Grundfragen der Disziplin berührt, beginnt mit einer historischen Verortung sowie einer anthropologischen Grundlegung. Die historische Dimension zu kennzeichnen, fällt insofern nicht schwer, als sich hier Überschneidungen mit allgemein erziehungswissenschaftlichen und allgemein sonderpädagogischen Entwicklungen ergeben. Im Zusammenhang mit der anthropologischen Dimension aber erhalten diese Überlegungen eine notwendige Erweiterung. Denn es gilt zum einen, nach den konkreten Menschen und Menschenbildern zu fragen, die für die Entstehung der Disziplin überhaupt maßgeblich sind; es müssen gleichermaßen aber auch die wissenschaftlichen, medizinischen, pädagogischen und institutionellen Entwicklungen auf einen Nenner gebracht werden, obwohl sie möglicherweise in vielerlei Hinsicht differieren. Die nachfolgenden Punkte – die Entstehung und Konsolidierung von Organisationsformen, Leitgesichtspunkte der Pädagogik bei Entwicklungsstörungen und inklusive Streitfragen – verstehen sich also aus diesem historischen Entwicklungsprozess heraus. Wenn sich nun zwar kein einheitliches und widerspruchsfreies pädagogisches Gerüst ergibt, so wird es doch die Aufgabe sein zu klären, welche Sinnkriterien für die Disziplin leitend sind. Diese Aufgabe ist, wie wir sehen werden, alles andere als simpel. Denn man könnte sich natürlich an dieser Stelle mit dem Leitziel der sozialen und personalen Integration begnügen und forthin fragen, welche methodischen und praktischen Entscheidungen diesem Ziel dienlich sind. So einfach wird die Selbstbeschreibung der Disziplin allerdings nicht ausfallen und von daher rechtfertigt sich die Beschreibung eines voraussetzungsvollen Perspektivwechsels. Für die Grundlegung der Disziplin ist der Wechsel von einer individualisierenden zu einer verstehenden Sichtweise zentral. Wie sich diese verstehende Perspektive auszeichnet, welche Vorteile sie für die Konsolidierung der Disziplin hat, auf welchem Fundament das Verständnis kindlicher Auffälligkeit fortan aufruht und wie schließlich der Signalcharakter kindlichen Verhaltens einzuordnen ist, dies alles soll im Zusammenhang dieses Perspektivwechsels deutlich werden.

1          DIE GESCHICHTE DES FACHS

 

Beim Versuch, die Geschichte der Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen zu erfassen, trifft man unwillkürlich auf eine Schwierigkeit. Als eigenständige Disziplin gehört sie zu den jüngeren Fachrichtungen der gängigen Behindertenpädagogik, wenn man diese spezielle Pädagogik von der Entwicklung verschiedener Einrichtungen her betrachtet. Zugleich scheint es, dass sich dieses Fach eine diskrete Eigenständigkeit und Legitimation bewahrt hat, dass es sich also im Hinblick auf eine unbestimmte Zukunft eine gesellschaftliche Autonomie bewahrt hat. Die Geschichte der Pädagogik bei emotional-sozialer Störung ist nicht gleichzusetzen mit der herkömmlichen behindertenpädagogischen Geschichtsschreibung, aber können wir hieraus auch schlussfolgern, dass dieser besonderen Pädagogik innerhalb der gegenwärtigen Umstellung auf inklusive Strukturen eine Sonderrolle zufällt? Dies versuchen wir im Folgenden zu prüfen, indem wir auf die historischen Bedingungen blicken, die zur Entstehung der Disziplin beigetragen haben, indem wir ferner nach den historischen Kategorien fragen, die in der Gegenwart nichts von ihrer ursprünglichen Bedeutung eingebüßt haben. Das Ziel soll es demensprechend sein, die disziplinäre und historische Verortung des Fachs mit der Frage nach den gegenwärtigen Aufgabenstellungen zu verknüpfen.

Dazu wäre allerdings einleitend zu fragen, ob man überhaupt sinnvoll von einer Einheit der Disziplin, von einem eigenständigen Fach sprechen kann. Die Wahrnehmung der Autonomie des Fachs ist ja davon abhängig, ob man es lediglich als Anhängsel einer allgemeinen Pädagogik, als Hilfswissenschaft oder als spezialisierte Lehre begreift, die im Zuge der Umstellung der Rechtsvorstellungen nach und nach überflüssig wird. Insbesondere der Leitgedanke der Inklusion könnte ja dazu beitragen, dass eine eigenständige „Lehre“ der Pädagogik bei emotionaler und sozialer Auffälligkeit nur noch als Schwundstufe wahrgenommen wird, als eine pragmatische Hilfspädagogik. Eine Darstellung der Geschichte der Disziplin müsste sich daher verstärkt mit der Frage nach ihrer einheitlichen Form beschäftigen. Tatsächlich ist die Rede von einem einheitlichen Fach dann missverständlich, wenn wir von den betreffenden Institutionen und nicht nur von individuellen Abweichungen ausgehen. Das, was lange Zeit als „Verhaltensgestörtenpädagogik“ bezeichnet wurde, hat zwar psychologische und pädagogisch-therapeutische Wurzeln der Disziplinierung und Normalisierung. Aber sozialgesellschaftlich und institutionell können wir hier an ganz verschiedenen Punkten ansetzen (im Folgenden Myschker 1990). Die Gründung von eigenen Anstalten für hilfsbedürftige Kinder etwa lässt sich bis in das Mittelalter zurückverfolgen. Rettungs- und Waisenhäuser folgten zunächst christlichen Leitvorstellungen, die mehr oder minder christlichen Unterweisungen gleich kamen. Im Zuge der frühen Neuzeit wurde dann auch die Frage der Erziehung und Bildung verwahrloster, bedrohter und unversorgter Kinder und Jugendlicher ins Zentrum gestellt. Die Entwicklung des Jugendstrafvollzugs verlief ähnlich, begann aber erst im ausgehenden 16. Jahrhundert und ist dem Sinneswandel Rechtsbrechern gegenüber geschuldet, der durch religiöse, ethische und ökonomische Entwicklungen flankiert wurde. Beide Entwicklungsstränge sind also in historischen Zusammenhängen zu betrachten, in denen sich der Umgang mit Andersartigkeit, mit hilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Kriminalität jeweils unterschiedlich ausprägte. Die Entwicklung von Einrichtungen innerhalb öffentlicher Schulen bildet einen weiteren Aspekt, der einer spezifischen Geschichte unterliegt. Zwar lassen sich Vorläufer Ende des 19. Jahrhundert im Rahmen schulhygienischer Forschungen benennen, in denen es um Fragen „moralischer Gesundheit“ und drohender Verwahrlosung ging. Aber die Entwicklung und Entstehung von Beobachtungs-, Erziehungs- und Kleinklassen ist im 20. Jahrhundert zu verorten, während der Ausbau von eigenständigen Sonderklassen, Sonderschulen und integrierten Fördereinrichtungen im Zusammenhang mit Entwicklungen im westlichen Teildeutschland nach dem 2. Weltkrieg zu betrachten ist (Myschker 1990, S. 174 ff.). Die „Sonderschule für Verhaltensauffällige“ ist ein Kind der Moderne, besser gesagt: ein Kind der funktional differenzierten Gesellschaft.

Wenn man sich also die Mühe macht, nach einer distinkten Geschichte einer pädagogischen Disziplin zu fragen, in der es zu differenzierten Betrachtungen und Vorstellungen des Umgangs mit psychischen Störungen kam, ist man auf verschiedene Entwicklungsstränge verwiesen, die hier noch um die Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie ergänzt werden müssten. Was ist nun aber das Gemeinsame und Verbindende, das diese getrennten Teilordnungen zusammen führen kann? Tatsächlich lässt sich für alle genannten Entwicklungsstränge – Fürsorge, Justiz, Bildung, Psychiatrie – ein verändertes Muster des Verständnisses und des Umgangs mit Abweichung postulieren. So unterschiedlich sich die jeweiligen Institutionen historisch entwickelt haben, so ist doch das Verständnis der Entwicklungsstörung weiter entwickelt und ethisch vertieft worden. In den frühen Waisenhäusern blieb die Hilfe noch in der entmündigenden Fürsorge stecken, nicht wenige Rettungshäuser wurden unter merkantilistischen Vorstellungen zu Ausbeutungsinstitutionen kindlicher Arbeitskraft. Die Institutionen des Strafvollzugs unterlagen lange Zeit rigiden institutionellen Zwängen, bis sie durch Reform- und Demokratiebestrebungen gelockert wurden. Die Logik der Sonderklasse/Sonderschule entsprach lange Zeit bekanntlich den gesellschaftlichen Vorstellungen der scheinbar notwendigen Aussonderung und Separierung, bis schließlich Demokratisierungs- und Integrationstendenzen die schulische Isolation ein Stück weit auflöste. Hier wie dort lassen sich also, wenn auch zeitlich versetzt und mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Leitvorstellungen, Humanisierungs- und Demokratisierungstendenzen beobachten, welche die moderne Disziplin in ihren wesentlichen Zügen beschreiben. Heute besteht die Aufgabe der Disziplin bekanntlich darin zu fragen, welche Hilfen für Menschen mit sozial-emotionalen Störungen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Funktionserfordernisse sinnvoll und zielführend sind (Abb. 2). Aber diese Aufgabe ist natürlich von einer verbindlichen Lösung weit entfernt, so dass wir im Folgenden von einer Notwendigkeit sprechen können, die Sinnkriterien der Disziplin im Horizont ihrer historischen Entwicklung zu reflektieren. Anders ausgedrückt: welche Leitvorstellungen haben sich als prägnant und sinnvoll erwiesen und müssen in der Gegenwart neu, aber nicht vollkommen anders bestimmt werden?

Abb. 2: Bezüge zwischen Disziplin, Hilfen und Funktionserfordernissen

1.1        Der Aspekt der Unterversorgung

Dass Sondererziehung auf Kompensation hin angelegt sei und dass die Heil- und Sondererziehung gewissermaßen als wohltätige Antwort auf eine gescheiterte Erziehung hin zu verstehen sei, dies umschreibt eine ältere Leitvorstellung. Ebenso wie die Orientierung an der defizitären kognitiven Lernsituation, galt der Aspekt der Bedürftigkeit, des emotional-sozialen Mangels als grundlegend. Dieser Aspekt leitete Erziehungsmethoden innerhalb der Disziplinen an und diente berufsethischen Leitvorstellungen. Es dürfte nicht weiter schwierig sein zu erklären, dass dies zu einem eingeschränkten Blickwinkel auf das Wesen einer Behinderung und zu einem problematischen Professionsverständnis führte, insofern es in der jeweiligen Sprache um die Separierung der Störenden, um die Disziplinierung der Abweichler oder auch nur um die „Rettung“ Unterversorgter ging. Die Probleme sind heute natürlich anderer Natur und die Sprache hat sich vom diskriminierenden Unterton distanziert. Gleichwohl soll ein besonderer Aspekt in den Vordergrund gerückt werden, der nach wie vor schwierig ist – der Aspekt der Bedürftigkeit. Der Aspekt der seelischen Bedürftigkeit kennzeichnet den engen Zusammenhang zwischen allgemeiner Pädagogik, Sozialpädagogik und Heilpädagogik, der in bestimmter Hinsicht auch heute noch gilt, freilich unter veränderten sozialgesellschaftlichen Vorzeichen. Blicken wir in die Geschichte, fallen u. a. zwei Persönlichkeiten besonders auf: Johann Heinrich Pestalozzi erfasste nicht nur die Unzulänglichkeit des Elementarunterrichts, sondern er erkannte auch die destruktiven Folgen der Industrialisierung und insbesondere die grassierende Erziehungsnot in den Familien (im Folgenden Möckel 1988). Sein Bestreben ging bekanntlich dahin, gesellschaftliche und erzieherische Gegenkräfte zu entwickeln, um das unverschuldete Leid verwahrloster Kinder abzuwenden. Dem Niedergang aller sozialen Ordnungen hielt er die Selbstheilungskräfte von Erziehung und Unterricht in Haus und Schule entgegen. Grundlegend erscheint in seinem Werk aus naheliegenden Gründen die Orientierung an den Kategorien der Leidbedrohtheit, der Verletzbarkeit und der kindlichen Bedürftigkeit. Die Erziehung zu einem nützlichen und tätigen Leben findet ihren logischen Ausgangspunkt in der Orientierung an der „Errettung der im niedersten Stand der untersten Menschheit vergessenen Kinder“ (Pestalozzi 1775, S. 3). Auch die oben bereits erwähnte Rettungshausbewegung versteht sich in diesem Zusammenhang als eine Veranstaltung zur Linderung kindlicher und familiärer Not. Johannes Falk (1768-1826) erkannte im Angesicht der Destruktivität des Krieges, dass die Kraft der Familien nicht ausreichte, um aus Armut und Verelendung heraus zu finden, noch um die drohende Verwahrlosung und Unterversorgung der Kinder abzuwenden. Mit der Rettungshausbewegung sind die Namen Adalbert von der Recke, Christian Heinrich Zeller oder Johann Heinrich Wichern verknüpft. In den Häusern bürgerte es sich ein, die Leiter als Vater und Mutter anzureden, einen religiösen Ernst mit hoher Disziplin zu verknüpfen und vielseitige Erzieher und Helfer auszubilden. Man wusste, dass die leiblichen Eltern nicht ersetzt werden konnte, dass es mitunter notwendig war, die familiären Brücken abzureißen, um der elementaren Not und Aufsichtslosigkeit entgegen zu wirken (Möckel 1988, S. 75-88). Man verstand Armennot durchweg auch als Erziehungsnot und dachte über Wege und Methoden nach, um der Ausweglosigkeit der sozialen Hintergründe zu entrinnen. Wo alte Wege der Erziehung in Sackgassen mündeten, wurden neue Wege beschritten. Ohne dass wir hier den Maßstab der modernen Pädagogik gebrauchen, erkennen wir doch einige wesentliche Sinnkriterien: Aus der Erkenntnis der seelischen und gleichermaßen sozialen Notlage zog man den Schluss, den Kindern zu einer eigenen Existenz verhelfen zu müssen. Die Gründung eines eigenen Hausstammes, mit allen dazugehörigen sozialen Verpflichtungen war das wesentliche Ziel. Rettung hieß hier, die Jugendlichen zu Mitgliedern der Gemeinde zu machen, die Strenge und Zucht, die Strukturierung des Tages, das Exerzieren und die Kontrolle, der religiöse Eifer und der unbedingte Konformitätsdruck, den man natürlich heute kritisch sieht, dienten der fundamentalen Sozialisation, wenngleich dies natürlich mit vielen Schwierigkeiten, auch nicht seltenen Verfehlungen verbunden war.

Wir erkennen also hier eine wichtige Kategorie der Haltgebung, die sich aus der Erkenntnis einer seelischen Not, einer Bedürftigkeit ergibt. „In den Rettungshäusern fanden die Jugendlichen in einer Gemeinde Halt. Mit diesem Rückhalt konnten sie bis zu ihrem Eintritt ins Erwerbsleben rechnen“ (ders. S. 80). Das Sinnkriterium des Halts auszuzeichnen, heißt nun nicht, die Schwächen und fundamentalen Nachteile zu leugnen. Es gibt Beispiele, dass die Erziehung missglückte; viele „erzieherische“ Grundannahmen waren problematischer Natur. Man ging etwa davon aus, dass es darauf ankomme, eingetretene Schäden zu beseitigen und dem Verfall der christlichen Sitten und des christlichen Glaubens mit allen Mitteln entgegen zu wirken. Die Erziehungslehre war restaurativ und rückwärtsgewandt, aber die grundlegenden Reformen und Institutionen, die sich der Rettung der Schwächsten annahmen, waren es nicht. In gleichem Maße ist auch die Leitvorstellung nicht zu unterschätzen, die der Not kindlicher Unterversorgung und der Bedürftigkeit entspringt. Entziehen wir dieser Sinnfigur die hypermoralische und missionarische Hülle und ziehen wir den Vergleich mit modernen gesellschaftlichen Verhältnissen, dann bleibt doch stets die Grundfrage der Unterversorgung – und wie man dieser begegnen könnte – bestehen.

1.2        Die Leitvorstellung der Industriosität

Pädagogische Leitvorstellungen und Entwicklungen, die wir in der Geschichte der Pädagogik erkennen können, sind in einem Horizont von wirtschaftlichen Bedingungen zu betrachten. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung besonderer Einrichtungen und den jeweils herrschenden ökonomischen Verhältnissen. Dies mag nicht weiter überraschen, aber es ist des Weiteren zu fragen, in welchem Maße pädagogische und ökonomische Leitvorstellungen in der Gegenwart zusammen gelesen werden können. Die Darstellung einer speziellen Pädagogik bei Kindern mit psychischen Störungen und Verwahrlosungstendenzen kommt insofern an einer Kritik an systematischen Ausbeutungsverhältnissen, wie sie sich in der Geschichte abzeichnen, nicht vorbei. Während sich die disziplinäre Struktur der traditionellen Bildungseinrichtungen bekanntlich auf Maßnahmen gründete, die das Verhalten nach den vorhandenen Ordnungsangeboten auszurichten versuchte und Erziehung in der Geschichte nicht selten durch rigide Strenge geprägt war, so lässt sich in der Geschichte der Waisen-, Rettungs- oder Erziehungshäuser eine spezifische Verflechtung mit wirtschaftlichen Imperativen nachlesen. Zwar waren planvolle Erziehung und Bildung für verlassene und verwahrloste junge Menschen ein nach und nach prägendes Element, aber in gleichem Maße wurde auch die Orientierung an gesellschaftlicher Nützlichkeit erkennbar. Nicht wenige Rettungs- und Waisenhäuser entwickelten sich in Anwendung merkantilistischer Vorstellungen zu „Ausbeutungsinstitutionen kindlicher Arbeitskraft“ (Myschker 1989, S. 158). Gleichwohl gilt es zu differenzieren: zwar wurde eine Beschäftigung der verwahrlosten und „verwilderten“ Kindern und Jugendlichen mit Arbeitsaufträgen als notwendig erachtet und die Verbindungen von Anstalt und Arbeit sowie von Schule und Arbeit mit wachsender Verbreitung praktiziert. Aber die gesellschaftspolitischen Konstellationen, insbesondere die wirtschaftlichen Imperative in Folge von Kriegen, gesellschaftlichen Krisen und auch gesellschaftlichen Transformationsprozessen, geben in einem weiten historischen Bogen den Ton an.

Hervorzuheben ist das Beispiel der Entwicklung von Industrieschulen, die unter anderem 1784 in Göttingen gegründet wurden (ders. S. 159). In diese Schulen wurden nicht nur verarmte und obdachlose Kinder, sondern auch die „schwierigeren“ Kinder aufgenommen, die mitunter auch aus gut situierten Familien stammen konnten. Hier erkennen wir das Erziehungsziel der Industriosität, also der Brauchbarkeit für ökonomische Imperative. Wie stellt sich dieser kritische Punkt, dass sich in der Geschichte der Fürsorge und Heilpädagogik auch repressive Formen der Arbeitserziehung nachlesen lassen, zu gegenwärtigen Aufgabenstellungen des Fachs? Hier ist in zwei Richtungen zu denken: einerseits gilt es einem Rückfall in vormoderne Verhältnisse entgegen zu wirken; andererseits ist es notwendig, Erziehungsziele und Sinnkriterien moderner Erziehung im Bewusstsein dieser Tendenzen zu formulieren. Die dominierende pädagogische Diskussion, in der es um gegenwärtige Desintegrationsphänomene geht, stößt sich an einem kritischen Punkt. Die moderne Gesellschaft scheint von ökonomischen Kalkülen in fast allen Bereichen durchdrungen zu sein. Der Staat befindet sich auf vielen sozialen Feldern auf dem Rückzug, sozialpolitische Errungenschaften werden dramatisch zurück gestuft, insgesamt befindet sich die Gesellschaft in einem globalisierungsbedingten Transformationsprozess. Da die Verantwortung für weite Teile der Lebensgestaltung mehr und mehr den Einzelnen überlassen wird, aber auch Individualisierung und Prekarisierung um sich greifen, erleben wir einen „Evidenzverlust des Sozialen“ (Wilken 2002, S. 57). Zu dieser Diagnose zählen die ambivalente Freisetzung des Einzelnen, ein gewisses Maß an Autonomiegewinn und Freiheit, aber insbesondere existentielle Verunsicherungen am unteren Ende der sozialen Leiter. Dass in der Dominanz ökonomischen Denkens eine diskrete Randständigkeit des Sozialen und damit auch eine Gefahr für behinderten- und sozialpädagogische Perspektiven angelegt ist, erweist sich auch im Hinblick auf moderne Arbeitsverhältnisse, insbesondere dort, wo Behinderung und Entwicklungsstörungen als individuell zu verantwortendes Schicksal verstanden werden. Für Kinder und Jugendliche, aber auch junge Erwachsene, die auf der Schwelle zum Arbeitsleben stehen, ergibt sich in der modernen Arbeitsgesellschaft eine nicht zu unterschätzende Gefahr der sozialen Herausnahme. Die gegenwärtige Gesellschaft ist bekanntlich eine Arbeitsgesellschaft, in der Arbeit eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der zentralen Einkommens-, Teilhabe- und Lebenschancen zukommt. Für Individuen mit gestörten Entwicklungsverläufen droht in diesem Zusammenhang der faktische Ausschluss aus verschiedenen Funktionssystemen. Die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, keine stabilen Mitgliedschaften und Freiheiten – beschränkt den Zugang zu anderen Systemen, mithin aber auch den interpersonalen Zugang, es bedingt also ein soziales Unsichtbarwerden (Gröschke 2002a, S. 273; Luhmann 1997, S. 630).

Spitzen wir die Verhältnisse also versuchsweise zu und erklären die Aufhebung gesellschaftlicher Exklusionsverkettungen zu einem Leitziel der behindertenpädagogischen Reflexion, dann wäre die ältere Kategorie der „Industriosität“ in einem anderen Licht zu betrachten. Sie wäre vereinfacht gesprochen als ein Kriterium für Anerkennung zu verstehen, als ein Aspekt des pädagogischen Selbstverständnisses. Nur: dieses eigentlich unproblematische Kriterium der sozialen und personalen Integration stößt hier auf ein Leerstelle. Das hochrangige und unstrittige Leitziel der Sozialisation im Sinne gesellschaftlicher Ertüchtigung, das damals wie heute gilt, trifft heute auf vielseitige Muster der Exklusion. Vieles, was an pädagogischer Ertüchtigung semantisch harmlos wirkt („Empowerment“, „Selbstermächtigung“, „Selbsthilfe“), ist mit individuellen Brüchen und Versagen konfrontiert. Das Kriterium der Ertüchtigung im Sinne langfristiger Sozialisation ist immer wieder neu auszubalancieren. Dies beginnt schon bei der an sich simplen Frage, ab wann man Willensbildungsprozesse noch beeinflussen kann oder wann z. B. das Konzept der erlernten Hilflosigkeit in gesellschaftliche „Unbrauchbarkeit“ umschlägt.

Ein großer Anteil der Kinder und Jugendlichen, die spezifischen Entwicklungsstörungen unterliegen, lebt in einer Situation objektivierbarer Armut. Für die Gruppe der sogenannten „Lernbehinderten“ – um eine ältere Terminologie zu bemühen – gilt bekanntlich die Diagnose der soziokulturellen Benachteiligung (Weiß 2000). Für Kinder mit emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen sind die Bedingungen jedoch differenziert zu betrachten. Zwar gilt auch hier eine Knappheit der zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen, Einkommensarmut und die damit einhergehenden Entwicklungsrisiken. Aber beachten wir die sozioökonomische Lebenslage genauer, wird der Begriff der materiellen Armut doch zu ungenau. Bei prekären Lebenslagen wird die individuelle Entwicklung zwar offensichtlich gestört und irritiert, aber die Objektivierung dessen, was dem Kind in seiner Situation fehlt, ist ungleich komplizierter. Sie reduziert sich nicht auf die materielle Versorgung, nicht auf die notwendigen Mittel, um an sozialen Aktivitäten teilzunehmen und nicht auf relative Armut. Alle diese Faktoren haben Gewicht, aber die personale und soziale Situation bleibt ja bei einer solchen Engführung außen vor. Entwicklungsstörungen sind hiergegen als biopsychosoziale Komplexe zu verstehen (Greving/Gröschke 2000). Entwicklungsstörungen sind eben nicht allein als Antworten auf miserable Ökonomien zu interpretieren, sondern sie offenbaren einen Signalcharakter langfristig prekärer Situationen. Dazu gehört, dass in der frühkindlichen Erziehung Abweichungen und Störungen deutlich werden, die an bestimmten Punkten nicht mehr bewältigt werden können. Die Bezugspersonen sind nicht nur überfordert, sondern es kommt zu nachhaltigen emotionalen und sozialen Unterversorgungen – dies kann auf sozialstrukturelle Hintergründe verweisen, auf Arbeitslosigkeit, auf Krankheit, aber auch auf eine Vielzahl familiärer Sorgenkomplexe. Kinder bleiben in ihren natürlichen Bedürfnissen unterversorgt, wenn sich familiäre Krisen zuspitzen, sie entwickeln möglicherweise negative Selbstbilder und destruktive Sichtweisen, die nicht einfach wegtherapiert werden können. Das Verhalten und die Entwicklungsstörung, die in solchen Phasen ausgeprägt werden, sind natürlich nicht irreversibel. Aber es bedarf größerer Anstrengungen und einer pädagogischen Wachsamkeit, um hier rechtzeitig die geeigneten Maßnahmen zu finden und die Entwicklung positiv zu beeinflussen. Wie sich diese Anstrengungen dann pädagogisch bewerten lassen, ob sie also vom Erfolg gekrönt sind oder eher Versagen und Ohnmacht erlebt werden, ist die eine Frage. Für unseren Zusammenhang, in dem wir nach dem pädagogischen Leitziel der gesellschaftlichen Ertüchtigung fragen, ist daher festzuhalten, dass es nicht genügt, diese speziellen Probleme des Fachs unter die Kategorien und von Exklusion und Inklusion zu versammeln, sondern komplexere biopsychosoziale Zusammenhänge anzunehmen. Ein wesentlicher Teil ist dann natürlich der prekäre Fall der Kinderarmut bzw. der Exklusion durch Armut als Entwicklungsrisiko. Aber die Sinnkriterien der subjektiven Anerkennung, der emotionalen und sozialen Bedürftigkeit sind zumindest hier gleichrangig.

Wie lauten hier die berufsethischen Konsequenzen? Es ist in zwei Richtungen zu denken: Unverzichtbar für das Fach ist der Gesichtspunkt der Prävention. Es gilt, Entwicklungsstörungen frühzeitig zu erkennen und die jeweils geeigneten Hilfen zur Erziehung wirken zu lassen. Dafür bedarf es natürlich einer subsidiär organisierten Fürsorge und sozialpolitischer Weichenstellungen, die soziale Sicherheit, Chancengleichheit im Bildungssystem, Nachteilsausgleiche und mithin die politische Idee des guten Lebens für alle verfolgen. Aber wie immer man hier das politische Mandat der Behindertenpädagogik unterfüttert, es bleibt eine zweite Aufgabenstellung bestehen, die ungleich schwieriger erscheint. Denn gehen wir in einer realistischen Perspektive davon aus, dass sich die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und die organisierte Fürsorgepolitik in einer dauerhaften Legitimationskrise befinden, dann trifft dies die sozial Schwächeren und die Personen in prekären Lern- und Arbeitssituationen am schwersten. Hier entsteht ein negativer Kreislauf: die Integration durch Arbeit funktioniert aufgrund sozioökonomischer und sozialstruktureller Umbrüche ohnehin nicht, aber für diejenigen Personen, die sich in ihrer sozialen und personalen Sozialisation tendenziell desintegriert und ausgeschlossen erleben, stellt sich diese Situation ungleich bedrohlicher dar. Die soziale Lage der Klientel spitzt sich im schlechtesten Fall auf die Frage einer gesellschaftlichen Brauchbarkeit zu – es kann ggf. mit Gröschke (2002, S. 280) damit gerechnet werden, „das wie früher für die ‚würdigen Armen‘, die unverschuldet arm werden z. B. Behinderte, Alte, Kranke, Waisen – ein finanziell verschlanktes Modell von Caritas/Fürsorge wieder in Kraft gesetzt wird, während für die Arbeitsscheuen repressive Formen der Arbeitserziehung und -ertüchtigung gewählt werden, die ihre ‚imployability‘ (die ehemalige Industriosität) gewährleisten sollen“. Wann also die pädagogisch sinnvolle Zielstellung einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tüchtigkeit in eine verengte Frage nach gesellschaftlicher (Un)brauchbarkeit umschlägt, dies zählt in besonderem Maße zur Aufgabenstellung des Fachs.

1.3        Gemeinschaft und Sozialisation

Der Grundbegriff der Verhaltensstörung hat bekanntlich in semantischer Hinsicht eine erstaunliche und wechselvolle Karriere zu verzeichnen. Die Etiketten, die Kindern mit Störungen im Bereich des sozialen und emotionalen Erlebens zugeschrieben wurden, differierten in dem Maße, in dem sich bestimmte kulturelle, soziale und politisch-historische Situationen unterscheiden lassen. Prägnant bleiben bei der Vielfalt der Beschreibungen jedoch die Begriffe der Gemeinschaftsschädigung und Gemeinschaftsgefährdung. Von einem „unbedarften“ Standpunkt, der nicht nach den negativen Kosten der Etikettierung fragt, könnte man hier in die Versuchung geraten, nach dem Authentizitätsgehalt dieser Beschreibung zu fragen. Ist die relative Unfähigkeit, sich den Normen, Regeln und Anforderungen einer Gruppe zu unterwerfen, nicht in spezifischem Maße kennzeichnend für diese Gruppe? Dass sich dieser Begriff nicht als tragfähig erweisen kann und dass er den heute geltenden normativen und pädagogischen Kriterien nicht genügt, wird mit einem historischen Rückblick auf institutionelle Frühformen der sogenannten „E-Klassen“ plausibel. Mit der 1949 in West-Berlin als Versuchsklasse eingerichteten B-Klasse für sogenannte „gemeinschaftsschwierige Kinder“ wurde an die Tradition der E-Klassen der dreißiger Jahre angeknüpft. Die frühen Einrichtungen der E-Klassen für schwererziehbare Kinder in Berlin und Zürich stand bekanntlich im Zusammenhang mit Isolations- und Normalisierungstendenzen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Arno Fuchs, ein Magistratsschulrat in Berlin und engagierter Betreiber der E-Klassen sprach von ernstzunehmenden Überlegungen zur Ausschaltung der Schwererziehbaren aus der Normalklasse und deren Vereinigung in Fürsorgeklassen (Fuchs 1930). Galten diese E-Klassen als Zwischeneinrichtungen zwischen Volksschule und Fürsorgeerziehungsanstalten, so führten die sogenannten Beobachtungklassen die wichtigsten Elemente, relevanten Verfügungen und Ausführungsbestimmungen fort (Myschker 1989, S. 170 ff.). In den Ausführungen erkennt man, inwieweit die rigide Disziplinierung der Vorkriegszeit hier fortgesetzt wurde: Kinder in den Regelklassen gefährden demnach andere Kinder physisch und in ihren Lernfortschritten, die lernwilligen Schüler werden nachhaltig durch negatives und destruktives Verhalten gestört und irritiert, die lernunwilligen, leichterregbaren und gemeinschaftsschädigenden Schüler seien daher zumindest für eine Zeit lang von den anderen Kindern zu isolieren.

Isolierung, Disziplinierung, Schutz der Gemeinschaft – die historischen Begriffe erscheinen heute und besonders vor dem Hintergrund einer inklusiven Schulkultur als problematisch. Fragen wir aber zunächst nicht zuerst nach den veränderten schulorganisatorischen Rahmenbedingungen und den modernen Angeboten flexibler und mobiler Erziehungshilfe, sondern rücken wir die phänomenologische Ebene in den Blick, erkennen wir eine Kontinuität. Die eingespielte Klassifikation bei Verhaltensstörungen unterscheidet bekanntlich zwischen externalisierenden, internalisierenden, sozial unreifen und sozialisiert delinquenten Verhaltensweisen – für eine seriöse Einordnung dieser Klassifikation müssen zwar Persistenz, Lebensumstände, Schweregrad der Symptome und die Situationsspezifität beachtet werden (Myschker 1993). Aber auf der phänomenologischen Ebene erkennen wir die grundlegenden Probleme eines gleichsam individuellen und gemeinschaftlichen Leidensdrucks: aggressive Verhaltensweisen, impulsive Muster, starke Erregbarkeit und niedrige Frustrationstoleranz bis hin zu dauerhaft kriminellem Verhalten. Längerfristiges und in diesem Sinne unangemessenes Problemverhalten stellt eine Belastung dar, die dann doch unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen besteht. Der dauerhafte Verstoß gegen soziale und kulturelle Normen beeinträchtigt die soziale Umwelt, insofern die akzeptierte Variationsbreite gemeinschaftsverträglichen Verhaltens überschritten wird. Es müssen Antworten auf die mögliche Schädigung, ja Gefährdung der Gemeinschaft, also der Schulklasse, der formellen oder informellen sozialen Gruppe gefunden werden. Die Standortbestimmung der Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen hängt nun davon ab, inwieweit diesem Zusammenhang konzeptionell entsprochen wird. Der negative Befund sollte an dieser Stelle keineswegs klein geredet werden: wenn Kinder und Jugendliche zu einer Gefährdung für sich und andere werden, wenn sich ihre mitunter ausufernden, unkontrollierten und impulsiven Verhaltensweisen zu einem massiv externalisierenden Störungsbild hin verdichten, muss in verschiedener Hinsicht gehandelt werden. Es muss zugleich der subjektive und der soziale Leidensdruck verringert werden, aber das heißt natürlich nicht, dass der Alarmismus, den wir unter historisch anderen Umständen erkennen können, auch heute um sich greifen sollte. Vielmehr bedarf es einer Vielzahl abgestufter Interventionen, Methoden und Hilfen, um dem Problem auf den Grund zu gehen, es bedarf in den schwierigeren Fällen einer intensivierten Zusammenarbeit der entsprechenden pädagogischen, sozialpädagogischen, psychiatrischen und ggf. juristischen Institutionen. Der Unterschied zu der abwertenden Tradition, die von einer substantiellen Gemeinschaftsgefährdung ausging, liegt in einem pädagogischen Optimismus begründet. Das problematische und sozial gefährdende Verhalten ist nicht unumkehrbar, es ist ein erlerntes Verhalten, das durch Selbstkontrolle, positive Selbsteinschätzung, empathische Vollzüge und insbesondere die Öffnung gegenüber Anderen erreicht werden kann. Gleichwohl, welchem wissenschaftstheoretischen Modell man den Vorzug geben will, das Verstehen von Verhaltensstörungen stellt ein zentrales Kriterium der Standortbestimmung dar. Auch die extremere Form, das scheinbar sinnlose, gewaltförmig-destruktive Verhalten hat eine Sinnperspektive und es kann insbesondere auf der Basis psychologischer Lerntheorien wieder verlernt werden. Das Interventionsrepertoire, das mitunter auch hierarchisch aufgebaute Kataloge von Eingriffen umfasst, unterliegt insgesamt einem pädagogisch relevanten Optimismus: Verhaltensstörungen sind demnach ein Ergebnis von Lernvorgängen. Sie können daher auch zum Gegenstand von positiven Modifikationen und Umdeutungen gemacht werden. Ohne diesen grundsätzlichen Optimismus ist die Pädagogik von Entwicklungsstörungen wenig wert.

Ohne dass wir hier auf die einzelnen konzeptionellen Details eingehen können (Petermann 1995; Redlich/Schley 1981), gehört zur Selbstreflexion der Disziplin aber ebenso, dass neben der pädagogischen eine gesellschaftliche Standortbestimmung vorgenommen wird. Es ist zu fragen, in welchem gesellschaftlichen Klima überhaupt das Verstehen von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen möglich ist, und die Frage kann dahingehend zugespitzt werden, dass auch Voraussetzungen und Folgen von Ideologien gesellschaftlicher Ungleichwertigkeit in die Überlegungen einbezogen werden. Denn wenn wir für aus Sicht des Fachs für einen verstehenden Umgang mit Abweichung plädieren, was explizit nicht mit falscher „Tolerierung“ zu verwechseln ist, dann ist über den Nahbereich programmatischer pädagogischer Prozesse hinaus zu denken. Wie sind Gleichwertigkeit und soziales Miteinander zu fördern und gleichsam die gesellschaftliche Akzeptanz von Ungleichwertigkeit zu verhindern? Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer verfolgt in diesem Zusammenhang ein Erkenntnisinteresse, das nicht nur die sozialen und materiellen Ungleichheiten der gegenwärtigen Lebensbedingungen abbildet, sondern die Entstehung des vermeintlichen „Wissens“ über grundsätzliche Andersartigkeit deutlich zu machen versucht (Heitmeyer 2008). Dieses Interesse ist von unmittelbarer pädagogischer Relevanz, aber nicht frei von Ambivalenz. In der modernen kapitalistisch verfassten Gesellschaft besteht die Gefahr, dass soziale Ungleichheit in schleichende Ungleichwertigkeiten überführt wird. Die Einführung unterschiedlicher Wertigkeiten von Menschen folgt bestimmten Rechtfertigungsfiguren, die mit wechselnden anthropologischen Festschreibungen versehen werden. Das zweiseitige und latent menschenfeindliche Weltbild sucht sich Alte, Behinderte, Migranten, Andersdenkende als wechselnde Feindbilder. Die Bewertungsstandards gegenüber Gruppen, die mit dem Label der Ungleichwertigkeit versehen werden, variieren historisch. Sie treten aber unter bestimmten Umständen in schematischer Weise auf; etwa wenn soziale Randständigkeit mit Nutzlosigkeit überschreiben wird, wenn das Maß der Intelligenz mit ethnischer Zugehörigkeit ungut vermengt wird oder wenn Desintegrationsprozesse mit gesellschaftlicher Unbrauchbarkeit verbunden werden. Inwieweit nun soziale Ungleichwertigkeit als substantielle Quelle der Desintegration für die spezielle Gruppe marginalisierter und entwicklungsgestörter Kinder hervortritt, ist eine schwierige Frage. Sicherlich gilt unter modernen Bedingungen nicht mehr die Semantik des überflüssigen Störers, der aus regelgeleiten Kontexten „auszuschalten“ wäre. Gleichwohl besteht die Gefahr einer substantiellen Abwertung dieser Gruppe in besonderer Hinsicht: Kinder mit Entwicklungsstörungen haben gemeinhin eine oft unspezifische, aber subjektiv wirksame Anerkennungsbedrohung in ihrer Personalisation erlebt. Diese Bedrohung kann auf frühe familiäre und soziale Brüche, sie kann aber auch auf institutionelle Schieflagen zurückgehen, aber meist gehen die sozialen und individuellen Prozesse in eine langfristige negative Wirkungskette über. Die Einnahme einer Außenseiterrolle, mangelnde soziale Kompetenzen, der vorübergehende Ausschluss aus sozialen Bezügen, usw. Schwierig werden solche Entwicklungen dann, wenn Ungleichwertigkeit als Zuschreibung dauerhaft erlebt wird und gewissermaßen als Selbstzuschreibung umgedeutet wird – nicht im Sinne einer klassischen Etikettierung, sondern als zunächst unspezifische Reaktion auf soziale Desintegration. Das Weltbild verengt sich, unterscheidet streng zwischen Freund und Feind, In-Group und Out-Group. Gewalt als Mittel der Durchsetzung wird zunehmend akzeptabel. Es ergibt sich im Hinblick auf moderne Pädagogik die Frage, an welcher Stelle der negative Kreislauf einer sozialen Schädigung zu unterbrechen wäre. Die soziologischen Einsichten sind leicht zugänglich, aber die pädagogischen Konsequenzen bleiben ambivalent: In der soziologischen Forschung gilt Gewalt als Konsequenz mangelnder Anerkennung. Mangelnde soziale Integration sozioökonomischer, kulturell-politischer oder privater Art gilt als Nährboden für gewaltfördernde Ideologien und Handlungen. Mangelnde Integration und mangelnde Integrationschancen gehen mit negativen Anerkennungsbilanzen einher (Küpper/Zick 2008). In soziologischer Perspektive erscheint der Zusammenhang relativ übersichtlich: Abwertung und Gewalt gegenüber Schwächeren, aber auch die scheinbar sinnlose Gemeinschaftsschädigung in sozialen Systemen hat eine psychologische Aussagekraft. Sie bietet sich als einfaches, verfügbares Mittel zur Gewinnung von Anerkennung an. So einfach sich der Zusammenhang im Kontext der Gewaltforschung darstellt, so kompliziert ist er auf der Ebene von individuellen Entwicklungsstörungen. Denn in diesem Kontext, der zumeist im Horizont von schulischen und sozialen Misserfolgs- und Erschöpfungserfahrungen steht, gibt es keine eindeutigen Bedrohungslagen für die soziale Gruppe. Galten im historischen Rückblick die Aufrechterhaltung der Disziplin und die gesellschaftliche Tüchtigkeit als unumschränkte Leitlinien, so haben sich diese nach wie vor geltenden Werte aber im Zuge der Individualisierung relativiert. Nicht die autoritative Führung der sozialen Gruppe, sondern die Wertschätzung von Vielfalt und die größtmögliche Beachtung individueller Entwicklungen geben den Maßstab her. Auf der semantischen Ebene erleben wir daher eine starke Umorientierung. Das Ziel ist nun nicht mehr der Ausschluss der „Gefährder“, sondern die Einbindung in Kulturen der Vielfalt. Vielfalt wird zum Charakteristikum einer Gruppe, mit der man sich identifizieren kann. „Menschen, die Vielfalt wertschätzen, haben ein größeres Interesse an Kontakten zu Menschen anderer Kultur“ (Wolf/Van Dick 2008, S. 149). Das pädagogische Kriterium der Offenheit gegenüber Anderem und Neuem, die Neugier auf das Miteinander und der Versuch, mögliche Konflikte und Störungen im sozialen System auszuhalten – sie stellen den erneuerten Maßstab einer Pädagogik der Vielfalt dar. Freilich besteht hier die Gefahr, die eigentliche Frage der pädagogischen Handlungsfähigkeit aus dem Auge zu verlieren. Denn: Auch die bestgemeinte Initiative zur Förderung von Universalismus und Anerkennung gibt keine direkte, unmittelbar wirkende Antwort auf die Herausforderung einer authentischen, also ernst zu nehmenden Verhaltensstörung.

1.4        Die Verortung der Disziplin in der Gegenwart