Pharma-Crime - Daniel Harrich - E-Book

Pharma-Crime E-Book

Daniel Harrich

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Beschreibung

Die Pharmaindustrie hat die Kontrolle über ihre Produkte verloren: Bereits jedes hundertste Medikament in unseren Apotheken und Krankenhäusern ist gefälscht – und das ist nicht zu erkennen, denn äußerlich handelt es sich um Originalprodukte. Jedes Jahr sterben mindestens eine Million Menschen weltweit an gepanschten Arzneien, weil diese entweder gar keinen oder zu viel Wirkstoff oder giftige Trägerstoffe enthalten. Vor allem lebenserhaltende und stark nachgefragte Arzneimittel sind betroffen. Danuta Harrich-Zandberg und Daniel Harrich decken auf, wie es zu den Manipulationen kommt und welche Rolle die Pharmaunternehmen dabei spielen.
Ein spannender und erschütternder Bericht über Profitgier, die selbst vor unserer Gesundheit nicht haltmacht.

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Bereits jedes hundertste Medikament in deutschen Apotheken und Krankenhäusern ist laut Expertenschätzungen gefälscht, und zwar so perfekt, dass selbst Ärzte und Apotheker getäuscht werden. Vor allem lebenserhaltende und stark nachgefragte Arzneimittel sind immer wieder betroffen. Doch wie ist es möglich, dass gefälschte Medikamente in die legale Lieferkette gelangen? Danuta Harrich-Zandberg und Daniel Harrich decken auf, wie es zu den Manipulationen kommt und welche Rolle die Pharmaunternehmen dabei spielen.

Ein spannender und erschütternder Bericht über Profitgier, die selbst vor unserer Gesundheit nicht Halt macht. Danuta Harrich-Zandberg

Daniel Harrich

PHARMA

CRIME

Kopiert, gepanscht, verfälscht – Warum unsere Medikamente nicht mehr sicher sind

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Verlagsgruppe Random House weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 05/2017

Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-20999-5V001

www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Von Contergan bis zur Arzneimittelfälschung

Es kann jeden treffen

Wie brisant ist das Thema Medikamentenfälschungen?

Von Traubenzucker bis Rattengift

Warum der Täter-Opfer-Zusammenhang kaum zu ermitteln ist

Der wirtschaftliche Schaden geht in die Milliarden

Böse Fälscher und der Lifestyle: Eine harmlose Bestellung im Internet

Die Anfänge: alles, was schlank, schön und potent macht

Viele kleine blaue Pillen

Potenz aus der »Männerapotheke«

Pumping Professor

Eine neue Dimension

Niemand ist verantwortlich

Lebensgefährliche Fälschungen: vom Schmerzmittel bis zum Krebspräparat – Menschenverachtung auf Rezept

Der Fall JNS Impex Pharma – ein globaler Fälscher-Großhandel

Tod eines Rockstars

Drugs und Drogen

Warum starb Prince?

Mother’s little helpers – gefälsches Valium in Europa

Globale Logistik und korrupte Händler: Die undurchsichtige Warenkette

Pharmahändler, Apotheker, Ärzte: Verbrecher im weißen Kittel?

Skandal um Holmslandpharma

Avastin und kein Ende

Wieder gefälschte Krebsmedikamente in deutschen Apotheken

Geheime Ermittlungen

Wer nicht sehen will, wird auch nicht fündig

Vom Großhandel in die Apotheke: Wieder ein Zyto-Skandal

Gefälschte Verhütungsmittel bei deutschen Ärzten

Entwicklungshilfe verschwindet in dunklen Kanälen

Die Afrika-Route – ein systematisch profitabler Trick

Resterampe von Big Pharma

Medizin und Mafia

Ist die legale Lieferkette sicher?

Echte und gefälschte Medikamente aus Indien und China: Tod im Krankenhaus

Wie kommt gefälschtes Heparin ins Krankenhaus?

Die Büchse der Pandora

Wie sicher sind unsere Medikamente?

China wird selbst zum Global Player

China hat keinen guten Ruf

Recherchen in Indien: Zu Besuch bei den German Doctors in Kalkutta

Vom Land der Nachahmer zur Apotheke der Welt

Gewinner und Verlierer

Die Schattenseiten des Erfolgs

Ein Produzent mit zweifelhaftem Ruf

Indische Whistleblower bringen die Branche ins Wanken

Manipulierte Daten bei Zulassungsstudien

Fehler im System

Die Mängel in der indischen Pharmabranche sind ein globales Problem

Gefälschte Medikamente aus Indien: Harvoni, das teuerste Medikament der Welt, im Visier der Fälscher

Gegenmaßnahmen – Wer sorgt für die Sicherheit unserer Arzneimittel?

Die Fahnder: der Zoll und seine begrenzten Möglichkeiten

Im Kampf gegen Arzneimittelfälscher: die internationale Polizei

Die Pharmaindustrie finanziert Interpol

Was die EU gegen Arzneimittelfälschungen unternimmt

Besuch der europäischen Pharmamesse 2016: die Expopharm

Echte Verpackungsdaten im Internet

Vom Outsourcing zum »Insourcing« – zurück zur heimischen Produktion?

Nachwort und Dank

Der ARD-Themenabend zu Pharmacrime

Das Klügste, das du in unserer Welt tun kannst – sei ein Mensch mit Moral.

Shimon Peres, Friedensnobelpreisträger

Dieses Buch betrifft jeden von uns. Es ist Ärzten, Apothekern, Pharmazeuten, Forschern und Wissenschaftlern gewidmet, die dem hippokratischen Eid treu bleiben. Und denjenigen, die auf Heilung hoffen.

Einleitung

Von Contergan bis zur Arzneimittelfälschung

Pharmacrime ist ein Verbrechen an der Menschheit, Medikamentenfälschung ist versuchter Massenmord.

Vor mehr als zehn Jahren drehten wir den Dokumentarfilm »Contergan« (ARD/ARTE – 2002). Er handelt von einem Arzneimittelskandal, der damals schon fast vierzig Jahre zurücklag, dessen Opfer jedoch kaum Gerechtigkeit erfahren haben. Wir wollten mit dem Film an die Opfer erinnern.

Das Beruhigungsmittel Contergan mit seinem Wirkstoff Thalidomid, Ende der 1950er-Jahre bis Mitte der 1960er-Jahre von der Herstellerfirma Grünenthal als unschädlich angepriesen, zerstörte das Leben unzähliger Menschen: Tausende Neugeborene starben aufgrund von schweren Behinderungen. Tausende Babys kamen zwei-, drei-, vierfach behindert zur Welt: mit missgebildeten Armen und/oder Beinen, Herzfehlern und Schädigungen anderer innerer Organe. Den Müttern hatten Ärzte in den entscheidenden Wochen der Schwangerschaft Contergan verschrieben. Warnungen vor Nebenwirkungen, die von überall her eintrafen, ignorierte die Herstellerfirma.

Contergan war ein Skandal. Er führte uns erstmals vor Augen, was ein Arzneimittel anrichten kann. Doch der folgenschwerste Arzneimittelskandal der bundesdeutschen Geschichte endete ohne Gerichtsurteil – und ohne Gerechtigkeit für die Opfer. Wir waren erschüttert, insbesondere weil wir die Prozessakten kannten und wussten, wie skrupellos das Pharmaunternehmen Grünenthal in unserer Wahrnehmung über die Schicksale und das Leid Tausender Kinder und deren Familien hinwegsah.

Allerdings hatten die Ereignisse immerhin zur Folge, dass der sogenannte Beipackzettel in Medikamentenpackungen zur Pflicht wurde. Seither können wir uns über mögliche Nebenwirkungen informieren. Dass die Pharmahersteller sich zugleich mit den Warnhinweisen absichern, steht auf einem anderen Blatt.

Obwohl es damals hieß, der ursprüngliche Hersteller Grünenthal habe das Mittel vom Markt genommen, ging die Geschichte von Thalidomid in anderen Teilen der Welt weiter. In Brasilien zum Beispiel wurden Präperate mit dem Wirkstoff Thalidomid kostenfrei zur Verfügung gestellt, um Leprakranke zu behandeln. Es handelte sich um eine Studie in Form eines Feldversuchs. Die Folge: Eine weitere Generation thalidomidgeschädigter Kinder wuchs in Brasilien heran.

Später besuchten wir verschiedene Institute in den Vereinigten Staaten, wo der Wirkstoff Thalidomid bei der Behandlung von Aids- und Krebs-Patienten bis heute eingesetzt wird. Hier erzielt man damit beachtliche Heilungserfolge.

Medikamente sind ein zweischneidiges Schwert. Contergan lehrte uns das. Die einen hoffen auf Heilung. Für andere geht es um viel Geld. Ihren Profit vor Augen, handeln sie ohne Skrupel, ohne Moral, ohne Rücksicht auf das Wohl der Menschheit.

Das alles deckten wir damals auf.

Während unserer Dreharbeiten in Brasilien tagte dort ein Mediziner-Kongress. Einige der südamerikanischen Ärzte wollten unbedingt mit uns, den deutschen Journalisten, sprechen. Sie wollten uns auf ein Thema aufmerksam machen, das ihnen besonders viel Sorge bereitete: gefälschte Medikamente. Alle Länder Südamerikas seien von dem Problem betroffen, berichteten uns die Ärzte.

Gefälschte Medikamente? Vergleichbar mit gefälschten Handtaschen und Luxusuhren? Wir hatten nie zuvor davon gehört. Contergan hatte unseren Blick auf die Pharmaindustrie geschärft, unseren Glauben an die pharmazeutische Forschung, den medizinischen Fortschritt und vor allem an die Methoden der Branche jedoch nicht grundsätzlich erschüttert. Das mag aus dem Mund von Journalisten, die seit vielen Jahren investigativ arbeiten, reichlich naiv und optimistisch klingen. Vielleicht ist es eine Art Selbstschutz, denn jeder braucht irgendwann Medikamente – für sich selbst oder einen Menschen, den er liebt. Für uns aber stand das Positive im Vordergrund. Erst unsere Recherchen über Arzneimittelfälschungen haben uns viel von unserem Optimismus genommen.

Der Dokumentarfilm über den Contergan-Skandal führte uns zu einem neuen Projekt: »Wirkstoff: Profit – Der Kampf gegen die globale Medikamentenfälschermafia« entstand für den deutsch-französischen Sender ARTE und die ARD. Wir hatten gerade erst mit den Recherchen begonnen – uns auf die Suche nach Interviewpartnern begeben, erste Hintergrundgespräche mit Experten geführt, Kontakte zu den zuständigen Ermittlungsbehörden geknüpft –, als uns die Realität grausam einholte: Auf einmal standen wir selbst der Bedrohung durch Arzneimittelfälschungen hilflos gegenüber.

Es kann jeden treffen

Es war im Jahr 2007, als wir von der schweren Erkrankung unserer Mutter und Großmutter erfuhren. »Lasst mich nicht sterben«, bat sie.

Stellen Sie sich vor, da ist dieser Mensch, der Ihnen nahesteht, den Sie und Ihre Kinder über alles lieben. Dieser Mensch ist krank. Und er will leben. Ich denke, jeder von Ihnen kann die Gefühle zwischen Schmerz, Sorge, Rat- und Hilflosigkeit nachempfinden. Vielleicht genährt durch die kindliche Hoffnung, es könne ein Wunder geschehen, stimmten wir einer Operation zu, die unsere Mutter/Großmutter nicht retten, ihr Leben jedoch um ein Jahr, eventuell etwas mehr, verlängern würde.

Dann kam plötzlich eine Meldung aus den USA, die uns restlos schockierte: Achtundachtzig Menschen waren an gefälschtem Heparin, einem Blutgerinnungsmittel des Pharmariesen Baxter, gestorben. Die amerikanische Arzneimittelkontrollbehörde, die Food and Drug Administration (FDA), meldete, die Fälschungen, gepanscht mit lebensbedrohlichen Substanzen, seien auch in deutsche Kliniken und Apotheken gelangt.

Die Nachricht, dass ein Medikament mit giftigen Inhalten in Umlauf ist, kam für uns als Angehörige einer Frischoperierten zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt. Der Wirkstoff Heparin wird unter anderem nach Operationen verabreicht, um Thrombosen zu verhindern. Nach der Entlassung unserer Mutter/Großmutter aus der Klinik spritzten wir ihr das Mittel jeden Tag zu Hause, wissend, wie sehr sie an dem bisschen Leben hing, das ihr noch vergönnt war. Sie klammerte sich nicht an das Leben, sie freute sich daran. Trotz der Schmerzen und obwohl die Krankheit sie zusehends zerstörte, genoss sie jeden ihr verbleibenden Moment. Ihre Augen waren voller Dankbarkeit und Vertrauen, auch wenn wir ihr das Heparin verabreichten. Wir selbst fühlten uns zerrissen und verunsichert. Wir wussten ja nicht, ob wir unserer geliebten Mutter und Großmutter da etwas Gutes taten. Wir fragten in der Apotheke, ob die Spritzen, die wir verwendeten, betroffen sein könnten. So versuchten wir, uns zu beruhigen. Aber eines wussten wir nun ganz sicher: Wir mussten unsere Recherche fortsetzen!

Wir hatten großes Glück. Kurz nachdem der Heparin-Skandal in den USA aufgedeckt wurde, bekamen wir Kontakt zu der Frau, die alles hatte auffliegen lassen. Coline Hubly war Krankenschwester in einer Spezialklinik in Toledo, Ohio. Im Dialysezentrum der Klinik waren ihr Ehemann und ihre Schwiegermutter im Abstand von nur drei Wochen mit dem gefälschten Heparin behandelt worden und gestorben. Nach weiteren Todesfällen hegte Hubly einen Verdacht, obwohl ihr die Vorstellung, dass ein gängiges und in der Praxis vielfach erprobtes Medikament die Ursache für eine derartige Tragödie sein könnte, zunächst völlig undenkbar erschien. Zumal das Heparin von dem Pharmariesen Baxter und damit aus einer absolut seriösen Quelle stammte.

Die Krankenschwester riskierte viel, als sie es mit dem mächtigen und einflussreichen Pharmakonzern aufnahm, indem sie ihre Beobachtungen in die Öffentlichkeit trug. Doch sie hatte recht: Die Firma hatte für die Herstellung des Medikaments einen verunreinigten Rohstoff aus China importiert und damit weltweit das Leben unzähliger Menschen aufs Spiel gesetzt.

Wie brisant ist das Thema Medikamentenfälschungen?

Als wir uns auf die journalistische Recherche-Reise in die Welt der Pharmaindustrie begaben, in der unvorstellbar hohe Geldsummen fließen, gerieten wir in ein Netz von weitverzweigten Verbindungen und Verstrickungen. Wir sahen uns mit einer Vielzahl von Fragen konfrontiert: Sind unsere Quellen seriös? Wem können wir vertrauen? Gibt es konträre Meinungen? Wer ist mit wem verbandelt? Wie fließen Waren? Wie fließen die Gelder? Wo hört die Industrie auf, wo fangen unabhängige Wissenschaft und Forschung an – wenn es sie überhaupt gibt?

Unsere Recherchen über gefälschte Medikamente führten uns rund um den Globus. Nach Vorrecherchen von circa 2002 bis Ende 2006 fanden zwischen 2007 und 2017 Interviews und Dreharbeiten für dieses Buch und den ARD-Themenabend Wirkstoff: Profit statt. Drehorte waren neben Deutschland auch Frankreich, Belgien, die Niederlande, die Schweiz, die Tschechische Republik, Österreich, Großbritannien, USA, Mexiko, Brasilien, Indien, Tansania, Kenia, Bangladesch und Marokko.

Als Journalisten sind wir vor allem auf eines angewiesen – gute, verlässliche Quellen und Informationen. Die besten und belastbarsten Quellen sind häufig wissenschaftliche Veröffentlichungen, Unterlagen und Dokumente. Dabei ist vieles öffentlich zugänglich, die Informationen sind in Studien, an Universitäten, Instituten und Bibliotheken einsehbar. Andere Dokumente werden Journalisten von Gesprächspartnern übergeben oder anonym zugespielt. Unsere Aufgabe ist es, die Informationen zusammenzufügen, Widersprüche zu klären und ein Gesamtbild zu schaffen, das der Realität entspricht und gleichzeitig für den Leser/Zuschauer verständlich ist.

Eine besondere Art des Informanten ist der »Whistleblower«. Dabei muss man sich über eines im Klaren sein: Whistleblower sind fast immer Verräter. Es sind Personen, die streng vertrauliche Berufsgeheimnisse an Journalisten weitergeben. Um ihr brisantes Wissen zu erlangen, müssen Whistleblower Teil des Systems sein. Als solche haben sie – nicht immer, aber sehr häufig – bei den Machenschaften, die sie aufdecken, selbst mitgemacht, oft gegen die eigene Moral und Ethik. Wenn sie beginnen zu reden, hintergehen sie ihre Behörde, ihren Arbeit- oder Auftraggeber und riskieren damit soziale Isolation, finanziellen Ruin und in Extremfällen auch die eigene physische Unversehrtheit. Deshalb ist der Umgang mit Whistleblowern und ihren Informationen extrem heikel. Die Zusicherung von Anonymität und insbesondere der Quellenschutz sind essenzieller Bestandteil unserer Arbeit und durch das Zeugnisverweigerungsrecht rechtlich im § 53 der Strafprozessordnung (StPO) geschützt.

Während der Heparin-Skandal juristisch und politisch aufgerollt wurde, reisten wir für Dreharbeiten in die USA. Um die Witwe Coline Hubly hatten sich weitere Familien gesammelt, die ebenfalls Angehörige verloren hatten. Sie gaben uns Interviews, und wir bewunderten ihren Mut, als sie kurz darauf vor einer Untersuchungskommission des US-Kongresses aussagten. Auf der Anklagebank saß immerhin das Top-Management des Pharmariesen Baxter.

In den USA sprachen wir mit Experten der für die Arzneimittelzulassung und Kontrolle zuständigen Behörde Food and Drug Administration (FDA). Die Rolle der FDA beim Heparin-Fall ist höchst umstritten – Kritiker werfen ihr vollständiges Versagen vor. Wir trafen Ermittler der Bundespolizei FBI und der Drogenfahndung DEA, die bereitwillig mit uns über ihre Erfahrungen im Kampf gegen Medikamentenfälscher sprachen.

Wieder zurück in Europa, suchten wir das Gespräch mit den hier zuständigen Behörden. Insbesondere die Beamten der Zollbehörden warnten vor den Gefahren durch Arzneimittelfälschungen. Der Zoll ist für die Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität zuständig – eine unglaubliche Herausforderung für den Exportweltmeister Deutschland, der auch Milliardenwerte importiert und gleichzeitig Drehscheibe für Waren aus aller Welt ist. Die Beamten des Zolls arbeiten mit ausländischen Behörden zusammen, so auch mit der internationalen Polizeiorganisation INTERPOL.

INTERPOL führt in regelmäßigen Abständen eine Schwerpunktaktion gegen Medikamentenfälschungen durch, die sogenannte »Operation Pangea«. Innerhalb weniger Einsatztage fahnden mehrere Behörden weltweit koordiniert nach Pharmafälschern. Die Ergebnisse sind immer beängstigend, weil dabei Millionen von Medikamentenpackungen sichergestellt werden. Wir durften »Pangea« mit unseren Kameras begleiten und dokumentierten Einsätze in Nairobi (Kenia) und Daressalam (Tansania).

Auf dem afrikanischen Kontinent und später in Indien wurde uns klar, was für eine Tragödie Medikamentenfälschungen für die Ärmsten der Armen bedeuten. Wenn der Patient nicht lesen kann und das Medikament möglicherweise sogar von einer internationalen Hilfsorganisation kommt – bezahlt mit Spendengeldern aus Europa und Nordamerika –, gibt es kaum einen Schutzmechanismus. Wie so oft muss man feststellen, dass unsere hohen Standards – seien es moralische, soziale oder Sicherheitsstandards – für Afrika nicht gelten: Der Kontinent scheint der westlichen Welt egal zu sein.

Im Laufe unserer Recherche sind wir an zahlreiche Pharmakonzerne herangetreten – unter anderem Bayer, Merck, Cipla, Novartis, Baxter, Pfizer, GlaxoSmithKline, Sun Pharmaceuticals, Emcure, Taj Pharma. Die Liste wäre endlos lang. Obwohl es unserer Auffassung nach nur im Interesse der Pharma-Manager sein kann, Markenpiraten das Handwerk zu legen, erhielten wir nur Absagen – bis auf eine Ausnahme: Pfizer, einer der weltweit größten Pharmakonzerne sagte uns volle Kooperation zu. Wir konnten mit leitenden Mitarbeitern der Abteilung zur Bekämpfung von Marken- und Produktpiraterie sprechen, durften in Test-Laboren filmen und erhielten interne Unterlagen, die über das System der Medikamentenfälscher aufklärten. Gebetsmühlenartig wurde propagiert, wie sicher das eigene System sei. Die Fälscher, so wurde uns versichert, betrieben kleine Hinterhoffirmen in Indien und China, wo mit Betonmischern die berühmten kleinen blauen Pillen angemischt und händisch verpackt würden – mit dem Geschäft seriöser Arzneimittelhersteller habe das nichts zu tun.

Bei der Zusammenarbeit mit Firmen – im Bereich der Pharmaindustrie sind es oft Großkonzerne, die ihre hochkomplexen Interessen vertreten – ist jedoch immer Vorsicht geboten. Die einen reagieren auf Journalisten abweisend, wie wir es auch bei der Mehrheit erlebt haben. Andere versuchen geschickt, die Zusammenarbeit als PR-Strategie zu nutzen. Auf diese Weise hofft man, ein positives Markenimage zu kommunizieren und gleichzeitig von den eigenen internen Problemen abzulenken. Bis zu einem gewissen Grad ist es den großen Konzernen tatsächlich über Jahre hinweg gelungen, die Aufmerksamkeit der Ermittler, Kontrollbehörden und Journalisten von der eigentlichen Problematik und der höchst fragwürdigen Rolle der Industrie abzulenken.

Übereinstimmend mit den Beteuerungen der Pharmakonzerne, versicherte man uns im Bundeskriminalamt (BKA), die legale Vertriebskette vom Hersteller bis zur Apotheke sei nicht durch Medikamentenfälschungen gefährdet.

Doch da folgte nach dem Heparin-Skandal der nächste Paukenschlag: Ein Whistleblower, selbst Pharmagroßhändler, gab uns gegenüber zu, er habe gefälschte Krebsmedikamente, sogenannte Zytostatika, an normale deutsche Apotheken geliefert. Der Informant berichtete, als er mit Anzeige drohte, sei er von seinen Geschäftspartnern erpresst und eingeschüchtert worden.

Der Vorsitzende des Hamburger Apothekerverbands Dr. Jörn Graue vertraute uns zur gleichen Zeit an, hinter vorgehaltener Hand spreche man schon lange über schwarze Schafe in der Branche.

Dafür, dass es mindestens schwarze Schafe in der Branche gibt, spricht schon die Zahl der Fälle, die in den vergangenen Jahren in Deutschland ans Licht der Öffentlichkeit kamen:

Pharma-Fälschungen seit 2009

Deutschland, Herbst 2009: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen Arzneimittelimporteur, der unerlaubterweise Zytostatika und HIV-Medikamente aus Nicht-EU-Ländern in den Handel gebracht haben soll.Deutschland, April 2010: Es wird bekannt, dass von 2002 bis 2007 Apotheker bundesweit nicht zugelassene und illegal importierte Zytostatika (Krebsmittel) verwendet haben sollen. Insgesamt sollen etwa hundert Apotheker in die Affäre verwickelt gewesen sein.Deutschland, August und September 2013: Fälschungen des Krebsmittels Sutent tauchen in deutschen Apotheken auf.Deutschland, September 2013: Zum wiederholten Mal in diesem Jahr müssen Pharmahersteller Fälschungen des Magenmittels Omeprazol aus den Apotheken zurückrufen.Deutschland, Juni 2014: Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte warnt vor Fälschungen des Krebsmittels Sutent.Deutschland, Juni 2014: Nach Arzneimitteldiebstählen in Italien warnen die Aufsichtsbehörden vor Fälschungen teurer Krebsmedikamente, HIV-, Multiple Sklerose- und Rheumaarzneien und Blutdoping-Produkte.Deutschland, Oktober 2014: Das Paul-Ehrlich-Institut, zuständig für die Kontrolle der Impfstoffe und Biopräparate, warnt vor Fälschungen des Krebsmittels Avastin.Deutschland, Oktober 2016: Pharmakonzerne rufen drei Antibabypillen aus Apotheken zurück. Offiziell ist von Problemen mit der Haltbarkeit und der Reinheit der Produkte die Rede. Das heißt vermutlich: Es handelt sich um gefälschte Medikamente.

Gespräche mit ausgewiesenen Experten während unserer Recherchen bestätigten, dass das Thema Medikamentenfälschungen weit brisanter ist, als Pharmaindustrie und das BKA uns weismachen wollten. Ein wichtiger Interviewpartner für uns war dabei Prof. Dr. Harald Schweim. Er leitete im Institut für Arzneimittel (AMI) und später im damals neu gegründeten Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) jeweils die Abteilung für Arzneimittelzulassungen. Schweim warnte ausdrücklich vor der zunehmenden Verbreitung von gefälschten Medikamenten.

Zulassung und Kontrolle von Arzneimitteln sind ein europäisches Thema und, insbesondere aufgrund der offenen Grenzen des Schengen-Raums, eine europäische Herausforderung. Günter Verheugen, von 2004–2010 stellvertretender Präsident der EU-Kommission, brachte das Problem in einem Interview mit uns auf den Punkt: »Medikamentenfälschung ist versuchter Massenmord.«

Die Arzneimittelindustrie fürchtet den Image-Schaden, den Berichte über zwielichtige Machenschaften oder unsaubere Medikamente anrichten. Darum gehen Pharmafirmen überaus diskret mit dem Thema um. So zumindest lautet die immer wieder abgegebene Erklärung dafür, dass Pharmakonzerne den Deckel auf Nachrichten über gefälschte Medikamente halten. Doch immer häufiger dringen beunruhigende Meldungen in die Öffentlichkeit. Die Dunkelziffer – die Zahl der Fälle, die bislang nicht entdeckt wurden – dürfte wesentlich höher liegen als das, was in den Nachrichten bekannt wird.

Das ist der Grund, warum wir dieses Buch verfassen und die Filme über Arzneimittelfälschungen gedreht haben. Wir wollen Aufklärung leisten, wo die Verantwortlichen versagt haben, aus welchen Gründen auch immer. Denn das Problem betrifft jeden von uns.

Von Traubenzucker bis Rattengift

Es wird letztendlich alles gefälscht. Von Antibiotika bis zur Antibabypille, selbst teure Krebsmedikamente.

Hans-Joachim Mill, ehemaliger Ermittler und Sicherheitschef eines großen Pharmakonzerns (2016 in einem Interview mit uns)

Gefälschte Medikamente sind kein neues Phänomen. Schon immer wurden Arzneimittel gepanscht, priesen Quacksalber fragwürdige Mixturen an und versprachen ihren Kunden Heilung und Gesundheit. Die Geschichte des »Lonesome Cowboy« Lucky Luke, der in Das Elixier von Doc Doxey (Band 86) gegen einen Scharlatan kämpft, basiert auf solchen historisch belegten Quacksalbern, die im 19. Jahrhundert durch den noch dünn besiedelten amerikanischen Westen zogen und sogenanntes Schlangenöl als Wunderheilmittel gegen nahezu jede Krankheit anpriesen. Und viele Filmfans erinnern sich an die Szene im Film Der dritte Mann, als deutlich wird, welche furchtbaren Folgen der Handel mit gepanschtem Penicillin im Wien der Nachkriegszeit hat.

Heute hat nicht nur das Gesundheitssystem keinerlei Ähnlichkeiten mehr mit den Zuständen im Mittelalter oder dem amerikanischen Wilden Westen. Auch die Fälscher haben ihr Geschäft professionalisiert. Und sie fälschen alles: Wirkstoffe, Dosierungen, Spritzen und Fertigspritzen, Beipackzettel, Verpackungen, Herstellernamen, Chargennummern, Verfallsdaten, Dokumente über angebliche Qualitätskontrollen, Sicherungscodes. Es gibt Arzneimittelfälschungen mit dem richtigen Wirkstoff, zu viel oder zu wenig vom richtigen Wirkstoff, verdünnt, gestreckt, gemischt. Mit einem falschen Wirkstoff. Mit der richtigen oder falschen Verpackung und richtigen oder falschen Beipackzetteln. Mit gar keinem Wirkstoff bzw. harmlosem Inhalt wie Wasser und Mehl oder Schadstoffen wie Straßenteer oder Rattengift.

Fälschung ist nicht gleich Fälschung

Letztlich lassen sich grob vier Arten von Fälschungen unterscheiden:

Die perfekte Imitation eines Präparates mit denselben Wirkstoffen und identischer Verpackung. Unter medizinischen Gesichtspunkten besteht ein geringes Risiko, vorausgesetzt, die Präparate sind qualitativ einwandfrei und wurden vorschriftsmäßig gelagert.Fälschungen in der identischen Verpackung eines Markenzeichenproduktes. Der angegebene Wirkstoff ist meist auch hierin noch enthalten, oft aber weder in ausreichender Quantität noch Qualität. Die Folgen: mangelnde Wirkung und – im Falle von Antibiotika  – Resistenzbildung bei Krankheitserregern.Ein Produkt sieht wie ein Arzneimittel aus, enthält aber keinen Wirkstoff. Auch wenn die Fälschung »nur« Traubenzucker enthält: Die Krankheit wird weder geheilt, noch werden die Schmerzen gelindert.Das gefälschte Arzneimittel enthält gesundheitsschädliche oder giftige Stoffe und führt zu körperlichen Schäden oder zum Tod.

Warum der Täter-Opfer-Zusammenhang kaum zu ermitteln ist

Bei unseren Recherchen stoßen wir immer wieder auf ein Phänomen: Jährlich werden weltweit Millionen und Abermillionen gefälschte Medikamente sichergestellt. Die Opfer können jedoch nur in seltenen Fällen ermittelt werden.

Aber warum ist die Dunkelziffer so hoch? Ein Mediziner erklärte uns: Bei lebenserhaltenden Medikamenten, etwa bei Krebsmedikamenten, liegt das daran, dass Ärzte bei negativen Reaktionen auf die Behandlung mit einem Medikament die Symptome als Nebenwirkung oder als ein weiteres Krankheitsbild diagnostizieren. Im Falle von schweren Vorerkrankungen ist die Situation sogar noch dramatischer – auch aufgrund der Vielzahl an Medikamenten, die einem Patienten zeitgleich verabreicht werden. Beim Tod eines ohnehin kranken Patienten suchen Ärzte die Ursache daher nicht automatisch in einem verunreinigten, qualitativ minderen oder gefälschten Medikament, denn der Patient war ja schwer krank, sein Tod trat nicht überraschend ein. Auf die einwandfreie Qualität eines pharmazeutischen Präparats hingegen vertraut man im Allgemeinen.

Der Vorsitzende des Apothekerverbands in Hamburg, Dr. Jörn Graue, sagte uns dazu: Besonders im Bereich der Krebsmedikamente fehlen meist die Beweise, denn die Wirkstoffe lassen sich nur begrenzte Zeit nachweisen, und oft sind die betroffenen Patienten schon tot. Bei schweren Grunderkrankungen werde ohnehin nicht obduziert.

Selbst wenn ein Verdacht entsteht, ist es technisch bzw. pharmakologisch/toxikologisch so gut wie unmöglich, im Nachhinein – also nach der Schädigung oder sogar dem Tod eines Patienten – einen Kausalzusammenhang zwischen einem einzelnen, möglicherweise gefälschten Medikament und den Folgen herzustellen. So wandern Beweise wortwörtlich unter die Erde, und diese Tatsache schützt die Täter vor Entdeckung und Strafverfolgung.

Weil die Opfer so schwer zu ermitteln sind, ist es auch im strafrechtlichen Sinne kaum möglich, eine Täter-Opfer-Verbindung herzustellen. Denn wer soll verantwortlich gemacht werden, wenn es keine Beweise gibt? Im Rahmen unserer Recherchen beobachten wir immer wieder, dass überführte Medikamentenfälscher oder Händler wegen anderer Straftatbestände angeklagt und verurteilt werden, beispielsweise wegen Steuervergehen, Dokumentenfälschungen etc. Zu einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung oder ähnlicher Vergehen an Menschen kommt es dagegen sehr selten.

Im Geschäft mit gefälschten Medikamenten werden unvorstellbare Summen umgesetzt, die Täter betreiben einen hohen Aufwand und werden durch gigantische Profite belohnt. Das wäre nicht so, gäbe es nicht Millionen von Patienten, bei denen die gefälschten Medikamente ankommen. Da jedoch die wenigsten Fälle bekannt werden, fehlt es an einer Sensibilisierung des Fachpersonals und der Bevölkerung für die Gefahr durch Arzneimittelfälschungen. Und genau das ist Teil des Geschäftsmodells und des Erfolgs skrupelloser Pharmafälscher.

Der wirtschaftliche Schaden geht in die Milliarden

Gefälschte Medikamente sind nicht nur hochgefährlich für die Gesundheit. Sie haben auch schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft. Das belegt eine Studie des Amts der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom September 2016. In der uns vorliegenden Studie heißt es: Durch gefälschte Arzneimittel entsteht Pharmaunternehmen in Europa ein wirtschaftlicher Schaden von 10,2 Milliarden Euro jährlich. Das sind 4,4 Prozent des Jahresumsatzes. In Deutschland entgeht der Pharmawirtschaft mehr als eine Milliarde Euro, was 2,9 Prozent des Jahresumsatzes bedeutet. Ferner wirken sich die Verkaufseinbußen durch illegale Arzneimittel auf die Arbeitsplätze in der Branche aus. Diese Entwicklung ist mit dem Verlust von schätzungsweise neunzigtausend Arbeitsplätzen in europäischen Pharmabetrieben verbunden. Auf Deutschland bezogen heißt das, durch Arzneimittelfälschungen gehen an die siebentausend Arbeitsplätze verloren. Errechnet wurden auch die entgangenen Steuereinnahmen. Diese, so die Studie, belaufen sich auf circa 1,7 Milliarden Euro pro Jahr.

Von dieser Entwicklung ist auch Italien mit fünf Prozent des Jahresumsatzes betroffen, Frankreich mit drei Prozent, Spanien mit 5,9 Prozent und Großbritannien mit 3,3 Prozent, heißt es in der EU-Studie von 2016.

Böse Fälscher und der Lifestyle

Eine harmlose Bestellung im Internet

Alles, was man für die Fälschung von Medikamenten braucht, ist eine Person mit Zugang zu einem kleinen Labor, einer Neigung zum Diebstahl sowie die totale Missachtung der Menschenwürde.

Milton Silverman von der Universität San Francisco (Global Pharma Health Fund e.V., 2004)

Maren B., Anfang dreißig, träumt vom Schlanksein. Dieser Traum sollte ihr fast zum Verhängnis werden. »Es war drei Jahre nach der Geburt meines Sohnes, und ich hatte noch nicht das Wunschgewicht«, erinnert sich die junge Mutter in einem Gespräch mit uns.

Es ist der Anfang des Jahres 2004. Mit guten Vorsätzen begibt sich Maren B. auf die Suche nach einem neuen Medikament, das gerade auf den Markt gekommen ist. »Xenical« heißt das Mittel, das sie im Internet finden will. Die Werbung der Schweizer Herstellerfirma Hoffmann-La Roche verspricht Großartiges, was Maren B. gerne glaubt. »Wenn man diese Pillen zum Essen nimmt, soll man das Fett ausscheiden. Das hat mich schon beeindruckt«, gesteht Maren B. Aber das Medikament ist damals rezeptpflichtig und soll nur unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden, wegen möglicher starker Nebenwirkungen, die sein Wirkstoff Orlistat in der Leber auslösen kann. Das geht bis hin zum tödlichen Leberversagen. Doch einen Arztbesuch will die junge Frau vermeiden. Sie schämt sich, dass sie noch immer nicht abgenommen hat, und außerdem fürchtet sie, der Arzt würde ihr zu Sport und weniger Essen raten. Auch mit ihrem Ehemann kann sie nicht darüber sprechen, denn der versteht ihren Diätwunsch nicht. Sie sei schön, wie sie ist, sagt er. Also beschließt Maren B., sich die neue Diätpille heimlich zu besorgen.

An diesem Tag wird Maren B. im Internet fündig und stößt mit nur wenigen Mausklicks auf ein vielversprechendes Angebot. »Ich brauchte nur Xenical einzugeben und konnte es bestellen. 60 Pillen für 140 Euro. Es wurde kein Rezept verlangt.« Die Internetseite wirkt seriös und trägt einen pharmazeutisch klingenden Namen: BestMedUnion.

Wenige Tage später trifft die Lieferung bei Maren B. ein. Eine Packung Xenical, die äußerlich exakt so aussieht wie das Original. Sie fängt mit der Behandlung an und nimmt die ersten Tabletten regelmäßig, wie auf dem Beipackzettel angewiesen. Doch das als Wundermittel angepriesene Präparat zeigt keine Wirkung. Es vergehen ein, zwei, drei Wochen, und Maren B. nimmt nicht ab. Enttäuscht und nichts ahnend ruft sie bei der Herstellerfirma Hoffmann-La Roche in der Schweiz an, um ihren Unmut kundzutun. Hoffmann-La Roche lässt sich die Internetware von Maren B. zur Verfügung stellen, um sie im firmeneigenen Labor zu testen. Die Laboranalyse bestätigt den Verdacht: Bei der Internetsendung handelt es sich um eine Totalfälschung. Das Mittel enthält keinen Wirkstoff. Maren B. und die Schweizer Herstellerfirma erstatten daraufhin Strafanzeige.

Die Anfänge: alles, was schlank, schön und potent macht

Lifestyle-Medikamente sind im normalen Handel teuer und werden wegen möglicher Nebenwirkungen von Apotheken und Ärzten nur kontrolliert abgegeben. Für Kriminelle, die mit gefälschten Pillen Kunden wie Maren B. betrügen, tat sich daher etwa seit der Jahrtausendwende ein lukratives Geschäft auf. Dem unglaublichen finanziellen Erfolg des Potenzmittels Viagra von Pfizer, das 1998 auf den Markt kam, folgte eine regelrechte Fälscher-Epidemie. Seither wird alles kopiert, was schlank, schön und potent macht. Etwa zur selben Zeit, Ende der 1990er-Jahre, entstand mit dem Internet eine neue Handelsplattform, die den Fälschern den Absatz ihrer Ware enorm erleichterte. Denn anders als zuvor stehen zwischen dem Hersteller eines Medikaments und dem Patienten keine fachlich ausgebildeten Personen mehr, also Ärzte oder Apotheker, die wissen, was sie verkaufen und an wen. Der Schamfaktor, der vielen Lifestyle-Medikamenten anhängt, tut ein Übriges: Menschen, die es wie Maren B. vorziehen, ein Abnehmpräparat oder ein Potenzmittel heimlich zu bestellen, bleiben bei der Onlinebestellung anonym. Das gilt erst recht für Personen, die wegen Vorerkrankungen wie Herzproblemen oder Organfehlern diese Präparate gar nicht bekommen dürften. Und für Anwendungen, die verboten sind, wie beispielsweise Anabolika und andere wachstums- und leistungssteigernde Mittel für Sportler. Der Schamfaktor, der Kunden in die Bereiche des anonymen Onlinehandels treibt, schützt zugleich die Fälscher fast immer vor Strafverfolgung. Denn wer erstattet schon Anzeige bei der Polizei mit dem Vorwurf, ein Abnehmpräparat habe nicht zur Wunschfigur oder Viagra nicht zu einer Erektion geführt?

Es ist überraschend leicht, verschreibungspflichtige Medikamente im Internet zu finden. Allein der Suchbegriff nach einem Medikament reicht aus, um bei Suchmaschinen wie Google auf zahlreiche Kaufanzeigen scheinbar seriöser Internet-Apotheken zu stoßen. So können Patienten sich weltweit auf eigene Faust, vorbei an allen Kontroll- und Sicherheitssystemen, mit Medikamenten versorgen. Bezahlt wird privat, ohne dass eine Krankenkasse eingebunden wird. Dass die Quellen fast immer fragwürdig sind, ist den wenigsten Kunden bewusst. Auch die Internetunternehmen stören sich offenbar nicht daran, dass es sich bei den Angeboten auf der jeweiligen Seite häufig um schädliche Medikamentenfälschungen handelt. Zumindest tun sie nichts dagegen – ganz im Gegenteil, sie kassieren fleißig ab.

Das liegt auch daran, dass immer mehr legale Apotheken mit ihrem Angebot ins Internet drängen, als Folge einer kaum aufzuhaltenden Entwicklung unserer digitalen Gesellschaft. »In den USA oder zum Beispiel Australien gibt es den Versandhandel mit Arzneimitteln schon lange. Dort erzwingt dies zum Teil einfach die Infrastruktur«, sagt Prof. Schweim und erklärt die Entwicklung am Beispiel Australien: »Sie können im australischen Busch nicht in die nächste Apotheke gehen. Da kommt das Flugzeug und wirft einen Sack mit den Arzneimitteln ab, die Sie brauchen. Da haben die Leute dann gemerkt, wenn wir gefälschtes Zeug unterschmuggeln, dann verdienen wir daran auch.« So seien ganze Fälschernetzwerke in diese Märkte eingedrungen. »Und dann kam eben der Versandhandel im Internet, und ganz wesentlich dafür war die Entwicklung im Westen: die sogenannten Lifestyle-Arzneimittel. Dinge, die schön und begehrenswert machen. Denn diese wurden in der Regel nicht vom Sozialversicherungssystem übernommen, sondern mussten privat bezahlt werden.«

Der größer werdende Onlinemarkt für Arzneimittel stellt Konsumenten und Behörden vor große Herausforderungen. Denn die Fälscher betreiben einen hohen Aufwand, um ihre Online-Apotheken seriös erscheinen zu lassen, sie investieren viel Geld in professionelles Design, einfache Bedienung und schnelle Abwicklung. Oft investieren sie sogar mehr in diese Bereiche als legale Internet-Apotheken. Häufig, so berichten uns Ermittler, seien diese Internetseiten mit Logos von TÜV oder/und Stiftung Warentest versehen. Alles, um dem Kunden Seriosität zu suggerieren und sein Vertrauen zu gewinnen.

Insgesamt kann man sagen, dass auch die Fälscher durch den Onlinemarkt vor neue Herausforderungen gestellt sind. »Man musste, sagen wir mal, in der organisierten Kriminalität eine Stufe höher, um Vertrieb und Ähnliches zu organisieren«, so Schweim. Aber das Gewinnpotenzial ist eben auch riesig, jede Investition lohnt sich. Der Großteil der Fälscher kommt nicht aus der Pharmabranche oder dem Gesundheitswesen, sondern aus dem Bereich der organisierten Kriminalität, des Drogenhandels und der Hehlerei. Es sind »böse Männer«, die in Hinterzimmern alles kopieren, was teuer ist. Gleichzeitig rufen die exorbitanten Gewinnaussichten auch Gelegenheitstäter auf den Plan, Menschen, denen sich – als Logistiker, bei Aufsichtsbehörden etc. – die Möglichkeit bietet, schnelles Geld zu verdienen, und die dieser Verlockung nicht widerstehen können.

Wer Arzneimittel in einer unseriösen Online-Apotheke bestellt, geht ein hohes Risiko ein, denn mindestens die Hälfte der dort angebotenen Mittel sind gefälscht, darin sind sich Ermittlungsbehörden, Apotheker und ihre Fachverbände einig. Untersuchungen zufolge liegen aber gerade die Deutschen bei der Risikofreudigkeit von Internetbestellungen an vorderster Stelle, wie der Zoll bei seiner Jahrespressekonferenz 2016 berichtete. Oft werde bei Arzneibestellungen nicht mal das Impressum des Anbieters gelesen. Bei einer von den Ermittlern eingerichteten Fake-Adresse einer Internet-Apotheke beispielsweise seien 1.400 Bestellungen eingegangen – obwohl im Impressum ausdrücklich der Hinweis gegeben wurde, dass der Anbieter nur darauf aus sei, die Kunden »zu belügen und zu betrügen«.

Die Pharmazeutische Zeitung berichtet im Mai 2016 über Untersuchungen, die das Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker in Eschborn durchgeführt hat. In dem Institut wurden in den vergangenen Jahren mehrfach bei dubiosen Internetversendern bestellte Lifestyle-Arzneimittel geprüft. Zu den untersuchten Präparaten gehörten unter anderem die bekannten Medikamente gegen Erektionsstörungen Viagra, Levitra und Cialis. Mit folgenden Ergebnissen: Bei manchen Fälschungen entsprach der Wirkstoffgehalt dem des Originalprodukts. Bei anderen aber war zu viel oder zu wenig Wirkstoff enthalten. Bei wieder anderen lag der Wirkstoffgehalt weit über, bei manchen weit unter der korrekten Dosierung. Außerdem stellte sich heraus, dass Fälschungen mit sehr gut kopierten Verpackungen nicht automatisch darauf schließen ließen, dass auch das Präparat selbst den richtigen Inhalt bzw. die richtige Dosierung hatte. In vielen Fällen war es aufgrund der gut kopierten Verpackung nahezu unmöglich, Fälschungen bereits äußerlich zu erkennen.

Ermittlungen und Untersuchungen kommen immer wieder übereinstimmend zu einem Ergebnis: Sie zeigen, wie lukrativ das Geschäft mit gefälschten Medikamenten ist. »Sie verdienen mit gefälschten Medikamenten erheblich mehr als mit harten Drogen wie Kokain oder Heroin«, sagte uns Hans-Joachim Mill.

Mill, einst Kriminalbeamter im Bereich Kapitalverbrechen, wechselte nach über dreißig Jahren im Polizeidienst in die Industrie, wo er zunächst bei dem US-Softwarekonzern Microsoft für das Thema Produkt- und Markenpiraterie zuständig war. Anschließend wurde er von einem der weltgrößten Pharmakonzerne abgeworben und übernahm den Bereich zur Bekämpfung von Medikamentenfälschungen.

»Ich bringe das mal auf einen Nenner: Mit tausend Euro Investment können Sie im Bereich Medikamentenfälschung bis zu 500.000 Euro verdienen. Die Zahlen gehen auf eine Studie des österreichischen Finanzministeriums von 2007 zurück. Und die Gefahr, als Medikamentenfälscher erwischt zu werden, ist relativ gering«, erklärt uns Mill.

Außerdem decken Ermittler, wenn sie sich auf die Spur eines gefälschten Medikaments begeben, häufig weitverzweigte Netze krimineller Machenschaften auf. Als die betrogene Xenical-Kundin Maren B. 2004 bei Hoffmann-La Roche anruft, bringt sie europaweite Ermittlungen ins Rollen. Daraus wird einer der ersten wirklich aufsehenerregenden Fälle von Arzneimittelfälschung.

Das Landeskriminalamt Saarbrücken übernimmt die Ermittlungen, denn erste Hinweise auf die Fälscher führen ins Saarland. »Wir hatten die Bestellerin und eine Vielzahl von Webseiten, die unsere saarländische Tätergruppierung hier betrieben hat«, berichtet uns Dr. Martin Emmerich, der Ermittlungsleiter. Was als regional begrenztes Verfahren beginnt, weitet sich bald zu einer internationalen Täterfahndung aus. Das saarländische Netzwerk entpuppt sich nämlich als Teil eines europaweit agierenden illegalen Firmengeflechts. Zunächst kommt der deutsche Fälscherring, bestehend aus sechs Personen, drei davon in einer kleinen Ortschaft unweit von Saarbrücken, ins Visier der Ermittler. Auf ihren Webseiten mit medizinisch anmutenden Namen – BestMedUnion.com, europeanmed.com, usw. – boten illegale Online-Apotheken alles an, was teuer und gefragt war. Die Täter betrieben mindestens vierhundert Internetseiten dieser Art, um ahnungslose Kunden in ganz Europa anzulocken. Allein die Webpräsentation hat die Täter in zwei Jahren mehr als 150.000 Euro gekostet. »Sie haben diese Summe investiert, um ihre Seiten besonders attraktiv erscheinen zu lassen und um auf ihren Seiten ein intaktes Inkassosystem zu installieren«, so Emmerich.