Paradies in Gefahr: Anna Pigeon ermittelt - Band 5: Kriminalroman - Nevada Barr - E-Book
SONDERANGEBOT

Paradies in Gefahr: Anna Pigeon ermittelt - Band 5: Kriminalroman E-Book

Nevada Barr

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In dieser Idylle lauert der Tod: Der packende Kriminalroman »Paradies in Gefahr« von Nevada Barr jetzt als eBook bei dotbooks. Cumberland Island. Der Nationalpark vor der Küste Georgias erscheint der neuen Rangerin Anna Pigeon wie ein Paradies. Ganze Wochen verbringt sie allein in der Natur, nichts stört die Idylle – bis eines Tages ein Inferno über sie hereinbricht: Ein Beobachtungsflugzeug stürzt ganz in ihrer Nähe ab, die beiden Insassen können nur noch tot geborgen werden. Schnell zeigt sich, dass Sabotage dahintersteckt. Als kurz darauf ein Wanderer angeschossen wird, beschleicht Anna ein schrecklicher Verdacht: Gibt es einen Zusammenhang und verbirgt jemand mitten im Herzen des Nationalparks ein dunkles Geheimnis? Ihre Nachforschungen bringen Anna selbst in die Schusslinie .... Packend und rasant – der fünfte Band der fesselnden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post »Nevada Barr ist eine außergewöhnliche Erzählerin.« Los Angeles Times Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Öko-Thriller »Paradies in Gefahr «, Band 5 der international erfolgreichen Anna-Pigeon-Krimiserie von Nevada Barr, die Leser in die ebenso atemberaubende wie gefährliche Wildnis der Nationalparks Amerikas entführt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 511

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über dieses Buch:

Cumberland Island. Der Nationalpark vor der Küste Georgias erscheint der neuen Rangerin Anna Pigeon wie ein Paradies. Ganze Wochen verbringt sie allein in der Natur, nichts stört die Idylle – bis eines Tages ein Inferno über sie hereinbricht: Ein Beobachtungsflugzeug stürzt ganz in ihrer Nähe ab, die beiden Insassen können nur noch tot geborgen werden. Schnell zeigt sich, dass Sabotage dahintersteckt. Als kurz darauf ein Wanderer angeschossen wird, beschleicht Anna ein schrecklicher Verdacht: Gibt es einen Zusammenhang und verbirgt jemand mitten im Herzen des Nationalparks ein dunkles Geheimnis? Ihre Nachforschungen bringen Anna selbst in die Schusslinie ....

Packend und rasant – der fünfte Band der fesselnden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post

»Nevada Barr ist eine außergewöhnliche Erzählerin.« Los Angeles Times

Über die Autorin:

Nevada Barr wurde 1952 in Yerington, Nevada geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, bevor ihre Liebe zur Natur sie als Rangerin in verschiedene Nationalparks führte. Dies inspirierte sie zu ihrer Serie über Anna Pigeon, die mehrfach preisgekrönt wurde – unter anderem erhielt der erste Band, »Die Spur der Katze«, den renommierten Agatha-Award als bestes Debüt – und international erfolgreich ist. Nevada Barr lebt heute in Mississippi.

Bei dotbooks erscheinen in der Anna-Pigeon-Reihe außerdem:

Die Spur der KatzeEiner zuviel an BordZeugen aus SteinFeuersturmBlutköderWolfsspuren

Die Website der Autorin: www.nevadabarr.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.de/NevadaBarrFans

***

eBook-Neuausgabe Februar 2019

Copyright © der englischen Originalausgabe 1997 by Nevada Barr

Die englische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Endangered Species bei G. P. Putnam's Sons, New York.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with Nevada Barr Paxton.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/ESB Professional

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-477-1

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Paradies in Gefahr an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Nevada Barr

Paradies in Gefahr

Anna Pigeon ermittelt

Aus dem Englischen von Christine Strüh und Adelheid Zöfel

dotbooks.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Lesetipps

Für Chris Pepe, der dafür sorgt, daß ich gut dastehe, und der das so charmant macht, daß ich mir immer alles selbst zuschreiben kann.

Besonders danke ich Gary Barr, Mary Barr, J. D. Lee und Newton Sikes.

Kapitel 1

Schwarzes, lauwarmes Wasser klatschte gegen Annas Rücken, schwappte ihr über die Schultern und vorn über ihr Hemd. Sie kniff die Augen fest zusammen, damit das Salzwasser nicht so brannte, klammerte sich an den Panzer der Schildkröte und konzentrierte sich darauf stehenzubleiben, während ihr die Welle gegen die Beine schlug und den Sand unter ihren Turnschuhen wegsaugte.

Die Karettschildkröte würde nicht gegen ihren Willen in den Atlantik zurückgespült werden. Im endlosen Ozean war sie gegen fast alles gefeit, aber das Festland, dieses fremde, sich ständig verändernde Universum, hatte sie völlig verwirrt. Meilenweit war sie von Gott weiß wo zum Strand von Cumberland Island geschwommen, um ihre Eier abzulegen, hier, auf einer der Golden Isles vor der Küste von Georgia. In ihrem winzigen Gehirn – oder vielleicht auch in ihrem riesigen Herzen – hatte der Instinkt eine Landkarte einprogrammiert, die so präzise war, daß die Schildkröte an der sich über Tausende von Meilen erstreckenden Küste immer wieder ihren Weg genau zu diesem schmalen Sandstreifen fand.

Anna duckte sich, als die nächste Welle über ihre Schultern brandete, und umarmte das Tier fest. Die Rillen des Rückenpanzers, der fast einen Meter Durchmesser hatte, gruben sich in ihre Wange, genau dort, wo sich die Haut über dem Knochen spannte und besonders empfindlich war. Am Oberschenkel spürte sie durch die durchnäßte Hose die kräftige Bewegung des flossenartigen Schwanzes.

Wasser umflutete sie, noch wärmer im Nacken als die milde Sommerluft. Anna fragte sich, wie bei Schildkröten im allgemeinen und bei dieser hier im besonderen das Denken funktionierte. Stellte sie sich die Karte, die der Instinkt ihr eingeprägt hatte, bildlich vor? Hatte sie vor ihrem geistigen Auge – oder was bei Tieren als solches fungieren mochte – den flachen, einladenden Strand gesehen, hatte sie sich daran erinnert?

»Tut mir leid, altes Mädchen«, brummte Anna, während sie sich gegen das mehrere hundert Pfund schwere Meerestier stemmte. Der launenhafte Gezeitenwechsel hatte an einem fünfzig Meter langen Küstenstreifen einen über einen Meter hohen Wall aus Sand und Muscheln aufgeworfen. Vor einer Woche war der Strand noch völlig flach gewesen, in zwei Wochen würde er wieder flach sein. Aber heute abend gab es hier kein Durchkommen. Doch mit der endlosen Geduld, die Schildkröten, Felsen und anderen langlebigen, schwerfälligen Kreaturen eigen ist, war die Karettschildkröte genau an dieser Stelle an Land gegangen und hatte ihre Wanderung aufs Festland begonnen.

Die Karettschildkröten, die im Norden oder im Süden dieser temporären Mauer an Land kamen, schlugen ihren vorprogrammierten Weg ein. Wenn gerade keine Woge über sie hinwegspülte, hörte Anna den Jubel der Ranger, der freiwilligen Helfer und Forscher, die den Beginn eines neuen Lebenszyklus dieser vom Aussterben bedrohten Art feierten.

Vor einer Stunde war Anna zum Schildkröten-Hebammendienst eingeteilt worden und hatte in aller Eile einen Schnellkurs über die Fortpflanzungsgewohnheiten der Karettschildkröten erhalten. Unter idealen Bedingungen krochen die Schildkröten so weit über den Strand, bis sie sich außerhalb der Flutlinie befanden, gruben sich dort ein Nest, legten ihre Eier, verbuddelten sie darin und begaben sich danach wieder ins Meer – ohne je einen Blick zurückzuwerfen. Erst vier oder fünf Jahre später spürten sie von neuem den Drang sich fortzupflanzen.

Die Schildkröte, mit der Anna momentan in der tosenden Brandung ihren seltsamen Tanz aufführte, kam über den Sandwall nicht hinweg und vergeudete ihre Kraft, indem sie es trotzdem versuchte. Allmählich setzte die Erschöpfung ein, und ihre Anstrengungen ließen nach.

»Ach du Scheiße, sie legt die Eier ab! Gib mir deine Mütze, schnell!« erklang eine barsche Stimme an Annas Ohr, und gleichzeitig stieg ihr ein Schwall übelriechender Luft in die Nase. Einen Augenblick dachte Anna, sie hätte das Gesicht zu nahe ans Ostende der nach Westen strebenden Schildkröte gehalten. Als ihr klar wurde, daß es sich um Marty Schlessingers schlechten Atem handelte, glaubte sie fast das Gerücht, daß der Biologe sich von überfahrenen Tieren ernährte.

Der Atlantik zog sich zurück, und das ganze Gewicht der Schildkröte lastete wieder auf Annas und Martys Armen. »Tu ihr bloß nicht weh«, warnte Schlessinger, und Anna merkte, wie sich die kleinen Muskeln in ihrem Kreuz unter Protest anspannten.

»Guter Tip«, brummte sie, stemmte die Unterarme auf die Schenkel, drückte die Schulter gegen den Panzer und legte sich ins Zeug.

Als die Wellen sich zurückzogen, wirkte einen Moment lang alles ganz friedlich; der Mond erschien über dem Horizont und zauberte einen Silberstreif über den Ozean und den Rücken der Schildkröte, direkt unter Annas Kinn.

Im klaren Mondlicht konnte sie Marty Schlessingers schmales Gesicht deutlich ausmachen, nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Man sah ihm die vierunddreißig Jahre Strandleben an: resolute Falten an beiden Seiten eines kompromißlosen Mundes, lange, strähnige Haare, zu Zöpfen zusammengebunden wie Willie Nelson in seinen besten Zeiten.

Der zurückkehrende Ozean zwang Anna auf die Knie. Ihr Schenkel war eingekeilt vom Schildkrötenpanzer, die Flosse drückte hart gegen die Außenseite ihres Beins.

»Die Mütze, die Mütze, die Mütze«, knurrte Schlessinger.

Anna riß sich ihre Baseballkappe vom Kopf und drückte sie dem Biologen in die Hand.

»Halt sie fest«, befahl Schlessinger.

»Herr des Himmels!« stieß Anna hervor, als er die Schildkröte losließ, um die Eier einzusammeln.

Anders als bei vielen anderen Meeresschildkröten war die Legemaschinerie bei den Karettschildkröten unter dem hinteren Teil des Panzers verborgen, weshalb Anna die Eier nicht sehen konnte. Doch dem ekstatischen Stöhnen nach zu urteilen, das aus Richtung des Biologen ertönte, lohnte sich die Anstrengung zumindest.

»Nein!« schrie er plötzlich auf. Das Entsetzen in seiner Stimme erinnerte Anna auf höchst unwillkommene Weise daran, daß die Küste von Georgia auch die Brutstätte des großen weißen Hais war.

»Was denn?« wollte sie wissen.

»Wir haben ein Baby verloren.«

Anna war erleichtert, aber klug genug, es nicht zu zeigen. Schlessinger war garantiert weniger betroffen, wenn ein Ranger ein Bein verlor, als wenn er einen Karettschildkrötenembryo verlor.

Minuten verstrichen. Welle auf Welle donnerte Anna in den Rücken, Sand knirschte zwischen ihren Zähnen, Salz verklebte ihr die Augen. Der Schmerz in Arm- und Schultermuskeln war erst einem puddingweichen Gefühl und jetzt einem ständigen qualvollen Pochen gewichen. Jede Illusion von Spannung und Abenteuer war längst verflogen.

»Das ist ganz schön anstrengend«, knurrte sie.

»Ruhe«, fuhr ihr Marty über den Mund.

Anna klemmte das Knie noch fester unter den Panzer und begann langsam von hundert rückwärts zu zählen. Wenn sie bei Null angekommen war, mußten Marty und die kleinen Schildkröten zusehen, wie sie allein zurechtkamen, beschloß sie.

Null kam und ging, aber Anna blieb. Die Zahlen verschwammen. »Ich kann wirklich gleich nicht mehr«, sagte sie.

»Bleib dran.«

Zu gern hätte Anna etwas Schnippisches erwidert, aber sie hatte nicht die Energie.

Eine Welle rauschte zwischen ihren Knien durch und hob die Schildkröte etwas an, so daß ihre Schultern sich eine kleine Verschnaufpause gönnen konnten. Als das Wasser sich zurückzog und Anna wieder das volle Gewicht zu spüren bekam, schrie sie unwillkürlich auf.

»Halt das Tier gefälligst still«, fauchte Schlessinger sie an.

Anna tat, was sie konnte. »Im nächsten Leben werde ich größer«, zischte sie zurück.

»Ruhe«, sagte Schlessinger und dann: »Okay, das war's anscheinend. Du kannst sie runterlassen. Aber langsam, ganz langsam.«

Annas Muskeln verweigerten den Dienst. »Ich kann nicht«, sagte sie schließlich.

»Herrgott noch mal.« Bei der nächsten Welle holte Schlessinger die Schildkröte vorsichtig von dem Dreifuß herunter, in den Anna sich verwandelt hatte. »Dann halt wenigstens das hier.« Der Biologe reichte Anna ihre National-Park-Service-Mütze. Darin lagen lauter ledrige Kugeln, etwas größer als Golfbälle. »Vorsicht«, warnte er, als Anna ihre steifen Arme ausstreckte, um sie in Empfang zu nehmen. »Ich hab sie gezählt.«

Die Drohung war unmißverständlich. Marty wußte, wie viele Eier gelegt worden waren. Sollte eines davon nach Annas Schicht fehlen, war garantiert der Teufel los.

Also hielt Anna die Kappe fest, als wäre sie der heilige Gral.

Allerlei gute Ratschläge murmelnd, drehte der Biologe die mächtige Schildkröte zurück in Richtung Meer und blickte ihrem schimmernden Panzer nach, bis der Ozean ihn verschluckt hatte. »So, jetzt ist aber Schluß mit lustig«, sagte er dann barsch. »Zeit, daß wir uns an die Arbeit machen.«

Seltsamerweise fühlte Anna sich richtig erfrischt. Wahrscheinlich übertrug sich die Magie der Schildkröteneier auf ihre müden Kochen. Der gloriose Kampf der Schildkröte und Annas Beteiligung daran vermittelten ein Erfolgserlebnis und linderten die Schmerzen in Rücken und Beinen. Bei jedem Schritt schwappte Wasser aus ihren Schuhen, ihre Klamotten tropften, und so folgte sie Marty Schlessinger über den dunklen Strand.

Direkt über der Flutlinie blieb Schlessinger stehen, verschränkte die Arme vor dem schmalen Brustkorb und blickte prüfend über die Dünen, hinter denen sich das Dickicht aus Eichen und Fächerpalmen ausbreitete, die das Innere der Insel überwucherten.

Inzwischen war der Dreiviertelmond ein ganzes Stück am Himmel emporgestiegen und ergoß sein Licht über den Sand. Jeder Zweig, jeder Grashalm zeigte eine Seite mit unnatürlicher Klarheit, während die andere in tiefer Finsternis versank. Wie eine unregelmäßige Mauer aus Kiefern und immergrünen Eichen erhob sich der Urwald, eine düstere Silhouette vor dem schwachen Licht, das vom Festland herüberdrang.

»Das reicht«, meinte Schlessinger. Er ließ sich auf alle viere fallen und begann zu graben wie ein Hund, der einem besonders schmackhaften Knochen auf der Spur ist. Erst spritzte trockener, dann klumpignasser Sand zwischen seinen dünnen Bein hindurch auf Annas Schuhe.

Mit einer Schaufel wäre es wesentlich schneller gegangen. Anna konnte nicht beurteilen, ob Schlessinger nicht über das entsprechende Werkzeug verfügte oder ob er einfach Purist und ein bißchen fanatisch war. Allerdings hatte sie den Verdacht, daß eher letztes zutraf.

Anna war erst eine Woche auf Cumberland Island und wußte schon alles über den Meeresbiologen Schlessinger. Genauer gesagt: Sie hatte den ganzen Tratsch über ihn gehört. Heute abend hatte sie ihm zum erstenmal leibhaftig gegenübergestanden, obgleich man ihr gleich am ersten Tag nach ihrer Ankunft die Hütte aus Teerpappe, die Schlessinger sein Heim nannte, zusammen mit den anderen Sehenswürdigkeiten vorgeführt hatte.

Für die Einwohner von Cumberland hatte Marty Schlessinger den Status eines Hexenmeisters oder eines irren Wissenschaftlers. Mit Mitte Dreißig lebte er in einem verfallenen Haus, das er geerbt hatte, als seine Frau – Tochter eines der ursprünglichen Landbesitzer von Cumberland – vor fünf Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war.

Schlessingers bizarrer Ruf war durchaus nicht unverdient. In seinem Dunstkreis tauchten mit ekelerregender Regelmäßigkeit Schildkrötenleichen ohne Kopf und die verstümmelten Leichen aller möglicher anderer Tiere auf, die auf dem rudimentären Straßennetz der Insel ums Leben gekommen waren.

Die Karettschildkröten wurden vollkommen intakt an den Strand gespült, das hatte Anna mit eigenen Augen gesehen. Garnelenfischer gingen weiter draußen ihren Geschäften nach, Schildkröten wurden in Netzen gefangen und ertranken. Vermutlich holte sich Schlessinger Schädel und Gehirn, um sie zu sezieren und zu untersuchen.

Die zerstückelten Verkehrsopfer waren schwieriger zu erklären. Vielleicht aß Schlessinger sie tatsächlich. Hinter seinem Haus hatte Anna einen Schweinekoben entdeckt. Vielleicht lebten ja dort die wahren Nutznießer.

Unterschiedlich morbide und glaubwürdige Gerüchte rankten sich um diese beiden sonderbaren Gewohnheiten. Anna wünschte sich, daß zumindest ein Gerücht stimmte, nämlich, daß Schlessinger die vollgesogenen Zecken von den Leichen der Tiere entfernt und aß. »Er knuspert sie wie M & Ms«, hatte Guy Marshall, der Truppführer dieser Unternehmung, ihr versichert. Das hätte sie zu gern mal gesehen. Der Aspekt geradezu poetischer Gerechtigkeit hatte etwas Prickelndes.

Mit seiner Verschrobenheit paßte Schlessinger genau ins Bild der Cumberland Island National Seashore. Früher war Cumberland ein Urlaubsgebiet für die Besserverdienenden gewesen und hatte sich bis 1970 ausschließlich in Privatbesitz befunden. In den letzten fünfzig Jahren waren die feineren Millionäre jedoch an bessere Adressen abgewandert, so daß nur eine Handvoll begüterter und einflußreicher Familien zurückgeblieben waren. Doch der Geist jener ruhmreichen Tage schwebte noch über den halb verfallenen Villen und ausgebrannten Ruinen.

In den frühen siebziger Jahren gingen neuntausend der zehntausend Hektar in den Besitz der Bundesregierung über, die Cumberland als Nationalpark erhalten sollte. Weniger wohlmeinende Zungen meinten, das Land sei hauptsächlich deshalb an den National Park Service gegangen, weil man verhindern wollte, daß der Pöbel die Parzellen aufkaufte, die den Reichen steuerlich zur Last geworden waren, und nicht, um die »Landschaft in ihrer natürlichen und historischen Besonderheit samt ihrem Tier- und Pflanzenreich zu erhalten.«

Dieselben Zyniker vertraten auch die These, daß die Brandbekämpfungstruppe, zu der Anna gehörte, auf Cumberland untergebracht worden war, um die verbliebenen Privilegierten zu beschwichtigen, die zu verschiedenen Kongreßabgeordneten Beziehungen sozialer oder finanzieller Natur pflegten.

Auf Cumberland herrschte momentan extreme Trockenheit. Wenn die Palmen, die einen Großteil der Insel bedeckten, in Brand gerieten, würde sich das Feuer im Nu ausbreiten, denn das trockene Zeug brannte wie Zunder. Natürlich gab es das Argument, daß die Natur von einem Waldbrand profitieren würde, aber die Palmen wuchsen bis direkt vor einige recht einflußreiche Türschwellen.

Doch egal, was dahintersteckte – die Brandbekämpfer vom National Park Service waren seit zehn Wochen als prophylaktische Maßnahme hier stationiert. Zwölf Stunden pro Tag, sieben Tage pro Woche, nach einem Rotationssystem von jeweils drei Wochen, häuften sie Überstunden und klapperten mit ihren schweren Stiefeln oder in zwei vorsintflutlichen Löschfahrzeugen die Gegend ab, weil ja immerhin die – wenn auch äußerst geringe – Wahrscheinlichkeit bestand, daß irgendwo irgend etwas passierte.

Bisher war der Höhepunkt der Spannung ein andauernder chemischer Kleinkrieg mit Cumberlands angriffslustiger Zeckenpopulation, sowie die Entdeckung von vierzehn Baby-Alligatoren, die im Sumpf bei ihrer höchst imposanten Mutter lebten, von den Einheimischen Maggie-Mary genannt. Da Maggie seit Jahren nicht mehr gesichtet worden war, hatten sich um ihre Länge und ihren Umfang Legenden gebildet, die vermutlich mit der Wirklichkeit nicht mehr viel gemein hatten.

Und heute nacht nun die Karettschildkröten. Marty zufolge legten sie ihre Eier zwischen Mai und August. Gewöhnlich kamen sie bei Dunkelheit an den Strand, meist mit der Flut. Nach etwa acht Wochen schlüpften die Jungen, bahnten sich einen Weg aus ihren schützenden Nestgruben und gelangten – mit etwas Glück und Marty Schlessingers tatkräftiger Unterstützung – schließlich zum Atlantischen Ozean.

Jedes neue Nest wurde registriert, geschützt und zeitlich festgehalten. In neun Tagen sollten die nächsten Schildkröten schlüpfen – diese Information war Marty in einem seltenen Moment der Unachtsamkeit entschlüpft, und Anna hatte sich natürlich gleich darauf gestürzt. Wenn die kleinen Babyschildkröten sich zu ihrer gefährlichen Reise ins Meer aufmachten, wollte sie unbedingt dabeisein.

»Eier!« erscholl das barsche Kommando, und Anna wurde unsanft aus ihrer Grübelei gerissen. Sie ließ sich auf ein Knie nieder und präsentierte Marty die Mütze mit einer unbeabsichtigt ritterlichen Geste.

Eines nach dem anderen holte der Biologe die kostbaren Schildkröteneier heraus und legte sie in den Sand. Als die insgesamt 147 Eier zu seiner Zufriedenheit plaziert waren, befahl er Anna zurückzutreten. Mit allergrößter Sorgfalt füllte er die Grube wieder auf und klopfte den Sand behutsam fest. Dann ließ er sich zu Annas Erstaunen auf alle viere nieder und fing an, mit Unterarmen und Schienbeinen hektisch Bogen durch den Sand zu ziehen.

Nach einer halben Minute stand er auf, klopfte sich den Sand von der Hose und sah wieder ganz vernünftig aus. »Karettschildkröten sind nicht heikel«, erklärte sie, »sie schlurfen mit ihren Flossen über das Nest, aber sie haben anscheinend nicht das Bedürfnis, es ordentlich zu tarnen.«

Damit gab er Anna ihre Baseballkappe zurück. Zerstreut setzte sie sich auf, und augenblicklich rann ihr ein unangenehmes Gemisch aus Wasser und Schildkrötenschleim den Nacken hinunter.

Überall auf dem Strand – gegen den hellen Sand deutlich sichtbar – bewegten sich inzwischen die mächtigen Gestalten der Karettschildkröten verblüffend graziös zurück zum Wasser. In kleinen Gruppen standen ihre selbsternannten menschlichen Schutzengel im Dunkel und jubelten ihnen zu.

»Ruhe!« schimpfte Marty.

»Stört der Lärm die Schildkröten?« erkundigte sich Anna.

»Selbstverständlich«, fauchte er.

Soweit Anna es beurteilen konnte, empfanden die phlegmatischen Reptilien kaum etwas als Bedrohung – vielleicht abgesehen von einem Hai mit einem Megaphon. Trotzdem jubelte sie nur im stillen, um Schlessinger nicht zu verärgern.

»Hättest du vielleicht Lust, auf ein Bier zum Feuerwehrwohnheim mitzukommen?« fragte Anna aus einem spontanen Impuls heraus.

»Ich rühr das Zeug nicht an«, erwiderte Schlessinger. »Ich auch nicht«, sagte Anna, neugierig, ob sich das immer noch wie eine Lüge anfühlte.

»Alkoholikerin in der Rekonvaleszenzphase?«

Anna antwortete nicht.

»Das ist doch Blödsinn«, verkündete der Biologe. »Ich trinke nicht, weil ich so was nicht brauche.«

Jetzt verflüchtigte sich auch das letzte bißchen von dem diffusen Verbundenheitsgefühl, das die Schildkröten heraufbeschworen hatten.

Marty Schlessinger drehte sich um und marschierte auf die dunkle Palmenmauer zu. Anna begleitete ihn, da sie das gleiche Ziel hatte. Auf ihrer täglichen Runden fuhren die Brandbekämpfer ihre Trucks normalerweise in einer Richtung den Strand hinunter und blieben beim Rückweg auf den ungeteerten Straßen im Innern der Insel. Den Schildkröten zuliebe beschränkte man alle Nachtfahrten auf Inlandstouren. Eine Strecke endete in einem sandigen Sporn eine Viertelmeile nördlich von der Stelle, auf die sich das Eierlegen konzentrierte.

Freiwillige, Ranger und der Rest des Feuerwehrtrupps strebten bereits zu den geparkten Fahrzeugen, als Anna und Marty zu ihnen stießen. Schlessinger begann, Kisten, einen Besen und zwei ziemlich neue Schaufeln auf der Ladefläche seines verbeulten Geländetrucks herumschieben, mit dem er sich auf der Insel umherbewegte.

Plötzlich übertönte ein durchdringendes, aber durchaus ansteckendes Gelächter alle anderen Geräusche, was von Schlessinger mit einem Knurren beantwortet wurde, oder zumindest fand Anna, daß der Laut bei einem Tier ohne Zähne und Krallen einem Knurren sehr nahe kam.

»Der Mann steht auf meiner schwarzen Liste«, bemerkte Marty Schlessinger. »Mitch Hanson hat hier genausowenig verloren wie Hitler bei einem Bar-Mizwa.«

»Vielleicht mag er Schildkröten«, entgegnete Anna, nur um zu sehen, was für eine Reaktion sie damit heraufbeschwor.

Schlessinger schnaubte, und Anna war beeindruckt von der Bandbreite lebensechter Tiergeräusche, die er beherrschte. »Haha, sagte Marty, als müßte er das Schnauben für sie übersetzen. »Vielleicht hat er gedacht, wir servieren hier Jack Daniels.« Er stieß seine Schaufel in den Sand, und der Stiel vibrierte wie der Schaft einer Harpune.

Einige Sekunden sah Anna zu, wie der Biologe mit seiner Ausrüstung hantierte. In nassen, hellbraunen Strähnen klatschten die dünnen Zöpfe gegen seine bloßen Arme, und er gab leise Brutumlaute von sich, als führte er eine hitzige Debatte mit unsichtbaren Wesen seiner Gattung.

Anna lehnte sich an die Kühlerhaube eines verrosteten grünen Truck, die sie von ihrer Vorgängertruppe geerbt hatten. Neben dem Salzgeruch des Meers und dem fruchtbaren Aroma des Dschungels stieg ihr ein unangenehm süßlicher Geruch in die Nase.

Ihre Taschenlampe lag auf dem Sitz; Anna holte sie und ließ den gelblichen Lichtstrahl über den Boden schweifen, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Halb von der Straße geschubst, ein paar Meter von Marty Schlessingers Hinterrädern entfernt, lagen die Überreste eines jungen Waschbären. Nach seinem Äußeren zu urteilen, was er noch nicht lange tot, denn es hatten sich noch keine Aasfresser an seine Eingeweide gemacht. Ob das Tier angefahren worden oder eines natürlichen Todes gestorben war, konnte Anna nicht feststellen. Demonstrativ ließ sie den Lichtstrahl ein paarmal über den kleinen Kadaver wandern, aber Schlessinger würdigte ihn keines Blickes.

Jetzt näherten sich die anderen. Schlessinger ließ seinen Geländewagen an, und Motorenlärm durchbrach die nächtliche Stille.

Anna seufzte und knipste die Taschenlampe aus. Anscheinend wollte Marty seine Ernährung heute abend auf eine knackige Zecke beschränken. Sie zuckte mit den Schultern. Es war immer gut, wenn man sich auf etwas freuen konnte.

Kapitel 2

Guy Marshal, ein Mann Ende Vierzig mit einem faltenreichen Gesicht, einem kläglichen Überrest von Haaren auf dem Kopf und dem schlanken, durchtrainierten Körperbau eines Rodeo-Cowboys kam gemächlich über den Strand. Der Mond schimmerte auf seiner Glatze und warf einen dunklen Schatten über seine Augen.

Anna und der Rest der Crew hatten für den besonderen Anlaß leichte Klamotten und Turnschuhe angezogen. Marshal trug die reguläre Brandbekämpferausrüstung: zitronengelbes Hemd, olivfarbene Hose aus feuerfestem Nomex und schwere Schnürstiefel mit dicken Profilsohlen. Weil er sich im Lauf der Jahre so an sie gewöhnt hatte, fand er sie inzwischen wahrscheinlich bequem.

Marshall war der Truppführer der reduzierten Feuerwache, bestehend aus Anna und drei Männern: einer von den Gulf Islands, einer aus Cape Hatteras und einer aus dem Natchez Trace Parkway. Feuertrupps wurden aus einem Pool von Rangern mit roter Karte zusammengestellt – Leute mit dem entsprechenden Training, die auch noch die körperliche Eignungsprüfung schafften. Die Aufforderung ging an alle Nationalparks. Die District Ranger schickten die Leute, die sie am ehesten entbehren konnten – beziehungsweise diejenigen, denen sie einen Gefallen schuldeten oder die am lautesten schrien. Brandkommandos waren sehr begehrt, vor allem, wenn sie so gemütlich waren wie die jetzige Aktion auf Cumberland Island. Einundzwanzig Tage à zwölf Stunden mit dem anderthalbfachen Lohn für Überstunden, werteten den regulären Gehaltsscheck ganz ordentlich auf.

Der Truppführer legte ein Bein über den Sitz des Geländewagens, den er für sich beanspruchte, und spuckte einen Strahl Tabaksaft in den Sand. Im Mondlicht sah das Resultat aus wie ein Tintenklecks auf weißem Papier.

Ein Seehund, der einen Ball auf der Nase balanciert, dachte Anna, während sie sich den Fleck näher ansah, der sie an ein Rorschachbild erinnerte. Sie nahm sich vor, ihre Schwester beim nächsten Telefongespräch zu fragen, auf welche Art von Wahnsinn das hindeutete.

Vom Strand hörte man Gelächter; das kehlige Lachen der Dolmetscherin, einer Frau, die auf der Insel wohnte, dann das Bellen eines Mitglieds des Feuertrupps und das ansteckende Dröhnen, das Marty Schlessinger so auf die Palme gebracht hatte.

»Die sind schon ein irrer Verein«, meinte Guy gutmütig und spuckte erneut und ebenso akkurat übers Lenkrad. »Ein paar Schildkröten beim Eierlegen, und schon sind sie dermaßen in Hochstimmung, als hätten wir den vierten Juli. Zum Glück sind sie nicht auf einem Hühnerhof, da würden sie wahrscheinlich denken, sie wären im Paradies. Aber so was gibt's ja bekanntlich in allen Berufssparten. Man braucht sich ja bloß mal die Museumskuratoren anzusehen, davon gibt's beim Park Service 'ne ganze Reihe. Was machen die zum Beispiel? Sitzen rum und sehen zu, wie irgendwelches altes Zeug noch älter wird.«

Wir hätten im Quartier bleiben und Belagerungszustand II anschauen können«, murmelte Anna. Auf der Insel waren genau zwei verschiedene Videos erhältlich:

Belagerungszustand II und Feuerwetter: Der Standpunkt des Meteorologen.

»Wie ich immer so gern sage: Schildkröten sind verdammt unterhaltsam«, sagte Guy gedehnt.

Was von Marshalls Haar übriggeblieben war, bildete ein hufeisenförmiges Band kurzer grauer Stoppeln von einem Ohr zum anderen. Jetzt zog er einen Kamm aus der Tasche und striegelte damit sorgfältig Seiten und Hinterkopf. »Ich versetze mich zurück in die glorreichen Zeiten meines Lebens«, erklärte er, als er merkte, daß Anna ihn beobachtete.

Ein, zwei Minuten warteten sie schweigend, bis die anderen über die Dünen gekommen waren. Taschenlampen hatte Schlessinger strikt verboten. Licht machte die Schildkröten orientierungslos, nicht nur, wenn sie an Land kamen, sondern vor allem auch die Jungen, wenn sie schlüpften. Der Theorie nach hatte der Mensch das Feuer noch nicht entdeckt, als die Spezies der Schildkröten noch jung war – von der Elektrizität ganz zu schweigen. Die Temperatur diktierte den Jungen, bei Nacht aus ihren sandigen Brutkästen zu kriechen. Ihrem Instinkt folgend, machten sie sich auf zum Licht am Horizont: zu den Sternen über dem Meer, das ihre Heimat werden würde.

Durch elektrische Lichtquellen, vor allem die in den Wohnhäusern am Strand, gerieten Babyschildkröten oft in Verwirrung, krochen landeinwärts und gingen dort jämmerlich zugrunde.

Momentan machte das Mondlicht Taschenlampen sowieso unnötig, und Anna genoß die milde Sommernacht in vollen Zügen. Es war jetzt zehn Uhr abends und immer noch um die fünfundzwanzig Grad. Trotz der Trockenheit war die Luft feucht; Annas Fingernägel wuchsen schneller als üblich, ihre Haare kräuselten sich. Nach so langer Zeit im Mesa Verde National Park im Süden von Colorado fühlte sie sich wie eine Rosine, die sich langsam, aber sicher in eine Weintraube zurückverwandelte.

In der Nähe des Meers ging immer eine leichte Brise, die ausreichte, um den Schweiß zu kühlen und die Luft in Bewegung zu bringen. Der Windhauch spielte mit den zundertrockenen Blättern der immergrünen Eichen und brachte sie zum Rascheln – ein hübscher Kontrapunkt zu dem Rauschen der Wellen am Strand.

Die offene Fläche zwischen Wald und Wasser gefiel Anna. Wie in der Weite des Südwestens konnte das Auge in die Ferne schweifen und die Seele sich in den unendlichen Raum gleiten lassen. Im dichten Wald fiel ihr oft das Atmen schwer. Dort stand die Luft fast vollständig still, und die Geräusche erinnerten sie an die Zecken, die sich von den Pflanzen fallen ließen, stets auf der Suche nach neuen Gastgebern mit besser gefüllten Speisekammern.

Nun hatte Dijon Smith seinen Auftritt; er lachte wie der Held einer Gesellschaftskomödie. »Uuuii, ich wollte, ich wäre so mutig wie eine Gespensterkrabbe«, stöhnte er. »Diese kleinen Mistviecher haben wirklich vor gar nichts Angst.« Anna wußte genau, was er meinte. Die kleinen Schalentiere, nicht größer als fünfundzwanzig Zentimeter von Schere zu Schere, stellten sich vor den Eineinhalbtonner-Löschfahrzeugen drohend auf die Hinterbeine, wenn sie ihnen am Strand begegneten, und forderten sie zum Kampf heraus.

Dijons dunkle Haut absorbierte das Mondlicht, so daß er wie ein Schatten aussah. Man sah nur das Weiße in seinen Augen und seine blitzenden Zähne – ein Klischee, das Anna niemals laut ausgesprochen hätte.

Dijon war zweiundzwanzig – mit fast zehn Jahren Abstand der Jüngste der Gruppe. Gelegentlich beklagte er sich im Spaß darüber, daß er in einem Pflegeheim für alternde Brandbekämpfer gelandet sei. Jetzt sprang er hoch, packte einen der ausladenden Äste einer immergrünen Eiche und zog sich mit irritierender Mühelosigkeit daran empor.

»Damit schüttelst du bloß die Zecken auf dich runter«, warnte Guy.

»Scheiße! Echt?« Dijon ließ los und klopfte sich hektisch Schultern und Arme ab. »Sag doch so was nicht, Mann. Ich hasse diese kleinen verfi...« – er warf einen Blick zu Anna. »... diese verflixten kleinen Mistviecher.«

»Die erkennen die Körperwärme wie Raketen mit temperaturempfindlichen Sprengköpfen«, erklärte der Truppführer. »Man braucht bloß ihren Baum zu schütteln, schon stürzen sie sich auf einen.«

»Zecken, igitt.« Dijon schauderte und vollführte ein Tänzchen, das entweder die Insekten abschütteln oder beifälliges Gelächter provozieren sollte. Bei Dijon Smith war das schwer zu sagen. Er beugte sich vor und fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen Haare.

»He, ich will die Mistviecher auch nicht haben!« rief Anna und sprang einen Schritt zurück. Dijons Vorführung war so echt, daß Anna die kleinen blutsaugenden Monster schon auf sich herumkrabbeln fühlte.

Marshal ließ sich im Autositz zurücksinken, die Füße über der Lenkstange, den Rücken an seinen Tagesrucksack gelehnt. Guy hatte ein ausgeprägtes Talent, überall ein bequemes Plätzchen zu finden – für einen Brandbekämpfer auf freier Wildbahn eine höchst erstrebenswerte Begabung. Na, sind eure Eier alle gelegt?« erkundigte er sich.

»Meine Eier verkümmern auf dieser Insel total«, erwiderte Dijon. »Allmählich finde ich sogar die Schildkröten verführerisch. Ich muß hier raus, ich gehe ein ohne Sex und Pizza. Der Sand und die Brandung und die Zecken bringen mich noch um meinen verfi...« – wieder der Blick zu Anna – »... bringen mich komplett um den Verstand.«

Anna grinste in der Dunkelheit. So deplaziert Dijons Rücksichtnahme auch war, sie wußte sie zu schätzen und achtete in Smiths Gegenwart ebenfalls auf ihre Wortwahl.

Nun kamen auch Al Magnus, Rick Spencer, Mitch Hanson und Lynette Wagner vom Strand zurück. Scheinwerfer und Motorenlärm durchbrachen die nächtliche Stille. Anna schnallte sich auf der Sitzbank des Löschtrucks an. Hanson war in seinem Dienstwagen gekommen, Lynette fuhr mit Dijon und Rick in einem zweiten Truck, der ebenso klapprig war wie der, den Anna und mit Al teilte.

Magnus war ein kleiner, stämmiger Mann in den Dreißigern, verströmte aber die alterslose Reife eines hingebungsvollen Familienvaters. Während der Geländewagen und der Truck durch die Nacht brummten, kratzte Al seine Pfeife aus und klopfte sie gegen die Fahrzeugwand. Seine Kleider rochen nach Meer und kaltem Tabak, was die Fahrerkabine so heimelig wirken ließ wie ein rustikales Wohnzimmer.

»Schließlich will ich ja keinen Staub fressen«, erklärte er. Dann begann er die Pfeife frisch zu stopfen.

»Wer ist eigentlich dieser Mitch Hanson?« erkundigte sich Anna beiläufig. »Marty hat sich total aufgeregt, daß Mitch nicht nur die Frechheit besitzt zu existieren, sondern auch noch die Unverschämtheit, es in seiner Nähe zu tun.«

Al beendete den Stopfvorgang und vertiefte sich in das recht langwierige Ritual des Anzündens, ehe er antwortete. Die Sucht nach Pfeifentabak verlieh dem Raucher eine gänzlich unverdiente Aura tiefgründiger, bedächtiger Weisheit. Als die Pfeife richtig zog, erklärte Al: »Mitch ist kein übler Kerl. Er ist Bulldozerfahrer beim Wartungsteam und kümmert sich darum, daß die Straßen in passierbarem Zustand sind. Ein in die Jahre gekommener Partyboy. Doppelverdiener. Mehr oder weniger im Ruhestand, aber immer noch auf der Gehaltsliste. Vielleicht ärgert sich Marty deshalb so über ihn.«

Anna nickte, obwohl ihr Gesprächspartner das in der Dunkelheit natürlich nicht sehen konnte. Im Staatsdienst gab es immer wieder pensionierte Militärangehörige, die ihre volle Pension plus Gehalt kassierten. Diejenigen, die tatsächlich arbeiteten, machten ihre Kollegen neidisch. Aber den Trittbrettfahrern begegnete man allgemein mit Haß und Argwohn.

Anscheinend gehörte Hanson zur letzteren Kategorie. Anna hatte gesehen, wie er die Straßen im Innern der Insel planierte. Genaugenommen hatte sie nur seinen Bulldozer gesehen. Hanson selbst war entweder nicht auffindbar, oder er hing im Schatten herum und tratschte mit den Einheimischen. Dem Aussehen nach war er etwa fünfzig. Sein Bauch bestätigte das Bild des alternden Partylöwen – dreißig Pfund Übergewicht polsterten Gesicht und Taille.

Inzwischen waren die anderen Fahrzeuge verschwunden, nur noch von ferne hörte man Motorengeräusch. Al drehte den Zündschlüssel und ließ den Truck an. Im Innern der Insel waren die Straßen schmal, die Fächerpalmen standen dicht an dicht. Zweige scharrten über die Seiten des Wagens, und Anna kurbelte trotz der Schwüle die Fenster hoch. Ohne Licht hatte sie keine Chance, den Kratzern und Peitschenhieben auszuweichen.

Die Straße war holprig und von tiefen Spurrillen durchzogen, dort, wo das Regenwasser aus dem Inselinneren zum Meer hin abfloß. Diese Hindernisse hatten auf Magnus jedoch keinerlei Effekt, und er brauste mit halsbrecherischen dreißig Meilen pro Stunde dahin. Im Licht der Scheinwerfer rollte sich der Weg vor ihnen aus, ein gewundenes weißes Band durch einen grünen Tunnel. Anna mußte an »Mr. Toad's Wild Ride« in Disneyland denken, zog ihren Sicherheitsgurt so eng wie möglich und stemmte beide Füße fest gegen das Armaturenbrett.

»Wie bist du mit Marty Schlessinger zurechtgekommen?« brüllte Al, um den Lärm des Trucks zu übertönen. »Hat er dich zum Essen eingeladen?«

»Nein. Ich hab ihn eingeladen mitzukommen, aber er war nicht in der Stimmung, die niederen Gefilde aufzusuchen.

»Schade. Jimmy hat mir eine Liste mit Fragen gegeben, die ich ihm stellen soll.« Jimmy war Als achtjähriger Sohn. Sie telefonierten fast jeden Abend miteinander. In dem kleinen Bürogebäude etwa eine Meile vom Wohnheim entfernt gab es ein Telefon, zu dem die Mitglieder des Feuertrupps Zutritt hatten, aber Anna und Al waren offenbar die einzigen, die jemanden zum Anrufen hatten. An den meisten Abenden warfen sie eine Münze, wer zuerst dran war.

Unter den Nomaden des Park Service gab es zwei verschiedene Grundtypen: Diejenigen, die jedes neue Abenteuer aus vollem Herzen begrüßten, mit denen schliefen, die gerade da waren, das aßen, was man ihnen vorsetzte, und alles tranken, was sich ihnen an Berauschendem bot. Auf der anderen Seite gab es die mit einer starken Bindung an zu Hause – einer Bindung, die in den meisten Fällen mit einer Telefonschnur aufrechterhalten wurde. Ein Faktor war das Alter – die Jungen waren liberal, weil sie noch nichts hatten, was sich zu konservieren lohnte – aber auch frischgebackene Singles und überzeugte Junggesellen gehörten in diese Kategorie.

Inzwischen übertönte das Gerappel von verrostetem Metall selbst Als Basso profundo, und Anna widmete sich einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen – sie sah zu, wie die Welt vorüberzog. In grünen und schwarzen Mustern, alle Farben unnatürlich grell im Scheinwerferlicht, so flackerte der Dschungel vorbei, ein trockener Dschungel, ohne feste Verankerung im Boden. Es gab nur eine dünne, sandige Erdschicht; Cumberland wurde häufig Opfer von Hurrikanen, die alles platt fegten oder die Insel so überschwemmten, daß plötzlich ein Kanal sie in zwei Hälften teilte. Die Pflanzen wucherten aus dem rauhen Boden, bildeten undurchdringliche Dickichte und kämpften um Licht und Luft unter den ausladenden Eichen, die einem ganzen Jahrhundert von Stürmen getrotzt hätten.

Gelegentlich überraschte das Scheinwerferlicht eine der Nachtkreaturen. Zwei Babywaschbären klammerten sich auf halber Höhe an eine Palme, reglos wie gemalt. Al rauschte in einer Staubwolke an ihnen vorüber, ohne etwas zu merken, und Anna konnte nur hoffen, daß die Erschütterung die Kleinen nicht zu Boden riß. Eine Sau und drei Ferkel rannten schutzsuchend unter die Fächerpalmen. Drei Rehe grasten auf einer Wiese im Zentrum der Insel, wo eine von der Drogenfahndung gemietete Beechcraft am Ende eines als Startbahn dienenden Dreckstreifens vertäut war.

Nur wenige Wiesen auf der Insel wurden gepflegt. Diese hier war die größte. Fast noch mehr als am Tag spürte Anna die Erleichterung, das bedrückende Blätterdach hinter sich zu lassen und endlich wieder unter freiem Himmel zu sein.

Das Mondlicht verwandelte die Rehe in Schattenrisse, das trockene Gras in gemasertem Marmor. Anders als die wildlebenden Schweine wurden Rehe auf Cumberland nicht gejagt. Diese hier blickten zwar auf, als der Truck vorüberbrettete, ließen sich aber nicht bei ihrer Mahlzeit stören.

Am Rand der Wiese, hinter einer Hütte, die gut als Hexenhaus für Hänsel und Gretel gepaßt hätte, lag Stafford House, eine der baufälligen Villen. Andrew Carnegie hatte sie für seine Tochter gebaut; hier waren Kutschen vorgefahren, und bei Kerzenschein hatte man echte Südstaaten-Gastfreundschaft gepflegt. Jetzt kämpfte dieses schöne alte Haus wie eine verarmte Adlige nur noch ums Überleben.

Im Innern gab es hölzerne Treppen, Wandleuchter, Parkettfußböden, Kassettendecken, alles wunderschöne Arbeit, deren Restauration – falls man entsprechende Fachleute überhaupt noch finden konnte – ein Vermögen kosten würde. Doch alles war vom Zahn der Zeit und vom allgegenwärtigen Schimmel bedroht. Der Park Service strampelte sich ab, um genügend Geld für den Kampf gegen den Verfall zusammenzukratzen, und entwarf Pläne, wie man den Glanz vergangener Tage zurückgewinnen könnte. Aber momentan stand das Haus leer und wirkte mit seinem eingesackten Dach und den bröckelnden Fundamenten regelrecht verletzlich.

Es war nicht der einzige wunderschöne Gigant der Insel. Anna war durch die meisten gewandert, eine angenehme Abwechslung zu der sonst vorherrschenden Monotonie.

Nostalgische Träume, Erinnerungen an nie gelebte Leben wohnten in den staubigen Hallen. Auf den Regalen standen noch Bücher, in den riesigen Kellergewölben vermoderten Möbel; Motten zerfraßen die Pelze, die in einem Kinderzimmer im Obergeschoß liegengeblieben waren. Überall gab es solche Relikte der Vergangenheit, und die einstmals wertvollen Dinge, von denen sich die Besitzer beim Weggehen achtlos getrennt hatten, strahlten eine seltsame Faszination aus.

Als sie das südliche Ende der Insel erreichten, gabelte sich die Straße in mehreren schlecht beschilderten Abzweigungen zu den verschiedenen NPS-Einrichtungen. Unbeirrbar wuselte sich Al zu der Straße durch, in der sie untergebracht waren. Rechts lagen mehrere Häuser und zwei Baracken, links befanden sich eine Autowerkstatt und eine Scheune. Weiter unten auf diese Miniatur-Hauptstraße scharten sich die Gebäude des Wartungsdiensts, alles Holzhäuser, vom Ozeanwind glattgeschleudert. Überall, wo es Metall gab – Türangeln, Nägel, Fensterriegel –, zeugten orangebraune Streifen von permanentem Rost.

Um elf Uhr abends war hier alles dunkel und verlassen, bis auf das Quartier des Feuertrupps. Durch die offene Tür fiel das Licht auf die Glasveranda. Hinter der allgegenwärtigen Reihe von Stiefeln, die auf Guys Anweisung draußen gelassen wurden, um die Wanderung der Dünen von draußen nach drinnen einzudämmen, sah Anna Leute, die auf metallenen Klappstühlen herumsaßen.

Lynette Wagner, Cumberlands GS-4 Dolmetscher-Rangerin, stand in der Tür, und das gelbe Licht ließ ihre schulterlange braune Dauerwelle rot schimmern. Ihr Lachen war wie ein Zwitschern über dem allgemeinen Stimmengemurmel. In ihrer Nähe waren zwei Schatten zu sehen – höchstwahrscheinlich Dijon und Rick, denn Lynette war immer von Männern umgeben. Sie war noch keine dreißig, alleinstehend, ziemlich attraktiv, aber es war mehr als körperliche Anziehungskraft: Irgendwie schaffte sie es, einerseits zu den Mädels und andererseits zu den Jungs zu gehören. Die Mischung aus Ausgelassenheit und Mütterlichkeit zog die Männer an wie der Honig die Fliegen. Alles, was das Herz begehrte, in einer Person – Mutter, Kumpel, Geliebte.

Soweit Anna es beurteilen konnte, steckte keine Berechnung dahinter – so war Lynette eben –, und sie fand Lynettes Anwesenheit ebenso angenehm wie die Männer, wenn auch vielleicht aus anderen Gründen.

Auf den Stühlen saßen der District Ranger und seine geradezu alarmierend hochschwangere Frau. Todd Belfore verbrachte viel Zeit mit dem Feuertrupp. Obwohl er erst seit fünf Monaten auf der Insel war, langweilte er sich bereits. Hauptsächlich beklagte er sich darüber, daß er sich um die Einhaltung der Gesetze kümmern mußte, wo er doch seine polizeilichen Befugnisse gar nicht voll zum Einsatz bringen durfte. Inzwischen war nämlich allgemein bekannt, daß die wohlhabenden Bewohner von Cumberland es nicht »gewohnt waren, wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischte«. Also blieben nur die Touristen, bei denen er seines Amtes walten konnte, aber die waren enttäuschend brav.

Seiner Frau Tabby war Anna bisher nur ein einziges Mal begegnet, und als Anna zum erstenmal diesen unglaublichen Bauch sah, beschloß sie gleich, sich die Anweisungen für eine Notfallentbindung noch einmal durchzusehen. Mrs. Belfore war eine zarte Frau, blaß und blond und sehr anhänglich. Fast ständig klammerte sie sich irgendwie an ihren Ehemann; zur Not genügte ein Ärmel oder ein Hemdzipfel, doch heute abend schien sie ganz besonders viel Zuwendung zu brauchen: Sie hielt seinen rechten Unterarm im Würgegriff, und seine Hand lag schlaff auf ihrem Schoß, die Handfläche nach oben, wie eine tote weiße Spinne. Unter den gegebenen Umständen könnte man Tabby ihre Unselbständigkeit nicht zum Vorwurf machen, fand Anna, aber sie konnte mit der jungen Frau auch nicht sonderlich viel anfangen.

Lynette sagte etwas, was Anna nicht verstand, und Rick lachte zu laut und zu lange.

»Party, Party«, bemerkte Al mit neutraler Stimme. Anna konnte nicht beurteilen, ob er es sarkastisch meinte oder ob er einfach nur eine Tatsache feststellte. Sie fahndete in ihrer Hosentasche nach einer Münze. »Kopf oder Zahl?«

»Heute kannst du frei über das Telefon verfügen, Ms. Pigeon«, erwiderte er. »Jimmy ist wahrscheinlich längst im Bett, und wenn nicht, ist es jedenfalls zu spät, um noch zu telefonieren.«

Anna stieg vom Löschtruck in Guys Geländewagen um. Der Truppführer hatte das Fahrzeug für sich beansprucht und als Begründung viel von Bequemlichkeit und Flexibilität gefaselt, aber damit führte er keinen an der Nase herum. Er benutzte den Wagen, weil es ihm Spaß machte – und weil er das Recht dazu hatte. Aber niemand nahm es ihm übel.

Im Geländewagen pfiff Anna der Nachtwind um die Ohren und trocknete ihre verschwitzten Haare. Nicht einmal das Motorengeräusch tat dem Genuß Abbruch. Auf der kurzen Strecke begegnete Anna vier Gürteltieren, die am Straßenrand herumwühlten. Sie mochte die komischen kleinen Biester. Seit sie auf der Insel war, verbrachte sie ziemlich viel Zeit damit, ihnen nachzustellen. Die Tiere waren kurzsichtig und nicht besonders klug. Rick, der vom Natchez Trail Parkway kam und behauptete, ein Gürteltierspezialist zu sein, hatte ihr erklärt, wenn sie sich an eines heranschleichen und es berühren könnte, würde es vor Schreck mindestens einen halben Meter in die Höhe springen. Anna wußte nicht recht, ob er sie auf den Arm nahm. Aber das war ihr eigentlich auch egal, denn jetzt hatte sie wenigstens etwas zu tun.

Das Büro mit dem Telefon lag am Wasser, dort, wo die Fähre vom Festland anlegte. Direkt südlich davon gab es ein kleines Museum und eine überdachte Brücke, die zur Bootsanlegestelle führte. Wie ein Stern strahlte ein Licht auf dem Wasser: das Hausboot, in dem Mitch Hanson mit seiner Frau lebte. Um das Gelände vor Feuer und umstürzenden Bäumen zu schützen, waren die Bäume gerodet worden, und auf dieser von Menschenhand geschaffenen Wiese grasten nun kleine Inselrehe.

Anna bog auf den ungeteerten Parkplatz ein, stellte den Motor ab und lauschte eine Weile der Stille, ehe sie ausstieg und zur Tür ging.

Drinnen nahm sie einen Schokoriegel vom Regal in der kleinen Kochecke und hinterließ fünfzig Cents in einer zu diesem Zweck bereitgestellten Kaffeetasse. Froh, endlich einmal allein zu sein, nahm sie auf dem Sessel des Chief Rangers Platz und legte die Füße auf den Schreibtisch, um die süße Schweinerei und das Telefongespräch noch besser genießen zu können.

Kapitel 3

Beim zweiten Klingeln nahm Molly ab. Als sie das schroffe »Hallo« ihrer Schwester hörte, spürte Anna, wie sich ihre Muskeln entspannten, von denen sie gar nicht gewußt hatte, daß sie angespannt gewesen waren.

»Störe ich dich?« fragte sie.

»Nein, Letterman ist ein Reinfall heute abend.« Am Ende von Mollys Satz hörte man, wie sie sich streckte, und Anna vermutete, daß sie nach dem Aschenbecher griff. Irgendwann hatte Molly ihr erklärt, Nikotingenuß und Telefonieren seien untrennbar miteinander verbunden, und jetzt fragte sich Anna, ob ihre Anrufe ihre Schwester nicht um kostbare Jahre ihres Lebens brachten.

»Warum tust du das?« fragte sie irritiert.

»Weil es politisch inkorrekt, giftig und potentiell tödlich ist«, antwortete Molly unbeirrt. »Bist du immer noch im Nirgendwo?«

»Ja, drei Wochen sind wesentlich länger als normal, wenn man Feuerstiefel trägt.«

Molly kicherte. »Eineinhalbmal so lange?«

»Das ist eine Menge Kohle«, sagte Anna. »Deckt meine Telefonkosten.«

»Weißt du, ich würde dich ja anrufen, wenn du dich jemals an einem realen Ort aufhalten würdest. Und jetzt ist es schon das zweite Mal hintereinander. Womit habe ich das verdient? Ich dachte, Frederick ist dran.«

»Ich spiele die Spröde.«

»Aha.«

»Ich wollte reden«, sagte Anna ernst. »Und nicht nett sein müssen.«

»Oder witzig oder charmant«, fügte Molly hinzu. Sie meinte das nicht sarkastisch; sie wußte, was für eine Last es war, wenn man über einen längeren Zeitraum hinweg nett sein mußte.

Das ganze letzte Jahr über hatte Anna mit Frederick Stanton, einem FBI-Agenten, mit dem sie ein paar Mordfälle bearbeitet hatte, eine Liebesbeziehung auf Distanz gepflegt. Bei der dritten Leiche hatten sie sich ineinander verliebt.

Es hatte eine berauschende Nacht gegeben, gefolgt von einem verlegenen Frühstück und einem atemlosen Abschied. Anschließend Briefe – Briefe und Telefongespräche, elf Monate lang. Bald würde sie diesen behaglichen Schwebezustand verlassen und sich auf einer anderen Ebene mit Frederick auseinandersetzen müssen, mehr in Fleisch und Blut sozusagen: Schuhe unter dem Bett, Urlaub zu zweit, gemeinsame Freunde.

Er hatte angefangen über die Zukunft zu sprechen und drängte sie, nach Chicago zu kommen.

Anna war nicht sicher, ob ihr das gefiel. Gespräche über die Zukunft gipfelten immer in der Frage, wieviel sie im Hier und Jetzt aufzugeben bereit war.

Als sie Zach geheiratet hatte – in einer Vergangenheit, die ihr so weit weg vorkam wie König Arthurs Tafelrunde oder die Eiszeit –, war das Leben einfach gewesen. Sie hatte nichts. Zach hatte nichts. Kein Heim, keine Haustiere, keinen Beruf. Da war es leicht, sich aufeinander einzulassen. Sie schmissen ihre Taschenbücher zusammen, kauften sich eine einigermaßen gute Matratze, liehen sich Geld, um die Kaution bezahlen zu können, und stürzten sich in ihre Zukunft mit dem Weitblick eines Eichelhähers, der eine Eichel pflanzt.

Sieben Jahre lang klappte alles, und dann war Zach ums Leben gekommen. Nach vorn zu blicken wurde unerträglich einsam, deshalb begann Anna von einem Tag auf den nächsten zu leben. Inzwischen war ihr das zur Gewohnheit geworden.

Sie trug Zachs Asche von Park zu Park und schwor sich immer wieder, sie eines Tages mitsamt den Träumen, die sie als Zwanzigjährige gehabt hatte, in den Wind zu streuen. Aber irgendwann kam nie der richtige Zeitpunkt dafür: Bevor sie Mesa Verde verließ, um nach Cumberland zu gehen, hatte sie die Urne immerhin aus der Schublade mit der Unterwäsche geholt und den Deckel aufgemacht. Aber dann hatte es wieder nur bis zum Couchtisch gereicht.

Jetzt gab es Frederick und mit ihm Gepäck, ihres und seines: Jobs, Geographie, seine Kinder, Annas Kater, Fredericks Vogel, Häuser. Nach langen Jahren zwischen Mäusekötteln und tropfenden Wasserhähnen – was in den Unterbringungen beim National Park Service gang und gäbe war – hatte Anna endlich das große Los gezogen: ein Steinhaus mit einem winzigen Turmschlafzimmer, von dem aus man die grünen Mesas von Süd-Colorado überblickte. Im Lauf des letzten Jahres hatte sie ein seltsames Prickeln in den Fußsohlen gespürt und sich gedacht, daß sie vielleicht tatsächlich ganz zaghaft anfing, Wurzeln zu schlagen.

Kein guter Zeitpunkt, um ausgerechnet jetzt mit einem Riesenaufwand die gewohnte Schutzhülle abzustreifen.

»Wenn ich es recht bedenke«, sagte Anna und meinte damit Frederick, Männer und das Eheleben im allgemeinen, »möchte ich nicht mal darüber reden.« Statt dessen erzählte sie Molly von den Schildkröten und von Marty Schlessinger. Nach zehn Minuten fiel ihr auf, daß sie einen Monolog hielt, und sie schwieg, ließ die Leitung abkühlen und wartete, ob Molly etwas auf dem Herzen hatte.

Doch durch die Leitung kam lediglich das Geräusch, mit dem der Rauch einer Camel direkt in absterbende Lungen gesogen wurde. Seit über zwanzig Jahren arbeitete Molly nun als Psychotherapeutin. Zuzuhören war ihr ebenso zur Gewohnheit geworden wie ihre eigenen Angelegenheiten für sich zu behalten. Am Anfang hatte vermutlich die Erkenntnis gestanden, daß Worte, so sorgfältig man sie auch wählen mochte, sehr leicht Schwächen preisgeben konnten. »Und was hast du denn so getrieben?« fragte Anna. Vielleicht konnte sie ihrer Schwester auf diese Art etwas entlocken.

Eine weitere Sekunde verstrich, noch eine, und jetzt fuhr Anna ihre automatischen Antennen aus. Manchmal bedeutete Schweigen nichts, aber verschärftes Schweigen war immer ein Hinweis. Therapeutin war nicht der einzige Beruf, in dem man lernte, die Ohren zu spitzen und auf Schwachstellen zu lauern.

»Also, was ist?« wiederholte sie ihre Frage.

»Schon wieder eine Morddrohung.« Molly lachte. Ziemlich klar ließen sich Ärger, Nervosität, Abwehr und vielleicht auch ein kleines bißchen Angst herausfiltern.

Einen Moment lang war Anna sprachlos, während die Bedeutung des Gesagten langsam in ihr Bewußtsein sickerte. »Schon wieder?« fragte sie schließlich und war zufrieden, daß ihre Stimme keinerlei menschliche Wärme ausstrahlte. Molly hatte nämlich einen mindestens so sensiblen Wärmesensor wie die Zecken von Cumberland Island. In Sekundenschnelle bohrte sie sich hinein und lenkte vom Thema ab.

»Es war erst die zweite«, verteidigte sich Molly. Sie versuchte es mit einem Achselzucken, das Anna so deutlich vor sich sah, als stünde Molly auf der anderen Seite des Schreibtischs. Da bald Schlafenszeit war, trug ihre Schwester sicher einen Trainingsanzug – einen von der ganz edlen Sorte, mit Stickereien, keinesfalls dafür gedacht, daß man tatsächlich darin schwitzte – wahrscheinlich in Lavendel, Knallrot oder Pink. Ihre Füße, die für eine kleine Frau ziemlich groß waren, steckten in kuscheligen weißen Pantoffeln mit Tigerstreifen. Die Mascara war zu einem Schmierfleck unter den Augen verlaufen, und die kurzen, dichten Haare mit den grauen Strähnen standen in wilden Locken vom Kopf ab, weil sie sich dauernd mit den Fingern durchfuhr.

Molly sah sich selbst als Klaviersaite: stark, scharf, widerstandsfähig. Wenn sie mit Diorkostüm und hochhackigen Schuhen in ihrer mit Diplomen und Auszeichnungen tapezierten Praxis saß, war diese Beschreibung wahrscheinlich von der Realität nicht allzu weit entfernt. Aber im weichen rosaroten Schlafanzug und mit Tigerpfoten an den Füßen sah sie klein und verletzlich aus. Ohne Klamotten wog sie kaum einen Zentner.

Anna schloß die Augen und wünschte sich ein Glas Mondavi Rotwein, Raumtemperatur, ein großes Glas mit einem kräftigen Stiel, randvoll, wie es in höflicher Gesellschaft nicht möglich war. Widerstrebend verabschiedete sie sich von diesem Bild. »Du solltest mir lieber die ganze Geschichte erzählen«, sagte sie. »Wenn du was ausläßt, krieg ich bloß Alpträume.«

»Was ist mit Al?« Molly war an Annas Telefonprobleme gewöhnt.

»Der hat beim Münzenwerfen verloren. Du kannst anfangen.«

Eine gespannte Pause trat ein, wie bei einem Turm-Springer, der sich auf seinen bevorstehenden Sprung konzentriert.

»Ein bißchen dramatisiere ich die Sache bestimmt. Ob du es glaubst oder nicht – Morddrohungen gibt es ziemlich häufig, makroskopisch gesehen. Wir kriegen unseren Teil davon ab: Ehemänner, deren Frauen sich nach der Therapie von ihnen scheiden lassen, Patienten, die ein Heidengeld in ihre Behandlung stecken und hinterher immer noch verrückt sind. Meistens sind die Drohungen wie obszöne Anrufe – der Kick liegt in den Worten und in dem Schock, der durch sie ausgelöst wird. Da ist keine Fortsetzung nötig.« Anna hörte, wie Molly lange und langsam inhalierte, und stellte sich vor, wie der Rauch sich zwischen den Fingern ihrer Schwester emporkräuselte, während sie sich die Locken aus der Stirn strich, ohne die Zigarette wegzulegen.

Zum erstenmal beneidete sie Molly um ihre Sucht. Wenigstens hatte sie ihre Drogen noch! So dreckig und ungesund es auch sein mochte – niemand wachte mit dem Gesicht nach unten auf einem Autositz auf, weil er zu viele Zigaretten geraucht hatte.

»Was ist an der jetzigen Drohung anders?« erkundigte sich Anna.

»Zum einen kam sie von einer Frau. Das ist selten. Sehr selten. Daß eine Frau schreit: ›Ich bring dich um!‹ oder so, das passiert schon mal, aber eine ernsthafte telefonische Morddrohung ist wirklich total ungewöhnlich. Zweitens klang es nicht, als hätte sie versucht, ihre Stimme zu verstellen. Sie hörte sich sehr bestimmt an, gefaßt und absolut klar.«

»Was hat sie gesagt?«

»Warte mal.« Es klickte mehrmals, dann hörte Anna eine leise Stimme, die so emotionsgeladen war, daß sie beinahe vibrierte: »Sie verdienen den Tod. Nicht nur Leute wie Sie, sondern Sie ganz persönlich. Ich werde Ihnen mit Freuden die letzte Ehre erweisen. Momentan bin ich ziemlich ausgebucht, aber sobald sich eine Möglichkeit ergibt, werde ich Sie vormerken.«

»Hast du alles gehört?« Jetzt war es wieder Molly.

»Du hast die Drohung aufgenommen?« Anna war beeindruckt. Ihre Schwester war manchmal echt abgebrüht.

»Nein. Sie hat es auf den Anrufbeantworter gesprochen.«

Anna mußte lachen. »Ein Wunder daß sie es nicht gefaxt hat! Himmel! Die perfekte Geschäftsfrau. ›Ich werde Sie vormerken‹?«

Molly stimmte in ihr Lachen ein, und als das Gelächter verstummte, hatten sie beide Angst.

»Wirklich sehr sonderbar«, sagte Anna. »Meinst du, es ist ein geschmackloser Scherz?«

Molly schüttelte den Kopf, was Anna am mal leiseren, mal lauteren Geräusch rauchigen Atems merkte. »Ich habe es mir unzählige Male angehört und kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Meinst du, ich sollte die Polizei einschalten?«

Molly fragte nie um Rat. In Annas Herzen kämpften zwei Gefühle miteinander: Sie war gleichzeitig geschmeichelt und beunruhigt. »Ja, unbedingt. Wenn sich herausstellt, daß es nichts war, um so besser.«

»Glaubst du, die würden mich ernst nehmen?«

»Du bist wohlhabend, du bist weiß, an die Fünfzig und hast Beziehungen.«

»Na klar.« Wieder lachte Molly. Anna liebte dieses Hexenkichern. Ein Glucksen, wie es Dorothy gehört hatte, ehe im Land Oz die Hölle losbrach. »Einen Moment war ich wieder zehn Jahre alt, rothaarig, sommersprossig und hatte Angst, jemandem auf die Nerven zu gehen. Aber jetzt bin ich erwachsen, weiß Gott!« meinte Molly.

»Bewahr das Band gut auf«, schärfte Anna ihr ein.

»Ist bereits erledigt. Zwei Kopien. Eine an einem sicheren Ort.

»Wie war die erste Drohung?«

»Sie ist mit der Post gekommen, auf teurem Briefpapier, wie es vor ein paar Jahren für schicke Einladungen zum Earth Day so in Mode war. Eine Art Broccoli-Wald zum Reinmarschieren. Moment noch mal.«

Kurz darauf klapperte das Telefon zurück an Mollys Ohr. »Bist du noch da?«

»ja.«

»Okay – und damit dein kleiner Cop-Kopf auch beruhigt sein kann, möchte ich dir mitteilen, daß ich den Brief mit einer sterilen Pinzette festhalte, während ich ihn dir vorlese.

Er ist sehr förmlich, genau wie der Anruf. ›Dr. Pigeon, offenbar nimmt der Schaden, den Sie anrichten, kein Ende. Dummheit? Habgier? Oder schlicht und altmodisch Bosheit? Sie müssen sterben, und ich werde dafür sorge. Bitte nehmen Sie dies zur Kenntnis. Ich möchte, daß Sie sich so unwohl fühlen wie nur menschenmöglich, falls Sie überhaupt ein Mensch sind.«‹

Um ihrer Schwester nicht mit ihrem Schokoriegel ins Ohr zu schmatzen, hielt Anna den Telefonhörer ein Stück vom Mund weg und ließ die Worte auf sich wirken. Der Brief war seltsam leidenschaftslos, kalter Haß, der stets im Kopf behalten wurde, bis sich eine verdrehte, aber in sich zwingende Logik daraus entwickelte.

»Vermutlich bist du deine Patientenliste schon durchgegangen, ob dir jemand irgendetwas derartig nachtragen könnte?«

»Nicht nur einmal. Im Gegensatz zur fiebrigen Fantasie Hollywoods erscheinen im Leben eines Psychotherapeuten nicht allzu viele Serienmörder. Mörder sind überhaupt eine Seltenheit. Mörder, die Hilfe suchen, gibt es praktisch nicht. Außer bei meiner Arbeit im Gefängnis – und da betreue ich hauptsächlich ehemalige Drogenabhängige und Depressive – besteht mein Klientenkreis aus reichen Neurotikern. Im Krankenhaus und im Gefängnis bringe ich es vielleicht auf fünfzehn Psychotiker, die ich regelmäßig besuche. Vier Männer und eine obdachlose Frau, die ich betreue, sind nicht in Gewahrsam. Aber diese Frau kriegt kaum einen vollständigen Satz zusammen und ernährt sich aus Mülleimern. Kaum der Typ für schickes Briefpapier.«

»Aber die Leute, die hinter Schloß und Riegel sitzen, könnten dich anrufen oder dir einen Brief schicken, stimmt's?« fragte Anna.

»Vermutlich. Ich kann es mir zwar nicht recht vorstellen, aber ich werde mal drüber nachdenken. Es wäre möglich. Diese Leute sind verrückt, nicht dumm.«

Das Geräusch gedämpfter Stimmen drang an Annas Ohr und lenkte sie ab. »Sekunde mal«, sagte sie und drückte den Hörer gegen die Brust, um besser horchen zu können. Genau wie in den Wohnquartieren blieben auch im Bürogebäude Fenster und Türen ordentlich verschlossen, weil es überall Klimaanlagen gab. Obwohl sie dankbar war, gelegentlich der Georgia-Hitze zu entkommen, haßte Anna es, vom Sommer abgeschnitten zu sein: von den Nachtgeräuschen, den Fröschen und Grillen. Sich im Winter irgendwo einzukuscheln, war etwas ganz anderes. Der Winter sang keine Lieder für sie, aber der Sommer um so mehr.

Einen Augenblick war Molly vergessen, und Anna legte den Hörer auf den Schreibtisch und öffnete das Fenster. Jetzt wurden die Stimmen klarer: verzweifelt, weinerlich. »Verflucht«, murmelte sie vor sich hin.

»Molly?«

»Ja, ich bin ganz Ohr.«

»Draußen gibt es irgendwelchen Ärger. Ich könnte so tun, als geht es mich nichts an – ist ja nicht mein Park und so – aber es klingt, als weint da eine Frau. Wahrscheinlich nichts Ernstes, aber man kann ja nie wissen.«

»Na, dann schau mal lieber nach dem Rechten.« Molly klang irgendwie erleichtert. Erleichtert, weil sie nicht mehr im Scheinwerferlicht stand. Die Drohungen brachten sie eindeutig aus der Fassung. Das machte ihr mehr zu schaffen, als die Angst vor körperlicher Gewalt.

Gott behüte, daß die große Psychotherapeutin einen kleinen Aspekt ihres Lebens nicht im Griff hat! Anna grinste. »Ich ruf dich zurück«, versprach sie.

»Aber heute abend nicht mehr.«

»Dann eben morgen.«

»Gleiche Zeit, gleicher Ort.« Dann ein Klicken, und die Leitung war tot. »Auf Wiedersehen«, kam in Mollys Wortschatz nicht vor, aber Anna war nicht gekränkt. Schließlich hatte sie ihr Leben lang Gelegenheit gehabt, sich daran zu gewöhnen. An ihrem ersten Schultag hatte Molly sie in Mrs. Whites Klasse begleitet. Vor der Tür hatte sie Anna die Papiertüte mit dem Lunch, den ihre Mutter vorbereitet hatte, in die Hand gedrückt und sie auf die niedrige Bank unter den Kleiderhaken gesetzt. Anna war damals sechs, Molly vierzehn gewesen.

»Paß gut auf«, hatte Molly zu ihr gesagt, »ich lege Wert auf Einzelheiten.« Damit wandte sie sich um und ging davon, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Aber Anna hatte sich nicht im Stich gelassen gefühlt, damals so wenig wie heute. Sie wußte, was auch geschehen mochte, Molly interessierte sich für die Einzelheiten.

Kapitel 4

Sich die letzten Klebereste des Schokoriegels von den Plomben saugend, trat Anna hinaus auf die kleine Veranda vor der Hintertür des Büros. Das Weinen schwoll an und wurde wieder leiser, wie die Wellen am Strand, doch insgesamt mit steigender Frequenz.

Da Anna die Dunkelheit mochte, hatte sie beim Telefonieren kein Licht gemacht; und so waren ihre Augen an die Nacht gewöhnt; sanft schimmerte das Mondlicht über dem Land. Auf der Wiese hatten die Rehe aufgehört zu grasen und spitzten – mehr neugierig als beunruhigt – die Ohren, ein Pickup brummte im Leerlauf, und seine Scheinwerfer warfen gelbweißes Licht über die Furchen im Straßenstaub.

Neben dem Truck standen zwei Gestalten, eine davon so nahe an der vorderen Stoßstange, daß ihr Kleid im Scheinwerferlicht rot strahlte – der einzige Farbfleck in der Nacht. Die andere Gestalt war der Stimme nach ein Mann; offenbar versuchte er, die Frau zu packen.

Etwa fünf Meter trennten Anna von dem Paar. Leise, sich stets auf dem grasigen, leicht erhöhten Mittelstreifen zwischen den Reifenspuren haltend, ging Anna auf sie zu. Es kam ihr nicht in den Sinn, ins Büro zurückzulaufen und Verstärkung anzufordern oder gar die Polizei-Ranger von Cumberland zu alarmieren. Familienzwist war im Park so alltäglich wie Strafzettel wegen Falschparkens, wenn auch wesentlich explosiver. Während Anna sich den beiden näherte, ging ihr allerdings durch den Kopf, daß sie gefährlich leichtsinnig geworden war und lieber ein vernünftiges Maß an Angst kultivieren sollte.

»Du verläßt mich!« schluchzte die Frau und taumelte wieder ins Scheinwerferlicht. Jetzt sah Anna den dicken Bauch und erkannte Tabby Belfore, die Frau des District Rangers.

Der Mann machte einen Schritt nach vorn und packte die Frau an den Schultern.

»Hey, Todd!« rief Anna. Falls Gewalt in der Luft lag, wollte sie rechtzeitig eingreifen. »Brauchen Sie Hilfe?«

Inzwischen war sie nah genug, um die Gesichter der beiden erkennen zu können. Ärger gemischt mit Verlegenheit. Tabby tupfte sich mit den Fingern an den Armen herum – offenbar machte sie sich Sorgen um ihr Make-up. Anzeichen echter Dramatik waren nicht auszumachen, lediglich die übliche Begleitmusik eines Ehekrachs.

Dennoch inspizierte Anna Tabby aus beruflicher Gewohnheit und natürlichem Mißtrauen möglichst unauffällig nach Spuren etwaiger körperlicher Übergriffe. »Haben Sie Probleme mit dem Wagen?« fragte sie ganz locker.