Pornographie und Klassenkampf - Diether Dehm - E-Book

Pornographie und Klassenkampf E-Book

Diether Dehm

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Beschreibung

Das Verhältnis zur Pornographie ist nicht nur in linken und feministischen Kreisen umstritten. Handelt es sich bei ihr um perversen Kommerz und abweichendes Psycho-Verhalten, gar um eine Sucht? Oder ist sie ein Weg zu neuem Glück – der nur offiziell verdrängt wird? Ist mittlerweile die Prüderie der alten Rechten auf die neue Linke übergegangen? Und was haben schlechte Arbeits- und Sozialverhältnisse mit schmutzigen Fantasien zu tun? Warum nannte Bertolt Brecht einen Teil seiner fulminanten Liebeslyrik "pornographische Gedichte"? Und warum fehlt in den Sachwort-Verzeichnissen marxistisch orientierter Psychologen meist das Wort "Sexualität"? Der langjährige Bundestagsabgeordnete Diether Dehm folgt in seinem neuen Buch nicht nur der Pornographie-Geschichte seit der Antike, sondern behandelt auch die aktuelle Debatte. Die materialistische Psychologie erklärt, wie Arbeit und Geschichte die einzelne Persönlichkeit werden lassen. Die Organisierung menschlicher Tätigkeiten ist von der Ausrichtung der Gefühle, sogar von der Formatierung der Triebe und von der Reparatur psychosomatischer Beschädigungen nicht zu trennen. Eine "unpolitische" Therapie betrügt sich also um ihr Potenzial. Der Autor kommt mit seiner Analyse Leerstellen im Marxismus auf die Spur – soweit diese das Subjekt im Klassenkampf betreffen. Antonio Gramscis Satz "Die Natur des Menschen ist seine Geschichte" versucht Dehm in einer Analogie zu veranschaulichen: "Triebe ('animal spirits' nach Marx) werden im Menschen historisch völlig neu formatiert, wie durch eine Espressomaschine, wonach in der Tasse weder Kaffeebohnen noch Wasser voneinander getrennt zu schmecken sind." Schlusssatz: Wer asoziale Pornographie überwinden will, braucht dazu nicht nur bessere Pornographie, sondern sozialere Verhältnisse.

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Seitenzahl: 509

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Inhaltsverzeichnis
Sabine Kebir: Brutale Gesellschaft, brutale Bilder
Vorwort
Pornosucht als Erkrankung
Zur Geschichte von Porne und Porno-Verboten
Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen – der Psychologe Friedrich Engels
Persönlichkeit auffächern – Leerstellen in marxistischen Lehrställen schließen
Erkenne Dich selbst (an und mit anderen)
Wissenschaft und Ästhetik – Antipoden des Erkennens
Bild stützt Begriff, aber ersetzt ihn nicht
Metapher und Begriff korrespondieren über denselben Lebensstoff
Sozialisierung tendiert zur Individualität
Metaphern leben kürzer und in Rudeln
Das Elend der Metapherntheorie
Wortklärung richtet sich auf die Tat – und wird von ihr erst gebrauchsfähig
Der ganze Satz prägt seine Teile
Ungeile Liebe
Die praktische Spannung aus Abbild und Begriff
Miteinander korrespondieren kann nur Verwandtes
Der Traum als Reparaturwerkstatt
Freuds Sofa und die Verdrängung
Schönheit ist nicht gottgegeben
Scham und Tauschwert
Ökonomie in der Psyche dechiffrieren
Trieb und Lüste gegen Kapital und Zeitregime
Die Befreiung der Lüste kratzt an kapitalgesetzten Grenzen
Vom Irrsinn der Prohibition und anderer Lustverbote
Roher Sex und andere Unterschichtsphobien
Rassismus und »die alten weißen Männer«
Die überschätzte Hormonwirkung
Wollen als Gewolltwerden
Brechts Liebesgedichte, Materialismus als Therapie versus Dummpornos
Literaturliste

Diether DehmPornographie und Klassenkampf

  

Für eine materialistische Psychologie

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-905-3(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-512-3)

Coverfoto: Wikipedia

Lektorat: Kurt W. Fleming

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Über den Autor

Diether Dehm, geboren 1950 in Frankfurt/Main, wirkt als Verleger, Komponist, Texter, Sänger und Politiker. Nach seinem Austritt aus der SPD im Jahre 1998 war er in verschiedenen Funktionen für die Partei PDS/Die Linke tätig. Er amtierte 17 Jahre für die SPD und Die Linke im Bundestag.

Sabine Kebir: Brutale Gesellschaft, brutale Bilder

Friedrich Engels lobte den Vormärzdichter Georg Werth für seine »robuste Sinnlichkeit« und tadelte dessen Kollegen Ferdinand Freiligrath für die gegenteilige Haltung: »Wenn man z. B. Freiligraths Gedichte liest, so könnte man wirklich meinen, die Menschen hätten gar keine Geschlechtsteile. Und doch hatte niemand mehr Freude an einem stillen Zötlein als gerade der in der Poesie so ultrazüchtige Freiligrath. Es wird nachgerade Zeit, dass wenigstens die deutschen Arbeiter sich gewöhnen, von Dingen, die sie täglich oder nächtlich selbst treiben, von natürlichen, unentbehrlichen und äußerst vergnüglichen Dingen, ebenso unbefangen zu sprechen wie die romanischen Völker, wie Homer und Plato, wie Horaz und Juvenal, wie das Alte Testament und die ›Neue Rheinische Zeitung‹.«1

Ein Hindernis für unbefangenes Sprechen über die von Engels gepriesene menschliche Geschlechtlichkeit war und ist die Brutalisierung, die sie in der brutalen Gesellschaft weithin prägt. Wie sehr diese Brutalisierung die Phantasie des Geschlechtlichen determiniert, beweist bereits die deutsche Sprache, die keine adäquaten Begriffe und Diskurse für zärtliche Kreativität der körperlichen Liebe hervorgebracht hat. Stattdessen blühte kitschige Poesie wolkenverhangener Unbestimmtheit oder plump ordinäre Herabwürdigung. Heute versucht man, dem Kitsch durch Ersatz aus dem medizinisch-lateinischen Vokabular beizukommen.

Weil Bertolt Brecht die eigentliche Ursache des »Verfalls der Liebe« im sich zuspitzenden Verfall der kapitalgetriebenen Gesellschaft sah, widmete er den größten Teil seines Werks deren Bekämpfung. Ein vergleichsweise kleiner Teil, der sich explizit mit dem Geschlechtsleben befasst, gilt als pornographisch, weil er sich dem Kitsch verweigerte. Empört über die Rohheit des Geschlechtsakts in der verrohten Gesellschaft scheute der frühe Brecht in den »Augsburger Sonetten« nicht davor zurück, das Rohe auch mit dem rohen Wortmaterial auszudrücken.

Als sich in seiner Liebesbeziehung zu der aus der Arbeiterklasse stammenden Margarete Steffin die Benennung des bislang Unsagbaren endgültig erforderlich machte, entschied sich Brecht in den im skandinavischen Exil entstandenen Sonetten nochmals für das allbekannte, aber mit brutalen Bildern behaftete Wortmaterial des Geschlechtlichen. Er schlug vor, es durch Gebrauch in der zärtlichen Zuwendung positiv aufzuladen:

[…]

Mit solchen Wörtern rufe ich den Schrecken

Von einst zurück, als ich dich frisch begattet.

Es läßt sich länger nunmehr nicht verdecken:

Das Allerletzte hast du da gestattet!

Wie konntest du dich nur in so was schicken!

Das Wort, für das, was du da tatst, war2

Das vulgäre Wort wurde hier zum letzten Mal verschwiegen, um in künftigen Begegnungen, zärtlich gespült, gebrauchsfähig zu werden.

Ein spätes, in der Form eines englischen Sonetts abgefasstes Gedicht Brechts »Über die Verführung von Engeln« soll eine Polemik gegen Thomas Mann darstellen, der sich bei all seiner sprachlichen Gewandtheit um exakte Benennung des körperlichen Liebesgeschehens zu drücken pflegte. Es mutet derb pornographisch an:

Engel verführt man gar nicht oder schnell.

Verzieh ihn einfach in den Hauseingang

Steck ihm die Zunge in den Mund und lang

Ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell

Ihn, das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock

Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen

Dann halt ihn fest und lass ihn zwei Mal kommen

Sonst hat er dir am Ende einen Schock.

Ermahn ihn, dass er gut den Hintern schwenkt

Heiß ihn dir ruhig an die Hoden fassen

Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen

die weil er zwischen Erd und Himmel hängt –

Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht

und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.3

Ingeborg Arlt – Autorin des ersten Lesbenromans der DDR, »Das kleine Leben«,für den sie 1986 den Anna-Seghers-Preis erhielt, empfand dieses Sonett überhaupt nicht pornographisch. Sie urteilte, dass die »Flügel«, die nicht zerdrückt werden dürfen, für den Respekt vor der sexuellen Persönlichkeit des Engels stünden, der im Liebesakt unabdingbar ist und gelernt werden muss: »Die Flügel! Nichts Geringes, nicht wahr! Die Flügel. Und das, nachdem der Engel sich ruhig fallenlassen durfte. Nachdem ihm angeraten worden war, auch ja gut den Hintern zu schwenken, welches zweckmäßige Verhalten schließlich nicht allein dem Verführer, sondern dem Engel selbst zugutekommt. Und nachdem der Verführer einem Schock des Engels bewußt vorgebeugt hat, indem er ihn zweimal ›kommen‹ ließ.«4

Irmtraud Morgner hatte 1983 für die moderne Walpurgisnacht in ihrem Hexenroman »Amanda« auf Verse aus Goethes Paralipomena des »Faust« zurückgegriffen. Der dialektisch zu verstehende Satan empfiehlt den Hexen:

Für euch sind zwei Dinge

Von köstlichem Glanz

Das leuchtende Gold

Und ein glänzender Schwanz.

Drum wißt euch, ihr Weiber,

Am Gold zu ergetzen

Und mehr als das Gold

Die Schwänze zu schätzen!5

Sabine Kebir, geboren 1949 in Leipzig, Essayistin und Literaturwissenschaftlerin, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Sie schreibt u.a. für die Frankfurter Rundschau, Die Zeit und den Freitag.

1 Friedrich Engels: Georg Weerth, der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats. In: Marx, Engels, Lenin: Über Kultur, Ästhetik, Literatur, Leipzig 1975, S. 506−507)

2 Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin, Weimar, Frankfurt am Main, Bd. 11, 1997, S. 186.

3 Ebenda, Bd. 15, S. 193.

4 Ingeborg Arlt an mich, ca. 1985, zitiert nach: Sabine Kebir: Ein akzeptabler Mann. Brecht und die Frauen, Berlin 1987 u. 1998, S. 175f.

5 Wolfgang Johann Goethe: Faust, Frankfurt am Main 1956, S. 509.

»Erotik ist Bedürfnis nach Anderssein«

Octavio Paz

Gewidmet dem Kommunisten Günter Amendt (der bereits als SDS-Führer 1968 sexuelle mit sozialer Befreiung verband):

Es gibt keinen Grund, sich auf seine Gefühle etwas einzubilden, für sich die höheren in Anspruch zu nehmen und den anderen die niederen Gefühle zu unterstellen. Unsere Lebensgeschichte mit all ihren gefühlsmäßigen Erfahrungen ist abhängig von dem sozialen und politischen Gefüge, in dem wir uns entwickeln. Wir bewegen uns in der Gefühlswelt der Menschen, mit denen wir leben, der Klasse, der wir angehören. Unsere »biologische Ausstattung« ist überformt von den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen wir Erwachsene werden und erwachsen sind.

Günter Amendt – Das Sexbuch

Vorwort

Pornographie hat eine biografische und gesamtgeschichtliche Entwicklung hinter sich. Biografisch, weil sich aus der Sozialgeschichte und dem Arbeitsalltag eines einzelnen Menschen und deren Entfremdungen erholsamer Widerspiegelungsbedarf ergibt, aber somit auch notwendig schamlose Intim-Vorstellungen aus unverschämten Sozial-Verhältnissen aufsteigen. Gesamtgeschichtlich, weil Pornographie seit Tausenden von Jahren bildlich und literarisch wiedergegeben wird und nicht die Erfindung einer Sex-Kommerzindustrie darstellt. Insofern geht es darum, mit einem dialektisch-materialistischen Zugang zur Psychologie den Begriff Pornographie (und ihre lustvollen Potenziale!) »zurückzuerobern«. Dies kann an verschiedenen Beispielen veranschaulicht werden. So ist etwa der Umgang mit der sogenannten Pornosucht in weiten Bereichen therapeutisch unzureichend, soweit er den eigentlichen Gegenstand vom sozialen Leben, schmutzige Phantasien von schmutzigen Verhältnissen und Pornographie von der historisch wachsenden Entfremdung abgeschnitten als »abweichendes Verhalten« diskriminiert.

Damit, gleichsam von einer Spitze des Eisbergs, bin ich, weitgehend bis 2019, in dieses Thema eingestiegen.

Eiterfeld, im Januar 2023,Diether Dehm

Pornosucht als Erkrankung

Die marxistische Philosophie ist voller denk- und merkwürdiger Sätze, die letztendlich jede Auflehnung gegen Entmächtigung von Individuen unterstützen. Zu Unrecht wird dem Marxismus prinzipielle Vernachlässigung von Subjektivität und eine »Übermächtigung« der Ökonomie nachgesagt.

Einer dieser merkwürdigen Sätze stammt von Marx, nämlich dass alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen sei. Nun ist Geschichte natürlich auch aus Einzelgeschichten zusammengesetzt, sonst wäre Geschichte kein umfassender Begriff. Aber wo haben sich in den letzten 200 Jahren Kapitalisten und Arbeiterklasse wirklich geschlagen? Wie oft im deutschen Feudalismus die Leibeigenen mit ihren Eignern? Wie viele Sklavenaufstände gab es im alten Rom? Weil derer wenig aufzuzählen wären, kann Marx, der dies natürlich gewusst hatte, also nur einen anderen, tiefgehenderen Begriff von Klassenkampf gehabt haben, um ihm die hohe Rolle der Geschichtsgestaltung zuzuweisen, den Kampf nämlich um das tagtäglich Erwirtschaftete. Die Art, wie die Menschen das zu ihrem Leben Notwendige erkämpfen und erarbeiten, prägt dann auch ihren Charakter, sodass Geschichte nicht nur aus den Ausbeutungsverhältnissen besteht, sondern auch aus den Lebensgeschichten von Ausbeutern und Ausgebeuteten.

Der zweite merkwürdige Satz stammt von Engels aus der »Deutschen Ideologie«. Die Gedanken der herrschenden Klasse seien »in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.«6 Das ist entweder nur eine rein empirische Beobachtung (die viel mehr als der zitierte Satz von Marx an Evidenz überprüfbar ist) oder es wäre ein angenommener Automatismus. Der Marxist E. A. Rauter hat mal ein Buch getitelt: »Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht – Über das Herstellen von Untertanen«. Hier wird eine große weiße Fläche im Marxismus angedeutet: wie Objektives nämlich subjektiv wird. Diese Denkblockaden aufbrechende Philosophie hat andernorts so viel Bahnbrechendes über den Umgang mit bisherigen Philosophien, über politische Ökonomie und die Geschichte zu Tage gefördert. Aber wie herrschende Ideologie von oben in die Hirne der Beherrschten träufelt, obwohl deren Interessen sich widersprechen, ist psychologisch leichter benannt, als begriffen.

Die bisherige Psychologie – nimmt man eine kurze Phase der sowjetischen Psychologie und die Zeit zwischen den Siebzigern und Neunzigern in den USA (Oliver Sacks), Frankreich (Lucien Sève), Deutschland (Klaus Holzkamp) aus –, beschäftigt sich aber vorzugsweise mit Erkrankungen der Seele, mit sozialem und asozialem Verhalten, also mit »Abweichungen«. Dabei blendet sie weitestgehend die Geschichte und die Klassenkämpfe aus. Was sich wissenschaftlich zu einem strategischen Dilemma verengte.

Die Klassiker Marx, Engels, Lenin, Gramsci und einige andere hatten dazu zwar Einzelhinweise und ein riesiges Instrumentarium erarbeitet und für uns bereitgelegt, um auch diese »Fragen aller Fragen« zu lösen, aber sie nicht selbst gelöst. Wer sich heute damit befasst, wird auch Abstand zu der Annahme gewinnen, der Sozialismus, also die Herrschaft der Neunhundertneunundneunzig über den Tausendsten, die demokratische »Diktatur des Proletariats« sei bereits schon von sich aus moralisch gut und eine ethisch abgeschlossene Dimension. Die Herrschaft der Arbeiterklasse und die Organe ihrer organisatorischen Verdichtung, die sozialistischen und kommunistischen Parteien, können hässliche Fratzen und Ungeheuer hinterlassen, die dennoch »sozialistisch« genannt bleiben. Selbst die Stalin’sche KP hat wunderbare Dinge produziert und gleichzeitig monströsen Terror. Die chinesische KP hat Hunderte von Millionen Menschen mit gigantischen Anstrengungen vor dem Hungertod gerettet, die die Menschheitsgeschichte so noch nie gesehen hat. Aber der Grundgedanke der Gewaltenteilung, der Unschuldsvermutung, des »Code Napoleon«, also das Grundkonstrukt der französischen Revolution gegen die absolutistische Terrorherrschaft der Könige sind diesen KPs in vielen Bereichen oft fremd geblieben. Ein Zusammendenken von französischer und Oktoberrevolution wäre hegemonieträchtiger – zumindest im Westen. Wer als Sozialistin mit Sozialisten in anderen Ländern (mit geringerer Hegemonie und Klassenbasis) solidarisch ist, muss sich also längst nicht mit jedem einzelnen Schritt der dortigen, regierenden, antiimperialistischen Kräfte identifizieren.

Indem die historische Weiche wirtschaftsdemokratisch gestellt ist, muss der Zug noch längst nicht in die demokratische Richtung und im humanen Tempo fahren. Um auf diese Defizite zwischen den Einzelgeschichten und der großen Geschichte – vor allen Dingen in den Klassenkämpfen – zu sprechen zu kommen, habe ich den nachfolgenden Aufsatz geschrieben. Er ist dem Einzelnen und dem Ganzen ebenso gewidmet, wie den unterdrückten Biografien in der widersprüchlichen Geschichte der Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung.

Leider haben Wenige von denen, die grölend auf Schlachtfelder zogen, das dort für sie absehbar bedauerliche Ende vorhergesehen. Ihre Ideologie, oft auch »notwendig falsches Bewusstsein«, verstellte ihnen die überlebensnotwendige Weitsicht. Viele liefen für Religionen und Kirchen Priestern hinterher, die sie in Knechtschaft und Hungertod führten. Viele erkennen noch heute nicht, dass es nur ihre eigene Arbeitskraft ist, die ein paar Milliardäre, Konzerne und Großbanken so superreich und übermächtig macht, dass diese mit einem Fingerschnipp ein paar hunderttausend Menschen erschießen, verhungern, verdursten oder krank machen lassen können. Aber es sind nicht nur einfache falsche Vorstellungen, welche lebenserhaltende, also gute egoistische Gegenwehr gegen diese mächtigen »Menschenschinder« (Heinz Rudolf Kunze) behindern. Es gibt immer auch untertänige Ängste, schillernde Illusionen und Ausflüchte, um die Wirklichkeit nicht zu sehen. Und aus Ausflüchten brauen sich Süchte zusammen. Aber so, wie eine (Aus)Flucht immer mit dem Ort ihrer Herkunft und einer Ahnung des »Wohin« korrespondiert, hat auch das Unlogische seine Logik, selbst der Superlativ des Unlogischen: die Sucht.

In der Ärztezeitung vom 19. 2. 2016 nennt Kornelius Roth (Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Bad Herrenalb) die Pornosucht »eine lebenslange Verwundung« – ohne das Wort »Verwundung« auch nur wenigstens zu umschreiben. Er warnt dort vor immer jünger werdenden Patienten, die gleichermaßen von Hypersexualität und Pornosucht betroffen seien. Die Beziehung zwischen Hypersexualität und der Sucht nach Bildern (pornographische Vorstellungen) bleibt ebenso im Dunkeln wie die Herleitung der beiden Kategorien aus dem Handlungszusammenhang des »Patienten«.

Aber genau diese Verknüpfung aktiver, direkt ausgeübter Sexualität und pornographischer Abbildungen – in welcher (Über)Steigerung auch immer – sind der Kern der Fragestellung, wie – zumindest äußerlich – ein paar Kubikzentimeter Sperma Weltverwerfungen auslösen konnten. Und ist die Pornographie dabei wirklich nur aus dem tierischen Unterleib in den männlichen Kopf aufgestiegen?

Die Ärztezeitung vom 19. 2. 2016 suggeriert gar eine Messbarkeit von Pornosucht, ohne dabei allerdings den Genuss trivialer Pornographie abzugrenzen von künstlerisch entfalteter, etwa eines Gedichts von Brecht, welches er als »pornographisch« anempfohlen hatte. Auch differenzieren die »Messergebnisse« kaum zwischen pornographischen Vorstellungen bei der zweisamen oder einsamen Sexualausübung, zwischen der Lustvorstellungen bei »Light-« oder »Hard-«Pornos, bei Pornos, die als reine Ware zur Vermarktung produziert wurden und jenen, bei denen es im Gegensatz dazu um einen lustvollen Gebrauch geht.

Gleichzeitig fällt eine eklatante Tabuisierung hinsichtlich der Kausalbeziehungen zwischen Sex und Beruf, zwischen der Art pornographisch befriedigender Vorstellungen und den unbefriedigenden Situationen in sozialem Alltag und Arbeitsleben auf. Sicher, der Zusammenhang aus »Pornosucht« und beruflichem Tun klingt an, wenn Kornelius Roth beobachtet, dass zu den Pornosüchtigen besonders »Doktoranden zählten, die ständig vor dem Rechner sitzen. Sie haben Druck, weil sie ihre Arbeitsziele, also die Promotion etwa, nicht fertigbekommen.«

Wie aber ein besonderer beruflicher Druck zu besonderen Formen von Pornographie und der besonderen Art ihres Konsums führen könnte, ist ungeklärt. Eine marxistische Psychologie würde spontan vermuten, dass einer Entfremdung durch die Berufsausübung eine entsprechende Entfremdung in der Form des aktiven Pornogenusses, sowie in Nacht- und Tagträumen folgt. Hängen womöglich die Bilderarten in unseren erotischen Träumen mit den Arten unseres beruflichen Stresses zusammen? Roth schreibt aus seiner Therapiepraxis:

Andere in diesem Alter kommen, nachdem ihre Beziehung zerbrochen ist, weil der Pornokonsum gewissermaßen aufgeflogen ist. Eine dritte Gruppe der Digital Natives sind die einsamen, schüchternen Männer, die noch nie Sex hatten. Bei ihnen ist der Pornographie-Konsum ein Ersatz und verhindert zugleich, dass sie überhaupt Frauen und echte, lebendige Sexualität kennenlernen. Bei einer anderen Gruppe älterer Männer zwischen 50 und 60 ist die Sexualität in der Partnerschaft abhanden gekommen. Deshalb suchen sie das Verlorene im Internet. Wenn sie auch am Arbeitsplatz Pornos konsumieren, gefährden sie ihren Arbeitsplatz. Haben sie diesen deshalb verloren, stehen sie nun richtig unter Druck. Solche Entlassungen werden natürlich als sehr schmachvoll erlebt. Das treibt die Betroffenen oft noch tiefer in die Sucht.7

Das Groteske an Roths und an nahezu sämtlichen Einschätzungen anderer WissenschaftlerInnen auf diesem Gebiet ist, dass zwar offensichtlich Beziehungen zwischen Arbeitsbesonderheiten und Besonderheiten pornographischer Vorstellungen angedeutet werden, es aber keinerlei systematische und empirische Untersuchungen darüber gibt, wie sich psychische Fragmentierung im sozialen Alltag zu fragmentierten Abbildungen im intimen Kompensationsbereich der Phantasie verhalten. Innere Korrelationen und Beziehungen spielen für Roth eigentlich keinerlei Rolle. Er folgert mechanisch, dass es am Arbeitsplatz besser keine Pornographie geben sollte und ohnehin Pornoverbot der schlüssigste Weg aus der Sucht sei: »Es ist wie beim Alkohol: Wenn es weniger davon gibt, gibt es weniger Alkoholiker. Wenn es mehr davon gibt […]«.

Wir sehen bereits Antisexismus-Fighter, die Ladenfenster von Videokabinenschuppen mit dem Schlachtruf einschlagen: »Weg mit der Pornosucht!« Als ob die Verringerung der öffentlich zugänglichen Bilder die Bedürfnisse im Kopf verringerte. Die kompensatorische, spontanmildernde Wirkung von pornographischen Darstellungen auf die Brüche, die im sozialen Alltag erlitten wurden, hat für Kornelius Roth wohl keine theoretische Qualität. Stattdessen arbeitet er sich an Banalitäten ab:

Süchtige haben in ihrer Kindheit öfters sexuelle Übergriffe erlebt, hatten Eltern, die selber an irgendeiner Sucht litten, oder die ganze Herkunftsfamilie war dysfunktional. Auch Menschen mit großer Einsamkeit oder geringem Selbstwertgefühl sind Pornosucht-gefährdet und solche mit einer fragilen Männlichkeit. Auch Religiosität spielt eine Rolle: Wo Sex vor der Ehe verboten ist, wird ein Ersatz gesucht. Dieser Ersatz ist aber ebenfalls streng verboten und wird beim Betroffenen mit Scham und Schuld quittiert.8

Und dennoch scheint er das Problem durch Verbot, also Verringerung des Angebots, lösen zu wollen? Eigentlich widersinnig, denn die von ihm zusammengetragenen Suchtgefährdungsmotive sind sämtlich solche des Alltags und des Durchschnitts und solcher Durst ist wohl nicht reduzierbar, wenn man ihm die Flüssigkeit vorenthalten würde. Zumal Roth durchaus beobachtet, dass – wenngleich nicht: wie – alltägliche Defizite sich in der pornographischen Vorstellung ihr Labsal suchen:

Je mehr Funktionen des Ichs über die Pornosucht kompensiert werden, umso höher die Gefährdung. Also, wenn ein gefährdeter Mann einen Konflikt mit seinem Chef nicht in den Griff bekommt, umso eher sexualisiert er das Problem, und an die fällige Auseinandersetzung mit dem Konflikt beziehungsweise dem Chef tritt dann die Pornographie. Je mehr solche Funktionen übernommen werden, um so gefährdeter wird der Betroffene.9

Aber auf die Idee, über Arbeitsverhältnisse mit solcherlei Chefs nachzudenken, also das Übel an der Wurzel zu betrachten, kommt der Psychotherapeut nicht, weil sich diese außerhalb seiner »Arzt-Praxis« vollziehen. Außerdem bleibt er jeden Hinweis schuldig, warum und wie sich soziale Verhältnisse in die Sexualisierung schleichen. Dazu müsste er den biologischen Begriff der Sexualität aufgeben und durch eine gesellschaftlich inhärente Definition von Sexualität ersetzen, wie es WissenschaftlerInnen wie Silvan Tomkins, Ágnes Heller u. a. mit dem Begriff der »Drive-Gefühle«10 wenigstens versuchen. Womit dissozial sexistische Wucherungen pornographischen Lustgebrauchs zu einem gewichtigen Teil auch in der Überwindung der sie auslösenden oder verstärkenden sozialen Entfremdungen in Beruf und Freizeit gesucht werden können. Roth hingegen sieht sexuelle Entfremdungen nur sexintern und auch nur quantitativ therapierbar: »Zunächst geht es um Pornographie-Abstinenz, nicht um Sex- oder Onanie-Abstinenz. Aber der Suchtstoff muss weg.«

Jede erfolgreiche Suchttherapie rückt dem Suchtstoff durch höherwertigen Ersatz zu Leibe. Aber, wenn nicht einmal eine Differenzierung in die ästhetische Beschaffenheit der jeweiligen Pornographie vorgenommen, sondern jegliche Pornographie als irgendwie aufreizender Schmuddelkram verstanden wird, kann eine heile Welt nur durch Abtrennung des Unheiligen geheilt werden.

Der Therapeut setzt punktuell auf Askese: »In der Abstinenz kommen die alten Talente oder Hobbys wieder hoch und entwickeln ihren eigenen Belohnungswert.« Roth stellt es sich ungefähr so vor: Durch irgendeine geheimnisvolle Quelle wird die Pornographie ins Leben eines vielseitig talentierten Menschen geschwemmt. Dann bricht eine Sucht aus. Talente und Hobbys werden überdeckt.

Aus Therapiegründen entzieht Dr. Roth dem Süchtigen die Pornos. Und siehe da: die Talente und Hobbys kommen wieder. Aber, da die gesamte Werbelandschaft, Kioske und TV-Kanäle pornographisiert sind, wird der Patient zur vollständigen Genesung und Rückfallfreiheit eine Art Scheuklappenbrille verschrieben bekommen müssen. Denn per Dr. Roth ist er zwar therapiert, aber die »lebenslange Verwundung« unheilbar.

Warum aber nicht auch pornographische Zeichnungen, Erzählungen oder Filme »talentiert und Hobby«, damit gleichsam erhaben und erhebend sein können, erschließt sich nicht. Völlig widersprüchlich und vage bleibt Roth auf die folgende Frage der Ärztezeitung: »Ist Pornosucht also heilbar?«

Ja. Aber: Pornosucht bleibt eine lebenslange Verwundung. Es gibt auch kein Davonkommen ohne Rückfälle. Aber diese Rückfälle sind nicht so gravierend wie etwa bei Alkoholikern. […] Der Pornosüchtige muss die Rückfälle als Lernfeld begreifen und zum Beispiel gesunde Aktivitäten finden, wie etwa im Chor singen […]11

Warum Pornographie generell ungesund und ein Chor generell gesund sein soll, und warum manche miese Pornographie auch im Männerchor gesungen wurde, und wo sich also die verwendeten Begriffe – Hobby und Pornographie – innerlich gegeneinander abgrenzen, belässt der Therapeut im Dunkeln.

Roth erfasst nicht die ganze »historische« Dimension und Verfasstheit der Pornosucht. Wenngleich er die Masturbationsabstinenz von der Pornoabstinenz (auf die er sich therapeutisch fokussiert) abkoppelt. Aber damit stellt er – leider nur implizit – die Frage, warum Onanie mit pornographischen Bildern lediglich im Kopf etwas weniger Gefährliches sei, als Onanie mit bildlichen Darstellungen außerhalb des Kopfes (denn die Masturbation ohne Pornographie ist wohl noch seltener als Pornographie ohne Masturbation). Die Suchtgefahr wächst offensichtlich mit den externen Bildern und nicht mit den Bildern überhaupt. Also hängt die Suchtgefahr nicht an Bildern an sich. An der Masturbation als Abschlussakt der aktivierten pornographischen Vorstellungen hängt die Suchtgefahr offensichtlich auch nicht. Auch nicht, wenn die Masturbation durch Hand oder Mund Anderer ersetzt würde.

Was aber ist der »Krankheitskern« der Pornosucht und der damit verbundenen Tendenz zur Impotenz12 beim gegenseitigen Gebrauch von Sexualorganen während einer Lebensperiode mit häufigem Pornographiekonsum? Das wahre Geheimnis, sagt Baudelaire, ist das Offensichtliche. Das Wesen des Konsums ist ja: der Konsum! Im Konsum ist es der Kaufakt und die fiktive Selbstermächtigung während des geldpotenten Akts der Verfügung. Eine Therapie, die sich mit der Kompensation nicht auseinandersetzt, die im Kauf und der käuflichen Verfügbarkeit über Körper- und Sexualintimitäten stattfindet und die sich gegen die eigene passive Verfügtheit und Objektrolle als Arbeitskraft stemmt und aufbaut, geht letztendlich an einer nachhaltigen Heilungsperspektive vorbei. Wer sich selbst als verkauft, konsumiert und missbraucht vorkommt, wendet sich entweder in organisierter Wirkmacht dagegen oder versucht, die Bildabdrücke davon in den eigenen Regiebereich zu transponieren – auch wenn dies nur die Videokabine bleibt, denn so was funktioniert am unaufwändigsten, konfliktfreiesten und billigsten in Kauf und Konsum.

Im Grunde kreist diese gesamte Abhandlung um die innere Transposition, in welcher eine gesellschaftlich bedingte Bedrohung in der Phantasiewelt, wozu Pornographien zweifelsohne am wirkmächtigsten beitragen, ihre evasionistische (= ausfluchtartige) Kompensation erfährt. Eine Bedrängung, eine Problemstruktur also, wird dann in einen Vorstellungsbereich transponiert, wo sie einer höheren Eigenmächtigkeit des Bedrängten ausgeliefert wird als an ihrem Ausgangspunkt. Dieser Vorgang ist nicht leicht zu beobachten, sondern nur psychologisch und damit nur abstrakt-logisch in der dialektischen Tiefe zu verstehen. In den Traum, in die Pornokabine, auf die Kinoleinwand und den allermeisten ähnlichen Vorstellungsformen spielen die realen Probleme des realen Alltags hinein und werden dort zunächst anders und verwandelt durchgespielt. Reale Bedrohungspotenziale und Dichotomien werden vermindert, damit sie weniger übermächtig und bedrohlich sind. Statt sich den Alltagszwängen zu ergeben, wird damit zu spielen begonnen. Ein solcher Vorgang hat stets Rauschpartikel – gleichgültig, ob diese Rauschpartikel das Spiel auf der Bühne oder das Spiel vor dem Glücksautomaten, die Volltrunkenheit oder die Traumarbeit, die tröstende Liebeszuwendung oder den Warenkaufakt ausstatten.

Das Problem kann nur teilweise verdrängt werden und verlangt nach irgendeiner Behandlung. Es muss, wenn schon nicht gelöst, so zumindest ins Überschaubare aufgelöst, also »zerkleinert« werden, weil dann individuell-psychische Regiefähigkeiten und Selbstermächtigung im Verhältnis zur Grundstruktur des Problems zunehmen.

Grundsätzlich wollen Menschen das sie bedrängende Problem lösen. Dabei ist das geistige Zerlegen nur ein Stadium des »Lösens«. Aber letztendlich ist das Lösen eines Problems eine finalisierte Operation, während das Auflösen lediglich darauf zielt. Der Unterschied zwischen »lösen« und »auflösen« besteht eigentlich nur psychologisch, aber zunächst äußerlich nicht wahrnehmbar. Beim Lösen wie beim Auflösen ballt jemand zum Beispiel drohend die Faust. Und doch ist der Unterschied zwischen einer ästhetischen Simulation und einem realen Faustkampf beträchtlich, allerdings erkennbar nur in der finalen Intention der jeweiligen Handlung in dessen Gesamtzusammenhang und mittels Abstraktion der eigentlich wahrgenommenen Beobachtungen.

Es ist keiner Marotte und keiner staatlichen Repression geschuldet, wenn sowjetische Psychologen wie Lew Wygotski, Konstantin Leontjew und Alexander Luria sich häufig auf Lenins »Philosophischen Nachlass« beziehen. Der revolutionäre Humanist und Staatsmann war nämlich nicht nur ein bewusst praxisorientierter Analytiker der »Denkökonomie«, sondern ebenfalls ein guter Beobachter seiner sozialen Umwelt. Er wendete sich deshalb gegen den Empiriokritizismus und Psychologismus. Die Materie existiert außerhalb des Bewusstseins und wird von diesem zwar gespiegelt und abgebildet. Es ist aber niemals dazu in der Lage, sich vollständig vom Affekt zu trennen. Selbst wer eine rein technische Computerauswertung analysiert, vermag dies letzten Endes nie ohne Emotion. Das Freud’sche »Unter«bewusstsein hat also dieselbe objektive Herkunft, wie das Bewusstsein, ist von niemand Überirdischerem in uns eingelassen als von der dinglichen Materie selbst. Oder um es mit Wygotskis Lieblingszitat von Lenin zu sagen: »Denn auch in der einfachsten Verallgemeinerung […] (›der Tisch‹ überhaupt) steckt ein gewisses Stückchen Phantasie.«13

Wenn nun also ein Problem zerlegt wird, um es zu »entproblematisieren«, geschieht dies zunächst geistig, um das Problem im nächsten Schritt aufzuheben, also zu lösen. Das Problem und seine bedrängende Struktur haben in der Phantasie ihren »emotionalen Fußabdruck« hinterlassen, der auch bei der rationellsten Problemlösungsstrategie begleitend mitschwingt. Diese scheinbare Schwäche psychischer Tätigkeit bleibt gleichzeitig gegenüber jeder künstlichen Intelligenz (KI) ihre Stärke: Intelligenz ist immer affektiv. Des Menschen ganzes historisches Gattungsleben steht zur Verfügung, was künstliche Intelligenz ebenso wenig im vollen Umfang konstruktiv reproduzieren kann, wie die menschlichen Sinne außersinnliche Materie ganz erfassen und abzubilden vermögen. Wo Politik auf die strategische Überlegenheit der emotionalen und phantasiebegabten Intelligenz insistiert, kann sie die Angst vor einem Überhandnehmen der KI-Forschung getrost relativieren.

Denn in jedem Auflösen eines Problems bleibt ein gattungsgeschichtlich, charakteristisch menschlich spielerischer Umgang enthalten. Das Spielen unterscheidet sich vom Arbeiten, was aber nur in der konkreten Situation und nur abstrakt voneinander unterschieden werden kann. Leute haben des gestrengen Wissenschaftlers Albert Einsteins Hirn im Labor zerlegt. Sie waren enttäuscht. Sie hätten besser die affektivwarmen Plaudereien, politisch-philosophischen Einlassungen und sein Geigenspiel untersuchen sollen, um der Genialität seiner kühlen Mathematik auf die Spur zu kommen.

Bereits hier deutet sich an, dass Ästhetik und Wissenschaft, bildhafte Vorstellung (Metapher) und Begriff, Analyse und Phantasie vom selben Gegenstand herrühren und auf ihn bezogen sind. Wenn ich ein Problem löse, das ich mit einem drohenden Unwetter, einem Raubtier oder einem knapp gewordenen Überlebensmittel habe, so kann ich dies, indem ich mir einen Plan erstelle. Ich kann das Problem aber auch angehen, indem ich es einfach nur aufmale. Äußerlich muss zwischen beiden Skizzen keinerlei Unterschied bestehen. Die erste dient der Arbeit an dem Problem, die zweite »nur« der spielerischen Darstellung des Problems. Nichts anderes war z. B. die Höhlenmalerei in der Steinzeit. Klar: Die Lösung eines Problems vermittelt meine Souveränität als Troubleshooter. Aber auch das Auflösen, das Zerlegen, Abbilden in Malerei oder Phantasie stärkt meine Position zum Problem selbst. Ich löse es beim Zeichnen in verschiedene Bestandteile auf und verschaffe mir so eine Eingriffsoption. Ähnlich verläuft die Arbeit mit psychisch Kranken, die selber Autoregulationsoptionen erlernen sollen, wenn die eigentliche Krankheit (Schizophrenie etc.) nicht geheilt werden kann. Sie sollen wenigstens, wenn der »Anfall« schon nicht zu verhindern ist, wissen und spüren, dass er unter diesen Umständen erfolgt und wie er halbwegs schadenbegrenzt durchgestanden werden kann. Das nennt die Psychotherapie etwas irreführend (weil der Film- oder Theaterregisseur selten selber in die Therapie gerufen wird): »Regiefähigkeiten«.

Es zeugt also nicht von radikalem Humanismus und großer Wissenschaftlichkeit, ausschließlich die kognitiv-rationalen Seiten bei einer Therapie, einer psychischen Selbstermächtigung oder einer politischen Erkenntnis und Erfassung gelten zu lassen; und damit alle ästhetischen, phantasiebezogenen, erträumten, fingierten und evasionistischen Selbsthilfeaktionen als bloße Surrogate abzutun und als Irrationalität gegen die Aufklärung zu setzen. Bei aller Kritik bergen Kauf und Konsum auch emanzipatorische Keime in sich – schon deshalb, weil sie den Antrieb auf höheren Reallohn gegen das Großkapital anregen.

Im Konsum steckt immer ein gewusstes Stück gefühlter Selbstermächtigung, im Kauf ein Stück Eigenregie und – wie noch zu zeigen sein wird – auch die Erotik von Verfügungsoptionen. Wenn Konzerne und Großbanken längst entmachtet sein werden, Teile der nicht-monopolkapitalistischen Bourgeoisie mit der Arbeiterklasse ein Bündnis eingegangen sind und eine arbeitsorientierte, demokratische »Diktatur« durchgesetzt haben, wird im Kauf immer noch ein erheblicher Rest der Selbstermächtigung, Selbstvergewisserung und Erotik verbleiben. Wenn das größte Unrecht beseitigt ist, heißt das noch längst nicht, dass jegliches Unrecht beseitigt ist. Wenn die terroristische Ausbeutung beseitigt ist, heißt das noch längst nicht, dass sie vollständig beseitigt ist. Wenn der Sozialismus anfängt zu wirken, heißt das noch längst nicht, dass alle Phantasien über seinen Reifezustand bereits in Arbeit sind. Wolfgang Fritz Haug hat einige Werke zur »Warenästhetik« verfasst. Verkürzt kann man diese so wiedergeben, daß selbst das leere Versprechen der Konsumware in ihrer ansprechenden Verpackung und Anpreisung auch Ansporn für die Aufwertung der Arbeitskraft als Kaufkraft sein kann, diese zu erwerben. Wie sollte aber dieser Kampf befördert werden, wenn er letztlich durch eine rigide Feindschaft gegen jeden Konsum von links ins Leere greift? Der Warendoppelcharakter ist doch Resultat der Produktionsverhältnisse und beschreibt die Geld-Warenkauf-Beziehungen unter Bedingungen kapitalistischer Enteignungshegemonie. Also bedarf das Auslöschen des Warenfetischismus in seiner Letztendlichkeit das Auslöschen der Kapitaldiktatur über die Produktionsmittel und ArbeitskraftbesitzerInnen. Auf dem Weg dorthin können Kultur, Politik und Therapie etwas, aber nicht alles. Also sollte die Diskriminierung von Handlungsweisen, die dem Warencharakter geschuldet sind, eher dezent ausfallen. Wir sollten, um Brecht leicht zu variieren, den Zuckerersatz nicht verteufeln, solange der Zucker fehlt.

Bis zu Haugs bahnbrechend hoffnungsvoller Erkenntnis von der diskrepanten Sprengkraft der »Warenästhetik« zwischen Vorgaukelung und Gebrauchswert der Ware, war der von Marx beschriebene Warenfetisch für ganze Marxismusgenerationen nur ein hoffnungslos verdichteter Nebel irgendwo hoch oben, aber ein nicht auflösbarer Nebel in einzelnen Köpfen. Gelegentlich glaubten Linke gar, sie selbst seien ja vorm Warenfetisch qua Wissen gefeit. Vor Jahrzehnten wurde so ein bestaussehender, gefeierter linker Opernstar, der sich gegen die Atomraketen engagiert hatte, häufiger Kaufhandlungen in Bordellen und Pornozellen überführt. Wohlbemerkt: einer, dem man ebenso das hohe C wie »Womanizing« nachsagte. In der linken Friedensbewegung wurde nun gegrübelt: Wofür gibt so einer Geld aus, dem auf freier Wildbahn so viele Frauen offen und in langen Schlangen nach seinem Auftritt nach Autogrammkarten anstehen? »Das hat der doch nicht nötig«, hieß es selbst in gebildeten marxistischen Zirkeln. In etwa so, als wenn Kriminalermittler verzweifelt im Kaffeesatz suchen: Womit wurde das Opfer erstickt? Dabei war es dieser Kaffeesatz selbst. Warum kauft so ein Womanizer Pornos? Der Kauf selbst ist doch die Antwort. Tag-ein-Tag-aus wird dieser freie und gefeierte Opernstar durch Tickets gekauft. »Nun kauft er zurück!« In der Warenhaftigkeit der Lösung bleibt die Warenhaftigkeit des Problems verhaftet. Der Hinweg in der Warenhaftigkeit gleicht diametral dessen Rückweg. Wenn solches selbst den relativ freien Künstler betrifft, dann auch viel unfreiere Eingepferchte.

Der Kaufakt selbst ist eine die kapitalistische Ungleichheit vorübergehend aufhebende Gemeinsamkeit vieler, nur unterschieden von der Höhe der jeweiligen Kaufpreise. Sie begeben sich an den gleichen Trog. Ihre Sinne hängen gebannt am selben Warentisch. In den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« beschreibt Marx diesen Eros des Kaufakts, der auch tief in der Pornosucht wohnt (z.B. dort, wo Männer aus struktureller Angst, in Impotenz ertappt zu werden, in pädophile Ästhetik flüchten; was kommerziell mit allerlei modischen Kindfrau-Designs getriggert wird):

So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich? Aber ich kann mir doch die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das Geld vernichtet […] ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer […] Ich, der durch das Geld alles, wonach ein menschliches Herz sich sehnt, vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen? Verwandelt also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegenteil? […] Was ich qua Mensch nicht vermag, was also alle meine individuellen Wesenskräfte nicht vermögen, das vermag ich durch das Geld.14

Es gibt zahlreiche Studien, die der Erotik der Kaufaktion auf die Schliche kommen wollten, aber selten haben sie diese Sache vollständig erfasst. In jedem Falle ist der Liedtitel von Bert Brecht, »Geld macht sinnlich«, mehr als nur ein hübsches Bonmot. Den Kauf nicht nur als reine Ballung der Geld-Ware-Preis-Zirkulation abstrakt zu erfassen, sondern »sinnlich«, war auch das stete Bestreben von Marx und Engels. Darum griffen sie auch stets, was diesen Bereich anbetrifft, zu lyrischen Bildern und Dichtern wie Balzac, Goethe, Shakespeare usw.

Georg Lukács nimmt in seinem großen Werk »Beiträge zur Geschichte der Ästhetik« diese Bezeichnungen von Marx, Engels und Lenin ins Zentrum der Besonderheit ästhetischer Überbaubewegungen und setzt diese ins Verhältnis zur ökonomischen Basis, die zwar »letztendlich«, aber niemals direkt, sondern nur in finaler Instanz den Ausschlag gibt. Sie kann nie in monokausaler Stringenz als eine Besonderheiten erdrückende Determination gesehen werden. Georg Lukács spricht von »dieser antihumanen, das Wesen des Menschen verdrehenden, verzerrenden Wirkung des Geldes« und zitiert dann Marx und Engels:15

Shakespeare hebt an dem Geld besonders 2 Eigenschaften hervor:

1. Es ist die sichtbare Gottheit, die Verwandlung aller menschlichen und natürlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil; die allgemeine Verwechslung und Verkehrung der Dinge; es verbrüdert Unmöglichkeiten;

2. Es ist die allgemeine Hure, der allgemeine Kuppler der Menschen und Völker […].

Es ist das entäußerte Vermögen der Menschheit.

Was ich als Mensch nicht vermag, was also alle meine individuellen Wesenskräfte nicht vermögen, das vermag ich durch das Geld. Das Geld macht also jede dieser Wesenskräfte zu etwas, was sie an sich nicht ist, d. h. zu ihrem Gegenteil.

Damit ist der fetischisierende Reiz der Geldverwendung und Kaufhandlung bis in seine Perversion hinreichend umschrieben. Es liegt viel mehr darin als der eigentliche Gegenwert der erworbenen Ware – auch in Sexualität, Pornographie und Prostitution. Es dürfte auf der Hand liegen, dass Pornosucht als Sucht nach (mehr) Eigenregie so wie die Religion »Seufzer der bedrängten Kreatur« (Marx über Religion) sind. Also begrenzt sich ihre Therapierbarkeit wie alle Therapie letztendlich durch das, was die Kreatur insgesamt bedrängt: Dieses ist zwar pragmatisch reformierbar, aber nur revolutionär letztendlich aufhebbar. Zunächst wäre eine künstlerisch lustvolle Ästhetik mit einer heilenden Strategie in Verbindung zu setzen, auch um sexistische Suchthaftigkeit zurückzudrängen. Um soziale Faktoren psychischer Deformationen aber drücken sich Psychoanalyse wie die HeilerInnenmehrheit gleichermaßen. Da waren selbst die rückständigen Adornit­Innen weiter, die wenigstens im menschlichen Sex systemlogisch die Warenwelt irgendwie gespiegelt fanden.

Eigentlich müsste ja mit dem Entzug besonders spontan und leicht zugänglicher Pornoreizreflexe (durch Billigkauf) die Stimulier- und Reizbarkeit der »Versuchsperson« heraufgesetzt werden, um somit den der realen sexuellen Tätigkeit erwachsenen pornographischen Bildern im Liebesleben wieder neue Lust zuzuführen. Die entgegengesetzte Logik aber würde bedeuten, dass damit auch die Lust am Leben dermaßen zurückgestutzt würde, dass das entsprechende Eheleben das altkatholische Maß aller Dinge würde und demzufolge zerbräche. Der Abstinenzansatz mag temporär also erfolgreich, aber von derartiger Lustlosigkeit umweht sein, dass Frust – wie viel zu oft – über die »therapeutische Umerziehung« bestimmend würde.

Dennoch: die bewusste Zurückhaltung beim individuellen Porno-Konsum ist der Potenz, der Dauer von Partnerschaften und dem erotischen Glück förderlich. Besser wären: gezielter Gruppensex beziehungsweise andere, spielerische Erweiterungen pornographischer Rollenspiele.

Solange Roth nicht begründet, warum ein totaler Pornokonsumverzicht zu einem Umbau pornographischer Bilder im Kopf und zu einem Abbau der Sucht führt, solange er es also nur beim Phänomen belässt, das aus einem Pornographiesüchtigen wie beim »trockenen Alkoholiker« durch Entzug des Stoffs ein autonomer Regisseur seiner Bilderwelt erwüchse, klingt das alles zu brav nach Prohibition.

Wir sollten uns eher damit beschäftigen, wie die vorwiegend »männliche« Pornographie entsteht, wie die Innenarchitektur ihrer Stimulation aussieht und warum diese Bilderwelt die Sexualität beim Menschen befeuert und wie sie von der Sozialität, wie bei keinem anderen Lebewesen, befeuert wird. Zu klären ist auch, warum die Pornosucht nicht jeden in jeder Situation und Phase gleichermaßen befällt, sie also nicht in jedem Moment ausbricht, da er/sie irgendeiner Pornographie ansichtig wird. Gerade die Formen der kommerzialisierten Pornographie in einer warenhaften Tauschwertewelt bedürfen hier einer besonders eingehenden, konstruktiv kritischen Betrachtung.

Zwei grundsätzlichen Widersprüchen ist auf die Spur zu kommen, die viel zu tief und zu lange durch staatliche und kirchliche Sanktionen im Tabubereich gehalten worden sind:

1. Wie oberflächlich und darum dogmatisch muss der reine, unbedingte Verzichtsansatz in der Therapie bleiben? Nehmen wir uns einen dafür verdächtigen Satz von Kornelius Roth vor, wo es ihm »um Pornographie-Abstinenz, nicht um Sex- oder Onanie-Abstinenz geht. Aber der Suchtstoff muss weg.« Er unterscheidet also von der sexuellen Ausübung die pornographische Vorstellung. Dabei suggeriert er entweder, dass bei der Onanie keine Pornographie zugegen wäre oder er will nicht den Unterschied des stofflich-äußeren Produktions- und Rezeptionsgehalts der Pornographie vom internalisierten Genussverhalten erfassen. Aber weil die innere pornographische Metaphorik notwendig ist, müssen dem Verbotstherapieansatz doch zumindest erhebliche und permanente Umgehungs- und Ausnahmebewegungen im heimlichen Auge des Betrachters vorgehalten werden.

2. Wie kann pornographisches Vorstellungsverhalten geändert werden, ohne dessen zentrale Quelle in der Warenwelt aus dem Dunkel zu holen: die erniedrigenden Anteile unter den kapitalistischen Verfügtsein-, Lohn- und Zeitregimes. Denn in Wahrheit ist die Chemie der Pornosucht nicht ohne die innere Mechanik des Kaufrauschs zu verstehen, ohne das Verfügen durch einen Verfügten, den »Seufzer der bedrängten Kreatur« und nicht deren kompensatorische Verfügungswohlgefühle beim Kauf. Mit anderen Worten: Ist nicht schon der wohltuende Verfügungsakt durch Kauf als temporale Selbstermächtigung in den Pornographiekonsumakt »eingepreist«? Weswegen Pornographiekritik nicht mutwillig von Gesellschaftskritik abgeschnitten bleiben darf!

Neben dem Text von Kornelius Roth veröffentlicht die Ärztezeitung 2016 zum selben Thema einen zweiten Artikel. Er beginnt so:

Als relativ neue Droge verbreitet sich die Pornographie durch das Internet und produziert offenbar Millionen Abhängige. Experten sprechen von »Pornosucht«: »youporn«, »hotmegaporn« oder »porndig« – in praktisch unbegrenzten Mengen, anonym […] Mit einem jährlichen Umsatz von 800 Millionen Euro ist Deutschland weltweit der zweitgrößte Pornomarkt, wird die Sozialwissenschaftlerin Esther Stahl zitiert: »Ein fatales Paradies für Abhängige […] mit Schlössern des Anstandes verhängt und damit voller verbotener Reize […] nach dem unverschämten Treiben der nackten Körper auf dem Bildschirm süchtig werden.«16

Pornosucht wird scheinbar etwas entdämonisiert. Um sie dann aber im nächsten Absatz mit der medizinischen Keule zu zertrümmern: »Und genauso leiden die Patienten auch wie Spiel- oder Heroinabhängige darunter, dass das Belohnungssystem im Hirn immer weiter Nachschub braucht«. Damit aber würde die sogenannte Schweifkerndrüse (Nucleus Caudatus) im Hirn mit fortschreitendem Pornokonsum immer kleiner. So wie man uns in meiner postfaschistisch-antierotisch geprägten Jugend einreden wollte, Masturbation würde das Rückenmark schädigen.

Der Umkehrschluss wäre aber noch fataler: Menschen mit kleinerem Schweifkern würden also eher zu Pornokonsum tendieren. Womit Pornosucht körperlich disponiert sei. Die ästhetische Qualität der Pornographie, wo sie anfängt und wo sie endet, bleibt davon völlig unberührt. Die medizinische Argumentation würde allen Demagogen und Inquisitoren der Welt biologischen Determinismus sowie inquisitorische Verbotsrituale ermöglichen.

Dabei gibt es keine Belohnungsgröße im Hirn, die per Drüse autonom, also unabhängig von der Gesellschaft und deren Kategorien von Belohnbarem, ein Hirn zu steuern vermöchte. So wie die Spielsucht entsteht, wenn unter der Gesellschaft fragmentarisch abgelauschten Regeln eines Spiels Unregelbares abseits massierten Drucks genussvoll nachgeahmt und im Spiel das aus dem Ruder Geratene wieder steuerbar erscheint, so wie der Kaufrausch das eigene Verkauftsein kurzzeitig spiegelnd lindert, so entsteht auch die Pornosucht nicht aus Drüsen, sondern aus dem wirklichen Leben. Sie wirkt als Steigerung erotischer Vorstellungen ablenkend und damit das Elend lindernd. So ist sie auch eine widergespiegelte Entsprechung der jeweiligen Glücksverweigerung durch das andere Geschlecht und lädt sich auch mit pornographischen Revanchebildern auf. Aber sie ist vor allem als Antipode zu sozialen Unterwerfungen aufgeladen: als Defragmentierungsdrang aus dem Nichtsexuellen im Sexuellen – und gelegentlich stemmt sie sich so gegen den Schmutz des Offiziellen in die Subversivität schmutziger Vorstellungen.

Für die Ärztezeitung ist die soziale Welt bestenfalls Illustrationsbeigabe für die pornographische Gegenwelt, aber keine kausale Herkunftsbestimmung. Dass auch die Pornosucht dem Bedürfnis entspringt, all das intim durchzuspielen, was im Arbeitsleben und im öffentlichen Raum übermächtig ist und weh tut, kommt in diesem Beitrag nicht einmal als Ahnung vor. Dafür sind die Leute von der Ärztezeitung zu eingeengt auf die Schulmedizin. Wo Drüsen und Schwellkörper die Grenzen der Suchtdefinition markieren, gibt es analytisch wenig Welt außerhalb des Labors. Das kommerzielle Versprechen des Pornomarkts sei an einer unendlichen Menge immer neuer Storyboards schuld: »Der Süchtige kann sich nie sicher sein, ob nicht das nächste Video noch besser zu seinen sexuellen Präferenzen passt […] So entgleitet den Betroffenen die Kontrolle viel schneller. Das ist wohl ein wesentlicher Mechanismus der Pornosucht.« Kurz: Die Gier wüchse angeblich, weil der Suchtanfällige glaubt, es gäbe noch viel Befriedigenderes individualistisch zu entdecken. Ein auf reinen Mengen aufgebautes Theoriegebäude, das qualifizierende Ursachen und Bedeutungen nicht kennt.

Damit wird unterstellt, der Nucleus Caudatus im Hirn (der für Motorik und mechanisches Lernen eine gewisse Bedeutung hat) würde also größer oder kleiner, je nach der Erwartung des Pornointeressierten an einem noch größeren Warenangebot. Die ganze Absurdität dieser Theorie unterstreicht, dass eine rein innere, von Außeneinflüssen unabhängige Präferenz der Nachfrage angenommen wird. Sie sei zuerst da, bevor sie sich zu einer pornographischen Präferenz im ästhetischen Angebot konkretisiere. Als ob zuvor bekannte Pornos aus der Nachfrage ausscheiden würden, weil diese keine Überraschung mehr bereithielten.

Ein Pornointeressierter geht aber mit einem diversen, ungefähren Spektrum an Erwartungen und Überraschtwerdenwollen in die Pornokabine oder zum entsprechenden Internetanbieter, aber nicht mit einer fest konkretisierten Vorstellung, die lange, bevor sie konkret wird, schon bereits abgebildet gewesen sein muss. Er mag zwar einige negative Abwehrpräferenzen und Ekelgrenzen bei sich kennen und in Bezug auf die Beschaffenheit der Darsteller im Porno und deren Besonderheiten konkret negierend vor Augen haben (Fett- oder Magersucht; Homosexualität, Alter o. ä.). Aber seine Vorstellung ist nie so konkret, sonst würde er das freie Spielangebot nicht aufsuchen. Erst dort findet er zum »Finetuning« seiner Präferenzen. Das liegt daran, dass sein soziales Leben ebenso im Fluss ist, wie die antipodische Widerspiegelung dessen im Pornographischen. Das Intime, das vermeintlich Asoziale, ist eben auch internalisierte Sozialität als Widerschein des Öffentlichen.

Glücklicherweise weist die Ärztezeitung (leider ohne nähere Literaturangaben der Autoren) darauf hin, dass Pornokonsum nicht per se das Hirn schrumpfen lässt:

Die Sexualwissenschaftlerin Esther Stahl sagt, wer Pornographie konsumiert, wird von den Darstellungen und der lebhaften Sexualität, die da gezeigt wird, nicht beschädigt. Und man müsse auch nicht eine gestörte Sexualität mitbringen, um sich überhaupt für Pornographie zu interessieren.

Nach dieser Entwarnung aber verfestigt der Beitrag eine gewisse Pathologisierung des (Porno)Konsumenten: »Kurz: Pornographie hat offenbar erstaunlich wenig mit Sexualität zu tun.«

Doch jede abrupte Trennung von Sexualität und Pornographie ist eine gewagte Behauptung. Denn in Wirklichkeit hat menschliche Sexualität mehr mit Pornographie zu tun als mit dem tierischen Fortpflanzungstrieb. Deswegen steht jegliche Theorie auf dem Kopf, die die Untrennbarkeit von Geschichte und »Trieb« in der Sexualität außer Acht lässt. Wenn das soziale Leben ausweglos gestört und entfremdet ist, beziehungsweise vergangene Störungen keine andere Abhilfe als privatisierte Intimität angeboten bekommen, wird das pornographische Refugium die Spuren seiner ursprünglichen Entfremdung nur re-inszenieren.

Deswegen hat Esther Stahl in der Ärztezeitung mit folgenden Formulierungen vollkommen recht und trifft ins Schwarze des Schamdreiecks: Nein, nicht die Pornographie beschädige den Sex, sondern »prekäre Verhältnisse machen prekären Sex«, zitiert Stahl ihren Professor Konrad Weller, Sexualwissenschaftler an der Hochschule Merseburg. Aber Stahls Begründung dafür, dass »prekärer Sex« nicht mit Pornographie entsteht, ist doch recht mechanisch: Die sogenannten »Love Maps«, also sexuelle Skripte, würden in der frühesten Kindheit schon angelegt, meistens nicht einmal durch sexuelle Aspekte, erklärt Stahl.

Also, was wir eines Tages im Bett mögen und was nicht, hängt zum Beispiel davon ab, wie Vater und Mutter miteinander umgegangen sind, wie Intimität und Zärtlichkeit in der Herkunftsfamilie gelebt wurden, welche Stellung Frauen und Mädchen in der Familie hatten und so weiter. »Diese Skripte werden fortgeschrieben und in der Pubertät sexualisiert«, so Stahl. »Mancher findet dann Sex mit Tieren faszinierend und andere fühlen sich davon abgestoßen.«17

Esther Stahl erweitert hier zwar die Entstehung sexueller Einstellungen über die Jetztzeit hinaus, engt aber das entscheidende Wachstumsalter der pornographischen Präferenzen dann wieder auf das Kindesalter ein. Eine erweiterte Analyse korrespondierender Beziehungen zwischen Kindheit – Ausbildung/Arbeit – Pornographie wird »freudianisch« ausgespart. Es wird by the way suggeriert, dass bestimmte frühkindliche Störungsarten autonom und ewig fortdauern. Damit wird außer Acht gelassen (was vertiefter Forschungen bedarf), wie bestimmte Störungsarten durch die praktische Lebenstätigkeit beständig reproduziert werden müssen, um überhaupt über so lange Zeit als Störung virulent zu bleiben und nicht in den Hintergrund zu treten. So wenig wie die frühe Störung ohne ihre häufige Reproduktion im Lebensprozess lange überleben kann, so wenig überwintern frühkindliche Glücksvorstellungen in glücklosen sozialen Umständen des Arbeitslebens. Aber ebenso können sich kindliche Psychostörungen nicht gegen ein glücklich-erfülltes Leben autonom einigeln.

Es ist eine durch nichts untermauerbare, aber kaum ausrottbare Vereinfachung, dass eine einzige Einwirkung aufs frühkindliche Erleben (etwa in einer traumatischen Verbindung von Gewalt und Pornographie) ausreichen würde, die Psyche lebenslang zu stören – selbst wenn das gesamte sonstige Leben gewaltarm und sinnerfüllt verliefe.

Stahl kommentiert realistisch die häufig in Pornographie dargestellte Gewalt und die Entrechtung von Frauen so: »Gewalt und Erniedrigung von Frauen in der Pornographie sind eher Spiegel unserer patriarchalen Gesellschaft.« So weit, so richtig: Pornographie löst die Erniedrigung von Frauen nicht aus. Aber die darauffolgende deterministische »Unheilbarkeit« geht entschieden zu weit: »Wenn ein Mann mit der Erniedrigung von Frauen aufwächst, wird er – wenn er Pornographie konsumiert – auch in der Pornographie die Bestätigung für seine Erfahrungen suchen.«18

Aber so einfach ist das Rätsel nicht gelöst bzw. der kommerzielle Erfolg von BDSM, z. B. des trivialen »Fifty Shades of Grey«, besonders bei Frauen erklärt, wenn auch eine Studie der Uni Montreal – laut Wochenblatt (8. 7. 2017) – Zweidrittel der Frauen masochistische Phantasien unterstellt. Aber nur 50 % davon wollten diese ausleben. Der Reiz an der passiven oder aktiven pornographischen Erniedrigung, die Stahl nicht in Abrede stellt, muss sich ja irgendwo aufladen: sowohl in der kompensatorischen Negation eines geschlechtlichen Erleidens durch das andere Geschlecht, aber auch als Gegenpol zum sozialen Erniedrigtsein. In Religion, Traum, Kunst, aber eben auch in der Pornographie wird nach zumindest punktuell lustvoller Beherrschbarkeit jener depravierenden Muster gesucht, die der eigenen Erniedrigung zuvor ähnlich erscheinen – zumal beide Geschlechter sich prototypisch zunächst immer etwas vorenthalten (müssen), wenn Erotik überhaupt Spannung und Reiz umschreiben soll. Selbst diese partielle Verweigerung und Verknappung im erotischen Spiel oder Flirt ist Teil des Generalerlebnisses von Erniedrigung und der Warenverknappung unter jeglicher Fremdherrschaft – etwa des großen Kapitals.

Natürlich kann sogar eine Erniedrigung des Vaters durch die Mutter oder eine Trennung o. ä. pornographische Vorlieben bestimmen. Aber der klassische feministische Auslegungskontext »Cherchez l’homme« reicht zumindest nicht hin. Hier ist die Dialektik hilfreich, tiefer unter die soziale Oberfläche der pornographischen Abbildungen zu fassen. Pornosucht dürfte wohl auch nicht Ausdruck und Folge eines generellen hypersexuellen Verhaltens sein, das asozial und übergriffig auffällig sei, meint zumindest Dr. Brand in der nämlichen Ärztezeitung: »Andersherum gibt es ja auch Menschen, die zwar exzessiv, unkontrolliert und mehr als sie selber wollen, Internetpornographie konsumieren, aber trotzdem ein durchschnittliches soziosexuelles Verhalten zeigen.« Also kann eine durchschnittliche Beziehung im sexuellen Verhalten sogar von Pornokonsum profitieren und demzufolge die Defragmentierung gesellschaftlicher Entfremdung mit unterschiedlichen Pornoformaten kompensieren.

Esther Stahl, die sich vor allem mit dem Pornokonsum von Jugendlichen befasst hat, setzt auf gute Sozialpädagogik und Sexualerziehung.

In einem Projekt haben wir Pornos geguckt und ich habe zum Beispiel klar gemacht, dass all die tollen Brüste da auf dem Bildschirm operiert sind. Zwar haben die jungen Leute eine gewisse Medienkompetenz. Aber man sollte nicht glauben, die wüssten schon alles.

Aber weil es auch tolle Brüste auf dem Bildschirm gibt, die nicht operiert sind und die dennoch so viele Fragen aufwerfen, die die Brüste im Tierreich nicht betreffen, sollte der forschende Spaten doch ein wenig tiefer in die Materie von Pornographie gestoßen werden.

6 MEW 3, S. 46.

7Ärztezeitung vom 19. 02. 2016.

8 Ebd.

9 Ebd.

10 Das Wort »Drive-Gefühle« stammt von der Lukács-Schülerin Ágnes Heller, die mit diesem etwas »breiten«, unterdifferenzierten Begriff quasi den Restbestand der jeweiligen Triebe in den menschlichen, »sozialisierten« Gefühlen einfangen will. Der »Drive« beschreibt bei Gefühlen einen hormonellen, biologischen Anteil. Ein Nachteil der Ungenauigkeit von »Drive-Gefühl« ist, dass der Terminus eine treibende und getriebene, aber abgepackte Ladung meint, ohne zu erfassen, dass alles Fühlen prozesshaft, ja meist auf- und abtauchend, vorüberhuschend bleibt.

11 Ebd.

12 Kornelius Roth spricht nicht an, warum Pornographiesucht Unlust und Impotenz in einer bestehenden Partnerschaft dramatisch verstärkt; die Frage nach dem Zusammenhang »partnerschaftliche Unlust – Pornokonsum« wird in den wenigsten Untersuchungen auch nur angesprochen.

13 LW 38, S. 353.

14 MEW 40, S. 564, 565.

15 Lukács (1954): Beiträge zur Geschichte der Ästhetik, Aufbau Verlag, S. 199/200. (Das Zitat siehe MEW Bd. 40, S. 565.)

16Ärztezeitung vom 19. 02. 2016.

17 »Ärztezeitung« vom 19. 02. 2016.

18 Ebd.

Zur Geschichte von Porne und Porno-Verboten

Fast jeder Maurer oder IT-Arbeiter würde aufstöhnen, wenn man ihm auftischen wollte, seine pornographischen Geheimbilder würden auch daraus resultieren, wie viel hundert Kilo Steine er täglich zur Mauer schichtet oder welcherlei Design er bis in die Nacht programmiert hat. Zurecht würde er entgegnend fragen, worin denn die Verbindungslinie zwischen der martialischen Schufterei auf der Baustelle zum feenhaften Schamhaardreieck in seiner Phantasiewelt bestehen solle. Bewiese man demselben Maurer oder IT-Arbeiter aber, dass sich ein Dauerkonflikt mit seinem Vorgesetzten in der Arbeitshierarchie von einer Panikattacke in einen Albtraum umformatiert habe, dürfte er weniger abweisend reagieren. Dabei handelt es sich um exakt dieselbe Basis-Überbau-Beziehung. Die augenscheinlichen und subkutanen Beziehungen zwischen den Produktionsverhältnissen (= ökonomische Basis) und dem Überbau (= Kulturen aus Staat und Ästhetik), die Marx als Matrix des besseren Verstehens auf die bisherigen menschlichen Gesellschaften gelegt hat, dienen auch zum besseren Verstehen der einzelnen Persönlichkeit. Die Arbeitswelt lässt die Traumwelt nicht in Ruhe.

Diesen Beziehungen der Träume untereinander, der Arbeit untereinander und der Arbeit mit den Träumen wollen wir uns hier annähern. Wozu wir zunächst den Umweg über die Sexualität nicht alleine darum gehen, weil er provoziert, sondern a) weil diese in der marxistischen Philosophie und in der materialistischen Psychologie (auch der großen Sowjets) zu den am meisten vernachlässigten Lebensrelevanzen zählt und b) somit auch ein von Marx zitierenden Pharisäern nicht umlagertes, gleichsam jungfräuliches Feld (der Pornographie) betreten werden kann, auf dem die hochfliegenden sexuellen Vorstellungen wieder eingefangen und auf den Boden der ökonomischen Lebensumstände heruntergeholt werden können.

Wer erkannt hat, dass Lohn- und Zeitregimes sich die Sexualhormone zurichten (und weniger umgekehrt), wird die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Marx, Engels und Lenin haben nämlich nicht nur den aufbegehrenden Teilen der werktätigen Klassen in den verschiedenen Zeiten und Nationen den wesentlichen Schatz für deren Intelligenzarbeit hinterlassen, sondern auch – als wahre Humanisten – der gesamten Menschheit. Weil sich vom objektiven Klassenkampf kein Mensch bislang je hat ausschließen können, will auch die individuelle Psychologie vom marxistischen Instrumentarium bearbeitet und neu erkannt werden. In diesem Zusammenhang widerspreche ich jenen marxistischen Hohepriestern, die behaupten, man könne den Marxismus nur ganz oder gar nicht verstehen und produktiv annehmen. Denn jeder Erkennende auf diesem Erdball, bevor er Marxist wurde, hatte zunächst Appetit auf Teile der bis heute am meisten entfalteten Philosophie bekommen. Der Marxismus ist den bewusst kämpfenden Teilen der Arbeiterklassen am nächsten. Aber er ist auch ein Angebot an die gesamte Menschheit und ihre Wissenschaften. Selbst Unternehmer wie Friedrich Engels, August Bebel, Bert Brecht und Helene Weigel haben davon profitiert und dazu beigetragen.

Warum also zwanghaft weiter einen Bogen um die Erotik und ihre zwangsläufigen Vorstellungen, die pornographischen, schlagen? Sicher kann die individuelle Person »destilliert« abgebildet werden, um sich den historischen Zusammenhängen – Überbau und Basis –, aus der sie gewachsen ist, auch im Einzelnen zuzuwenden. In ihrer Abstraktion, von der wirklichen Persönlichkeit in ihrer Konkretion »aufgestiegen«, gibt es diese »destillierte« Persönlichkeit dann nicht mehr, sondern nur noch die gesellschaftliche.

Zunächst möchte ich also mit dem Zitat Gramscis, wonach »die Natur des Menschen seine Geschichte ist«, jene Vorstellung zur Disposition stellen, in der die Biologie des Menschen, also auch seine Sexualität, nur eine unmittelbar schrittweise Weiterentwicklung jener des Tieres sei. Gramsci dachte keinesfalls, dass die Biologie in der Gesellschaftlichkeit verschwände. Er meinte in guter Hegel’scher Tradition, dass sie gleichsam tief durch die Geschichte der Persönlichkeit und Klassen tauchen und darin wieder hoch- und aufgehoben würde: nicht mehr als solche direkt auffindbar, weil in einer höheren Qualität aufgehoben, aber bis tief in ihre Antipode vorhanden und aufzuspüren. Die Biologie, also die fünf Sinne/Wahrnehmungen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten) und die Triebe (die elementaren Bedürftigkeiten nach fester Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Sexualität und Entspannung) bleiben in der Gesellschaftlichkeit des Einzelnen und auch in seiner Klassenwirklichkeit »angelegt«. Prinzipiell sind jedoch alle Sinne und Triebe stets miteinander in der Einwirkung aufeinander verbunden (das heißt: auch das erlebte Säugen färbt Sexualitätserlebnisse), selbst wenn sie sich in der höchsten Bedürftigkeit (Verdursten, Verhungern u. ä.) stark voneinander ablösen und andere Triebe überlagern (wer sucht schon Sex in einem Sandsturm nach Tagen in der Wüste?).

Die Steigerung der Not steigert eher die Verrohung der Sinne und Bedürftigkeit, während die Überwindung des nackten Kampfes ums Dasein die Bereicherung der Sinnlichkeit ermöglicht. Die GründerInnen der Sozialdemokratie baten 1863 den Dichter Georg Herwegh um eine Art Gründungshymne. Er wählte als Liedtitel den alten christlichen Untertanensatz »Ora et Labora, Bet’ und arbeit’!« mit einer kämpferischen Ironisierung: »an die Türe pocht die Not/ bete kurz! denn Zeit ist Brot.« In der subjektiven Religiosität wirkt Ähnliches wie in Traum und Pornographie. Bei Georg Herwegh hat also nicht einmal das Beten genug Raum unter dem Zeitregime der Not. Wie dann das Lieben? Denn aktive Sinnlichkeit ist nun einmal die Entgrenzung eines vereinzelten Bedürfens und erst nach der (gesellschaftlichen) Überwindung solch unmittelbarer Notlagen greift der einzelne Trieb über seine unmittelbare Befriedigung hinaus, bereichert sich in der Komplementarität mit anderen Trieben und Sinnen. Die ärmere Tierwelt kennt diesen komplexen, »miteinander vernetzten« Reichtum der Triebe weniger als die tendenziell nicht mehr von der Hand in den Mund arbeitenden Teile der Menschengesellschaft. Dafür verzichtet diese auf Instinkte und rohe Triebe. Denn wo die Tierwelt eine Bereicherung an Trieben erfährt, verbleiben diese dennoch im Grenzbereich der unmittelbaren Körperlichkeit einer konditionierten Reiz-Reflex-Biologie.

Um aber die »menschliche Natur als Geschichte« (Gramsci) beziehungsweise die Gesellschaft als »biologische Anlage« vorstellbarer und vom Tier abgrenzbarer zu machen, wollen wir den sexuellen Akt genauer betrachten. Da ist beim Bullen beziehungsweise Hirsch das Testosteron, welches eine bestimmte Empfindung auslöst. Zwischen diesen zunächst rein chemisch messbaren Formen einer Gefühlsausrichtung (die eine temporär besondere Betonung einer bereits vorhandenen Disposition, bei Hintanstellung anderer Dispositionen, bedeutet) und der eigentlichen Fortpflanzungsintention liegt eine Art Missing Link: Wie vollzieht sich »Testosteron« zur Handlung oder wie wird aus einem Empfinden ein konkret handlungsfokussierter Trieb?

Der Begattungstrieb ist zwar in bereits anderen erlebten, körperlichen Reibungen angelegt, führt aber nicht unbedingt zu einem konkreten Begattungsakt eines konkreten Hirschs mit einer konkreten Kuh. Historische Reizelemente wie die Scham (bei Tieren nicht gleichbedeutend mit dem Weglaufen eines Rehs) können also die reine Chemie des Testosterons in die eigentliche Begattungsaktion nicht wirklich übersetzen helfen. Es muss also eine Summe früherer Erfahrungen, Erlebnisse und Ahnungen mit einer neuen konkreten Situation verbunden werden, was schon auf den Begriff der »Anlage«, beziehungsweise des »Angelegtseins« verweist. Es ist außerordentlich schwierig, empirische Daten darüber zu gewinnen, wie die Erfahrungen von Hautreibungen etwa beim Säugen, Wärmen, Stillen, Blase-Darm-Entleeren, Gerüche, Laute, Gestreicheltwerden, Wohlempfinden in die Anlage der Begattung beziehungsweise des Begattetwerdens hineinspielt. Im Wesentlichen aber ist das, was sich im Hirn des Tieres aus Ahnung und Ahnen abbildet, von biologischen Trieben und körperlichen Reizreaktionen bestimmt. Darum bezieht sich auch jene Vorstellung, die vom Testosteron zum Begatten führt, auf den Fortpflanzungstrieb selbst und bleibt im engen Kreis von dessen Biologie, Konditionierung und Instinkt. Ein Bock ist eben auf seine unmittelbare Körperlichkeit eingegrenzt.

Warum ist beim Menschen hingegen der weibliche Intimbereich magisch, aber nicht der männliche? Ganz klar (und mehr dazu im späteren Kapitel): Weil die Scham in der Gesellschaft magisch ist, aber die Schamlosigkeit auf der Hand liegt. Der Mensch, der im Wesentlichen seine sämtlichen Triebe (besonders mit Überwindung unmittelbarer Notdürftigkeit) in andere Prozesse gesellschaftlicher und schließlich historischer Natur übersetzt hat, wird kaum durch den reinen Begattungs- und Fortpflanzungsinstinkt in Bewegung gesetzt. Um das Empfinden, das das entsprechende Hormon im Hirn auslöst, zur praktischen Aktion werden zu lassen, braucht es Bilder im Kopf, seien sie auch vage und diffus. Jedes halbwegs auf Antizipation angewiesene Lebewesen braucht Vorstellungen zur und bei der Fortpflanzung. Hormon und Triebgefühl greifen also nach einer Vorstellung, die das Empfinden in eine praktische Aktion einzuleiten hilft.

Diese Vorstellungen, als Handlungsleitstrahlen, sind beim Tier an Instinkt und den eigentlichen Zweck der Fortpflanzung, also an unmittelbare Biologie, gefesselt. Bei Menschen wirken die Hormone nicht mechanisch. Für Vorstellungen, die die Chemie des Hormons in die konkrete Liebesnacht transponiert, stehen keine Instinkte und Metaphern aus der ursprünglich biologischen Arterhaltung zur Verfügung. Der Mensch muss diese Vorstellungen, die aus drängender Ahnung im Unterleiblichen Erotik, Scham und Durchdringung, Küsse und unsterbliche Liebesgedichte macht, aus der Gesellschaft trinken, weil andere nicht vorhanden sind. Er greift auf die Widerspiegelungen seiner Sozialität zurück und wendet sie in seinen Bewegungen an. So kommt es vor, dass der Bulle nach dem mächtigsten Becken giert, aber der Mann nach dem kleinsten Kugelpo, der jede Freude, aber nicht die zum Gebären verrät. Alle diese spezifisch menschlichen Vorstellungen (»und inneren Filme«) sind unwillkürlich pornographische Metaphern.

Mit dem Wort der »vererbten Anlage« (charakterlich, »rassisch«, triebhaft usw.) wird oft biologistisches Schindluder getrieben. Produktiver, als in »Anlage« eine tierische Determinante zu sehen, wäre, sich »Anlage« wie die Kapitalisten vorzustellen, wenn sie Geld in Menschen oder in Menschenmaterial »anlegen«. Die Anlage beim Tier ist ein Ensemble des biologisch organischen Reichs – bis zu seinen zumeist in Reiz und Reflex geborenen Witterungen, Vorstellungen und Träumen. Die Anlagen beim Menschen aber können ohne die Geschichte seiner Arbeit und daraus seiner Fähigkeit, zu abstrahieren, nicht zur Geltung gelangen. Er denkt tendenziell erst nach der durchdrungenen Komplikation einfach.

So also, wie tierischer Instinkt der menschlichen Intuition täuschend ähnlich ist, verhält es sich auch mit Denken und Arbeiten. Ein erfahrener Heiler entwirft das Krankheitsbild ebenso einfach und spontan wie ein Quacksalber. Ein erfahrener Architekt skizziert so zielgerichtet, wie die Biene Waben baut. Ein erfahrener Jäger oder Fischer ortet so einfach, wie ihm das Wild ausweicht. Wenn Brecht über das Glück nach dem Kapitalismus sagt, es sei »das Einfache, das so schwer zu machen ist«, dann lobt er die Einfachheit nach der Komplikation, nicht den Simpel, der sie umgeht. Populismus ähnelt der Popularität. Aber er ist – eben durch seine Absolutheit des »Ismus« – die Leugnung der komplizierten Klassenwidersprüche, also immer tendenziell demagogisch, während die Dialektik von Zuspitzung und Verallgemeinerung nur da populär werden kann, wo eine Persönlichkeit, Klasse oder eine andere Gemeinschaft Zusammenhänge einigermaßen durchdrungen haben. Dann findet die Klugheit der Heilerin, des Jägers, des Architekten oder der Klassenkämpferin zur Intuition, zum Fingerspitzengefühl, zu einer neuen, einfachen Sprache.

Wenn »die Arbeit« – im Sinne von Marx, Engels, Lenin und anderer gründlich praktischer Philosophen – im Nachfolgenden als zentrale Kategorie Ausgangspunkt dieser Überlegungen sein wird, werden dadurch nicht monokausale Zusammenhänge konstruiert. Arbeit ist von unermesslicher Vielfalt – weit über die Erwerbsarbeit hinaus. Sie intendiert beim Bedenken ihrer Gegenstände auch unermesslich Vielfältiges, ohne dass der Nutzen immer auf den ersten Blick erkannt werden muss. Intuition des Einzelnen wird dabei Resultat vieler Leut’s Arbeit und ist kein angeborener Instinkt, keine angeborene Anlage, sondern historische.

So verhält es sich auch mit den Genüssen. Aus unmittelbarem Durst wird ein geselliger Stammtisch, aus unmittelbarem Hunger ein Gelage und aus unmittelbarem Fortpflanzungstrieb Pornographie. Abseits seiner unmittelbaren Notlage, also in der entwickelten Gesellschaft, schwächt sich der Trieb ab zu einem Drang (»Drive-Gefühl« nach Tomkins/Heller; »animal spirit« nach Marx), der sich jetzt mit den »vorgefundenen Umständen«, unter denen die Menschen nach Marx ihre Geschichte machen, »verschwistert«. In diese »Umstände« mischen sich mit dem Drang nach sinnlich-sinnigen Gesichtspunkten die eigenen Erlebnisse im biografischen Umgang mit sozialen Niederlagen und Erfolgen, mit aktuellen Notlagen in Beruf und Freizeit sowie im Umgang mit dem Drang selbst. Biologie und Gesellschaft »durchtränken« sich, wobei die Triebe zu ihren Zielen »durch die Gesellschaft hindurch« müssen; was in etwa so zu veranschaulichen wäre: wie durch eine Espressomaschine, wonach in der Tasse weder Kaffeebohnen noch Wasser noch Druck voneinander getrennt zu schmecken sind.

Alles dies spiegelt sich diametral, antipodisch und kompensatorisch zu etwas Neuem, was nur dem abstraktionsbegabten Menschen eigen ist. Aus dem Fortpflanzungstrieb wird eine Eroslust, ein Wandlungstrieb, der eigentlich eine Triebwandlung ist. Der männliche Prototyp ist zum Beispiel: durch Penetration der Partnerin zu seinem und dann ihrem Refugium zu wandeln, die Scham (wie im späteren Kapitel beschrieben) zu durchdringen etc. Die prototypische Frau zähmt ihn auch durch Unterwerfung. In die Verzauberung und diese Umwandlungsmomente fließen allgemeine Widrigkeiten ein, wie das Bett, in dem sie liegen, die Musik, die sie hören, aber auch die Einzel- und Sozialgeschichte, gegen die sie sich einzeln oder (unter klügerem »Gebrauch der Lüste« – Michel Foucault) zweisam abschotten. In der Weiterfassung wäre es auch reizvoll, Lustgeschichten der Solidarität aufzuschreiben.