PhiloSUFFie - H.R. Albrecht - E-Book

PhiloSUFFie E-Book

H.R. Albrecht

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Motiviert ein Schlag in die Magengrube? Der Autor des Buches, selbst trockener Alkoholiker, meint: "mit Sicherheit nicht!" Alkoholiker sind Menschen wie Du und ich. Sie haben Stärken und Schwächen. Viele von Ihnen leisten Außergewöhnliches in Kunst, Politik und Wirtschaft. Doch auch der einfache Säufer von nebenan, ist ein wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft. In kleinem Rahmen, innerhalb seiner Möglichkeiten, ist er vielen Menschen ein Fels in der Brandung und Stütze der Wirtschaft. Dies gilt, entgegen öffentlicher Meinung, selbst dann wenn der Alkoholiker noch trinkt. Wenn Du oder Dein Angehöriger saufen, schaut auf die starken Seiten Eurer Persönlichkeit. Hört auf zu saufen, und geht erhobenen Hauptes durch Euer Leben!

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Seitenzahl: 179

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H.R. Albrecht

PhiloSUFFie

Die Welt braucht Alkoholiker

Ein autobiografischer Ratgeber

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lektorat:

B. Martin - Berlin, Charlottenburg

Umschlaggestaltung, Fotografie und Konvertierung nach ePub-Format:

H.R. Albrecht

Druckvorstufe: ePubli

Druck und buchbinderische Verarbeitung: ePubli

 

Impressum

Philosuffie

H.R.Albrecht

Copyright: © 2015 H.R. Albrecht

published by: epubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-7375-3157-3

 

Hinweis: 

Das Buch ist sorgfältig erarbeitet worden. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gemachten Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Esel geht voran. Wer ich bin.

Die ersten trockenen Wochen und Monate.

Ziele sind gute Krücken.

Meine erreichten Ziele.

Habe ich jetzt, mit 52 noch Ziele?

Bin ich sicher? Oder Stand der Dinge.

Fragst Du Dich ob Du überhaupt Alkoholiker bist?

Ok, Du bist Alkoholiker. Was jetzt?

Welcher Trinkertyp? Egal!

Eine Empfehlung zum Thema Selbsthilfegruppen.

Lass Dich nicht klein machen!

Wie es bei mir angefangen hat.

Auswüchse bei mir.

Bis in den Tod.

Dein Selbstwertgefühl.

Deine Partnerschaft.

Dein Problem!

Um Hilfe bitten. Hilfe annehmen.

Freizeitgestaltung.

Suchtverlagerung.

Schulden.

Was willst DU wirklich?

Deine Leistungsfähigkeit.

Zufriedene Trockenheit? Glück?

Muss der Tiefpunkt wirklich sein?

Angehörige.

Was wäre wenn? Wehret den Anfängen!!!

Die alten Saufkumpanen treffen?

Wirkliche Freunde.

Das Märchen vom “überredet worden zu sein.”

Umgang mit Partys.

Rückfall.

Halt es Dir ein wenig vor Augen, das Negative.

Saufdruck!!?? Mein Antidot.

Kränkungen und Verletzungen.

Ein verschwendetes Leben.

Anderen und sich selbst verzeihen!

„…und ich bin trockener Alkoholiker“

Die Welt braucht Alkoholiker!

An die Normalen dieser Gesellschaft.

Berühmte Alkoholiker.

Was sucht(est) Du wirklich? Das große Warum.

Glauben als Weg?

Das Leben kann beschissen sein!

Zahlen und Fakten.

Was kann die Politik tun?

Was können Angehörige, Nachbarn, Kollegen tun?

Zum Schluss.

 

 

 

 

Vorwort

Du oder Dein Angehöriger sind am saufen? Schlimm, sehr Schlimm…

Die gute Nachricht: Ihr seid deswegen keine schlechten oder minderwertigen Menschen. Jedenfalls nicht, wenn ihr das Saufen sein lasst! Ich behaupte sogar das Gegenteil. Alkoholiker sind, in der Regel, wenn sie nicht trinken, gute Menschen. Leider sind sie aber auch etwas zu sensibel für die Widrigkeiten unserer Ellbogengesellschaft. Im emotionalen Kochtopf des Alkis herrscht meistens Hochdruck, und Alkohol ist das Überdruckventil.

In diesem Buch beschreibe ich aus meiner persönlichen Erfahrung, was ich mit und rund um den Alkohol so alles erlebt habe. Seit 1988 bin ich fast durchgehend „trocken“. In dieser Zeit habe ich vier Rückfälle gebaut, die sich aber zum Glück weder lange hinzogen, noch nennenswerte soziale Probleme zur Folge hatten.

Mit dem, was ich hier schreibe, möchte ich neben der Schilderung meiner Erfahrungen, vor allem eins vermitteln: Es lohnt sich aufzuhören. Je früher desto besser! Je früher Du aufhörst, umso mehr Ziele kannst Du noch erreichen. Wer jetzt nun aber schon älter ist, muss nicht denken: „Bei mir wird´s eh nix mehr, kann ich auch weiter saufen“. So ist es nicht. Auch wenn Du älter bist, lohnt es sich, schon alleine fürs Wohlbefinden und die Gesundheit. Haben ältere Menschen nicht auch noch Wünsche? Manche sollen sogar noch Sex haben…

Je mehr Du aber säufst, desto weiter rücken Deine Wünsche in die Ferne. Glück, Liebe, Zufriedenheit, ein neuer Partner, eine gute Arbeitsstelle, Reisen, eine schöne Wohnung, vielleicht ein Motorrad, wenn die Pappe noch nicht weg ist. Es ist alles machbar, Du musst es nur wollen. Ja WOLLEN!!!

Ich weiß, dass mir jetzt viele widersprechen werden, weil Alkoholismus aus ihrer Sicht nichts mit Wollen zu tun hat. Mir ist klar - trotz meines hohen Alters -, dass das Krankheitsmodell“ sogar schon wissenschaftlich belegt ist. Ja, ES IST EINE KRANKHEIT, es wurden sogar genetische Zusammenhänge entdeckt. Trotz allem sage ich: Hätte ich nicht den Willen zu einer Änderung meiner Lebensumstände in mir gehabt, ich wäre heute tot, oder würde zumindest unter der Brücke leben!

Auch wenn der Vergleich etwas hinkt: Wenn der Insulinpflichtige Diabetiker sein Insulin ablehnt, wird er über kurz oder lang sterben. Er muss die Bereitschaft mitbringen, leben zu wollen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger erwarte ich von Dir.

Du bist Angehöriger? Dann richtet sich dieses Buch auch an Dich, aber in der Regel werde ich hier den Betroffenen selbst ansprechen. Das ist dem Umstand geschuldet, dass ich es mir etwas einfacher machen möchte, also nicht wundern. Sicher wird sich das eine oder andere Kapitel direkt an Angehörige wenden, aber insgesamt spreche ich den Trinker an. Auch ohne direkt gemeint zu sein, wirst Du als Angehöriger einiges Interessantes erfahren.

WARNHINWEIS: Dieses Buch kann Widersprüche enthalten. Es kann sein, dass der Autor (ich) Richtiges und Falsches erkannt hat, aber noch nicht jede Erkenntnis - konsequent und zu jeder Zeit - in entsprechende Handlung umsetzen kann. Aber er ist weiter darum bemüht.

Widmen möchte ich dieses Buch:

Jenen Menschen, die mir hier und dort in verschiedenen Lebensabschnitten geholfen haben.

Jenen Menschen, die am Alkohol verstorben sind und ohne die diese Welt deutlich ärmer und kälter ist.

Jenen Menschen, die mir immer mal wieder den Antrieb gaben, mich nicht fallen zu lassen: meiner Tochter und meinem manchmal ätzenden und doch geliebten ältesten Bruder.

Der Esel geht voran. Wer ich bin.

Das ist jetzt aber wirklich schwer: mich erklären, beschreiben...

Am besten fang ich wohl damit an, dass ich 1962 in Berlin-Gatow geboren bin. Gatow ist ein kleines Dorf, ein Stadtteil von Spandau, in ehemals West-Berlin. Es liegt idyllisch an der Havel, hat kleine Badestrände, Wald und Wiesen. Und, wie das so auf dem Dorf ist, jeder kannte jeden.

Heute würde ich schätzen, dass ich so bis zu meinem sechsten oder siebten Lebensjahr eine recht normale Kindheit hatte. Der Alkoholkonsum meiner Eltern stand noch nicht so weit im Vordergrund, dass sich die „Eingeborenen“ darüber das Maul hätten zerreißen können.

Schon als Kind hatte ich den Eindruck, dass mein Vater sehr viel Zeit in den örtlichen Kneipen verbrachte. Mein Vater hatte mich, solange ich noch nicht in die Schule gehen musste, immer auf seinem LKW dabei, wenn er Kunden belieferte. Er war selbständiger Kohlenhändler, verkaufte Brikett, Koks (Steinkohle) und Heizöl. Bei vielen seiner Kunden gab es für ihn etwas zu trinken und das war selten Brause. Zu seinen Kunden gehörten auch Gastwirtschaften, und um den Irrsinn noch zu komplettieren, war seine Stammkneipe im Erdgeschoss unseres Wohnhauses. Der Grundstein für unseren Familienalkoholismus war somit sehr solide gelegt.

Schon früh wurde ich auf diese Weise an Alkohol herangeführt. Als ca. 7-jähriger durfte ich Eierlikörgläser auslecken und die Bierschaumkronen wegschlürfen.

 

Nach wenigen Jahren ging das Geschäft meiner Eltern bankrott, weil sie zu gutmütig waren und Brennstoffe auf Pump herausgaben, sodass sie letztlich ihre eigenen Rechnungen nicht mehr zahlen konnten.

Die Folge war: Wir zogen innerhalb des Dorfes um, auf den sogenannten Säuferhof! Dieser wurde in der Tat später so genannt, weil sich dort Menschen sammelten, die ausgiebig dem Trunke huldigten. Menschen, die das Ziel aus den Augen verloren hatten, die aus dem Gleichgewicht waren. Strandgut eben. Es gab wilde Partys, Saufgelage, Brände, Tote, Schlägereien. Erstaunlicherweise lebten auch ein paar Nichttrinker auf dem Säuferhof. Die waren aber in der Minderheit.

Ab meinem 10. Lebensjahr nahmen die Probleme zu. Der Alkoholkonsum meiner Eltern wirkte sich auf meine schulischen „Leistungen“ aus. Zudem kam es zu sehr unschönen Szenen mit Lehrern und Außenstehenden, die mich - vor Scham - am liebsten hätten im Boden versinken lassen.

Ich schämte mich für den Alkoholkonsum meiner Eltern, für unsere dreckige Wohnung, für die peinlichen öffentlichen Entgleisungen meiner Mutter, wenn sie alkoholisiert war. War sie betrunken, war meine Mutter laut, aggressiv, verletzend, schmutzig, übel riechend, weil die Kleidung und sie selbst schmutzig waren, manchmal war sie auch distanz- und schamlos. Die Menschen vermieden wenn irgendwie möglich den Kontakt mit ihr, wenn sie betrunken war. Sie konnte mit ihren „Auftritten“ gesellige Runden innerhalb von Sekunden sprengen.

Eine besondere Begebenheit trug sich einmal in der Grundschule zu: Nachdem ich ein Diktat wie üblich verkackt hatte, musste ich das Diktatheft zu Hause unterschreiben lassen. Das war kein großes Drama, denn im Grunde interessierte sich niemand für meine Zensuren, es setzte sich auch kaum jemand zum Lernen mit mir hin. Meine Mutter unterschrieb das Diktat im Suff, korrigierte aber den Deutschlehrer und schmierte noch einen Spruch ins Diktatheft. Ich weiß noch, dass es um die Schreibweise des Wortes „Traktor“ ging. Das führte dazu, dass der Lehrer mich vor der versammelten Klasse aufstehen ließ, um dann quer durch den Raum zu brüllen: „Deine Mutter ist wohl eine Säuferin!“ Das war nicht der einzige Satz, aber dieser brannte sich in mein Gedächtnis. Effektiver kann man einen 10-jährigen Jungen nicht erniedrigen. Und das wegen eines einzigen unwichtigen Wortes…

Solche und ähnliche Episoden erlebte ich im Lauf der Jahre sehr oft. Diese alkoholbedingten Aussetzer meiner Mutter führten dazu, dass ich so gut wie nie neue Freunde oder gar ein Mädchen heimbrachte. Meine Geschwister hatten solche Traumata übrigens nicht zu verkraften, weil ich das Nesthäkchen, der Nachzügler war. Sie waren zu der Zeit schon ausgezogen.

Ziemlich sicher bin ich mir darin, dass diese beschämenden Vorfälle bis heute dafür sorgen, dass ich mit Kritik nicht umgehen kann. Erst recht nicht, wenn ich denke, dass es ungerechtfertigte Kritik ist. Sofort empfinde ich die früheren Demütigungen. Demütigungen für etwas, was ein Kind von 10 Jahren mit Sicherheit nicht zu verantworten hat.

Aber es ging weiter. Als ich an der Oberschule war und es kam zu den ersten „Partys“ mit Billigwein, war ich der Erste, der sich von Anfang an randvoll laufen ließ, obwohl ich Wein widerlich fand. Das ist bis heute so. Von Beginn an hatte ich das Bestreben mich zuzuschütten, sodass ich schon mit 14 oder 15 Jahren das erste Mal volltrunken heimkam.

Das elterliche Umfeld und das fehlende Einschreiten von Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder Lehrern bedingten immer schlechter werdende Leistungen in der Schule. Nicht, dass ich jemals eine Leuchte gewesen wäre, aber es pendelte sich nach und nach ein Notenschnitt von 4 oder schlechter ein. Nicht mal Hauptschulniveau.

Für mich war die Schule nichts weiter als ein Ort, wo man hin musste, allerdings mit dem Vorteil, dass man dort auch Spaß haben konnte, vorwiegend nach Schulschluss mit ausufernden Saufgelagen. Und ich war immer ganz vorne dabei.

Die Oberschuljahre vergingen, zeitweise spielte ich noch in einer Band, dann war ich kurz im Fußballverein, mal im Judoverein, aber nichts hatte Bestand. Zwar war ich immer sehr schnell Feuer und Flamme für neue Geschichten, brachte es in kurzer Zeit sogar zu recht ansehnlichen Leistungen, aber durchhalten konnte ich nichts. Das wurde mir dann auch von einigen, für mich wichtigen Menschen, immer wieder aufs Brot geschmiert: „Nichts hältst Du durch, Versager!“

So ging es weiter bei Ausbildungsplätzen, Arbeitsstellen und sonstigen Aktivitäten. Später kam noch Fahren ohne Führerschein und Fahren unter Alkoholeinfluss dazu. Meine Freundin warf mich aus der gemeinsamen Wohnung. Ich wanderte sogar kurzzeitig in den Knast. Ich ließ also nichts aus, um meiner Rolle als schwarzes Schaf gerecht zu werden. So lieferte ich, was erwartet wurde. 

 

Irgendwann war es dann soweit, dass ich nur noch von Gelegenheitsjobs lebte. Dieses Geld jedoch verballerte ich für Alkohol. Noch hatte ich meine Eltern. Sie hielten mich mit Essen und Unterkunft über Wasser.

Ich lebte also in den Tag hinein und nächtens zog ich mit Kumpels um die Häuser, vorausgesetzt einer von uns hatte Kohle, die wir für Suff und Spielautomaten einsetzen konnten. Das ging einige Jahre so. Die Geschichten, die sich in dieser Zeit ereigneten, würden schon alleine ein Buch füllen, aber ich denke, davon muss ich hier nicht viel schreiben. Jeder Alki kennt die Partys, den Spaß, die positiven Gefühle, die mit Rausch verbunden sind, genau wie die negativen Erlebnisse.

Als mein Vater 1988 an Krebs verstarb, war ich geschockt. Er war trotz allem meine geliebte Bezugsperson. Nun war er weg. Ein halbes Jahr später kam mein Zusammenbruch. Mit 25 Jahren wanderte ich mit Panikattacken und massivem Alkoholmissbrauch in die Klinik.

Zu dieser Zeit trank ich an drei bis vier Abenden der Woche exzessiv. Zwischen 18 und 24 Flaschen Bier (0,33 Ltr.) überfluteten meinen Körper. Heute ist es für mich unfassbar, wie ich an einem Abend so viel Flüssigkeit in mich rein schütten konnte.

Entgiftung, Entwöhnungstherapie, dann therapeutische WG, ein langer Weg lag vor mir. Es folgten teils harte Jahre: Einzelne Rückfälle, schlimme Panikattacken und zu allem Überfluss verstarb auch meine Mutter recht bald.

Dennoch, es gibt auch außerordentlich Positives zu berichten. Es lohnt sich aufzuhören, egal wann, ob mit 25 oder 65 - nur aufhören, mehr musst Du erst mal nicht tun!

Auf den folgenden Seiten werde ich berichten, was machbar ist. Vielleicht bekommst Du oder Dein Angehöriger sogar noch mehr auf die Reihe als ich. Man kann ja nie wissen…

Die ersten trockenen Wochen und Monate

Entgiftungsstation? Bis dahin hatte ich noch nie etwas von einem solchen Ort gehört und wozu er wohl gut sein sollte. Das sollte sich schnell ändern.

Nachdem ich nach einer mächtigen Panikattacke mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht worden war, wurde ich auf eine Entgiftungsstation verlegt. Aus meiner Sicht völlig falsch. Klar, ich trank zu viel, aber das war aus meinem damaligen Empfinden heraus nicht mein Problem. Ich hatte doch Herzprobleme! Trotzdem war es mir erst mal egal, wo im Krankenhaus ich gelandet war. Hauptsache ich war in einem Krankenhaus, in dem ich mich sicher fühlen konnte, dort wo mir - dem Herzkranken - geholfen werden konnte. Notfalls könne man mich dort reanimieren, so dachte ich zu dieser Zeit.

Wenn man so will, haben die Panikattacken bei mir dazu geführt, dass ich mit dem Trinken aufgehört habe. Allerdings sorgten sie ein paar Wochen später noch einmal dafür, dass ich aus Angst um mein Herz rückfällig wurde, bis zur Besinnungslosigkeit soff und dann letztlich wieder auf der gleichen Station landete. Der zweiten Einweisung ging meine bis dahin heftigste Panikattacke voran. Diese schlimme Erfahrung sollte mich nun für viele Jahre trocken halten. Nicht die Einsicht ein Alkoholiker zu sein, nicht die Angst vor gesellschaftlichem Absturz, nein, nur die Angst vor der Angst, sie war der Motor, der mich „voran“ brachte.

Ich weiß natürlich, dass die Geschichten von Alkoholikern erheblich variieren, je nach Alter, Dauer des Alkoholkonsums, körperlicher oder seelischer Abhängigkeit. Schlimme Erlebnisse, Trennungen, Depression, Gefühl der Nutzlosigkeit, keinen Sinn mehr sehen, soziales Umfeld, Schulden, ich weiß um diese Unterschiede. Trotzdem, eins bleibt gleich: NUR wenn wir aufhören, können wir etwas von dem finden, was wir wirklich suchen. Nur dann.

Die Wochen auf der Entgiftungsstation vergingen. Ich sah Menschen, die immer wieder rein und raus gingen, Leute, die aggressiv waren. Ich sah Verhaltensstörungen und die Auswirkungen von Nervenschädigungen. Menschen, die ins Delirium fielen. Menschen, die körperlich extrem abgebaut hatten. Menschen, die starben.

Man konnte aber auch beobachten, wie sich Menschen etwas erholten. Kein Alkohol, Schlaf, regelmäßiges Essen und angemessene Körperhygiene machten aus dem einen oder anderen Wrack wieder eine ansehnliche Person.

Immer wieder erlebte ich dort auch die neunmalkluge Art von Alkoholikern, die gerade mal fünf Tage trocken waren aber schon 20 Entgiftungen hinter sich hatten. Ich meine die, die alles besser wussten, die sich zum Beispiel über jene Menschen lustig machten, die Selbsthilfegruppen ehrenamtlich vorstellten. Die ihren Spaß daran hatten, diese engagierten Menschen in Verlegenheit zu bringen, sie sogar vorzuführen. Diese abgefuckten Typen hatten alles verstanden, wussten um jeden kleinen Haken, den Alkoholiker schlagen, nur um sich selbst in einem bessern Licht erscheinen zu lassen. Auch wie sie andere Alkoholiker demoralisieren konnten, wussten sie nur zu gut. Nur eins wussten sie nicht: wie sie selbst trocken bleiben sollten. Meist kamen sie schon nach ein paar Tagen wieder in die Entgiftung und das Klugscheißen fing von vorne an. Mit diesen arroganten Typen hatte ich kein Mitleid, wenn sie wieder auf die Nase gefallen waren. Ich glaube, ich hatte damals eh mit wenigen Menschen Mitleid, am ehesten wohl noch mit mir selber. Erst heute, im Nachhinein, finde ich das Verhalten dieser Leute fatal. Sie haben so manchem Alkoholiker die Hoffnung genommen, nicht zuletzt auch sich selbst.

So vergingen die Wochen. Ich machte das Programm dort mit, kämpfte mit meinen Panikattacken, aber es ging mir schon etwas besser.

Mit Hilfe der Sozialarbeiterin fand ich eine Entwöhnungstherapie und wanderte im zweiten Anlauf nahtlos von der Entgiftung dort hin, ohne zu wissen, was mich dort erwartete.

Warum ich diese Anfangszeit hier kurz umrissen habe? Aus heutiger Sicht war das eine wirre Zeit. Nach der Entgiftung gibt es so viele neue Sinneseindrücke, die man verarbeiten muss, man versteht nicht wirklich, wohin die Reise gehen soll. Man ereifert sich über Probleme, die keine sind, oder zumindest nicht die eigenen. Und vor lauter Umwälzungen verliert man schnell das Wichtige aus dem Blick: Nicht saufen. Alles andere tritt dagegen in den Hintergrund. Wirklich alles. Die Frau, die Kinder, die Arbeitsstelle, alles, was im Normalfall wirklich wichtig ist, spielt zu diesem Zeitpunkt eine untergeordnete Rolle. Warum? Nun, was, wenn Du weiter säufst? Bleibt die Frau unter diesen Umständen ewig an Deiner Seite? Oder wird sie nicht gehen, wenn Du weiter säufst und die Kinder mit Deinem Verhalten schädigst? Und Deine Kinder? Wie viel Schaden hast Du ihnen schon zugefügt? Was werden sie zum Schluss von Dir denken? Der Arbeitgeber? Interessiert der sich wirklich für Dich? Was, wenn Du Dich kaputtgesoffen hast, wenn Du nicht mehr arbeiten kannst?

Du siehst: Alles geht zum Teufel, wenn Du nicht das Saufen lässt. Und ganz zum Schluss geht sogar DEINE Gesundheit vor die Hunde: Als finaler Höherpunkt verreckst Du, und das kann bei Spritköppen eine richtig miese Nummer sein.

Das tägliche Motto in dieser Zeit kann nur heißen, dass jeder Tag ohne Alkohol ein guter Tag ist!

Aber keine Sorge, es wird einfacher werden. Du wirst Dich nach und nach wohler fühlen, schöne Dinge ohne Alkohol wahrnehmen. Du wirst den Suff nicht mehr brauchen, steckst Dir Ziele, erreichst diese sogar. Steckst Dir neue Ziele, lernst sogar mit Rückschlägen, die sicher kommen, zu leben.

Ziele sind gute Krücken.

Wie Du gerade gelesen hast, gehe ich davon aus, dass sich Deine Situation nach und nach verbessern wird. Zu erwarten, dass das in einigen Wochen oder Monaten geschieht, ist illusorisch. Du und ich, wir haben zehn oder mehr Jahre daran gearbeitet, den Karren in den Dreck zu fahren. Es wird also seine Zeit brauchen, bis sich Erfolge einstellen, bis Du für Dich selbst etwas Klarheit geschaffen hast. Bis dahin freue Dich an den kleinen Dingen. Genieße es ein Heim zu haben. Vielleicht hast Du ein Haustier, umsorge es. Wenn es ein Hund ist, gehst Du hoffentlich viel mit ihm raus. Hab Spaß an der Bewegung und wenn Du noch körperlich einigermaßen beieinander bist – sei dankbar dafür, das könnte ganz anders sein.

Diese Kleinigkeiten sollen uns gefühlsmäßig bei der Stange halten, damit wir nicht in Verzweiflung und Selbstmitleid ertrinken. Das ist notwendig, weil die „großen Dinge“ nicht über Nacht geschehen. An den größeren Aufgaben musst Du arbeiten, planen. Wenn Du planst, steckst Du Dir Ziele. Mir war nicht immer bewusst, dass ich mir Ziele steckte. In die eine oder andere Sache bin ich mehr hineingestolpert, als dass sie geplant war. Aber letztlich kamen oft vorteilhafte, persönlichkeitsbildende „Konsequenzen“ dabei heraus. So ergaben sich Wege, aus denen ich neue Ziele und Motivation - nicht immer bewusst - ableitete. So war es nicht mein Ziel, Abitur zu machen. Mein Ziel war es eher, Eindruck damit zu schinden, dass ich zu solch einer Leistung überhaupt in der Lage war, wo ich doch vorher der Tunichtgut und Versager gewesen war. Heute sehe ich das mit dem Abitur zwar etwas anders, aber ich bin wirklich eher hineingestolpert, ja fast geschubst worden: Die Lehrer an der Schule, an der ich den Realschulabschluss nachholte (das war wirklich ein gestecktes Ziel), meinten, dass es so gut gelaufen sei, dass ich doch versuchen solle, das Abi zu machen. Und da ich nichts Besseres zu tun hatte, ging ich an die Fachoberschule im Johannesstift in Berlin-Spandau. An dieser Stelle ein fettes DANKE AN ALLE LEHRER dieser beiden Schulen und selbstverständlich auch an die Religionslehrerin, der ich ganz schön zugesetzt hatte. Sie waren alle liebe und hilfsbereite Menschen. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Schule positiv erlebte und es ist bis heute so geblieben. Ich lerne gerne. Ganz nebenbei haben diese Bildungsgeschichten dafür gesorgt, dass sich meine beiseitegeschobenen Schuldenprobleme später leichter beseitigen ließen. Dazu aber an anderer Stelle mehr. Nur so viel: Wenn Du lernen, Dich weiterbilden willst, mach es. Schieb es nicht auf.

 

Du siehst also, einige Ziele waren nicht wirklich als Ziel definiert. Sie „passierten“ mir. Meine Motive dahinter waren manchmal ganz anderer Natur, dennoch leiteten sie mich, und vor allem: Mein Selbstbewusstsein wurde dadurch gestärkt. Ich konnte wieder in den Spiegel schauen. Und das Wichtigste, Du weißt es, ich brauch es nicht noch mal schreiben. Oder etwa doch? Ich blieb trocken.

 

Schau für Dich selbst, welche Ziele Du Dir steckst, was Dich antreiben könnte. Die Ziele machst Du mit Dir aus, egal was es ist, brenn ein Bild von Deinem Erfolg in Dein Bewusstsein. Es wird Dich leiten, schieben und standhaft bleiben lassen, auch wenn es mal etwas dicker in Deinem Leben kommt.

 

Meine erreichten Ziele    

Es soll bitte nicht arrogant wirken, dennoch möchte ich kurz auflisten, was ich erreicht habe. Erstens, um Dir zu zeigen, dass positive Entwicklung möglich ist. Zweitens, weil ich auf ein paar geschaffte Dinge stolz bin. Außerdem muss ich mal sagen, dass es für Menschen, die unseren Hintergrund haben, erstaunlich ist, wenn sie es schaffen, ihre Sucht halbwegs unter Kontrolle zu halten. Wenn sie es dann sogar schaffen, Ziele zu verwirklichen, evtl. anderen Menschen noch Stütze sind, das ist dann doch wohl aller Ehren wert, oder? 

Also, meine Leuchttürme:

In über 25 Jahren weitestgehend trocken geblieben.

 

Den Realschulabschluss nachgeholt.