Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung - Tobias Bernasconi - E-Book

Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung E-Book

Tobias Bernasconi

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Die Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung versteht sich als Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung und thematisiert dabei alle Lebensphasen und Lebensbereiche. Als Teildisziplin der Allgemeinen Pädagogik tritt sie entschieden für das Recht auf Leben, Teilhabe und Bildung von Menschen ein, die bis in die jüngste Vergangenheit als vermeintlich "bildungsunfähig" aus allen pädagogischen Handlungsfeldern ausgeschlossen waren. Das Lehrbuch führt ein in die Grundfragen und Grundbegriffe der Disziplin, skizziert die Strukturmerkmale der Profession im Kontext der professionellen Handlungsfelder und aktueller Konzepte und Methoden und reflektiert schließlich kritisch die Chancen und Risiken aktueller institutioneller Behindertenarbeit entlang der unterschiedlichen Lebensbereiche und Lebensphasen. Unter Bezugnahme auf pädagogisch-anthropologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse identifiziert der Band Figuren einer nicht ausgrenzenden Pädagogik in Theorie und Praxis.

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Kompendium Behindertenpädagogik

 

Hrsg. von Heinrich Greving

Tobias Bernasconi/Ursula Böing

Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung

Verlag W. Kohlhammer

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023436-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029029-7

epub:    ISBN 978-3-17-029030-3

mobi:    ISBN 978-3-17-029031-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort des Herausgebers

Es existieren zurzeit relativ unterschiedlich strukturierte und gestaltete Lehrwerke zu den verschiedenen Ausprägungen der sog. Behindertenpädagogik, diese sind jedoch häufig recht kategorial orientiert und nehmen aktuelle disziplin- und professionsbezogene Diskurse auf den Feldern der Behindertenhilfe kaum einmal auf. Zudem konzentrieren sich viele dieser Lehrwerke auf das Handlungsfeld der Schule: in diesem und von diesem ausgehend scheint somit ein Großteil der Behindertenpädagogiken stattzufinden.

Die Bände mit dem Reihentitel „Kompendium Behindertenpädagogik“ versuchen dieser Situation Abhilfe zu schaffen, da in jeder der geplanten Publikationen alle Ausprägungen einer je spezifischen behindertenpädagogischen Grundlegung sowohl durch die Perspektiven der Disziplin und Profession als auch durch eine organisations- und handlungsfeldbezogene Lebenslauforientierung beschrieben, analysiert und konzeptuell verortet werden. Auf diesem Hintergrund ist auch die Gliederungslogik aller Bände zu verstehen, in welcher die Autorinnen und Autoren ihre Inhalte durch die Perspektiven dieser drei größeren Kapitel (Disziplin – Profession – Organisationen/Handlungsfelder) fokussieren und darstellen.

Im Hinblick auf die Beschreibung der Disziplin wird es jeweils darum gehen, die theoretischen Begründungsmuster einer je spezifischen Behindertenpädagogik darzulegen, diese historisch zu verorten, die begründenden Leitideen und Modelle vorzustellen sowie Aussagen zu jeweiligen ethischen Positionierungen im Kontext dieser Pädagogik einzunehmen bzw. zu formulieren. Auch wenn der Begriff der „Behinderung“ zurzeit intensiv diskutiert wird, er zudem nicht in allen Punkten kohärent ist, erscheint er im Rahmen der Gesamtdarstellung der hier zu bearbeiteten Themen als Brücke zwischen den einzelnen Teilbereichen und Problemen nutzbar zu sein. Dennoch wird er in den unterschiedlichen Bänden dieser Reihe, im Hinblick auf die jeweilige Thematik, konkret beschrieben, analysiert und gegebenenfalls kritisiert und modifiziert werden. Die Aussagen der einzelnen Bände stellen folglich auch eine kritische Differenzierung und Weiterentwicklung des Begriffes der „Behinderung“ dar. Im Rahmen der Professionsorientierung, also dem zweiten größeren Kapitel des jeweiligen Bandes, werden dann Konzepte, Methoden und Handlungsansätze dargelegt, so wie sie sich im Rahmen dieser Pädagogik, für die jeweils entsprechende Organisation als zielführend erwiesen haben bzw. als relevant erweisen können. In einem letzten größeren Kapitel wird dann die institutionelle Begründung und organisatorische Differenzierung einer je spezifischen Pädagogik erläutert. Hierbei wird auf die lebenslauforientierte Darstellung des pädagogischen Ansatz eingegangen, so dass dieser nicht nur für den Bildungsbereich, sondern auch für weitere behindertenpädagogische Handlungsfelder beschrieben wird. Hierbei unterscheidet die Differenziertheit der Lebenslaufperspektive die verschiedenen pädagogischen Disziplinen, d. h. dass diese in jenen höchst unterschiedlich ausgeprägt ist, wahrgenommen wird und (strukturelle wie inhaltliche) Konsequenzen erforderlich macht.

Einen zentralen weiteren Inhalt bildet der, auch kritisch zu führende, Inklusionsdiskurs: dieser stellt das Querschnittsthema dar, welches in allen drei Unterkapiteln bearbeitet wird – eine innovativ, diffizil und kritisch differenziert dargelegte Positionierung der Inklusion ist folglich das Netz bzw. das Referenzsystem aller Kapitel und Aussagenkomplexe der jeweiligen Bände. Hierbei wird es jedoch, je nach Autorin und Autor und konkretem Thema zu unterschiedlichen Gewichtungen kommen. In der wechselseitigen Durchdringung einer inklusiven Perspektive mit den Themen der Disziplinorientierung, der Professionsbezogenheit und der hierbei relevanten Organisationen und Handlungsfelder leistet demzufolge jeder Band dieser Reihe eine in sich schlüssige und kohärente Gesamtdarstellung des jeweiligen Themenfeldes.

Heinrich Greving

Inhalt

Einleitung

I Disziplin

1 Perspektiven auf „schwere und mehrfache Behinderung“

1.1 Bezeichnungen und Begriffssetzungen

1.2 Historische Sichtweisen auf den Personenkreis

1.3 Schwere und mehrfache Behinderung im Kontext der ICF

1.4 Schwere und mehrfache Behinderung als Beziehungsstörung

1.5 Schwere und mehrfache Behinderung als Prozess sozialer Zuschreibung

1.6 Schwere und mehrfache Behinderung als Konstruktion des Betrachters

2 Historische Entwicklungslinien einer jungen Disziplin

2.1 Erste Grenzziehungen zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“

2.2 Die Entwicklung einer Pädagogik der Ausgrenzung

2.3 Die Ausdifferenzierung der Heil- und Sonderpädagogik und die beginnende Institutionalisierung

2.4 Die institutionelle Öffnung pädagogischer Einrichtungen für Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung

2.5 Die Entstehung der Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung

2.6 Verhältnisbestimmung von Allgemeiner Pädagogik und Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung

3 Intradisziplinäre Analysen: Grundlagen der Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung

3.1 Phänomenologische Schwerstbehindertenpädagogik

3.1.1 Einleitung

3.1.2 Theoretische Grundannahmen

3.1.3 Pädagogisch-professionelle Konsequenzen

3.2 Konstruktivistische Ableitungen für die Schwerstbehindertenpädagogik

3.2.1 Einleitung

3.2.2 Theoretische Grundannahmen

3.2.3 Pädagogisch-professionelle Konsequenzen

4 Interdisziplinäre Analysen: Pädagogisch-anthropologische und sozialwissenschaftliche Grundlagen

4.1 Pädagogisch-anthropologische Grundlagen

4.1.1 Einleitung

4.1.2 Theoretische Aspekte

4.1.3 Pädagogisch-professionelle Konsequenzen

4.2 Sozialwissenschaftliche Grundlagen

4.2.1 Einleitung

4.2.2 Theoretische Aspekte

4.2.3 Pädagogisch-professionelle Konsequenzen

5 Transdisziplinäre Analysen: Figuren einer nicht ausgrenzenden Pädagogik

5.1 Einleitung

5.2 Ungewissheit

5.2.1 Zum Begriff

5.2.2 Theoretische Annäherung

5.2.3 Bedeutung für eine nicht ausgrenzende Pädagogik

5.3 Imperfektibilität

5.3.1 Zum Begriff

5.3.2 Theoretische Annäherung

5.3.3 Bedeutung für eine nicht ausgrenzende Pädagogik

5.4 Stellvertretung

5.4.1 Zum Begriff

5.4.2 Theoretische Annäherung

5.4.3 Bedeutung für eine nicht ausgrenzende Pädagogik

5.5 Zum Bildungsverständnis einer nicht ausgrenzenden Pädagogik

5.5.1 Einleitung

5.5.2 Bildung als relationaler Prozess

5.5.3 Bildung als Transformation

6 Abschluss/Ausblick

II Profession

7 Professionelles Handeln im Kontext von schwerer und mehrfacher Behinderung

7.1 Strukturmerkmale pädagogischen Handelns

7.1.1 Zum Theorie-Praxis Dilemma in der Pädagogik

7.1.2 Widersprüche im pädagogisch-professionellen Handeln

7.1.3 Reflexion als Grundlage pädagogisch-professioneller Praxis

7.2 Spannungsfeld Medizin – Therapie – Pflege

7.2.1 Kritische Reflexion des Förderbegriffs

7.2.2 Medizinisch-therapeutische Grundfragen

7.2.3 Zur Bedeutung von Pflege

8 Konzepte, Modelle, Methoden

8.1 Körper – Wahrnehmung – Bewegung

8.1.1 Einleitung

8.1.2 Basale Stimulation

8.1.3 Sensumotorische Kooperation

8.1.4 Prinzipien für eine nicht ausgrenzende Pädagogik

8.2 Beziehung – Dialog – Kommunikation

8.2.1 Einleitung

8.2.2 Basale Kommunikation

8.2.3 Elementare Beziehung

8.2.4 Unterstützte Kommunikation

8.2.5 Prinzipien für eine nicht ausgrenzende Pädagogik

8.3 Didaktische Leitlinie

8.3.1 Einleitung

8.3.2 Bildung mit ForMat

8.3.3 Entwicklungslogische Didaktik

8.3.4 Prinzipien für eine nicht ausgrenzende Pädagogik

8.4 Diagnostische Zugänge

8.4.1 Einleitung

8.4.2 Ausgewählte Methoden der Diagnostik

8.4.3 Grundlagen der Diagnostik einer nicht ausgrenzenden Pädagogik

III Handlungsfelder

9 Handlungsfelder im Kontext von schwerer und mehrfacher Behinderung

9.1 Einleitung

9.2 Assistenz

9.3 Ausgewählte Handlungsfelder

9.3.1 Zur Situation der Familien

9.3.2 Frühe Bildung

9.3.3 Schule

9.3.4 Arbeit

9.3.5 Wohnen

9.3.6 Sexualität

9.3.7 Kulturelle Teilhabe

Literatur

EINLEITUNG

Der vorliegende Band „Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung“ führt in die disziplinären und professionellen Grundlagen einer noch jungen (sonder-)pädagogischen Teildisziplin ein. Er gliedert sich in drei Teile: einer disziplinären Bestimmung (Teil l), einer Identifikation professionell-pädagogischer Aufgaben, Herausforderungen und pädagogischer Schwerpunkte (Teil ll) sowie deren Realisierung in unterschiedlichen Handlungsfeldern (Teil lll).

Die Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung hat in ihrer noch jungen Historie wichtige Erkenntnisse zur Bildung und Erziehung für einen Personenkreis generiert, der als schwer- und mehrfachbehindert bezeichnet wird.

Dieser Personenkreis galt bis in die jüngste Vergangenheit als „bildungsunfähig“ und ist auch aktuell von Ausgrenzung aus nahezu allen gesellschaftlich-kulturellen Bezügen bedroht (vgl. Feuser, 2009; Fornefeld, 2007, 2008a, 2010; Wagner, 2013). Die Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung hat insofern sowohl in ihrer disziplinären Ausrichtung als auch in professionell-praktischen Bezügen für diesen Personenkreis ein besonderes Mandat übernommen und es sich zur Aufgabe gemacht, seine Interessen advokatorisch zu vertreten, Bildungsrechte zu sichern und seine Partizipation in den verschiedenen Lebensbereichen zu forcieren.

Die Legitimation der Disziplin als advokatorische Interessensvertretung für einen – als besonders abhängig erkannten und mit bestimmten, oft defizitären Merkmalen ausgestatteten – Personenkreis kann heute als problematisch angesehen werden. Einerseits offenbart sich darin ein am Individuum orientierter Behinderungsbegriff, der seine eigene Verstrickung in soziale und gesellschaftliche Prozesse nicht hinreichend hinterfragt. Andererseits bringt die advokatorische Anwaltschaft den Vorwurf mit sich, nicht genügend zwischen den Aufgaben der Profession und der Disziplin zu unterscheiden (vgl. Moser, 2000, S. 45).

Insgesamt gilt aktuell zu konstatieren, dass sich die Teildisziplin Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung mit ihren wertgeleiteten und an einem bestimmten Personenkreis orientierten Bezügen eher in Abgrenzung zu einer Allgemeinen Pädagogik entwickelt hat. Ihre spezifischen disziplinären Fragestellungen und Erkenntnisse werden von der Allgemeinen Pädagogik als unbedeutend wahrgenommen und wissenschaftlich kaum diskutiert (vgl. Lindmeier, 2013, S. 131). Die „Aufgabenteilung“ zwischen der Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung und der Allgemeinen Pädagogik entlang eines als behindert erkannten Personenkreises hat zu einer dichotomen pädagogischen Splittung geführt: Auf der einen Seite eine Disziplin, die sich am Allgemeinen und an Normalitätskonstruktionen orientiert, auf der anderen Seite eine, die das Besondere und das von der (fiktiven) Norm abweichende fixiert.

Die aktuellen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Herausforderungen – insbesondere der angestoßene Transformationsprozess hin zu einem inklusiven Bildungssystem – erfordern eine Überwindung dieser binären Konstruktion und das Aufzeigen verbindender Elemente zwischen beiden Disziplinen.

Unter dieser Prämisse sind alle drei Teile des vorliegenden Bandes zu sehen.

Im ersten Teil werden zunächst die disziplinären Grundlagen und Erfordernisse dargestellt. Kapitel 1 führt ein in verschiedene Perspektiven auf den bezeichneten Personenkreis, woraufhin Kapitel 2 die historischen Entwicklungslinien der Heil- und Sonderpädagogik nachgezeichnet. Herausgearbeitet werden insbesondere die Mechanismen und Motive, die in den verschiedenen Epochen immer wieder zur Ausgrenzung des hier fokussierten Personenkreises geführt haben, um darauf aufbauend die Entstehung der Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung zu skizzieren. Abschließend wird das Verhältnis zwischen der Teildisziplin Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung zu ihrer Bezugsdisziplin der Allgemeinen Pädagogik betrachtet.

Im Folgenden (Kapitel 3, 4 und 5) werden neben den wissenschaftstheoretischen Erkenntnissen der Disziplin weitere inter- und transdisziplinäre Erkenntnisse gestellt. Ziel dieser Ausführungen ist es, Figuren einer nicht ausgrenzenden Pädagogik zu identifizieren. Dabei wird bewusst auf Erkenntnisse affiner Nachbardisziplinen rekurriert. Allgemeine Pädagogik – so die Argumentationslinie dieses Bandes – bedarf einer vertieften wissenschaftlichen Diskussion anthropologischer, ethischer und sozialwissenschaftlicher Fragestellungen, um ihre disziplinäre Argumentation und ihre Orientierung an einer fiktiven Norm zu reflektieren, zu überprüfen und ihrer Bestimmung als einer „Pädagogik für Alle“ gerecht zu werden. Es gilt, tragfähige Fundamente zu entwickeln, um umfassende Partizipation und Bildung für alle Menschen sicherzustellen, Marginalisierung zu vermeiden und Barrieren abzubauen. Dazu werden in Kapitel 4 zunächst zwei interdisziplinäre Argumentationslinien aufgenommen: eine pädagogisch-anthropologische und eine sozialwissenschaftliche.

In Kapitel 5 schließen sich transdisziplinäre Analysen an. Dabei werden insbesondere die Begriffe der Ungewissheit, der Imperfektibilität, der Stellvertretung und der Bildung in ihrer Bedeutung für eine nicht ausgrenzende Pädagogik erläutert und näher bestimmt. Damit verlässt der vorliegende Band die disziplinären Grenzen einer Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung und gibt erste Hinweise für mögliche zukünftige Bestimmungen im Kontext einer nicht ausgrenzenden Pädagogik. Diese Vorgehensweise wird auch im zweiten und dritten Teil beibehalten.

Der zweite Teil fokussiert dabei professionelle Grundlagen einer Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung und befragt diese im Hinblick auf ihr Potenzial für eine nicht ausgrenzende Pädagogik. Nach einer Einführung in die Strukturmerkmale professionellen Handelns wird pädagogisches Handeln im Spannungsfeld von Medizin, Therapie und Pflege betrachtet (Kapitel 7). Anschließend werden in Kapitel 8 verschiedene Konzepte, Modelle und Methoden vorgestellt und Prinzipien für eine nicht ausgrenzende Pädagogik formuliert. Dabei stehen die, der jeweiligen Person zur Verfügung stehenden, individuellen und sozialen Ressourcen, ihre Kompensationsstrategien und ihre entwicklungslogischen Zugänge zur Welt im Fokus des professionell-pädagogischen Handelns.

Im dritten Teil schließlich werden unterschiedliche Handlungsfelder und ihre Bedeutung sowie Besonderheiten im Kontext einer nicht ausgrenzenden Pädagogik in den Blick genommen. Dabei liegt auch in diesem Teil der Fokus auf Partizipation. Der im Zusammenhang mit individueller Partizipation für den Personenkreis der Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung besonders bedeutsame Begriff der Assistenz wird zunächst beschrieben. Daran schließen sich die Darstellung von Prinzipien und Leitlinien für professionelles Handeln in den unterschiedlichen Handlungsfeldern an. Gleichzeitig werden mögliche Teilhabebarrieren identifiziert und im Gegenzug die Entwicklung umfassender Teilhabechancen exemplarisch angedacht.

Abschließend sei darauf verwiesen, dass in diesem Band durchgängig der Terminus „schwere und mehrfache Behinderung“ genutzt wird. Wohlwissend, dass jede Begriffsverwendung zugleich dem Dilemma einer erneuten Stigmatisierung nicht entgehen kann, sollen hier mit der Begriffsverwendung keine personenbezogenen Eigenschaftsmerkmale identifiziert, sondern eine Verständigung über ein so bezeichnetes sozial-gesellschaftliches Phänomen und den davon betroffenen Personen ermöglicht werden.

 

 

 

I   DISZIPLIN

1          PERSPEKTIVEN AUF „SCHWERE UND MEHRFACHE BEHINDERUNG“

1.1        Bezeichnungen und Begriffssetzungen

Die Vorstellungen über das, was „Behinderung“ oder „schwere Behinderung“ ausmacht, lassen sich niemals isoliert als Phänomen eines Subjektes betrachten, sondern sind ausschließlich im Kontext gesellschaftlich-sozialer Bedingungen und Entwicklungen zu verstehen. Was gesellschaftlich unter „schwerer oder mehrfacher Behinderung“ verstanden wird trägt dabei immer historisch entstandene, gesellschaftlich geprägte und individuell-biografische Wissenselemente. In einer typisierten und kategorisierten Form werden die individuellen Bilder und Vorstellungen zu Bezeichnungen für einen bestimmten Personenkreis. Diese Bezeichnungen können jedoch den so benannten Personen niemals gerecht werden. Sie sind Konstruktionen und Vorstellungen über andere Menschen, die durch unterschiedliche Einstellungen, Perspektiven und Sichtweisen bestimmt sind.

Aus Praxis und Theorie existiert seit den 1970er Jahren eine gewachsene Anzahl an Beschreibungsversuchen und Begriffen der Personengruppe, um „eine besondere, durch die Schwere der Schädigung und Beeinträchtigung definierte Bedürfnislage zu kennzeichnen und daraus den Anspruch auf besondere Leistungen abzuleiten“ (Schmuhl 2007, S. 36). Dabei werden folgende Begriffe synonym oder mit unterschiedlichen Akzentuierungen genutzt: „Menschen mit schwersten Behinderungen“ (Fornefeld 2000; Klauß 1999), „Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen“ (Fröhlich 2007b; Feuser et al. 2001), „Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen“ oder „Menschen mit schwerer geistiger Behinderung“ (Klauß und Lamers 2003a; Breitinger 1998; Speck 2003). Darüber hinaus gibt es Bezeichnungen, die diesen Personen einen „allumfassenden Hilfebedarf“ (Burkhart 2004, S. 28), einen „intensiven Förderbedarf“ (Speck 2012) oder einen „hohen Unterstützungsbedarf“ attestieren (vgl. Schlichting, 2013, S. 15).

Diese Bezeichnungen fokussieren den so beschriebenen Menschen und seine individuelle Situation. Sie sind „Eigenschaftsbeschreibungen“ (Fornefeld 2008a, S. 51) von Personen und ihrer angenommenen individuellen Problemlagen hinsichtlich ihrer physischen, kommunikativen oder sozialen Realität und sich daraus ergebender Unterstützungsbedarfe.

Grundsätzlich gilt dabei festzustellen, dass die Kriterien, nach denen Personen als schwer und/oder mehrfachbehindert bezeichnet werden, immer unzulänglich sind. Sie sind Teil einer fiktiven Realität und suggerieren eine scheinbare Gewissheit darüber, was den so bezeichneten Personenkreis ausmacht und charakterisiert. Bereits Bach (1991, S. 3) macht deutlich, dass in Bezug auf den Begriff der schweren Behinderung vor allem die Vielfalt der Aspekte auffällt, „die er in sich zu vereinigen vermag, d. h. die Fülle unterschiedlichster und z. T. gegensätzlicher Einfälle, Vorstellungen und Handlungsimpulse, die das Wort ‚Schwerste Behinderung‘ auszulösen angetan ist“. Fröhlich verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass das Attribut „schwerbehindert“ oder „schwerstbehindert“ weniger auf den Personenkreis selbst verweist, sondern vielmehr die Perspektive des Betrachters beschreibt: einer Pädagogik, die den Umgang mit dem Personenkreis als „schwierig“ erlebt (Fröhlich 2007b, S. 222). Der Versuch, den Begriff der schweren Behinderung zu definieren, scheitert insofern auch „bereits an der Uneindeutigkeit des Begriffs ‚Behinderung‘ selbst, von dem die ‚Schwerstbehinderung‘ als Superlativ abgeleitet ist“ (Fornefeld 1998, S. 49). Lamers (2000, S. 188) und Fornefeld (1998, S. 36) verweisen in Bezug auf den häufig verwendeten Superlativ „schwerst“ auf Schröder (1979), der darin lediglich eine formal-quantitative Klassifikation sieht, die keinen oder nur geringen inhaltlich-qualitativen Aussagewert besitzt.

In aktuellen Veröffentlichungen wird deshalb nicht auf den Personenkreis und seine Merkmale geschaut, sondern vielmehr das vielschichtige Verhältnis von individueller Lebens- und sozial-gesellschaftlicher Situation und die besondere randständige sozial-gesellschaftliche Position fokussiert. Fornefeld spricht in diesem Zusammenhang von „Menschen mit Komplexer Behinderung“ (Fornefeld 2008b), um die – in Bezug auf den Personenkreis – festgestellte Exklusionsgefahr und die „systembedingten Kontextfaktoren“ (Fornefeld 2008b, S. 51) besonders hervorzuheben. Im Sinne eines „verstehenden Zugangs“ zum Phänomen Behinderung wird „Komplexe Behinderung“ als „Attribut der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung“ gesetzt. Fornefeld fokussiert in einer anthropologisch-phänomenologischen Betrachtung die Lebenswirklichkeit der so bezeichneten Personengruppe, in der sich sowohl das Phänomen Behinderung als auch die Deutung und Wertung dieses Phänomens miteinander verschränken. Menschen mit Komplexer Behinderung sind von Exklusion „durch das Hilfesystem selbst“ (Fornefeld 2008b, S. 77) betroffen (vgl. Kap. 3.1).

Schuppener (2011) spricht in einer etwas anderen Konnotation von „intensiven Behinderungserfahrungen“, die sich „in Form eines hohen Risikos des Erlebens von Stigmatisierung und Exklusion“ ausdrücken, denen der so bezeichnete Personenkreis ausgesetzt ist. In einer konsequent kompetenzorientierten Sichtweise wird beschrieben, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die als schwer und mehrfachbehindert gelten, in besonderer Weise genötigt sind, umfassende Kompensationsleistungen zu vollbringen, um die eigene Existenz zu sichern und Isolation zu kompensieren (Schuppener 2011, S. 301).

„Der Begriff intensiver Behinderungserfahrungen steht grundsätzlich für subjektive Erfahrungen von Barrieren im Sinne eines ‚behindert werdens‘ durch Normvorstellungen und normative Handlungsbedingungen“. (Schuppener 2011, S. 301) Intensive Behinderungserfahrungen sind grundsätzlich als „Lebensbewältigungskompetenz“ (ebd.) anzusehen.

Generell ist darauf zu verweisen, dass die Deutungshoheit über das, was „Behinderung“ oder „Schwere und mehrfache Behinderung“ ausmacht nicht bei den betroffenen Personen selbst liegt. Ihre Kategorisierung, die Zuschreibung von psychisch-sozialen Bedingungen ihres Seins erfolgen ausschließlich aus der Perspektive der jeweiligen Betrachter. Verschiedene Autoren (Greving 2002, S. 101ff.; Dederich 2007; Schmuhl 2007) verweisen deshalb in Anlehnung an Bourdieu darauf, dass die Definitionsmacht ganz und gar bei denen liegt, die im sozialen Feld über die Möglichkeiten und die Macht verfügen. Ihre Sprache und die gesetzten Begrifflichkeiten sind immer auch Ausdruck von Interessen und Motiven verschiedener Akteure im sozialen Feld. Der Staat mit seinen Gesetzgebungen, die verschiedenen Verbände oder Professionen und Institutionen, sie alle verbreiten spezifische Begriffe, um eigene Interessen zu wahren, mit allen Konsequenzen für die betroffenen Personen (Schmuhl 2007, S. 24).

Diese ungleichen Machtverhältnisse lassen Menschen mit Behinderung zum Objekt derjenigen werden, die Behinderung konstruieren und weisen den Menschen selbst in eine Position der Ohnmacht (Greving 2002, S. 101ff.; Jantzen 2007, S. 91; Ziemen 2002b). Die Verwendung von Begrifflichkeiten entscheidet insofern immer auch über soziale Inklusion oder Exklusion (Schmuhl 2007, S. 24).

Für Menschen, denen die Attribute „schwer oder mehrfach-behindert“ zugewiesen werden, hat dies in der Regel negative Konsequenzen. Zum einen bedeutet es eine Exklusion aus vielen verschiedenen gesellschaftlichen Bezügen, die im Kontext eines fortschreitenden Abbaus sozialer Sicherungssysteme aktuell zunimmt (Fornefeld 2008c; Schmuhl 2007). Zum anderen kann diese Bezeichnung existentielle Bedeutung bekommen, insofern sie das Recht auf Leben tangiert. Im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge sind beispielsweise pränataldiagnostische Untersuchungen inzwischen zur Routine geworden. Eine diagnostizierte „schwere Behinderung“ führt hier in der überwiegenden Zahl der Fälle zu einem Schwangerschaftsabbruch (Heinen und Lamers 2001). Dennoch gilt es darauf zu verweisen, dass sozialstaatliche Rechte und Leistungen an Bezeichnungen und Diagnosen gekoppelt sind. Diese Koppelung – auch als Ressourcen-Etikettierungsdilemma bezeichnet – führt dazu, dass das Attribut „schwer“ oder „schwerstbehindert“ aktuell noch dazu beitragen kann, „die Menschen- und Bürgerrechte der so Bezeichneten zu stärken“ (Schmuhl 2007, S. 36) und „daraus den Anspruch auf besondere Leistungen“ des Sozialstaates abzuleiten (ebd.).

In der Beschäftigung mit dem Personenkreis, der als schwer und mehrfachbehindert bezeichneten Menschen, gilt es, diese Zusammenhänge und Widersprüche aufzudecken und jede begriffliche Annäherung und jeden Definitionsversuch in die Relativität sozial-gesellschaftlicher Konstruktion und sozialpolitischer Verhältnisse zu stellen und die damit verbundenen Machtverhältnisse zu reflektieren. Aufgrund der beschriebenen Relativität kann und darf es eine allgemeine Definition nicht geben. Die so bezeichneten Personen wären allein durch den Versuch einer solch gültigen allgemeinen Bestimmung in unzulänglicher Weise anthropologisch reduziert. Insofern können die folgenden Beschreibungen nur einen Überblick über historische und aktuelle Sichtweisen und Annäherungsversuche geben, wobei zu betonen gilt, dass alle diese Versuche letztlich unzulänglich bleiben (vgl. Klauß 2011b, S. 12).

1.2        Historische Sichtweisen auf den Personenkreis

Verschiedene Imaginationen vom Mensch-Sein in den unterschiedlichen historischen Epochen haben unterschiedliche Bilder von „Behinderung“ entworfen, die mit je spezifischen Begrifflichkeiten belegt sind. Diese Bilder verweisen auf die jeweiligen gesellschaftlich-sozialen Bedingungen, in denen sie entstanden. Sie sind eng verwoben mit der Entwicklung der Heil- und Sonderpädagogik als Profession und Disziplin und damit verbundenen Prozessen der Kategorisierung und Institutionalisierung (siehe Kap. 2.3). Ohne diesen Kontext lassen sich Sichtweisen auf den Personenkreis und auf ihn bezogene Begriffe nur fragmentarisch darstellen. Unter Beachtung dieser Einschränkung werden in diesem Kapitel dennoch in einem kurzen Abriss die historischen Sichtweisen fokussiert, um zu verdeutlichen, mit welchen Attributen dieser Personenkreis in verschiedenen Epochen belegt wird und welche gravierenden Folgen dies für die betroffenen Menschen hat.

Historisch betrachtet lassen sich erste Bilder von Behinderung bis in die Antike zurückverfolgen. Sie sind geprägt von magischen, mythologischen Vorstellungen. Das Verhalten von Menschen mit kognitiven und/oder körperlichen Beeinträchtigungen erklärt man sich mit dem Einfluss von Dämonen oder Geistern, die von diesen Menschen Besitz ergriffen haben. Obwohl keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, ist davon auszugehen, dass Menschen, die heute als schwer- oder mehrfachbehindert bezeichnet werden, in diesen Epochen allein aus medizinischen Gründen kaum Überlebenschancen haben. Die Mortalität erhöht sich in vielen Kulturen durch eine systematische Aussetzungs- und Tötungspraxis des Personenkreises. Belegt ist diese Praxis beispielweise bei Römern, Griechen und Germanen (Fornefeld 2009, S. 30).

Mittelalterliche Vorstellungen sind gleichsam von mythologischen Vorstellungen geprägt und zunehmend verbunden und durchmischt von christlichen Deutungsversuchen. Das Schicksal und die Bestimmung des Menschen werden in die Hand Gottes gelegt. Als Folge dualistischer Vorstellungen von Gut und Böse, personifiziert in der Gestalt von Gott und Teufel, wird Behinderung als Strafe Gottes identifiziert. Personen, die als behindert erkannt werden, gelten als vom Bösen besessen. Oft werden sie als Kinder des Satans, als „Wechselbälger“ bezeichnet. Diese Vorstellungen sind durchaus auch in folgenden Epochen handlungsleitend. So wird noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts Behinderung in einigen protestantischen Strömungen als Folge eines Glaubensverfalls gedeutet und unter dem Paradigma der Selbstverschuldung als Strafe Gottes bewertet (Moser und Horster 2012, S. 14).

Allgemein entwickelt sich jedoch bereits mit der Epoche der Aufklärung im ausgehenden 18. Jahrhundert eine andere Perspektive auf Behinderung. Die beginnende Bestimmung des Menschen als autonomes Individuum, die Forderung nach einer Befreiung aus der Unmündigkeit und der Glaube an die Vernunft als Motor dieser Emanzipation, führt zu einer Identifizierung von Phänomenen, die heute als „behindert“ zusammengefasst werden (Moser und Horster 2012, S. 13; Greving 2002, S. 101; Störmer 2007, S. 288). In den Idealen der Aufklärung scheint erstmalig in der Historie eine Differenzierung von Vernunft und Unvernunft, von Mündigkeit und Unmündigkeit auf, in deren Folge Menschen überhaupt erst als behindert wahrgenommen werden. Historisch betrachtet liegt in der Epoche der Aufklärung auch die Geburtsstunde der Heilpädagogik (vgl. Möckel 2007).

Diese Entwicklung geht einher mit dem aufkeimenden Gedanken einer Allgemeinen Bildung für alle Menschen als Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit1. Erziehungs- und Bildungsprozesse werden als grundlegend erkannt, um das Ideal eines vernünftigen, autonom handelnden Menschen zu verwirklichen. Mit der Betonung dieser grundsätzlichen Bildungsnotwendigkeit kommt es unweigerlich zur Frage nach der Bildungsfähigkeit. Das Postulat einer Allgemeinen Bildung als Mittel zur Befreiung aus unmündigen Abhängigkeitsverhältnissen identifiziert einen Personenkreis, der diesen aufkommenden Anforderungen nicht zu genügen scheint. Die Einlösung des Rechts auf Bildung für alle führt auf der Kehrseite paradoxerweise zu einer Bestimmung derer, die als nicht bildungsfähig gelten. Erst in der Epoche der Aufklärung keimt durch deren Ideale eine Kategorisierung zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“ auf (vgl. Kap. 2.1). Sie betrifft vor allem Menschen, die als „Blödsinnige“, „Schwachsinnige“, „Stumpfsinnige“ oder „Kretine“2 bezeichnet werden. Diese Begriffe kennzeichnen in synonymer Weise sowohl Menschen, die heute als geistig behindert, als auch diejenigen, die als schwer behindert bezeichnet werden. Dennoch entwickelt sich im 18. und 19. Jahrhundert eine ungleiche Perspektive auf diese beiden Personengruppen. Während in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung erste – wenn auch vereinzelte – Versuche der Erziehung und Bildung entstehen – beispielweise in den Erziehungsbemühungen von Guggenbühl, Georgens und Deinhardt oder Séguin (vgl. Lindmeier und Lindmeier 2002) – bleiben Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung von dieser Entwicklung ausgeschlossen3. Ihnen wird Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit umfassend abgesprochen. Die Trennlinie zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“ verläuft in der Folge nicht nur zwischen „blödsinnigen“ und „vernunftbegabten“ Menschen, vielmehr wird eine zweite Grenzmarkierung eingeführt, die die „Blödsinnigen“ und „Cretinen“ nochmals in „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“ unterteilt (Mühl 1991; Störmer 2007, S. 289). Johann Jacob Helferich, ein Taubstummenlehrer, der im 19. Jahrhundert in der neu gegründeten Anstalt Mariaberg tätig ist, erkennt beispielsweise „mannigfaltigste Grade und Abstufungen“ im „geistigen Haushalt der Cretinen“ (Helferich 1847, zit. nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 29). Er differenziert zwischen „dem kaum menschlich gestalteten Kinde, in welchem das Psychische in seiner Anlage erloschen scheint und das dem Selbsterhaltungstriebe nicht einmal entsprechen kann“, und jenem Kind, welches fähig ist, „sich zur bürgerlichen Brauchbarkeit, zur geistigen Freiheit“ zu erheben (ebd.). Als Fazit dieser Unterscheidung folgert er: „Wir beschäftigen uns nur mit den letzteren, als solchen, die wirklich bildungsfähig sind“ (ebd.). Als Anhaltspunkt und leitendes Kriterium für „Bildungsfähigkeit“ macht Helferich insbesondere die Fähigkeit zur Sprache aus (ebd.).

Dem Personenkreis, der weiterhin als „bildungsunfähig“ gilt, wird anthropologisch lediglich noch eine Randstellung zugewiesen. Ihm werden menschliche Eigenschaften weitestgehend abgesprochen. Kennzeichnend ist eine Darstellung als Wesen, „deren Dasein und Lebensäußerungen ohne Zweck und ohne Zusammenhang mit bestimmten Anforderungen ablaufen“ (Pinel, 1801, zit. nach Feuser 2009, S. 235). Pinel (1801) bezeichnet diese Menschen als „automatische Existenzen“, „kein Leben im menschlichen Sinne, bloßes Existieren“. Sie werden reduziert auf ein naturhaftes Dasein, auf eine „Art Pflanzenleben“ (ebd.). Esquirol (1827) sieht ihre Position „noch unter dem Tier“ stehend, da sie „nicht einmal über genügend Instinkte verfügen, um den notwendigen Bedürfnissen zur eigenen Lebenserhaltung nachzukommen“ (Esquirol 1827, zit. nach Feuser 2009, S. 235).

Unter historischer Perspektive zeigt sich demnach: Der Modernisierungsschub der Aufklärung, mit dem die Anerkennung einer Allgemeinen Bildung für Alle einhergeht, hat für den in diesem Band fokussierten Personenkreis einen gegenteiligen Effekt. Ihm wird mit der Identifizierung als „bildungsunfähig“ im besten Fall der niedrigste Rang in einer angenommenen anthropologischen Ordnung zugewiesen. Jegliche Chance auf Erziehung und Bildung bleibt ihm versagt, jede Entwicklungsmöglichkeit vorenthalten. Ihm wird allerhöchstens eine Pflege zuteil, „die in humaner Behandlung, Handhabung möglicher Reinlichkeit und in Darreichung der Bedürfnisse zur Erhaltung der kümmerlichen, kläglichen Existenz“ besteht (Helferich 1947, zit. nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 29). Von allen Formen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen, fristet er – separiert in speziellen Pflegeabteilungen der Anstalten – ein Leben ohne soziale Kontakt- und Kommunikationsangebote.

Die Perspektiven auf Menschen mit Behinderung werden sich in den folgenden Epochen immer wieder verändern. Die Etikettierung von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung als „bildungsunfähig“ wird sich jedoch bis in die jüngste Vergangenheit als resistentes, überdauerndes und handlungsleitendes Merkmal im Umgang mit diesem Personenkreis erweisen.

Eine veränderte Sichtweise auf Behinderung entwickelt sich erst mit der beginnenden Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Behinderung wird zunehmend aus sozioökonomischer Perspektive betrachtet und als Äquivalent für „Arbeitskräfte minderer Güte“ genutzt. Menschen, von denen kein ökonomischer Beitrag erwartet wird, werden als „Idioten“ oder „Schwachsinnige“ bezeichnet (vgl. Jantzen 2007, S. 91). In dieser Zeit entwickeln sich sozialdarwinistische Leitbilder, die eine biologistische, „natürliche Auslese“ sozial und ökonomisch vertreten. Die im 19. Jahrhundert begonnene Einteilung in verschiedene „Grade“ und „Abstufungen“ von Behinderung wird aufgenommen und – unter ökonomischen Gesichtspunkten – weiter ausdifferenziert. So findet sich im sog. „Preußischen Krüppelfürsorgegesetz“ von 1920 eine Unterscheidung zwischen „vollwertigen“, „teilnutzbaren“ und „unwertigen Krüppeln“ (Schmuhl 2007, S. 28). Die Weimarer Republik staffelt dementsprechend sozialstaatliche Leistungen nach arbeitsmarktökonomischen Gesichtspunkten:

„Die Fürsorge für hilfsbedürftige Krüppel auf öffentliche Kosten hat sich unter den gegenwärtigen Verhältnissen auf die Erwerbsbefähigung bzw. auf die Verhütung drohender Erwerbsbehinderung zu beschränken. […] Als ‚erwerbsfähig‘ sollen nur solche Personen gelten, welche die seelisch-geistige sowie körperlich-technische Fähigkeit besitzen, sich selbst den notdürftigen Lebensbedarf durch Arbeit zu verschaffen“ (Deutsche Vereinigung für Rehabilitation 2009).

Obwohl, historisch betrachtet, die Bezeichnung „Krüppel“ auf einen Personenkreis mit körperlichen Beeinträchtigungen hindeutet, findet sich im Zitat der Verweis auf „seelisch-geistige“ Fähigkeiten, sodass davon auszugehen ist, dass alle Menschen mit Behinderung von dieser Staffelung betroffen sind. Schmuhl (2007, 28) zeigt auf, dass sich mit dieser Aufteilung auch in ökonomischer Hinsicht eine „Dreiklassengesellschaft“ abzeichnet, die „auf Jahrzehnte hinaus die soziale Lage von Menschen mit Behinderungen in Deutschland prägen sollte“ (ebd.). Am unteren Ende befinden sich die sogenannten „Unwertigen“: Menschen mit geistiger oder schwerer und mehrfacher Behinderung, die nicht in den Arbeitsmarkt integrierbar scheinen und insofern nicht nur von pädagogischen Prozessen ausgeschlossen sind, sondern auch ökonomisch weitestgehend ohne die Fürsorge des Staates überleben müssen (vgl. ebd.).

Neben Begriffen, die die scheinbare „Nützlichkeit“ im Hinblick auf die ökonomische Verwertbarkeit beschreiben, entwickeln sich in dieser Zeit weitere Bezeichnungen, mit denen andere Konnotationen hergestellt und ausgedrückt werden sollen. So werden den Begriffen „simpel“ oder „einfältig“ die Bezeichnungen „furios“ und „rasend“ gegenübergestellt, um damit beispielsweise eine als höher oder niedriger angenommene Gefahr für die öffentliche Ordnung zu suggerieren (vgl. Dörr 2008, S. 44; Osten 2011, S. 44). Alle Bezeichnungen führen letztendlich zu einem umfassenden Ausschluss aus dem öffentlichen Leben.

Die negativen Vorstellungen über Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung münden in der Zeit des Nationalsozialismus – der mit seiner menschenverachtenden Ideologie eine besondere Zäsur in der Geschichte darstellt – im Begriff der „Ballastexistenz“. Die als „unbrauchbar“ erkannten Menschen werden als „lebensunwertes Leben“ den Gaskammern zugeführt. Dabei zeigt sich eine direkte Konnotation der Begriffe „bildungsunfähig“ und „lebensunwert“. Menschen, die bereits während der Weimarer Republik aufgrund ihrer vermeintlichen Bildungsunfähigkeit in den Pflegeabteilungen der Anstalten untergebracht sind, werden nun in eben diesen Anstalten getötet, so etwa in der Anstalt Hadamar in Hessen oder in Schloss Grafeneck im Landkreis Reutlingen.

„Zusammen mit den ‚Schwachsinnigen‘, ‚Blöden‘, ‚Idioten‘, ‚Imbezillen‘, ‚Debilen‘, ‚Epileptikern‘ und ‚Irren‘ wurden die ‚siechen‘ oder mehrfach körperlich und geistig behinderten Menschen den ‚Ballastexistenzen‘ zugerechnet, deren Lebensrecht durch die NS-Sterilisierungspolitik und die ‚Euthanasie‘ radikal in Frage gestellt wurde“ (Schmuhl 2007, S. 31).

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dominiert ein medizinisch-psychiatrisches Menschenbild, getragen und gefestigt durch caritative Motive: Schwere Behinderung wird assoziiert mit einer Daseinsweise, die – nicht-entwicklungsfähig – der Verwahrung und Fürsorge bedarf. Mittels einer diagnostischen Klassifizierung wird die bereits vorhandene Dreiteilung (s. o.) medizinisch-psychiatrisch unterfüttert und in ein neues Gewand gekleidet. Der Terminus „Oligophrenie“ wird nun anstelle des Begriffs „Schwachsinn“ als Oberbegriff für kognitive Beeinträchtigungen genutzt. Die Unterteilung in „Debilität“, „Imbezillität“ und „Idiotie“ knüpft dabei an die Terminologie der Jahrhundertwende und die in dieser Zeit verbreitete psychiatrische Lehrmeinung an (vgl. Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 125ff.). Als „Idiot“ werden dieser Logik folgend jene Menschen bezeichnet, bei denen ein IQ von unter 20 ermittelt wird. Unter Ausblendung der sozialen Verhältnisse und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse wird der Mensch damit auf seine scheinbar faktischen physiologischen Merkmale verkürzt.

Die umfassende Ausgrenzung des betroffenen Personenkreises und seine anthropologische Randstellung bleiben weitgehend unverändert bestehen. So werden im Enzyklopädischen Handbuch der Heilpädagogik (1969) folgende Eigenschaften benannt:

„Der (Voll-)Idiot lebt in einer Welt bloßer Triebbefriedigungsmittel, ist also psychologisch weder das Subjekt von Wahrnehmungen noch von Handlungen, ethisch gesehen keine Persönlichkeit. Aber biologisch gesehen ist er kein Tier, sondern ein sehr kranker Mensch“ (Busemann 1969, zit. nach Feuser 2009, S. 235).

Der Begriff der „Triebhaftigkeit“ suggeriert, dass diesem Personenkreis ein freier Wille, ein Geist, Verstand oder gar Intelligenz aberkannt wird. Er gilt als unfähig, sich als soziales Wesen in eine Beziehung zu anderen Menschen zu setzen und mit ihnen zu kommunizieren. Eine Entwicklungsfähigkeit wird kategorisch ausgeschlossen. Bedürfnisse werden nur sehr eingeschränkt zugestanden. Sie bleiben reduziert auf die körperlich elementarsten Grundbedürfnisse wie Essen, Schlafen und Hygiene.

Mit der Zuschreibung von Begriffen verbinden sich bis in die jüngste Vergangenheit institutionelle Zuweisungen, die implizit immer noch den Kriterien der „ökonomischen Nützlichkeit“ und angenommenen Bildbarkeit folgen.

Noch 1992 findet sich im Wörterbuch der Medizin unter dem Stichwort „Oligophrenie“ und der vorgenommenen Dreiteilung eine solche Verknüpfung:

„Debilität“ erhält das Prädikat „schulbildungsfähig“. Diese Bezeichnung erhalten „Schwachsinnige, die die Hilfsschule besuchen und einen einfachen Beruf erlernen können“. Mit dem Begriff „Imbezillität“ werden zwar „förderungsfähige“, jedoch „schulbildungsunfähige Schwachsinnige“ bezeichnet und schließlich wird die Bezeichnung „schwerste geistige Behinderung (früher Idiotie)“ für „nicht bildungsfähige Schwachsinnige, Pflegefälle“, die „Sprache, hygienische Gewohnheiten und sinnvolle Tätigkeiten nicht erlernen“, vorgeschlagen (vgl. Zetkin et al. 1992, S. 1520; Klauß 2011b, S. 13).

An diesen Definitionen lässt sich ablesen, dass sich die Kategorisierungen und Zuschreibungen, mit denen der Personenkreis bestimmt wird, in den verschiedenen Epochen wenig verändert haben. Auch nach dem zweiten Weltkrieg dominieren die Dogmen von der „Bildungsunfähigkeit“, der „Unerziehbarkeit“ und der „Unverständlichkeit“ (vgl. Feuser 2009).

Erst in den 1960er Jahren gelingt es, die bis dahin vereinzelten Initiativen der Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung zu institutionalisieren. Kinder und Jugendliche mit schwerer und mehrfacher Behinderung werden erst Ende der 1970er Jahre zu Adressaten einer institutionalisierten Pädagogik (vgl. Kap. 2.4). Obwohl sich die Begrifflichkeiten seither immer wieder verändert haben, dominieren bis heute Vorstellungen und Sichtweisen, in denen die komplexe Verwobenheit von sozialer Realität und ontogenetischer Entwicklung unbeachtet bleibt und der Mensch mit schwerer Behinderung unzulässig auf seine „physiologische Erscheinung“ reduziert wird.

Zusammenfassend lässt sich resümieren:

Die Geschichte der Etikettierung von Menschen als „schwer behindert“ ist durch alle Epochen hinweg bis in die heutige Zeit die Geschichte der Zuweisung von „Mängel-, Minder- oder Minusvarianten des Menschen“ und einer „menschgewordenen Verkörperung der Unvernunft“ (Dederich 2011b, S. 163).

Aus der Perspektive der Betrachter gilt schwere oder mehrfache Behinderung bis weit in die jüngste Vergangenheit als Ausschlusskriterium für pädagogische Interventionen. Menschen, denen dieses Attribut angeheftet wird, erhalten – quasi als „Alleinstellungsmerkmal“ einer anthropologischen Randspezies – die Zuschreibung, dass sie eben nicht für pädagogische Interventionen empfänglich sind und jegliche pädagogische Bemühungen in sich verschlingen, „wie ein schwarzes Loch, das alle Materie, die in seinen Einzugsbereich kommt, verschlingt“ (Jantzen 2001a, S. 103).

Die Tatsache, dass diese Zuschreibungen sich in den verschiedenen Epochen als relativ resistent erwiesen und wenig irritiert worden sind, verweist darauf, dass die Ideale der Aufklärung und ihre Auswirkungen auf Erziehungs- und Bildungsvorstellungen in der heutigen Zeit sehr virulent sind. Die Orientierung an einer fiktiven Bezugsnorm in unserer Gesellschaft führt dazu, dass Abweichungen von dieser Norm reflexmäßig als „andersartig“ (vgl. Feuser 1996, S. 6) ausgesondert und einer mehr oder minder paternalistischen Fürsorge zugeführt werden. Darüber hinaus scheinen ökonomische Interessen und die ökonomische Verwertbarkeit des „Humankapitals“ eine immer wichtigere wirtschaftspolitische Funktion zu haben und über Partizipation und Ausschluss zu entscheiden.

Insofern gilt zu betonen: Die Etikettierung von schwer und mehrfachbehinderten Menschen ist nicht als linear positive Entwicklung zu begreifen, die im Laufe der Jahrhunderte ausgehend von der Vorstellung des „Wechselbalges“, über die Zuweisung einer Bildungs- und Entwicklungsunfähigkeit hin zu einer kompetenzorientierten Betrachtung führt. Die Lebenssituation dieses Personenkreises hat sich in den verschiedenen Epochen nicht kontinuierlich verbessert. Vielmehr sind historisch gewachsene Bilder und Vorstellungen auch heutzutage – verdeckt oder offen – vorhanden.

Der fokussierte Personenkreis ist zudem auch heute Marginalisierungstendenzen und Diskriminierungsprozessen ausgesetzt, Entwicklungs- und Bildungsfähigkeit werden ihm nicht umfänglich zugestanden und umfassende Partizipation verweigert (vgl. Klauß 2011b, S. 16f.). Der Personenkreis ist damit wie kein anderer in der Gefahr, ein Leben als „sozial Ausgeschlossener“ zu führen.

Im Folgenden werden die historischen Analysen durch aktuelle Perspektiven auf schwere und mehrfache Behinderung ergänzt, denen gemeinsam ist, dass sie eine relationale Betrachtung von schwerer und mehrfacher Behinderung zugrunde legen. Zunächst wird mit der ICF das bio-psycho-soziale Modell der Weltgesundheitsorganisation vorgestellt.

1.3        Schwere und mehrfache Behinderung im Kontext der ICF

Die problematische Gleichsetzung von Behinderung und Krankheit hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) (DIMDI 2005) erkannt und die bis in die 70er bzw. 80er Jahre des 20. Jahrhunderts für die Einordnung von Behinderung geltende ICD (International Classification of Diseases) bzw. ICIDH (Internation Classification of impariments, disabilities and handicaps) überarbeitet (vgl. DIMDI 2005). Die Weiterentwicklung im Jahr 2001 zur aktuell gültigen ICF (International Classification of Functioning, Disbalility and Health) integriert in das defizitorientierte medizinische Modell ein soziales Modell von Behinderung, wodurch weitere Faktoren Bedeutung erhalten, die entscheidend für das Zustandekommen einer Behinderung sind, ohne dass sie einen direkten Bezug zur organischen Schädigung der Person haben. Die ICF ermöglicht damit eine umfassende Analyse der Lebensbedingungen einer Person und die anknüpfende Planung von Hilfen und Unterstützungsangeboten.

Die ICF betont den Aspekt der Funktionsfähigkeit eines Menschen. Ausschlaggebend für die Bestimmung dieser Funktionsfähigkeit ist das so genannte bio-psycho-soziale Verständnis von Behinderung, welches in sogenannten Kontextbeschreibungen personale und soziale Faktoren benennt, die ausschlaggebend für die Partizipation einer Person an der Gesellschaft sind.

Zur Beschreibung von Problemen der Gesundheit bzw. der Funktionsfähigkeit werden drei Ebenen benannt: Körperfunktionen und -strukturen (body functions and structures), Aktivitäten (activity) und Teilhabe (participation). Jede dieser drei Ebenen kann positiv oder negativ konnotiert beschrieben werden. Der Begriff handicap wird aufgrund seiner etikettierenden Wirkung fallengelassen und nur noch als allgemeiner Oberbegriff verwendet (DIMDI 2005, S. 171). Behinderung bezeichnet in diesem Kontext ein multidimensionales Phänomen, welches aus der Begegnung und Interaktion „von Menschen und ihrer materiellen und sozialen Umwelt resultiert“ (DIMDI 2005, 171).

Abb. 1: Das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung (vgl. DIMDI 2005).

Als zentral für die Entwicklung des Menschen wird die Daseinsentfaltung einer Person gesehen. Menschen mit Behinderung stehen in diesem Zusammenhang – ausgehend von sozialen und materiellen Barrieren – vor Problemen der Entfaltung ihres Daseins. Im Rahmen der ICF wird demnach nicht von einer eindeutigen medizinischen oder sozialen Ursache für eine Behinderung gesprochen, vielmehr wird diese Frage anhand des bio-psycho-sozialen Modells der Funktionsfähigkeit und Behinderung geklärt. Eine beeinträchtigte Körperstruktur und -funktion stellt in diesem Modell also allenfalls die „Ausgangsbedingungen der Entwicklung“ (Klauß 2011b, S. 13) dar.

Behinderung wird damit nicht zu einer mit einem Individuum verbundenen Eigenschaft einer Person, sondern entsteht in Kontexten (vgl. Hollenweger 2006, S. 35). Das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung negiert dabei nicht eine Schädigung, es fokussiert diese jedoch auch nicht, sondern richtet den Blick auf die Analyse der sich aus körperlicher Schädigung und den Umweltfaktoren ergebenden und als „Behinderung“ zeigenden Funktionsstörung eines Menschen. Die ICF wird insgesamt positiv rezipiert, wenngleich auch Kritik an der immer noch vorhandenen vorherrschenden Orientierung an der körperlichen Schädigung und der Beibehaltung des Behinderungsbegriffes geäußert wird. Zudem wird bemängelt, dass in der ICF Behinderung weiterhin „als Gegensatz zum Konstrukt des Normalen gefasst wird, mit Schwerpunkt auf der körperlichen Dimension, während behindernde Umweltfaktoren uneinheitlich bleiben“ (Nicklas-Faust 2011, S. 62). Die Klassifikation erkennt in diesem Zusammenhang selbst, dass die Bezeichnung und Benennung von Menschen mit funktionalen Einschränkungen problematisch ist. „Es bleibt die schwierige Frage, wie man Menschen am besten bezeichnen kann, welche ein gewisses Maß an funktionalen Einschränkungen oder Begrenzung erfahren“ (DIMDI 2005, S. 171).

Schwere Behinderung ist im Spiegel der ICF demnach das Resultat einer komplexen Beziehung zwischen der Schädigung eines Individuums sowie der daraus entstehenden möglichen Einschränkung seiner Aktivität und Partizipation (vgl. Heinen und Lamers 2001, S. 33f.). Die Analyse der Umweltbedingungen allein kann demnach noch keinen Aufschluss darüber geben, was schwere und mehrfache Behinderung ist, erst die Analyse der Teilhabe bzw. der Partizipation ist das entscheidenden Kriterium für das Zustandekommen und die Beurteilung einer Behinderung (vgl. Klauß 2011b, S. 29f.). Personale und soziale Kontextfaktoren können dabei die Partizipation begünstigen und so auch zu einer verbesserten Funktionsfähigkeit des Menschen beitragen. Gleichsam können die Kontextfaktoren jedoch auch negativ im Sinne einer „Be-hinderung“ der Partizipation einwirken.

Abb. 2: Modell der intensiven Behinderungserfahrungen (vgl. Schuppener 2007, S. 115).

Die ICF hat in verschiedene pädagogische Konzepte Einfluss gefunden. Entscheidender ist jedoch ihr Einfluss in rechtlichen Kontexten zu sehen, da die Weiterentwicklung der ICF deutlichen Eingang in das deutsche Behinderten- und Rehabilitationsrecht gefunden hat (vgl. Fuchs 2002, S. 6). Das Klassifikationsmuster des bio-psycho-sozialen Modells der Behinderung findet sich beispielsweise im SGB IX oder im Bundesgleichstellungsgesetz wieder, indem die beeinträchtigten Funktionen, aber auch der Aspekt der Teilhabe berücksichtigt und aufgegriffen werden. Auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) betont, dass „Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“ (Bgbl 2008, S. 1420).

Ein ähnliches Modell einer kompetenzorientierten, relationalen Beschreibung von Behinderung hat Schuppener (Schuppener 2007, S. 115 f.) im Anschluss an die Definition der „American Association on Mental Retardation“ (AAMR) vorgelegt. Schwere oder mehrfache Behinderung wird als Ausdruck individueller Kompetenz im Umgang mit biografisch relevanten Behinderungserfahrungen gedacht.

In einer Triangulation von Konstruktion, Entwicklungsbezogenheit und Kompetenzorientierung wird schwere und mehrfache Behinderung als Ausdruck subjektiver Kompetenz im Sinne einer Fähigkeit zur Selbst- und Fremdregulation unter erschwerten Bedingungen verstanden. Die Kompensationsleistung des Subjektes richtet sich dabei auf Entwicklungs- und soziale Barrieren.

1.4        Schwere und mehrfache Behinderung als Beziehungsstörung

Die ersten Bemühungen, Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung nicht lediglich mit Blick auf ihre individuelle Schädigung zu beschreiben, gehen u. a. auf den Lehrer und Hochschullehrer Wilhelm Pfeffer (1984; 1988) zurück, der als zentral für das Zustandekommen von Behinderung eine Beziehungsstörung identifiziert. Die von Pfeffer in die Diskussion eingebrachte Sichtweise von Menschen mit geistiger bzw. schwerer und mehrfacher Behinderung ist insofern bedeutsam, als dass sie zum einen auf erkenntnistheoretischen Bezügen aufbaut, zum anderen anstelle von Defizitbeschreibungen die Perspektive auf das So-Sein der Menschen mit schwerer Behinderung zur Welt lenkt. Grundsätzlich entsteht Behinderung durch eine Alltagswirklichkeit, die nur schwer zu bewältigende Anforderungen für alle Menschen enthält. Behinderung ist nach Pfeffer nur „spezifische Ausprägung einer allgemeinen Behinderung“ (Pfeffer 1984, S. 104). Ist die Alltagswirklichkeit nicht an „die Handlungsdispositionen des Einzelnen angepasst […], ist sie eine behindernde, die Erlebens- und Handlungsfähigkeit beeinträchtigende“ (Pfeffer 1984, S. 105f.). Geistige oder schwere und mehrfache Behinderung stellen in diesem Verständnis ein Ergebnis aus dem „Bezug zwischen Individuum und Alltagswirklichkeit als dessen Erlebens- und Handlungsraum dar“ (Pfeffer 1984, S. 196).

Grundlage der Arbeiten Pfeffers ist die Phänomenologie, in der der Mensch als leibliches, konkret-geschichtliches Subjekt betrachtet wird, der nicht nur „Beschreibender“ seiner Selbst ist, sondern auch „Beschriebener“, zugleich Erzeuger und Erzeugnis seiner Welt (vgl. Stinkes 2010, S. 116ff.). Dabei ist parallel und im Nachgang zu Pfeffer von verschiedenen Autorinnen und Autoren die Phänomenologie für die Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung genutzt und als Antwort auf die Beziehungsstörung eine leiborientierte Pädagogik entwickelt worden (siehe Kap. 3.1). Diese fragt „nach den vorrationalen, den vortheoretischen Bedingungen der Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, weil diese Bedingungen Wesensmerkmale menschlichen Lernens und menschlicher Selbstentfaltung sind. Die Reflexion hierüber erschließt Möglichkeiten, den schwerstbehinderten Menschen in seinem vorbewussten, seinem subjektiven Weltbezug besser verstehen zu können“ (Fornefeld 2001, S. 139). Barbara Fornefeld hat den Gedanken, dass schwere und mehrfache Behinderung vor allem als Beziehungsstörung zu begreifen ist, ausgehend von biografischen Erfahrungen mit dem Personenkreis aufgegriffen und sowohl eine anthropologisch-erkenntnistheoretische Beschreibung der Personengruppe auf Grundlage der Phänomenologie Merleau-Pontys (1966) sowie der existenzphilosophischen Sichtweise Bodenheimers (vgl. 1967) vorgelegt als auch diese im Sinne eines pädagogischen Konzeptes, der elementaren Beziehung (siehe Kap. 8.2.3), weiterentwickelt (vgl. Fornefeld 1989; 1995).

1.5        Schwere und mehrfache Behinderung als Prozess sozialer Zuschreibung

Auf den Umstand, dass Behinderung nur im Kontext sozial-gesellschaftlich-kultureller Gegebenheiten erklärt werden kann, verweist insbesondere die Allgemeine materialistische Behindertenpädagogik (Jantzen 1987, 1990; Feuser 1996). Unter Zurückweisung einer biologistischen Reduktion betrachtet die Allgemeine Behindertenpädagogik die soziale Isolation als zentralen Kern von Behinderung. Der Prozess der Zuschreibung und Identifikation einer „Behinderung“ fundamentiert und produziert dabei in unzulässiger Weise sozialen Ausschluss. Feuser (1996) kennzeichnet diesen Prozess der Zuschreibung als einen „phänomenologisch-klassifikatorischen Prozess“, in dem die Wahrnehmung des jeweils Anderen im Spiegel festgelegter Normen dazu führt, dieses Gegenüber anhand beobachtbarer Merkmale zu klassifizieren und einem Personenkreis zuzuordnen, der als „Geistig Behindert“ oder „Schwer Behindert“ bezeichnet wird (Feuser 1996, S. 4). Beobachtbare Merkmale werden in einem Prozess der Typisierung verallgemeinert und so zu abstrakten Eigenschaften einer willkürlich zusammengefassten Gruppe von Menschen (siehe Kap. 1.1).

„Behinderung kann nicht als naturwüchsig entstandenes Phänomen betrachtet werden. Sie wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale und Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug gesetzt werden zu gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten. Indem festgestellt wird, daß ein Individuum aufgrund seiner Merkmalsausprägung diesen Vorstellungen nicht entspricht, wird Behinderung offensichtlich, sie existiert als sozialer Gegenstand erst von diesem Augenblick an“ (Jantzen 1987, S. 18).

Unter Rückgriff auf die theoretischen Arbeiten von Vygotskij, einem bedeutenden Vertreter der Kulturhistorischen Schule, beschreiben die Repräsentanten der Allgemeinen Behindertenpädagogik, dass die Entwicklung des Individuums primär von seiner sozialen Eingebundenheit abhängig ist. Die gesellschaftlichen Formen der Tätigkeit werden als Grundlage für die ontogenetische Entwicklung des Kindes betrachtet. In den Tätigkeiten realisieren sich die je adäquaten Beziehungen zur Welt und verlangen insofern nach einer Welt, in der sinnvolle Austauschprozesse möglich sind. Hirnorganisch betrachtet entwickelt sich das Gehirn in diesen Wechselwirkungsbeziehungen mit der Welt (Jantzen 2000, S. 170). Eine hirnorganische Schädigung stellt in dieser Betrachtung zwar eine veränderte Ausgangsbedingung für die menschliche Entwicklung dar, führt jedoch keineswegs linear in eine Entwicklungsbeeinträchtigung oder gar in eine Entwicklungsstagnation (Siebert 2010, S. 12). Anknüpfend an Vygotskijs Konzeption einer kulturhistorischen Defektologie wird vielmehr betont, dass das menschliche Gehirn zur Kompensation fähig ist, wenn es zu seiner Selbstorganisation auf soziale Bedeutungen und Zusammenhänge zurückgreifen kann (Jantzen 2000, S. 170). Kompensation im Sinne Vygotkijs stellt dabei keine biologische Kompensation dar, sondern eine soziale.

„So bedeutet unter psychologischem Aspekt ein physischer Defekt eine Störung der sozialen Verhaltensformen. Wenn das Verhalten eines lebenden Organismus seine Wechselwirkung mit der Umwelt, ein System von Anpassungsreaktionen an die Umwelt darstellt, dann wirken sich Veränderungen dieses Systems zuallererst auf die Umstrukturierung und Verschiebung der sozialen Verbindungen, Beziehungen und Bedingungen aus, unter denen sich der normale Verhaltensprozeß vollzieht und verwirklicht. Alle eindeutigen psychologischen Besonderheiten des defektiven Kindes sind ihrer Grundlage nach nicht biologischer, sondern sozialer Natur“ (Vygotskij 1975, S. 71).

Mit diesem Zitat verweist Vygotskij auf die pädagogische Notwendigkeit, nicht die hirnorganische Störung zu fokussieren, sondern die soziale Situation, in der ein Kind lebt, weil dies für seine Entwicklungsmöglichkeiten entscheidend ist. Die Entwicklung realisiert sich demnach in sozialen Bezügen, in denen das Kind entsprechend seinen jeweiligen Entwicklungsniveaus in einen adäquaten Austausch mit anderen Menschen und der Welt kommt. Für die Entstehung einer „geistigen Behinderung“ identifiziert Jantzen in Anlehnung an Vygotskij drei Komponenten: „Einschränkungen in Dialog und Bindung in der frühen Kindheit, Einschränkungen der sprachlichen Kommunikation sowie Einschränkungen der Teilhabe am kulturellen Leben“ (Jantzen 2000, S. 173).

Menschen, die mit dem Begriff schwere Behinderung etikettiert werden, sind von Beginn ihres Lebens in allen drei Bereichen erheblichen Veränderungen und isolierenden Erfahrungen ausgesetzt. Schwere und mehrfache Behinderung ist aus der Perspektive der Allgemeinen Behindertenpädagogik somit sozial bedingt (vgl. Kap. 4.2). Die Inadäquatheit der sozialen Situation, der umfassende Ausschluss aus dialogischen Bezügen und die damit verbundene Aussichtslosigkeit in adäquater Weise auf diese Welt einwirken und sie gestalten zu können, hat umfassende Auswirkungen auf die Organisation hirnorganischer Prozesse (Jantzen 2000, S. 170). Wird dies – in einer falschen Assoziation von Ursache und Wirkung – auf den biologischen „Defekt“ zurückgeführt, entsteht ein Teufelskreis von fehlender sozialer Eingebundenheit und hirnorganischer Retardation, der in der Folge wiederum als „Behinderung“ oder „schwere Behinderung“ etikettiert wird. Behinderung ist insofern ein relationaler Prozess und kann nicht als substanzielle Eigenschaft eines Menschen betrachtet werden (Jantzen 2010a, S. 16).

1.6        Schwere und mehrfache Behinderung als Konstruktion des Betrachters

Der Konstruktivismus hat innerhalb der Sonderpädagogik in den vergangenen Jahren eine breite Rezeption erfahren (vgl. Dreher 2000; Osbahr 2000 sowie zusammenfassend Dederich 2001), wobei verschiedene Ziele und Ansätze unterschieden werden können. So wird die Theorie des Konstruktivismus genutzt, um Kritik am defizitären Behinderungsbegriff zu üben, Diagnostik und auch Didaktik neu zu denken oder im Rahmen des Paradigmenwechsels der Sonderpädagogik, neue Motive zu begründen. Der Konstruktivismus hat mittlerweile neben der theoretischen Diskussion auch Einfluss auf vielfältige praktische Handlungs- und Anwendungsfelder ausgeübt. Für die Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung rezipiert Wagner (2000; 2003; 2007) Grundlagen des Konstruktivismus einerseits zur anthropologischen Beschreibung des Personenkreises, andererseits zur Ableitung von pädagogischen Konsequenzen in der praktischen Arbeit. Unter Rückgriff auf den radikalen Konstruktivismus und die Vorstellung, dass der Mensch eine kognitive selbstreferenzielle Struktur besitzt, d. h. Sinnzuschreibungen immer aufgrund von gehirninternen Deutungen vorgenommen werden, wird angenommen, dass Verhaltensweisen von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung Ausdruck einer individuellen Wirklichkeit sind. Als zweite grundsätzliche Annahme wird davon ausgegangen, dass der Mensch mit schwerer Behinderung – wie jeder Mensch – fortwährend im Austausch mit der ihn umgebenden Umwelt steht. Der Mensch ist demnach zugleich, im Hinblick auf seine individuelle Wirklichkeitskonstruktion, autonom und, mit Blick auf die ihn umgebende Umwelt, offen (vgl. Wagner 2007, S. 120). Des Weiteren ist es für Menschen überlebenswichtig, die eigene individuelle Bedeutungszuschreibung durch „sinnvolle Antworten“ in der sozialen Interaktion bestärkt oder eben auch irritiert zu bekommen. Interaktionen zwischen Menschen sind im Konstruktivismus damit die Basis für soziale Systeme, da durch Interaktionen Gemeinsamkeiten, Abgrenzungen und Variabilität erst ermöglicht werden. Verkürzt gesprochen meint dies, dass jeder Mensch für seine subjektiven Deutungen und Handlungen eine individuell-sinnvolle Antwort benötigt, um sich letztlich seiner Konstruktion der Realität zu vergewissern. Die Aspekte Individualität und Sozialität sind beim Menschen damit wechselseitig durchdrungen, „seine Individualität ist immer mit sozialen Systemen verbunden und seine Sozialität ist letztlich immer eine individuelle“ (Wagner 2007, S. 133).

Verhaltensäußerungen von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung haben demnach immer einen subjektiven Sinn, auch wenn sie in der sozialen Situation zunächst als befremdlich erlebt werden. Die Befremdlichkeit bzw. Verunsicherung entsteht jedoch erst „im Auge des Betrachters“ aufgrund seiner Zuschreibung von Sinn und Einordnung fremder Handlungen in bekannte Muster. Bei Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung besteht aufgrund des häufigen nicht-verstanden-Werdens die Gefahr, dass sie auf die verunsichernden, fremd erscheinenden Verhaltensweisen reduziert werden und diese nicht mehr als genuin sinnvolle und individuell bedeutsame Handlungen aufgefasst werden. Aus diesem Grund erfordert die Begegnung mit Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung – angesichts vermeintlich unsinniger oder bedeutungsloser Verhaltensweisen – ein reflektiertes Nachfragen und ein Aufstellen, Verwerfen oder Bestätigen von Hypothesen.

Menschen mit schwerer Behinderung werden in dieser, an den Konstruktivismus angelehnten, Sichtweise weder in Abgrenzung zu Menschen ohne Behinderung gesehen, noch werden besondere Gemeinsamkeiten herausgestellt. Lediglich die Möglichkeit zu und der Grad von Interaktionsmöglichkeiten wird als Unterschied gesehen.

Schwere und mehrfache Behinderung ist in diesem Denkmuster damit immer mehr als eine einseitig (z. B. medizinisch oder entwicklungspsychologisch) beschreibbare Tatsache; es handelt sich vielmehr um einen komplexen Sachverhalt, der sich unter vielfältigen sozialen Einflüssen entwickelt, gleichsam jedoch auch von individuellen Bedingungen der Entwicklung bestimmt ist. Die Besonderheit des konstruktivistischen Erklärungsversuches liegt vor allem darin, dass Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung grundsätzlich die gleichen Fähigkeiten wie Menschen ohne Behinderung zugeschrieben werden: die Fähigkeit, sich eine subjektive Wirklichkeit sinnhaft zu konstruieren. Zudem sind Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung – wie jeder Mensch – auf ein Gegenüber angewiesen, welches zum einen die subjektive Wirklichkeit bestätigt, zum anderen aber auch neue (Stör-)Impulse setzen kann und so zu einer Modifikation bzw. De- und Rekonstruktion von individueller Lebenswelt beitragen kann. Dies bringt Menschen mit und ohne schwere und mehrfache Behinderung auf eine zunächst voraussetzungslose gemeinsame Ebene, bei der die Gemeinsamkeit in der oben dargestellten wechselseitigen Verschränkung von Individualität und Sozialität besteht. Das Ziel einer an der konstruktivistischen Theorie angelehnten Pädagogik ist demnach die „jeweilige Selbstbestätigung in der Interaktion und darüber hinaus die Möglichkeit der Selbsttransgression, der Eröffnung neuer Dimensionen des individuellen Daseins der jeweiligen Beziehungspartner und der Aufbau interindividueller Bedeutungszuschreibungen und sozialer Konstrukte“ (Wagner 2007, S. 206).

1     Kant (1784) hat die Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit bezeichnet.

2     Mit Kretinismus wird Ende des 18. Jahrhunderts eine auf Jodmangel zurückgeführte Form der Schilddrüsenerkrankung bezeichnet, die unbehandelt zu kognitiver Beeinträchtigung führen kann. Geografisch betrachtet, trat diese Erkrankung in einigen Alpentälern gehäuft auf. Johann Jakob Guggenbühl gründet 1841 eine Heilanstalt für Kretine und blödsinnige Kinder.

3     In Bezug auf Menschen mit schwerer und mehrfacher (Körper-)Behinderung ist dies differenziert zu betrachten. Diese Gruppe war aufgrund von Kriegsfolgen sozial hoch angesehen. Ihnen standen Hilfs- und Rehabilitationsmaßnahmen zu. Entscheidend war hier der Umstand, dass die Behinderung in einer deutlich von außen zugeführten Tatsache, wie beispielsweise einem Unfall oder eben den Folgen einer kriegerischen Auseinandersetzung, ihren Ursprung hatte (vgl. Bergeest et al. 2011, 42ff.).

2          HISTORISCHE ENTWICKLUNGSLINIEN EINER JUNGEN DISZIPLIN

Die Geschichte der Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung ist eine Geschichte der ausgrenzenden Pädagogik. Als Teildisziplin der Heil- und Sonderpädagogik entwickelt sie sich erst in den 1970er Jahren. Der Grund für diese – im Vergleich zur Pädagogik oder Heilpädagogik – späte Entstehung begründet sich durch die Fokussierung auf ein Klientel, welches erst in jüngster Vergangenheit in den Fokus der Pädagogik geriet und vorher umfassend aus allen gesellschaftlichen und pädagogischen Bezügen ausgeschlossen (siehe Kap. 1.1 und 1.2) ist. An diesem Ausschluss hat die sich entwickelnde Heil- und Sonderpädagogik durchaus selbst einen erheblichen Anteil. Historische Entwicklungslinien, die die Professionalisierung der Sonder- und Heilpädagogik markieren, werden für den Personenkreis der schwer- und mehrfachbehinderten Menschen zu Wegmarken, durch die ihre Ausgrenzung aus pädagogischen Handlungsfeldern bestätigt und gefestigt wird.

Insofern werden im Folgenden zunächst einige Marksteine der Heil- und Sonderpädagogik dargestellt und es wird überprüft, wie sie in ihrer Entwicklung als wissenschaftliche Disziplin und Profession durch eigene Theoriebildung diesen Ausschluss mit hervorgebracht hat.

Im Anschluss daran wird die Entstehung einer Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung skizziert.

2.1        Erste Grenzziehungen zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickeln die Wegbereiter einer Pädagogik, die Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in den Fokus nehmen, erste Erziehungsversuche. Es sind vornehmlich Mediziner, Naturwissenschaftler oder Theologen, die in ihrer jeweiligen Tätigkeit eine Affinität zur Pädagogik erkennen. So ist Itard, dessen pädagogische Bemühungen um Victor zu Beginn des 19. Jahrhunderts erste noch unsystematische Versuche einer beginnenden Heilpädagogik markieren, ein französischer Arzt und Taubstummenlehrer. Er dokumentiert als einer der ersten seine Unterrichts- und Erziehungsversuche mit Victor.

Einige Jahrzehnte später – in der Mitte des 19. Jahrhunderts – kennzeichnet die Tätigkeit von Georgens, Deinhardt und Gayette, von Séguin, Guggenbühl oder Anderen den systematischen Beginn der Heilpädagogik. Ihr pädagogisches Interesse gründet weniger in einem moralisch-paternalistischen Gefühl der Verantwortung und Fürsorge für bestimmte Personen, sondern entspringt eher dem Geist der Aufklärung und einem damit verbundenen Interesse an methodischen Fragen der Erziehung und Bildung zur Hervorbringung eines sich selbst bildenden und perfektibilisierenden Subjektes (vgl. Moser und Horster 2012, S. 13). Der radikal neue Gedanke jener Pioniere ist dabei, dass der einzelne Mensch nicht länger auf ein natur- und schicksalhaftes Dasein reduziert, sondern in die Möglichkeit seiner eigenen Entwicklung gestellt wird. Diese Entwicklung – so die Überzeugung – kann durch Erziehung und Bildung beeinflusst werden. Die Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes sind demnach nicht zuvorderst durch die biologischen Anlagen, die Begabung oder die Talente bestimmbar, sondern durch Erziehung und Bildung und damit durch seine Möglichkeiten, Beziehungen zu seiner Umwelt aufzunehmen und zu gestalten. Helferich formuliert 1847:

„Die Erfahrung hat gelehrt, daß unter der Leitung einer vernünftigen Erziehung schwache Organe des Denkens sich so sicher stärken, als Muskeln, Knochen und Bänder bei einer gehörigen Gymnastik, ja kein Organ hierin bildsamer und erziehbarer erscheint, als das Gehirn und Nervensystem“ (Helferich 1847, zit nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 31f,).

Georgens, Deinhardt und Gayette konkretisieren 1858 in einem Aufsatz über „Heilung, Besserung und Erziehung“ diesen Zusammenhang. Sie führen aus, dass „die Ausbildung der Organe mittelst ihrer Bethätigung stattfindet; und zwar in der Weise, dass die Formgestimmtheit der Ausbildung von der irgendwie bedingten Form der Bethätigung abhängig ist“ und „Erziehung, wenn sie überhaupt die Entwicklung fördern und umgrenzen, die Gestaltung bestimmen will, wesentlich auf die Beherrschung der Thätigkeiten angewiesen ist“ (Georgens, Deinhardt und Gayette 1858, zit nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 55).

Damit beschreiben sie einen Zusammenhang zwischen der „Ausbildung der Organe“ und der Möglichkeit eines Kindes, tätig zu werden und in Beziehung mit der Welt zu treten, und formulieren gleichzeitig, dass Erziehung – wenn sie erfolgreich sein will – genau auf die Herstellung dieser Beziehung angewiesen ist. Behinderung wird also nicht als pathologisch unveränderbarer Zustand, sondern als Folge fehlender Entwicklungsmöglichkeiten aufgrund gesellschaftlicher und sozialer Isolierung oder Verwahrlosung gedeutet. Georgens und Deinhardt (1861) messen damit der „‚exacten’ Kenntnis der Krankheitsursachen“ und der „sichere[n] Bestimmung des organischen Grundes, den das Übel als solches hat“, nur eine sehr bedingte Bedeutung für die pädagogische Arbeit zu (Georgens & Deinhardt 1861, S. 220 bzw. S. 227, zit. nach Störmer 2007, S. 294). Der große Verdienst dieser ersten Heilpädagoginnen und Heilpädagogen für die Entwicklung der Heil- und Sonderpädagogik liegt in diesen Erkenntnissen. Aus ihnen heraus begründen sie ein Verständnis von Heilpädagogik als Pädagogik und betrachten sie nicht als Erfüllungsgehilfe der Medizin (vgl. Lindmeier 2013, S. 112).

Kinder und Jugendliche mit schwerer und mehrfacher Behinderung haben von diesen Einsichten jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt profitiert. Für sie gelten pessimistische Einschätzungen ihrer Erziehungs- und Bildbarkeit (siehe Kap. 1.2).

Selbst die Entwicklung einer konfessionell getragenen „Caritas“ und die Einrichtung großer Pflegeanstalten und Hospitäler gegen Ende des 18. Jahrhunderts tragen nicht zu einer Verbesserung der Situation bei. Auch hier führen ökonomische Gesetze zu einer erneuten Selektion von Menschen, die als „nicht-arbeitsfähig“ gelten. Sobald Intelligenzgutachten den Schluss nahelegen, dass keine Erwerbsbefähigung erzielbar sei, werden schwer oder mehrfach behinderte Menschen von den Anstalten ausgeschlossen (vgl. Osten 2011, S. 43). Teilweise werden in den Anstalten spezielle Pflegeabteilungen eingerichtet, um die Kinder und Jugendlichen, die als „bildungsunfähig“ gelten, von jenen zu isolieren, die Erziehung erhalten (vgl. Störmer 2007, S. 289). Diese Entscheidung wird durch zwei miteinander zusammenhängende Motive begründet. Zum einen durch eine scheinbar geringe Erfolgsaussicht und zum anderen durch eine Legitimationspflicht gegenüber der Gesellschaft, die nur durch Erfolge erfüllt werden kann. Helferich (1847, zit nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 31) schreibt, dass „die wirkenden Kräfte bei der ohnehin so schwierigen Aufgabe mit gar zu vielen, entmuthigenden Hindernissen und Mühseligkeiten einen unnützen Kampf zu kämpfen hätten“ und die „hochwichtige, reinmenschliche Sache schief aufgefaßt und verkannt“ werden könnte. Damit verweist das Zitat darauf, dass die Heil- und Sonderpädagogik von ihren ersten Anfängen an – mehr als jede andere Pädagogik – ihr Handeln im Kontext sozioökonomischer und gesellschaftlicher Interessen legitimieren musste. Dies führt zu einer Grenzziehung entlang einer hypothetisch-willkürlichen Linie zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“. Der Abkehr von einer „pragmatisch-pädagogischen Auffassung von Bildsamkeit“ (Lindmeier 2013, S. 112) folgt eine Praxis, die nicht alle Kinder und Jugendlichen umfänglich mitdenkt. Dennoch zeigen die Anfänge einer systematischen Heilpädagogik in ihrer theoretischen Anlage auch erste ermutigende Ansätze für die Formulierung eines umfänglichen Bildungsrechts aller Menschen, insbesondere in den Analysen von Georgens und Deinhardt. In der weiteren Entwicklung der Heilpädagogik wird sich diese Theorielinie jedoch nicht fort- und durchsetzen.

2.2        Die Entwicklung einer Pädagogik der Ausgrenzung

Im Anschluss an die dargestellten ersten Entwicklungen im Feld der Heilpädagogik dominiert im folgenden Jahrhundert eine andere Lehrmeinung die Theorie und Praxis. Diese entwickelt sich vor allem unter dem Einfluss von Medizinern und Psychiatern. Ausgehend von den Auffassungen Pinels und seines Nachfolgers Esquirol zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird „Idiotie“ als „Gehirnkrankheit“ gedeutet (vgl. Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 21). Sie gilt als somatisch bedingt und von daher durch äußere Einflüsse kaum irritierbar (Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 21). Diese Sichtweise verfestigt sich in den nachfolgenden Jahrzehnten. Die Heilpädagogik orientiert sich an biologisch-medizinischen und psychiatrischen Modellen und reduziert Behinderung auf physiologisch beobachtbare Merkmale des Individuums. Anstelle einer Theoriebildung, die sich an den Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen orientiert, tritt eine Denkweise, die die „Minderwertigkeit“ und die „defektiven Ausstattungsmerkmale“ (Störmer 2007, S. 291) in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rückt und zu Klassifikationsmerkmalen für einen fiktiven Personenkreis erhebt, dem sie sich fortan zuwendet. Die soziale Situation von Menschen mit Behinderung und die Verstrickung der Heilpädagogik in politische und sozialökonomische Interessen werden weitgehend ausgeblendet (ebd.).

Diese Entwicklung ist verantwortlich für den umfassenden Ausschluss von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung aus pädagogischen Bezügen. Heilpädagogik versteht sich als Disziplin im Grenzgebiet zwischen Pädagogik und Medizin, wobei der Medizin eine zentralere Bedeutung zuerkannt wird (ebd.). Die Theorie der Heilpädagogik jener Zeit – maßgeblich beeinflusst durch Theodor Heller, einem Wiener Psychologen und Anstaltsleiter – fokussiert als ihren Gegenstandsbereich die „psychopathologische Konstitution im Kindesalter“ (Heller 1923, 74, zit. nach Lindmeier 2013, S. 114). Damit wird ein Verständnis formuliert, welches Heilpädagogik zur „angewandten Psychopathologie und zu einer Art ‚Dienstmagd‘ der Medizin“ degradiert (Lindmeier 2013, S. 114).

Dies spiegelt sich in der Praxis jener Zeit in den zahlreichen Auseinandersetzungen über die Ausrichtung der Anstalten und der in ihnen tätigen Professionen. Dabei nimmt – nach zugeschriebenem Schweregrad einer Behinderung – die Bedeutung pädagogischer Professionen gegenüber der Medizin proportional ab.

So beschreibt Weygandt (1906, zit nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 243), ein einflussreicher deutscher Psychiater, in einem Aufsatz über Idiotie: „Oft genug wurde von namhafter Seite mit guten Gründen die ärztliche Leitung für die Idioten beansprucht. […] Schwere Fälle von Idiotie gehören unter ausschließlich ärztlicher Aufsicht“.

Auch die ersten Hilfsschulen, die sich um die Jahrhundertwende gründen, stehen unter einem medizinisch-defektologischen Paradigma. Sie interpretieren „Schwachsinn“ als angeborene oder erworbene Minderwertigkeit (vgl. Störmer 2007, S. 291). Arno Fuchs, ein Volksschulrektor, der zwischen 1900 und 1920 als einflussreicher Protagonist die preußische Hilfsschulpädagogik prägt, vertritt eine psychiatrisch-medizinisch orientierte selektive Pädagogik (vgl. Osten 2011, S. 46). Schulversagen wird ausschließlich auf verminderte intellektuelle Fähigkeit verbunden mit einer konstatierten „Willensschwäche“ zurückgeführt (vgl. Osten 2011, S. 46; Hoffmann 2013, S. 236f.). In den Hilfsschulen werden „geistige schwache“ Kinder unterrichtet. „Schwachsinnige“ und „schwer schwachsinnige“