Plötzlich Irland - Angelina Bach - E-Book

Plötzlich Irland E-Book

Angelina Bach

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Beschreibung

Weil ihre Mutter einen Job in Tokio annimmt, muss die siebzehnjährige Lena für ein Jahr zu ihrem Vater ziehen, mit dem sie bislang wenig Kontakt hatte. Auf das Leben auf seiner kleinen Schaffarm an der irischen Atlantikküste hat Lena überhaupt keinen Bock. Statt dem Partyleben mit ihren Freundinnen in Berlin gehören bald schroffe Felsen, raue See und verregnete Nachmittage zu Lenas Alltag. Und was will eigentlich dieser seltsame Kerl mit seinem stinkenden Motorrad vor ihrer Tür?

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Inhalt:

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Danksagung

Anhang

EINS

„Was zur Hölle …?“

Lena versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der unbekannte junge Mann hinter der Gartenmauer sie gerade erschreckt hatte. Aber allein der unkontrollierte Hüpfer, den sie gemacht hatte, würde jeden Versuch, souverän zu wirken, wohl zunichtemachen.

Er warf ihr einen gelangweilten Blick zu. „Auch hallo. Wer bist du denn?“

Lena verschränkte die Arme vor der Brust. Cool konnte sie auch!

„Geht dich das was an?“, fragte sie zurück. Es nieselte und die Nässe fühlte sich unangenehm kalt an, obwohl es gerade einmal Ende August war. Lena hasste dieses Wetter.

„Du bist neu hier“, stellte der Kerl fest. Er tat supercool und überlegen, aber eigentlich, schätzte Lena, konnte er nicht viel älter sein als sie.

Verächtlich erwiderte sie: „Weil du natürlich sonst alle Frauen hier kennst.“

Er grinste anzüglich. „Na, so viele sind das jetzt auch wieder nicht. Is ein kleines Dorf.“ Er lehnte lässig an der Mauer aus grob gehauenen Natursteinen, die das Grundstück von Lenas Vater zur Straße hin abgrenzte. Was er hier wohl wollte? Auf den Bus wartete er nicht, denn der fuhr vom Dorfplatz ab, so viel wusste Lena bereits. Und außerdem kam der nächste erst heute Abend. Sie musterte ihn genauer. Er war ja irgendwie ganz attraktiv. Darauf bildete er sich vermutlich eine Menge ein. Die Kapuze seines Hoodies hatte er aufgesetzt, darunter standen halblange, wirre Haare hervor. Seine grauen Augen fixierten sie. Die Frisur und auch sein Kleidungsstil sahen lässig ungestylt aus, Lena kannte das von ihrer alten Clique in Berlin. In Wirklichkeit verbrachten solche Typen mehr Zeit im Bad als sie. Seine Jeans war am Knie aufgerissen, so als habe er versucht, über die Mauer zu klettern.

„Dein Akzent klingt süß, wo kommst du her?“, fragte er und sein unerschütterliches Grinsen verriet ihr, dass süß kein Kompliment war. Er wollte sich über sie lustig machen!

Von oben herab erwiderte sie: „Aus Berlin. Das ist die Hauptstadt von Deutschland, falls du es bei Google suchst.“

„Sag bloß.“ Er grinste immer noch.

Lena ballte die Hände zu Fäusten, die sie in ihren Jackentaschen vergraben hatte. Was wollte der Typ denn nun eigentlich?

„Hast du nen Freund?“, fuhr er fort und sah sie herausfordernd an.

Lena schnaubte empört. Ganz schön frech. Er hatte sich immer noch nicht vorgestellt, aber fragte sie schon über ihr Liebesleben aus!

„Warum sollte ich dir das auf die Nase binden?!“

„Also nein“, stellte er trocken fest.

In Lena begann es zu kochen. „Nein, ich habe keinen Freund, wenn du’s genau wissen willst. Und ich brauche auch keinen. Vielen Dank!“

„Vielleicht ja doch“, widersprach er anzüglich. „Wirkst’n bisschen unentspannt auf mich.“

Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein?!

Lena stieß erneut ein missfälliges Schnauben aus und drehte sich um. Warum hörte sie sich das überhaupt an?

Als sie ohne ein weiteres Wort wieder hineingehen wollte, rief er ihr nach: „Hast du nicht was vergessen?“

Lena wandte sich noch einmal zu ihm um. So unterkühlt wie sie nur konnte, sagte sie: „Ich wüsste nicht, was.“

Er grinste schon wieder. „Du bist grad von da drinnen rausgekommen, hattest du nicht irgendwas vor? Oder wolltest du mich nur kennenlernen?“

„Wirklich nicht.“ Damit ließ Lena ihn stehen und ging zurück zu dem kleinen Haus mit dem tief heruntergezogenen Dach.

Lena betrat die Diele und warf entnervt ihre Jacke in Richtung Garderobe, wo sie an einem der Haken hängenblieb. Was für ein Idiot!

Lebten in diesem gottverlassenen Kaff eigentlich nur Vollpfosten? Wie sollte sie es nur ein komplettes Jahr hier aushalten? Warum tat Mama ihr das an?

Unvermittelt traten Lena Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit einer wütenden Handbewegung fort. Jetzt heul nicht rum wie so ein Baby!, schimpfte sie sich selbst.

Hinter ihr betrat Alexander das Cottage. Er zerrte sich die schweren Stiefel von den Füßen. Dann sah er Lena.

„Wolltest du nicht spazieren gehen?“, fragte er.

Tatsächlich wäre Lena unter normalen Umständen nicht auf die Idee gekommen, spazieren zu gehen, aber was konnte sie in diesem gottverdammten Nest am Ende der Welt schon tun?

„Is mir vergangen“, motzte sie.

„Hast du Ayden Howard getroffen? Er stand draußen vor unsrem Gartentor.“

„Kenn ich nicht. Wer soll das sein?“ Lena war bewusst, dass sie patzig war. Und auch, dass Alexander nichts dafürkonnte. Strenggenommen. Aber sie verspürte gerade keine Lust, nett zu sein.

„Ist auch besser so“, sagte Alexander unbeirrt. „Dieser Ayden ist kein Umgang für dich. Halte dich von ihm fern.“

Obwohl Lena vor ein paar Minuten noch selbst der Meinung gewesen war, dass der Fremde am Gartentor niemand war, mit dem sie sich beschäftigen wollte, lösten Alexanders Worte sofort Widerstand bei ihr aus. „Das kann ich, glaub ich, selbst entscheiden.“

„Sicher. Aber in diesem Fall solltest du auf mich hören.“

„Warum? Was ist das denn für ein fürchterlicher Typ?“ Lena bemühte sich, gelangweilt zu klingen, doch jetzt war ihr Interesse doch geweckt.

„Ayden Howard. Er ist schon neunzehn oder so, hat mit sechzehn die Schule geschmissen und seitdem hängt er hier rum. Trifft sich mit dubiosen Leuten, hat ständig Ärger am Hals. Na ja, der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm …“

Alexander ging an Lena vorbei zur Küche und wusch sich die Hände am Waschbecken. Lena folgte ihm und ließ sich auf einen Stuhl am Esstisch fallen. Vom Küchenfenster hinter der Spüle aus konnte man auf den kurzen gepflasterten Weg zum Gartentor hinaussehen. Was sich hinter dem Tor abspielte, war durch die Mauer verborgen. Stand dieser Ayden immer noch da draußen?

„Was meinst du damit?“, nahm Lena den Faden wieder auf.

„Hm?“ Alexander wandte sich zu ihr um, während er sich die Hände mit dem Spültuch trocknete.

„Das mit dem Apfel. Was meinst du damit?“

„Ach so. Aydens Vater ist seit Jahren arbeitslos und seine Mutter ist eine weithin bekannte Trinkerin. Wahrscheinlich nehmen sie sich beide nicht viel in ihrem Alkoholkonsum. Böse Zungen behaupten, dass sie früher ihr Sozialgeld aufgebessert hat, indem sie anschaffen ging. Aber diese Zeiten sind wohl inzwischen vorbei.“ Aus Alexanders Worten sprach Abscheu und Verachtung.

Lena verspürte fast so etwas wie Mitleid mit Ayden. „Dann kann er ja nix dafür, dass er so geworden ist“, stellte sie klar. „Er hatte ja gar keine Chance.“

„Man hat immer eine Wahl“, erwiderte Alexander scharf. „Niemand hat ihn gezwungen, die Schule abzubrechen. Im Gegenteil, er hätte sehen können, wohin es einen bringt, wenn man gar keine Ambitionen im Leben hat.“

Lena zuckte die Achseln. Sie hätte einwenden können, dass Alexander selbst seine Ambitionen an den Nagel gehängt hatte, als er seinen gut bezahlten Job kündigte und in dieses Kaff im Nirgendwo zog, wo er sich jetzt mit Schafen statt mit Computern beschäftigte und in einer heruntergekommenen Scheune Whiskey panschte. Aber Lena hatte genug von dem Gespräch. So viel am Stück hatte sie seit ihrer Ankunft mit Alexander noch nicht gesprochen.

Für ihn jedoch schien das Thema noch nicht erschöpft zu sein. Er schob hinterher: „Tu mir einfach den Gefallen und halte dich von ihm fern. Okay?“

„Mhm“, machte Lena. Dann stand sie auf, nahm sich einen Apfel vom Sideboard und verließ die Küche. Sie stieg die schmale Treppe hinauf und ging in ihr Zimmer.

Zwei Wochen war Lena jetzt bei Alexander in Irland. Noch lagen fünfzig weitere lange Wochen vor ihr. Ein ganzes Jahr hatte ihre Mutter sie zu ihrem Vater abgeschoben, weil sie ein aufregendes neues Projekt in Tokio hatte. In diesem Jahr hätte Lena das Abitur in Berlin machen sollen, stattdessen saß sie jetzt in der irischen Pampa und konnte nur hoffen, dass sie es hinkriegen würde, als Gastschülerin einen passablen Abschluss zu schaffen. Mit ihrem Egotrip versaute ihre Mutter ihr gerade ihren eigenen Start ins Berufsleben, aber das schien sie nicht zu interessieren.

Im ersten Stock hatte das kleine Haus fast nur schräge Wände und kaum Fenster. Lena fand, dass man von den herabhängenden Decken und muffigen Ecken das Gefühl von Klaustrophobie bekam. Die Wohnung, in der sie zuletzt mit ihrer Mutter gewohnt hatte, war groß und hell gewesen, ein sanierter Altbau mit bodentiefen Fenstern und viel Tageslicht. Aber das hätte hier ohnehin wenig Sinn. Den Himmel hatte sie noch nicht anders erlebt als wolkenverhangen. Die türmten sich über dem Grasland wie auf einem dramatischen Gemälde. Wurde es an diesem schrecklichen Ort jemals richtig hell?

Lena erreichte ihr Zimmer. Immerhin hatte sie ein Zimmer für sich allein. Es war klein, muffig und finster, aber es war ihr eigenes Reich für die Zeit, die sie hierbleiben musste. Lena riss das Fenster auf. Kühle Luft strömte herein, es roch nach torfiger Erde. Die Schafe blökten auf der Weide unterhalb des Hügels, auf dem das Haus stand. Sie ließ sich auf das schmale Bett fallen, das diese Misshandlung mit einem empörten Quietschen quittierte.

Die Tränen liefen Lena jetzt ungebremst über das Gesicht. Ein Jahr. Ein verdammtes Jahr ihres Lebens.

Sie war fast achtzehn! Das nächste Jahr hätte – unter normalen Umständen – gute Chancen, das beste ihres Lebens zu werden. Die Zeit, an die sie später mit Nostalgie zurückdenken sollte. Über das sie eines Tages zu alten Freunden sagen könnte: Wisst ihr noch, damals?

Aber das würde sie nicht sagen. Denn sie hatte ja keine Freunde hier. Und die beste Zeit ihres Lebens verbrachte sie allein in einem muffigen Dachgeschosszimmer, umgeben von Wiesen, Wald und Schafen.

Sie dachte an den fremden Jungen, dessen Name offenbar Ayden war. Ein aufgeblasener Möchtegern, der sich was darauf einbildete, dass er hier so etwas wie Edward Cullen war.

Oder Mike Meyers.

Wie auch immer, viel aufregender als diese Begegnung würde es wohl heute nicht mehr werden.

ZWEI

„Hallo, meine Süße! Wie geht’s dir?“

Die Stimme ihrer Mutter klang aufgekratzt und überdreht. Die Bildübertragung ruckelte. Lena fühlte sofort Wut in sich aufsteigen. Ganz offenbar hatte sie Spaß in Tokio. Prima. Sie amüsierte sich und Lena saß im Nirgendwo fest.

„Großartig“, sagte Lena und ließ das eine Wort nur so vor Sarkasmus triefen.

„Schön, dass es dir gefällt!“ Ihre Mutter überhörte den Unterton einfach. „Verstehst du dich mit deinem Dad?“

„Er ist nicht mein Dad“, brummte Lena.

„Doch, Süße, das ist er. Genau das.“ Ihre Mutter fand auch das witzig und lachte gekünstelt.

Was war aus ihrer Beziehung geworden? Kaum war Iris ein paar tausend Kilometer weit weg, bekam sie von den unterschwelligen Botschaften ihrer Tochter nichts mehr mit. Dabei hatten sie sich früher blind verstanden.

Lena seufzte. „Ich nenne ihn Alex.“

Die wenig subtilen Schwingungen schien die Internetleitung zwischen Irland und Japan vollständig zu schlucken. Ihre Mutter sagte immer noch fröhlich, wobei der Ton und das Bild einen Versatz hatten: „Das ist doch perfekt. Ihr seid wie eine kleine Hippie-Kommune. Er ist dein Vater, aber du nennst ihn beim Vornamen. Das ist cool!“

Lenas Augen drohten vor lauter Zur-Decke-Rollen, gar nicht mehr in ihre Ausgangsposition zurückzufinden.

„Und die Schule?“, fragte ihre Mutter plötzlich und kam mit dem Gesicht so nah an die Kamera, dass die schmucklose Wohnung im Hintergrund ganz verschwand. „Warst du schon da und hast sie dir angeschaut?“

„Nein.“

Die renommierte Privatschule, die ihre Mutter für sie ausgesucht hatte und für die sie ein horrendes Schulgeld bezahlte, wie sie nicht müde wurde zu betonen, lag eine Stunde entfernt in Galway. Mit dem Schulbus dauerte die Fahrt sogar noch länger, weil der nicht die direkte Strecke fuhr. Den Fahrplan hatte Lena sich bereits angeschaut, mehr jedoch nicht.

„Fahr doch mit Alex mal hin. Damit du weißt, was auf dich zukommt. Du brauchst doch immer Struktur und Sicherheit, Mäuschen“, riet ihre Mutter.

Dass ausgerechnet sie Lena erklären wollte, was diese brauchte, ließ Lena gleich wieder die Galle hochkochen. Ihr Umfeld in Berlin hätte sie gebraucht! Ihre Freunde, die Schule, in der sie alle kannten, ihre Lehrer, die Fächerkombination, auf die sie hingearbeitet hatte, um gut abzuschneiden, aber nichts davon hatte sie mehr, weil ihre Mutter plötzlich festgestellt hatte, was sie für die Alleinerziehung ihrer Tochter in den letzten fünfzehn Jahren alles hintenangestellt hatte! Und wie stellte sie sich das überhaupt vor? Dass sie zu Alexander gehen und ihm sagen sollte: Komm, lass uns mal nach Galway fahren?

„Guck mal, soll ich dich rumführen?“, rief Iris zusammenhanglos und begann das Handy herumzuschwenken. Lena sah nur mit einem Auge hin. Die Wohnung lag in einem Hochhaus, durch das Fenster sah sie Häuserschluchten. Die Sonne spiegelte sich in Glas und Stahl, während in Irland dicke Regenwolken vor Lenas Zimmerfenster hingen.

Was war das überhaupt für ein dämlicher Vorschlag gewesen? Wie sollten sie nach Galway fahren? Alexander musste täglich zu festen Zeiten in den Stall beziehungsweise auf die Weide. Wenn er nicht gerade Schafe fütterte oder ausmistete, dann reparierte er Zäune, mähte Gras, kümmerte sich um das Heu, hatte den Tierarzt oder einen Käufer da oder tat, was es eben sonst so auf dem Hof zu tun gab. Daneben hatte er noch die Whiskey-Destillerie. Ganz sicher hatte er keine Zeit dafür, mit ihr sinnlos durch die Gegend zu fahren. Mal ganz abgesehen davon, dass das alte klapprige Auto, das er fuhr, gar nicht so aussah, als würde es den Weg nach Galway und wieder zurück überhaupt schaffen. Doch Lena sagte nichts davon.

Während ihre Mutter ihr das Schlafzimmer und den Essplatz zeigte, der aus einem kniehohen Tisch und Sitzkissen drumherum bestand, brummte Lena nur: „Mhm.“

„Hast du denn schon nette Bekanntschaften gemacht?“, wollte ihre Mutter wissen. Jetzt füllte ihr Gesicht wieder den Großteil des Bildschirms.

Lena dachte an die Begegnung mit diesem Ayden. Zu ihm fiel ihr einiges ein, aber nett ganz sicher nicht. Eigentlich war sein Auftreten sogar ziemlich unverschämt gewesen und nach allem, was Alexander ihr über ihn erzählt hatte …

„Hallo? Ich rede mit dir!“ Die aufgesetzte Fröhlichkeit wich noch immer nicht aus der Stimme ihrer Mutter, obwohl sie einen tadelnden Zwischenton bekommen hatte.

„Ich hör dich“, erwiderte Lena und fühlte sich plötzlich unendlich müde.

„Du hörst dich ein bisschen traurig an, Schatz. Das ist normal, weißt du? Lass dem Ganzen Zeit, du gewöhnst dich schnell ein. Du bist doch meine starke, große Tochter!“

Lena lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. Es hatte keinen Sinn, über das Telefon zu streiten. Die Situation war jetzt, wie sie eben war. Sie musste sehen, wie sie ohne ihre Mutter zurechtkam.

Patzig erwiderte Lena: „War’s das dann? Willst du noch mit Alex sprechen?“

„Ach was, nein.“ Iris kicherte wieder affektiert. „Ich höre ja, dass es dir gut geht bei ihm. Ich melde mich, okay? Sayonara!“

„Sayonara …“ Lena starrte das Handy noch an, als ihre Mutter die Verbindung längst unterbrochen hatte.

Was hatte sie erwartet? Seit sie dieses Angebot in Tokio bekommen hatte, war nichts anderes mehr an sie herangedrungen. Offenbar hatte ihre Mutter absolut keine Ahnung davon, was es für Lena bedeutete, ungefragt von Berlin Mitte an die irische Atlantikküste verpflanzt worden zu sein. Und das Telefonat hatte Lena wieder darin bestätigt, dass es ihrer Mutter auch eigentlich egal war.

Nach diesem Gespräch brauchte Lena dringend frische Luft. Sie ging hinunter, zog ihre Stiefel und die Regenjacke an und stapfte los in Richtung Ortskern. Die hochhackigen Schuhe, die in Deutschland zu ihrem Standardoutfit gehört hatten, lagen immer noch unausgepackt in einer Kiste ganz unten in ihrem Schrank. Lena fragte sich, ob es hier jemals so warm und trocken werden würde, dass sie etwas anderes als wasserdichte, grobe Stiefel tragen konnte. Zumindest zu der obligatorischen Schuluniform, die bereits sorgfältig gebügelt in einem Kleidersack in ihrem Schrank hing, würde sie wohl andere Schuhe anziehen können. Weil sie fror und außerdem auf andere Gedanken kommen wollte, fiel Lena in einen leichten Trab.

Was sie über die Schule bisher wusste, hatte sie aus dem kleinen dreifach gefalteten Flyer, den man ihr zugeschickt hatte. Es war eine Privatschule und ihre Mutter hatte vor allem Alexander gegenüber immer wieder betont, wie teuer sie war. Das Schulgeld kam von ihr. Als sie wegen der Vorbereitungen geskypt hatten, hatte Alexander einmal gesagt, dass er es unnötig fand, sie auf diese noble Schule zu schicken. Nicht nur, weil sie so teuer war, sondern auch, weil sie jeden Tag mit dem Bus bis nach Galway fahren musste und wieder zurück. Alexander hatte gesagt, die staatliche Schule in Clifden wäre genauso gut und die meisten Kinder aus der Gegend würden dorthin gehen. Aber ihre Mutter hatte davon nichts hören wollen.

Lena wusste, dass hier am ersten September das neue Schuljahr begann. Es handelte sich um das letzte Jahr der Sekundarstufe, die sie auf eine spätere Aufnahme auf ein College oder die Universität vorbereiten sollte. Sie würde am Ende dieses Schuljahrs den Abschluss machen. Iris war sich sicher gewesen, dass sie schnell den Anschluss finden und trotzdem gut abschneiden würde. An ihrer alten Schule war sie immer unter den Besten gewesen. Ob Lena auch vom gesellschaftlichen Standpunkt her Anschluss finden würde, stand wieder auf einem ganz anderen Blatt. Bisher erschienen ihr die Leute hier unfassbar provinziell.

Das Dorf Ceapach bestand aus einer Vielzahl von Gehöften und einzelnen Cottages, die weit verstreut über die Hügel und Wiesen lagen. Den Ortskern bildeten die trutzige, von einem alten Friedhof umgebene Kirche, ein Pub, ein paar Geschäfte für den täglichen Bedarf und eine Apotheke. Für alles weitere musste man die dreißig Kilometer rauf nach Clifden. Galway, die Provinzhauptstadt, lag ungefähr doppelt so weit entfernt in die andere Richtung. Als Minderjährige ohne Führerschein saß Lena in Ceapach fest.

Vor ihr tauchte der rechteckige, graue Turm der kleinen Dorfkirche auf. Inzwischen war Lena warm vom Laufen. Sie knöpfte ihre Regenjacke auf und blieb kurz stehen, um zu verschnaufen. Zu ihrer Rechten breiteten sich die zerklüfteten Klippen aus, die zum Meer abfielen. Bei gutem Wetter konnte man die Aran-Inseln sehen. Aber heute sah Lena nichts als Regenwolken und die raue See.

Sie schlug den Weg ins Zentrum ein. Unterwegs begegnete ihr ein einziges Auto: der Lieferwagen einer Sanitärfirma. Ansonsten war es wie ausgestorben. Lena fing an, sich zu fragen, ob es überhaupt Kinder oder Jugendliche in Ceapach gab. Bisher hatte sie den Eindruck, dass sie der einzige Mensch unter zwanzig hier war. Von diesem Ayden vielleicht abgesehen. Warum kam ihr eigentlich immer wieder diese unangenehme Begegnung in den Sinn? Vermutlich, weil es das Einzige war, was ihr in den letzten Tagen hier an Erwähnenswertem passiert war. Traurig genug.

Sie passierte die ersten Häuser des Ortskerns und erreichte dann den Platz vor der Kirche, von dem auch der Schulbus abfuhr. Eine enge Straße schlängelte sich den Hang hinunter zum Alten Hafen. Früher war Ceapach ein Fischerdorf gewesen, heute ließ sich mit der Fischerei kaum mehr Geld verdienen, weshalb die meisten Boote, die dort noch vor Anker lagen, heruntergekommen und ungenutzt waren.

Obwohl sie noch nicht lange in Ceapach wohnte, kannte Lena das Dorf bereits wie ihre Westentasche. Sie war oft hier durch die Gassen gelaufen, in der Hoffnung, irgendetwas Interessan--tes übersehen zu haben. Diese Streifzüge waren jedoch immer ohne Erfolg geblieben.

Das Spannendste war ein Laden, der angeblich alles führte, was man so brauchte. Kein Supermarkt, eher wie ein altertümlicher Tante-Emma-Laden, aber zumindest eine Anlaufstelle für den alltäglichen Bedarf. Lena betrat das Geschäft. Über der Tür ertönte ein Glöckchen, das ihre Ankunft kundtat. Allerdings schien die potenzielle Kundin niemanden zu interessieren.

Lena war es nur recht, dass man ihr keine Beachtung schenkte. Sie schlenderte ziellos durch die Regalreihen voll mit unterschiedlichsten Produkten, die scheinbar wahllos aufgereiht worden waren, und blieb dann vor der Auslage mit Kosmetikartikeln stehen. Shampoo, Duschgel, Seife, Bodylotion. Ihre Finger strichen über die Auswahl an Haarfärbemittel. Es gab nur eine Marke und davon eine Handvoll Farbnuancen.

In ihr war gerade ein Entschluss gereift. Man würde sie hier sowieso als Außenseiterin betrachten. Die Neue. Die aus Deutschland, die hier nicht her passte. Sie würde den Leuten im Dorf einen Grund geben, über sie zu tratschen und sich das Maul zu zerreißen.

Entschlossen nahm Lena eine Packung aus dem Regal und suchte sich bei den Make-up-Artikeln noch was Passendes heraus, dann ging sie mit ihren Fundstücken zur Kasse.

Hatte ihr Betreten des Ladens noch niemanden interessiert, so wurde zumindest registriert, dass sie sich nun der Kasse näherte. Aus einem Nebenraum kam eine ältere Frau heraus geschlurft. Sie hatte eine Schürze umgebunden, an der sie sich jetzt die Hände abwischte. Auf dem schiefen Schildchen an ihrem Ausschnitt stand „Grace“. Lena dachte, dass es kaum einen unpassenderen Namen für die beleibte Frau mit dem missmutigen Gesichtsausdruck gab. Aber das hatten ihre Eltern bei ihrer Namensgebung vermutlich noch nicht absehen können. Umständlich schob Grace ihren voluminösen Körper hinter die Kasse und aktivierte den Scanner. Irgendwie überraschte es Lena, dass die Kasse hier schon elektronisch lief, aber das 21. Jahrhundert hatte wohl nicht einmal vor Ceapach Halt gemacht.

Grace zog die Ware über den Scanner, Lena bezahlte. Das alles geschah wortlos und nur Minuten später stand Lena wieder auf der Dorfstraße. Griesgrämig machte sie sich auf den Rückweg. Schnell hatte sie die Häuser hinter sich gelassen und schlenderte die Landstraße entlang. Sie musste Pfützen ausweichen, aber da die Straße kaum befahren war, störte es auch niemanden, wenn sie zeitweilig mitten auf der Fahrbahn lief.

Plötzlich hörte sie von hinten Motorengeräusch. Schnell sprang sie zur Seite und blieb am Straßenrand stehen. Eine Gruppe Motorradfahrer brauste mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Sie hatten schwarze Klamotten an und blickdichte Visiere an ihren Helmen. Der erste erreichte die Stelle, an der Lena stehen geblieben war. Er bretterte so nah an ihr vorbei, dass das Wasser aus der Pfütze auf sie spritzte. Empört sprang Lena noch ein Stück zur Seite und stand nun mit ihren Stiefeln mitten im Matsch. Da kam schon der nächste. Er legte vor ihr eine Vollbremsung hin. Vom ausscherenden Hinterreifen seines Motorrads wurde noch mehr Dreck hochgeschleudert.

Wütend brüllte Lena gegen den Motorenlärm an: „Verdammte Scheiße, könnt ihr nicht aufpassen?!“

Sie stapfte aus dem Matschloch und trat sich ihre triefenden Schuhe auf dem Asphalt ab. Sie spürte, dass die Nässe durch ihre Stiefel gedrungen war und ihre Socken durchweicht hatte. Sie verfluchte Irland und alle Iren und die auf den Motorrädern im Besonderen.

Da kam das dritte Motorrad, schlug einen engen Bogen um sie und hupte, dass sie vor Schreck fast dem vierten in die Spur geraten wäre. Jetzt wich Lenas Wut der Angst.

Die ersten beiden wendeten und kamen ihren Kameraden entgegen. Es war offensichtlich, dass die Biker es auf sie abgesehen hatten. Einer ließ sein Motorrad steigen und den Motor aufheulen. Noch ein fünftes Bike kam vom Dorf herangebrettert, auf ihm saßen gleich zwei bis zur Unkenntlichkeit vermummte Menschen. Sie umkreisten Lena noch einmal, hupten zum Abschied und dann gaben sie Gas und rasten davon.

Als das letzte Motorrad seine Runde um sie drehte, erhaschte sie einen Blick durch das Visier des Sozius. Sie hätte schwören können, dass sie das Gesicht dahinter kannte.

Erleichtert, weil die Motorradgang außer Sichtweite verschwunden war, verärgert über die Sauerei, die sie angerichtet hatten, und verunsichert, weil sie sich fühlte, als habe man sie bewusst angegriffen, setzte Lena ihren Weg fort. Im Flur zog sie gleich ihre Hose, die Socken und die Jacke aus, die alle etwas abbekommen hatten.

Alexander kam gerade aus dem Bad und rubbelte sich mit einem Handtuch die nassen Haare trocken. Er sah Lenas Schuhe, die vor Schlamm trieften.

„Wo bist du denn gewesen?“, fragte er mehr amüsiert als ärgerlich.

Ihre Mutter hätte sicherlich anders reagiert, wenn sie über und über voller Schlamm nach Hause gekommen wäre, dachte Lena. Aber hier war Dreck eben nichts Ungewöhnliches.

„Vom Dorf“, sagte sie vage.

„Und bist du in den Straßengraben gefallen?“ Alexander machte sich ganz offenbar lustig über sie.

„Nein, stell dir vor. Ich war einkaufen. Und auf dem Rückweg kam eine Meute wildgewordener Motorradfahrer daher und hat mich nassgespritzt.“ Lena raffte ihre Klamotten zusammen und stapfte verärgert in Richtung Waschmaschine. Dass sie Angst gehabt hatte, wollte sie vor Alexander lieber nicht eingestehen.

Ihre letzte Aussage hatte aber auch so die Belustigung aus Alexanders Miene getilgt. Er kam hinter ihr her.

„Motorräder sagst du? Das waren sicher diese Rowdys, zu denen auch dein neuer Freund Ayden gehört! Hab ich’s nicht gesagt, dass du dich besser von ihm fernhältst?“

Lena blieb so abrupt stehen, dass Alexander fast über sie stolperte. „Er ist nicht mein Freund! Ich kenne ihn nicht mal. Was kann ich dafür, dass er neulich da draußen rumstand? Ich habe ihn nicht hergebeten. Ich will überhaupt nichts zu tun haben mit diesen Idioten.“

Wütend pfefferte sie ihre Sachen in einen leeren Waschkorb. Dann ließ sie Alexander stehen und beeilte sich, nach oben zu kommen.

In dem kleinen Bad zwischen ihrem und Alexanders Schlafzimmer öffnete sie die Packung mit dem Haarfärbemittel und las den Beipackzettel. Zu Hause in Berlin wäre sie nie auf die Idee gekommen, sich die Haare selbst zu färben. Da hatte sie einfach einen Termin bei ihrem Frisör ausgemacht. Aber so etwas wie einen Frisör gab es hier ja nicht.

Die Anleitung war nicht weiter schwierig. Lena drückte die Paste aus der einen Tube in die Öffnung des Fläschchens, schraubte den Deckel mit dem langen dünnen Auslauf darauf und schüttelte kräftig. Dann zog sie die Abdeckung von der Spitze und begann die Flüssigkeit auf ihren Haaren zu verteilen. Zuerst vorne und entlang des Scheitels, dann in den unteren Lagen. Dabei dachte sie immer noch über die Begegnung mit den Motorradfahrern nach.

Sie hätten sie verletzen können. Was sie veranstaltet hatten, war ganz und gar unverantwortlich und obendrein gefährlich. Was, wenn ein Auto gekommen wäre? Oder wenn sie sich gegenseitig in die Quere gefahren wären?

Alexander hatte recht gehabt, so ungern sie das zugab. Sie war sich inzwischen sicher, dass es Ayden gewesen war, der hinten auf dem letzten Motorrad gesessen hatte. Dieser widerliche Kerl. Erst lauerte er ihr vor dem Haus auf, stellte aufdringliche Fragen und dann hetzte er seine Sturmtruppen auf sie!

Wütend bearbeitete sie ihre Haare mit dem Färbemittel. Sie würde ihm bei ihrer nächsten Begegnung aber gehörig die Meinung sagen. Der brauchte sich hier überhaupt nicht mehr blicken zu lassen.

Strähne für Strähne benetzte sie mit der Flasche. Sie konzentrierte sich auf ihr Tun und versuchte, den Vorfall aus ihrem Gedächtnis zu drängen. Inzwischen war die eine Hälfte ihres Kopfes eingefärbt. Die Prozedur hob langsam ihre Stimmung wieder an. Innere Veränderungen mussten sich eben auch äußerlich zeigen!

Als sie fertig mit Auftragen war, zog sie die Plastikhandschuhe aus und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Ihre Haut war von dem Spaziergang an der kalten Luft gerötet. Sie war ungeschminkt, was ihr in Berlin sicher nicht passiert wäre. Die Wimpern um ihre großen, aquamarinblauen Augen sahen zerzaust aus. Von den künstlichen Wimpern, die ihr die Kosmetikerin eingesetzt hatte, fielen jetzt nach und nach immer mehr aus. Auch darauf würde sie künftig wohl verzichten müssen. Genauso wie auf die Gelnägel. Sie warf einen Blick auf ihre Hände. Die Maniküre aus Acrylgel war bereits zur Hälfte herausgewachsen und sah ungepflegt aus. Kurzerhand holte Lena eine Feile aus dem Körbchen im Badschrank, das Alexander ihr für ihre Kosmetikartikel überlassen hatte, und begann sich das Acryl herunterzufeilen. Zum Vorschein kamen ihre natürlichen Nägel. Es fühlte sich ungewohnt an. Lena feilte sie so kurz zu wie nur möglich, aber wahrscheinlich würden sie ihr die nächste Zeit trotzdem ständig abbrechen. Zumindest könnte sie sie später passend zur neuen Haarfarbe lackieren.

Seufzend setzte sie sich auf den Rand der Badewanne, die unter der Dachschräge stand. Auf den Einbau einer Dusche hatte man verzichten müssen. Alexander hatte unten einen Nebenraum zu einem zweiten Bad umfunktioniert, wo er sich nach der Stallarbeit duschte und auch seine dreckigen Klamotten aufhob. Lena mied das untere Bad und betrachtete das obere mit der kleinen Badewanne als ihres. Alexander benutzte es nur morgens und abends zum Zähneputzen.

Eigentlich funktionierte das Zusammenleben mit ihrem Vater erstaunlich gut. Sie hatten so unterschiedliche Tagesabläufe, dass sie sich kaum über den Weg liefen. Und Alexander überließ sie die meiste Zeit einfach sich selbst.

Ihre Mutter Iris war da anders. Sie hatte ihre Augen und Ohren überall. So leicht entging ihrem sechsten Sinn nichts. Ungefähr ein halbes Jahr, bevor sie nach Irland gegangen war, hatte Lena angefangen, mit einem Jungen aus ihrer Schule auszugehen. Er war ihr erster richtiger Freund gewesen. Davor hatte es schon den einen oder anderen gegeben, mit dem sie auf einer Party bei Freunden geknutscht hatte. Aber mit denen war es nie ernst gewesen. Ihre Mutter hatte sofort gemerkt, dass etwas anders war. Aber es war auch okay gewesen. Lena konnte mit ihrer Mutter über alles reden. Auch Frauenthemen wie ihre erste Periode damals und die Veränderungen, die mit ihrem Körper während der Pubertät passiert waren. Als Alleinerziehende war Iris Mutter, Vater und Vertrauensperson in einem. Lena stellte sich vor, wie das mit Alexander gewesen wäre. Er machte auf sie nicht den Eindruck, als hätte er viel Ahnung vom weiblichen Körper. Wie peinlich wäre es, mit ihm über Jungs zu reden!

Lena rechnete im Kopf. Wann war eigentlich ihre nächste Periode fällig? Sie hätte schauen sollen, ob der Laden auch Tampons führte. Was, wenn ihr Vorrat aus Deutschland zu Ende ging? Musste sie dann diese dicken Wattedinger benutzen, wie sie alte Frauen bekamen, wenn sie den Urin nicht mehr halten konnten?

Schnell vergewisserte sie sich, dass noch genügend Tampons in der Schachtel waren, falls sie demnächst fällig wäre. Es gab so viele Dinge, über die sie sich gar keine Gedanken gemacht hatte, als klar geworden war, dass sie zu ihrem Vater ziehen musste. Vor allem war ihr nicht bewusst gewesen, dass die Versorgungslage so schlecht sein würde. Irland gehörte ja immerhin auch zu Europa. Aber es fühlte sich an, als läge es auf einem anderen Planeten.

Lena sah auf die Uhr: Immer noch eine Viertelstunde Einwirkzeit. Inzwischen hatte die Masse auf ihrem Kopf sich bläulich verfärbt. Sie wertete das als Zeichen dafür, dass die Farbpaste anfing zu wirken. Bis sie die Haare waschen durfte, ging Lena hinüber in ihr Zimmer, legte sich bäuchlings aufs Bett und klappte den Laptop auf, den ihre Mutter ihr zum Abschied geschenkt hatte. Immerhin gab es WLAN hier. Man sah es dem Häuschen zwar nicht an, aber es verfügte doch über die wesentlichen Einrichtungen der modernen Zeit. Lena überlegte, ob sie eine ihrer Freundinnen anschreiben sollte. Vielleicht hatte eine Zeit, mit ihr zu skypen. Doch dann verwarf sie die Idee. Was wollte sie ihnen groß erzählen? Dass sie den ganzen Weg ins Dorf gegangen war, um sich Haarfärbemittel zu kaufen? Und dass sie dabei, abgesehen von der Kassiererin, keiner einzigen Menschenseele begegnet war? Oder dass sie auf dem Rückweg von verrückten Motorradtypen überfallen worden war, die sie von oben bis unten mit Dreck vollgespritzt hatten?

Mit Sicherheit würde sie dafür das Gespött des Tages werden.

Und was die Freundinnen im Gegenzug zu erzählen hatten, wollte sie auch nicht hören. In Deutschland waren auch noch Sommerferien. Wahrscheinlich waren Marie und Bella noch mit ihren Eltern im Urlaub, amüsierten sich an der Pool-Bar oder gingen shoppen. Agneta war sicher den ganzen Tag bei ihrem Pferd. Und Emilia hatte seit zwei Monaten was mit Finn am Laufen und seitdem kein anderes Thema mehr, bei der brauchte sie es auch nicht zu versuchen.

Stattdessen klickte Lena lustlos durch ihre Social-Media-Kanäle. Irgendwie hatte die Online-Präsenz auch an Sinnhaftigkeit verloren, seit sie am Arsch der Welt lebte. Was sollte sie dort posten? Die Schafweiden? Endlose Wiesen ohne ein einziges Haus oder auch nur einen Baum? Das wollte doch niemand sehen. Sie schaltete den Laptop wieder aus und kehrte zurück ins Bad.

Nachdem sie sich mehrmals die Haare gewaschen hatte, schüttelte sie das Wasser heraus und betrachtete das Ergebnis im Spiegel.

Es war ein krasser Unterschied.

Ihre hellbraunen, fast blonden Haare waren verschwunden, stattdessen hingen ihr feuchte, rabenschwarze Strähnen ins Gesicht. Sie holte den Fön und begann die Haare über eine Bürste zu trocknen. Das Ergebnis gefiel ihr. Der Kontrast zwischen den schwarzen Haaren und ihrer hellen Haut ließ ihre blauen Augen strahlen. Aus der Einkaufstüte holte sie den neuen Lipgloss und den Kohlestift. Sie umrahmte ihre Augen mit dicken schwarzen Lidstrichen und malte ihre Lippen knallrot.

Schneewittchen, dachte sie. Jetzt seh ich aus wie Schneewittchen.

Wie passend. Denn sie fühlte sich auch so, als hätte ihre eigene Mutter sie in den Wald gejagt, damit sie hinter den sieben Bergen, weit weg vom Schloss lebte. Nur die Zwerge fehlten. Und der Prinz.

DREI

Der erste Schultag kam schneller heran, als Lena gedacht hatte. Schon saß sie zum ersten Mal im Bus nach Galway. Er schaukelte über Stock und Stein und holperte über die Küstenstraße, die rechter Hand fast senkrecht zu den Klippen abfiel, dass Lena übel wurde. Sie hatte vor Aufregung nichts runtergebracht, weshalb ihr Magen bis auf einen raschen Kaffee leer war, und das rächte sich jetzt. Immer wieder hielt der Bus und es stiegen Leute zu. Die Kinder und Jugendlichen in Schuluniformen trugen fast alle Kopfhörer in den Ohren. Niemand schenkte Lena Beachtung. Sie selbst hatte auch ihre Kopfhörer dabei und hörte über ihr Handy Musik.

Wie würde es wohl an dieser Privatschule sein? Welche Leute da wohl hingingen? Außer ihr war niemand in Ceapach eingestiegen. Die anderen Schülerinnen und Schüler an der Bushaltestelle warteten auf den Bus in die Gegenrichtung, um nach Clifden zu fahren. Alexander hatte recht gehabt, als er meinte, niemand besuche hier eine Privatschule.

Je näher sie Galway kamen, umso voller wurde der Bus. Am Ende mussten sogar ein paar Leute im Gang zwischen den Sitzreihen stehen.

Dann hielt der Bus am Busbahnhof. Lena stellte erleichtert fest, dass Galway mehr dem glich, was sie sich unter einer Stadt vorstellte. Die Coach Station war ein modernes Gebäude mit Glasfronten. Neben ihrem eigenen stand eine ganze Reihe von Bussen vor dem Terminal. Sie war auch froh, dass es endlich einmal nicht regnete. Schnell fand sie die Haltebucht, in der der Stadtbus wartete, mit dem sie zum Campus ihrer neuen Schule fahren sollte.

Das St. Patricks Catholic College lag im Stadtteil Salthill und war früher einmal ein Internat gewesen, weshalb das Gelände sehr großzügig angelegt war. Der Stadtteil wiederum lag direkt am Meer, zur Uferpromenade waren es vom Campus aus nur etwa fünf Minuten. Schon auf dem Weg von der Bushaltestelle zum Haupteingang sah Lena viele Grünanlagen und Sportplätze für Fußball, Gaelic Football und Hurling. Auch ein umzäuntes Basketballfeld gab es. St. Patricks war eine der wenigen gemischten Schulen. In Irland wurden Mädchen und Jungen immer noch weitgehend getrennt unterrichtet. Jetzt strömten aber Lernwillige jeden Geschlechts zum Eingang. Alle trugen dieselbe Uniform wie auch Lena: dunkelblaue Hose oder Rock mit Falten, weiße Bluse respektive Hemd und einen ebenfalls blauen Pullover mit dem Emblem des Schullogos auf der linken Brust. Es gab auch noch eine dunkelblaue Regenjacke, die aber heute die meisten nur über dem Arm trugen oder gar nicht dabei hatten.

Als Lena das Schulhaus betrat, kündete ein durchdringendes Läuten davon, dass die erste Stunde in fünfzehn Minuten beginnen würde. Lena wusste noch nicht, wo ihr Klassenzimmer lag, deshalb suchte sie erst einmal das Büro der Studienberatung, in das man sie einbestellt hatte. Sie fand es neben dem Sekretariat und des Büros der Schulleitung.

Auf ihr Klopfen hin ertönte ein energisches »Herein!« Lena drückte die Klinke der rot gestrichenen Tür. Alle Türen hatten rote Rahmen und Türblätter, die armdicken Rohre, die oberhalb der Türen entlang des Flures verliefen, waren gelb gestrichen und der Fußboden war aus bläulichem Linoleum, während die Fußbodenleisten ebenfalls rot waren. Dieses Farbsammelsurium sollte wohl eine freundliche Atmosphäre schaffen, erinnerte Lena aber eher an ein verunglücktes Zirkuszelt.

Die Studienberaterin war eine großgewachsene Frau, deren Alter sich schlecht schätzen ließ. Ihr akkurater Kurzhaarschnitt passte zu der Garderobe, bestehend aus karierter Hemdsbluse und grauer Hose. Sie reichte Lena die Hand und wies ihr den Platz gegenüber ihrem Schreibtisch zu.

„Lena, wie schön!“, sagte sie vertraulich, so als habe man sich schon öfter getroffen. Sie sprach ein Englisch mit breitem irischen Akzent.

Lena beschränkte sich auf Lächeln und Nicken. In der Schule war Englisch zwar eines ihrer besten Fächer gewesen, doch bislang hatte sie es noch wenig praktisch gebraucht. Mit Alexander sprach sie zu Hause Deutsch.

„Hast du dich schon etwas akklimatisiert?“, wollte die Beraterin wissen.

Wenn Akklimatisation bedeutete, dass sie sich an das unfassbar regnerische Klima gewöhnt hatte, dann wohl eher nicht. Aber das sparte Lena sich zu erwähnen und nickte stattdessen erneut.

„Du wirst dich hier schnell einleben“, fuhr die Beraterin fort und ihrem Tonfall war nicht eindeutig zu entnehmen, ob das eine Aufmunterung oder eine Anordnung sein sollte.

Lenas Blick wanderte über die Stapel an Akten, in unterschiedlich bunten Mappen, die sich auf dem Schreibtisch türmten und blieben dann an dem daneben fast verschwundenen Schild hängen. Darauf stand „Mrs. Schumaker“.

Die Beraterin, die Lenas Blick gefolgt war, sagte: „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Schumaker und du kannst mit allen Fragen und Nöten zu mir kommen, die deinen Stundenplan und deine Kurse betreffen. Wir haben dir einen Vorschlag erarbeitet, aber du kannst jederzeit noch umswitchen, falls du andere Vorlieben hast.“ Damit überreichte sie Lena eine ausgedruckte Tabelle.

„Mathematik und Englisch sind verpflichtend“, erklärte sie weiter. „Ebenso eine weitere Fremdsprache und Irisch. Das dürfte für dich die größte Hürde sein, da du bisher kein Irisch hattest. Im Rahmen des Erasmus-Austauschprogramms kannst du in der Abschlussprüfung Irisch durch zwei andere Fächer ersetzen. Du musst also keine Angst haben, dass du deshalb einen schlechteren Durchschnitt erreichst. Für die Zulassung zur Abschlussprüfung brauchst du ein Minimum an hundert Credits, die du aus dem gesamten Portfolio von Pflicht- und Wahlfächern erzielen kannst. Wir bieten als Fremdsprachen Französisch, Spanisch und Deutsch an. Da du bereits Französisch an deiner alten Schule hattest, kannst du das weiterführen, oder du gehst in Deutsch, was dir natürlich leichtfallen sollte. Wir sind davon ausgegangen, dass du eher nicht noch zusätzlich mit Spanisch beginnen möchtest, wollen dir diese Möglichkeit aber natürlich nicht nehmen. In Französisch findet in dieser Woche ein Einstufungstest statt, den du mitschreiben kannst, damit wir sehen, in welches Niveau wir dich einordnen können. In Deutsch würde dieser Test für dich logischerweise entfallen, da würdest du das C-Niveau besuchen. Des Weiteren wählst du bitte vier Fächer aus dem Kanon des allgemeinbildenden Unterrichts. Das wären Geografie, Geschichte, Biologie, Chemie, Physik, Kunst und Musik. Außerdem drei Fächer aus dem erweiterten Kanon, zum Beispiel Agrikultur, Wirtschaft, Haushalt und Kochen, Ethik, Sozialkunde, Philosophie, Irische Literatur, Chorgesang oder Orchester. Spielst du ein Instrument?“

Lena schwirrte schon der Kopf von den vielen Informationen, die Mrs. Schumaker ihr ohne Punkt und Komma um die Ohren schlug. Sie starrte auf den Stundenplan und versuchte aus den Kürzeln schlau zu werden.

„Lena?“, fragte die Beraterin nach. „Ich fragte, ob du ein Instrument spielst.“

„Was? Nein, kein Instrument. Tut mir leid.“ Lena war verwirrt.

„Dann kommt Orchester für dich schon einmal nicht in Frage. Wir haben auch ein breites Sportangebot an unserer Schule, von dem du gern ebenfalls Gebrauch machen darfst. Unser Hurling-Team könnte Verstärkung gebrauchen, außerdem haben wir eine Laufgruppe, die bereits im landesweiten Wettbewerb auf hundert Meter in der Endausscheidung war. Und wir sind stolz auf das beste Rugby-Team dieses Landes. Unsere Jungs haben letztes Schuljahr sogar die Teams aus Dublin und Belfast geschlagen.“ Mrs. Schumaker strahlte, als habe sie die Rugby-Mannschaft persönlich trainiert, wovon Lena allerdings nicht ausging.

Das Gespräch über ihre Kursbelegung dauerte noch fast eine Stunde und Lena hatte das Gefühl, durch eine Walze gedreht worden zu sein, als Mrs. Schumaker sie schließlich zu ihrem Klassenzimmer brachte.

Das erste Mal vor der neuen Klasse zu stehen, gehörte gewiss auch nicht zu den Momenten, an die Lena sich später besonders gern erinnern würde. Sie hatte das Gefühl, dass alle sie anstarrten, und brachte kaum einen geraden Satz zustande. Als sie die Vokabeln für Deutschland und Deutsche verwechselte und sich mit den Worten „I am Germany“ vorstellte, lachte die ganze Klasse und Lena wurde rot bis unter die Wurzeln ihrer schwarzgefärbten Haare.