Post Mortem - Tage des Zorns - Mark Roderick - E-Book
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Post Mortem - Tage des Zorns E-Book

Mark Roderick

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Beschreibung

Schau in den Abgrund und fleh um deinen Tod Hochspannend und schockierend: Spiegel-Bestsellerautor Mark Roderick legt mit "Post Mortem – Tage des Zorns" den dritten Band mit Interpol-Agentin Emilia Ness und Profikiller Avram Kuyper vor. Emilia Ness ermittelt noch in einem aktuellen Interpol-Fall, als sie ein grausiges Päckchen erhält – mit einem abgeschnittenen Ohr darin. Kurz darauf erreicht sie eine Videobotschaft: Ihre Tochter Becky wurde entführt. Und alles deutet darauf hin, dass das Ohr von ihr stammt. Es gibt nur einen Menschen, der ihr jetzt helfen kann: Profikiller Avram Kuyper. Der hat im Moment jedoch ganz andere Sorgen, denn er verfolgt die Spur eines alten Rivalen. Viel zu spät wird ihm klar, dass er – genau wie Emilia – in eine hinterhältige Falle gelockt wurde. Ihr Gegner will nicht nur ihren Tod, er will sie leiden sehen. Denn sie haben beide seinen Zorn auf sich gezogen. Hart und unglaublich spannend: Der neue Thriller von Mark Roderick lässt auch Ihre Nerven vibrieren.

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Seitenzahl: 545

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Mark Roderick

Post Mortem - Tage des Zorns

Thriller

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Inhalt

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1

Becky war aufgeregt, weil sie wusste, dass sie etwas Verbotenes tat. Besser gesagt: weil sie vorhatte, etwas Verbotenes zu tun. Beinahe so etwas wie ein kleines Verbrechen.

Wenn ich auffliege, wird es mächtigen Ärger geben.

Aber sie war fest entschlossen.

Die Fünfzehnjährige lag in ihrem Bett und versuchte, sich zu beruhigen, hatte aber den Eindruck, ihr Herz würde so laut schlagen, dass die drei anderen Mädchen im Zimmer jeden Moment davon aufwachen würden.

Zum hundertsten Mal in dieser Nacht schaute sie auf ihre Armbanduhr. Das Justin-Bieber-Emblem auf dem Ziffernblatt leuchtete kaum noch nach, aber zumindest waren die Zeiger gut zu erkennen. Viertel nach elf. Die Zeit kroch im Schneckentempo dahin.

In der Hand hielt sie den Brief, den sie heute bekommen hatte. Er hatte auf ihrem Bett gelegen, als sie nach dem Nachmittagsunterricht mit ihren Freundinnen zum Zimmer zurückgekehrt war. Für Becky – persönlich stand in Druckbuchstaben darauf. Persönlich war unterstrichen. Natürlich hatten Jana, Heike und Vanessa darauf bestanden, den Brief zu viert zu öffnen, aber trotz ihres lautstarken Protests hatte Becky es vorgezogen, ihn alleine zu lesen. Sie hatte es sogar geschafft, den drei anderen nichts über den Inhalt zu erzählen, vor allem weil sie befürchtete, ihr Traum könne wie eine Seifenblase zerplatzen, wenn sie zu viele andere daran teilhaben lassen würde.

Der Brief war ihr ganzes Glück.

»Ich denke, die beiden anderen schlafen jetzt«, flüsterte Jana, die im Stockbett über Becky lag. »Du kannst mir den Brief jetzt zeigen.«

Jana war nicht nur Beckys Klassenkameradin, sondern auch ihre beste Freundin. Dennoch zögerte Becky. Es fühlte sich einfach nicht richtig an.

»Ist der Brief von Daniel?«, fragte Jana und schob ihren Kopf über den Rand des Bettes.

Die Mädchen ließen beim Rollladen immer ein paar Ritzen offen, damit man nachts nicht das Licht einschalten musste, wenn man auf die Toilette gehen musste. Daher konnte Becky die Umrisse ihrer Freundin gut erkennen.

»Wieso denkst du, dass der Brief von Daniel ist?«, flüsterte sie und fühlte sich dabei irgendwie ertappt.

»Dass du auf ihn stehst, weiß doch jeder. Auf dem Pausenhof starrst du ihn die ganze Zeit an wie ein hypnotisiertes Reh.«

Bis vor wenigen Stunden hätten Janas Worte sie verletzt, weil sie nicht im Ernst daran geglaubt hatte, dass Daniel sie mochte. Aber jetzt hielt sie seinen Brief in der Hand – den Beweis des Gegenteils. Deshalb ärgerte sie sich nicht über das hypnotisierte Reh. Allerdings fand sie es über die Maßen peinlich, dass ihre Gefühle für andere so offensichtlich waren.

»Denkst du, er liebt dich?«, fragte Jana.

»Keine Ahnung«, antwortete Becky. Aber sie hoffte es inständig.

Ihre neue Flamme hieß mit vollem Namen Daniel Gronert. Alle seine Freunde nannten ihn Danny, natürlich englisch ausgesprochen, das klang cooler. Danny war zwei Jahrgangsstufen über Becky, er ging schon in die zwölfte Klasse. Sein Vater arbeitete als Vorstand bei einer Firma, die Airbags herstellte, seine Mutter war Ärztin. Wahrscheinlich hatte er von ihnen diese natürliche, selbstbewusste Ausstrahlung, die ihn von den anderen Jungs in der Schule abhob. Jedenfalls war er längst kein so verrückter Vogel wie Jobi, mit dem Becky bisher Händchen gehalten hatte. Danny war auch nicht so schrill angezogen. Er hatte keine gelben Haare und keine Piercings, mit denen er der Welt irgendetwas beweisen wollte und die beim Küssen nur störten. Danny stach auch ohne all diese Dinge aus der Masse heraus. Er war auf unauffällige Weise auffällig. In seiner Clique hatte sein Wort Bedeutung. Aus ihm würde bestimmt mal ein Anwalt oder ein erfolgreicher Manager werden.

Mama wäre von Danny garantiert begeistert.

»Zeigst du mir jetzt endlich den Brief?«, drängte Jana. »Ich hab dir doch auch die E-Mails von Lars vorgelesen, oder etwa nicht?«

Das stimmte. Lars war schon Janas vierter Freund. Mit Liebesdingen ging sie wesentlich offenherziger um, und sie teilte ihre Gefühle gern mit anderen.

Seufzend reichte Becky den Brief nach oben. Janas Bettdecke raschelte, als sie mit dem Papier darunter verschwand. Ein leises Klicken verriet, dass sie die Taschenlampe unter der Decke eingeschaltet hatte. Wenige Sekunden später stellte Jana die Taschenlampe wieder aus und reichte Becky den Brief zurück.

»Ganz nett«, kommentierte sie.

Ihre Zurückhaltung verunsicherte Becky. »Was stimmt denn mit dem Brief nicht?«

»Keine Ahnung. Ich finde ihn irgendwie unpersönlich.«

Unfug!, dachte Becky. Wahrscheinlich ist sie nur eifersüchtig. Jedes Mädchen im Internat stand auf Danny.

»Die Wortwahl passt auch nicht so richtig«, flüsterte Jana weiter. »Danny spricht doch normalerweise ganz anders. Außerdem finde ich es irgendwie schade, dass es ein Computerausdruck ist. Ein Liebesbrief sollte meiner Meinung nach handgeschrieben sein.«

»Quatsch!«, zischte Becky. Aber insgeheim musste sie Jana in diesem Punkt recht geben.

»Hast du keine Angst, wenn du mitten in der Nacht ganz alleine da raus gehst?«

»Nein, warum denn?«, entgegnete Becky, obwohl ihr tatsächlich nicht ganz wohl war. Ihre Mutter erzählte andauernd Horrorgeschichten über Leute, die überfallen und auf grausame Weise getötet worden waren. Da konnte es einem ganz anders werden. Becky war froh, dass Jana das Thema nicht weiter vertiefte.

Stattdessen wollte sie mehr über Danny wissen. »Hat er dich schon geküsst?«, fragte sie.

»Nein! Bis vor zwei Wochen war ich ja noch mit Jobi zusammen!«

»Was, wenn Danny es heute Nacht versucht? Oder wenn er sogar noch mehr will? Hast du ein Kondom dabei? Ich kann dir eins geben, wenn du willst.«

»Ich hab selber eins in der Tasche«, log Becky, der die Unterhaltung allmählich unangenehm wurde. »Jetzt schlaf endlich, bevor die anderen noch aufwachen.«

Sie war froh, dass Jana sich tatsächlich aufs Ohr legte. Schon bald war von oben nur noch der gleichmäßige Rhythmus ihres Atems zu hören.

Dennoch hatte Jana es mit ihren Fragen geschafft, Becky zu verunsichern. Wie sollte sie reagieren, wenn Danny tatsächlich versuchen würde, sie zu küssen? Oder sogar noch mehr? Beckys Gefühle waren komplett durcheinander. Mit Jobi hatte sie zwar schon ein bisschen gekuschelt, aber immer, wenn er einen Schritt weitergehen wollte, hatte sie geblockt, weil sie sich noch nicht reif genug dafür fühlte.

Bei Danny war das anders, obwohl sie ihn noch gar nicht richtig kannte. Sie trafen sich zwar täglich auf dem Pausenhof und alberten miteinander herum. Einmal waren sie auch schon im Kino gewesen, zusammen mit einigen anderen Schülern des Internats. Aber bisher hielten sie und Danny nicht einmal Händchen.

Umso glücklicher war sie über seinen Brief. Sie hatte ihn schon so oft gelesen, dass sie ihn auswendig konnte:

Hallo, Becky! Ich muss dich unbedingt sehen. Komm um Mitternacht zum Sportplatz, zu der großen Eiche ganz hinten. Es ist wichtig! Ich warte dort auf dich. D.

Ein grauenvoller Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Stand dieses »D.« womöglich gar nicht für »Danny«? War »D.« vielleicht ein ganz anderer Junge aus ihrem Internat? Darius womöglich, aus der 11c, oder – noch schlimmer – Detlev aus der 10a. Der hätte ihr gerade noch gefehlt! In der Pause glotzte er manchmal so komisch zu ihr herüber. Ein paar ihrer Freundinnen hatten sie deshalb schon gehänselt. Wenn »D.« sich als Detlev entpuppte, käme das einer Katastrophe gleich.

Aber Becky verwarf ihre Bedenken sofort wieder. Im Grunde war sie fest davon überzeugt, dass kein anderer als Danny den Brief geschrieben hatte – weil er sie eben gerne treffen wollte. Und sie wollte das auch.

Endlich zeigte die Uhr Viertel vor zwölf. Die Türen der Schlafgebäude wurden nachts abgeschlossen, aber Becky wusste, dass man durch die Kellerfenster leicht nach draußen gelangen konnte. Leise schlüpfte sie aus dem Bett und tippelte zur Tür. Dort warf sie einen vorsichtigen Blick in den Flur, weil sie niemandem begegnen wollte, zum Beispiel einem anderen Mädchen, das auf die Toilette musste und sich darüber wundern würde, weshalb Becky keinen Schlafanzug trug. Noch schlimmer wäre es, einer Lehrerin über den Weg zu laufen, womöglich der alten Kollwitz. Bei Verstößen gegen die Hausordnung verstand die keinen Spaß.

Aber der Flur war leer. Auf leisen Sohlen schlich Becky aus dem Zimmer, vor bis zum Treppenhaus. Die Notbeleuchtung verströmte nur gedämpftes Licht. Außer ihren Schritten war kein Geräusch zu hören.

Es war spannend, aber auch irgendwie unheimlich.

Das Kribbeln im Magen verstärkte sich noch, als sie in den Keller hinabging. Keller hatten immer etwas Gruseliges an sich, zumal bei Nacht. Hinzu kam das Wissen, etwas Unerlaubtes zu tun. Und dann noch diese tote Frau in der Waschküche, von der ihre Mutter vor ein paar Monaten erzählt hatte. Ein kalter Schauder lief Becky über den Rücken.

Um die Geister zu vertreiben, schaltete sie ihr Handy ein und aktivierte die Taschenlampenfunktion. Hier unten würde ihr zu so später Stunde bestimmt niemand über den Weg laufen. Allerdings warf das Handy skurrile Licht- und Schattenspiele an die Wand. Aus irgendeinem Grund schienen ihre Schritte hier unten auch viel lauter zu sein als oben. Sie hallten regelrecht von den Wänden. Und die Lüftung am anderen Ende des großen Kellerraums brummte wie ein lauerndes Tier.

Über einen der vielen alten Tische, die hier unten neben all dem anderen ausrangierten Schulinventar lagerten, kletterte Becky über ein Fenster ins Freie. Dort überlegte sie einen Moment lang, ob sie im Schutz der Büsche oder zumindest abseits der Laternen, quer über die Wiese, zum Sportplatz gehen solle. Aber sie entschied sich für den Fußweg, wo es relativ hell war. Wenn sie sich beeilte, würde sie bestimmt niemandem über den Weg laufen, der ihr unangenehme Fragen stellen konnte.

Es war eine laue Spätsommernacht. Becky trug Bluejeans und einen leichten Pullover, dazu ihre weißen Turnschuhe. In der Ferne läutete die Kirchenglocke Mitternacht.

Perfektes Timing!

Nach wenigen hundert Metern erreichte sie den Sportplatz. Die große Eiche befand sich am Kopfende der Tartanbahn. Unter die ausladenden Äste des Baums drang nur wenig Licht. Becky kam sich vor wie in einer Höhle – beschützt, aber gleichzeitig auch irgendwie eingeschlossen.

Dass Danny noch nicht hier war, fand Becky enttäuschend. Es ärgerte sie sogar ein bisschen. Konnte er sich nicht denken, dass sie sich so ganz allein in der Nacht fürchtete? Vielleicht war fürchten das falsche Wort. Aber schließlich konnte man nie wissen, was für Leute nachts unterwegs waren.

Wieder nahmen die Horrorgeschichten ihrer Mutter in Beckys Bewusstsein Gestalt an. Der Bäcker aus Nantes, der sieben Schulkinder in seinen Keller verschleppt hatte, um sie dort wochenlang zu misshandeln. Das Ehepaar aus Straßburg, das ein Dutzend Anhalter entführt und erstochen hatte. Die Axt-Bande aus Umbrien …

Warum hat Mama keinen normalen Job, Herrgott nochmal? Sekretärin oder Verkäuferin? Irgendeine Arbeit, bei der man nicht täglich mit verstümmelten Leichen zu tun hat?

»Pst!«

Das Geräusch kam von hinten. Becky drehte sich um und versuchte, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen, aber sie erkannte keine menschliche Gestalt.

»Danny?«

»Ich bin hier! Hinter dem Baum.« Er flüsterte so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte.

Erleichtert darüber, dass das Ganze nicht nur ein dummer Streich zu sein schien, bog sie um den mächtigen Stamm, vorsichtig, um nicht über eine der knorrigen Wurzeln zu stolpern. Tatsächlich erkannte sie jetzt einen Umriss, dessen Größe und Statur zu Danny passte. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen, dafür war es viel zu finster. Dennoch gab es für sie keinen Zweifel, Danny vor sich zu haben.

Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung. In ihrem Bauch begannen eine Million Ameisen zu krabbeln. Was hatte Danny vor? Warum hatte er sie hierher gebeten?

Mutig ging sie auf ihn zu – und begriff zu spät, dass sie einen fatalen Fehler begangen hatte. Die Gestalt löste sich aus der Dunkelheit, raste wie eine Lokomotive auf sie zu und stürzte sich auf sie. Eine Hand presste sich auf ihren Mund wie ein Schraubstock. Ihre Schreie erstickten im Keim. Becky wollte kratzen, beißen, schlagen, treten – all das tun, was ihre Mutter ihr über Selbstverteidigung beigebracht hatte. Aber schon spürte sie einen Nadelstich im Hals, und beinahe im selben Moment versank die Welt um sie herum im Nichts.

2

Der Aussiedlerhof bei Simmerath, nahe der deutsch-belgischen Grenze, lag so weit abseits der Ortsgrenze, dass Emilia ihn ohne das Navi wohl niemals gefunden hätte. Die Zubringerstraße war kaum mehr als eine Schotterpiste. Die Gebäude standen versteckt hinter ein paar Bäumen und Büschen, von der Überlandstraße aus kaum zu erkennen.

Der ideale Ort für ein Verbrechen.

Emilia parkte ihren klimatisierten Wagen und stieg aus. Die spätsommerliche Sonne brannte heute noch einmal heiß vom wolkenlosen Himmel herab, so dass sie schon jetzt wieder zu schwitzen begann. Während sie sich umsah, spürte sie, wie das Adrenalin in Wellen durch ihren Körper strömte. Seit sie bei Interpol arbeitete, besichtigte sie nur noch selten Tatorte, so wie heute. Meistens unterstützte sie von ihrem Lyoner Büro aus die lokalen Polizeibehörden. Ihre Anwesenheit vor Ort war in den seltensten Fällen nötig.

Heute ging es jedoch darum, zu beurteilen, ob Dante oder – wie die Klatschpresse ihn plakativ nannte – der Schlitzer von Arques wieder zugeschlagen hatte.

Emilia ließ den Hof einen Moment lang auf sich wirken. Die Gebäude, die Geräte, der Asphalt im Innenhof – alles war alt und heruntergekommen, als sei hier seit fünfzig Jahren nichts mehr ausgebessert oder gar modernisiert worden. Der penetrante Geruch von Kuhdung lag in der Luft. Neben dem Stall stand ein rostiger Hanomag-Traktor, daneben befand sich der Misthaufen, umschwirrt von Fliegen. An den Stall grenzte ein Hühnergehege. Dort spielten ein paar Kätzchen mit einem zerfledderten Schuh. Auf der Weide dahinter grasten Rinder.

Das Wohnhaus war ein einstöckiger, gedrungener Fachwerkbau mit kleinen Fenstern und schiefem Dach. Davor parkte ein Polizeiwagen. Als Emilia hinging, stieg ein Beamter in Zivil aus und stellte sich als Hauptkommissar Friedkin vor. Er war mindestens einen Meter neunzig groß, hatte eine Figur wie ein Fass und eine angehende Glatze. Emilia schätzte ihn auf etwa fünfzig. Die dicken Tränensäcke unter den Augen ließen ihn irgendwie traurig wirken. Abgesehen von seiner stattlichen Statur wirkte seine Erscheinung ziemlich energielos.

Die Fotos, die Friedkin gestern nach Lyon gemailt hatte, legten die Vermutung nahe, dass es sich um die Tat eines Serientäters handelte, der schon seit acht Jahren sein Unwesen trieb. Emilia war hergekommen, um sich ein genaueres Bild zu machen. Bisher war Interpol immer erst Monate später zu den Ermittlungen hinzugezogen worden. Hier hatte sie zum ersten Mal die Chance, von Anfang an mitzuwirken.

Nie war sie Dante näher gewesen als heute.

»Wo ist es passiert?«, fragte sie.

»Im Haus«, sagte Friedkin. »Kommen Sie mit.«

Er ging voraus und erklomm die drei Steinstufen zum Eingang. Mit einem Taschenmesser entfernte er das Absperrband vor der Tür. Dann schloss er auf, und sie traten ein.

Der Gestank von Blut schlug Emilia entgegen wie eine Woge – nicht einmal der Kuhmist konnte das überlagern. Da sie sich keine Blöße geben wollte, sagte sie nichts, aber sie war heilfroh, als Hauptkommissar Friedkin die Fenster öffnete, um Luft hereinzulassen.

»Die Spurensicherung ist mit der Arbeit noch nicht ganz fertig«, sagte er. »Die meisten Beweise wurden gesichert und davor natürlich fotografiert – die Bilder hatte ich Ihnen ja geschickt. Aber einiges muss erst noch von hier abgeholt werden. Fassen Sie also bitte nichts an.«

Sie passierten einen schmalen, mit ausgetretenem Linoleumboden belegten Flur. Rechts kamen zuerst die Toilette, danach die Küche und ein kleines Esszimmer. Links ging es ins Wohnzimmer. Die dicht gestellten Möbel waren ein stilistischer Querschnitt durch die letzten zweihundert Jahre: Wurmstichige Bauernschränke wie aus dem Antiquariat, Sofa und Couchtisch aus den 1950ern, ein moderner Flachbildfernseher auf einer Kommode aus der Hippiezeit.

An der Wand hingen viele kleine Zettel. Emilia kannte sie bereits von den Fotos der Spurensicherung. Dennoch wollte sie sie aus der Nähe betrachten, um ein Gespür für die Tat und den Mörder zu bekommen.

Es handelte sich um karierte DIN-A6-Blätter, die augenscheinlich aus einem Ringbuchblock gerissen worden waren, denn die obere Seite war ausgefranst. Jedes Papierstück haftete mit einer Stecknadel an der Wand, überall im Raum – neben den Bildern, über der verstaubten Glasvitrine, rund um den Fernseher.

Es waren mindestens fünfundzwanzig oder dreißig Zettel, handbeschrieben mit einer rötlich schimmernden Tinte. Emilia war sicher, dass es sich dabei – wie in den anderen Fällen – um menschliches Blut handelte. Die weiteren Untersuchungen würden schon bald Gewissheit bringen.

Sie schob ihr Gesicht näher an die Zettel über dem Sideboard heran. Auf einem stand in krakeliger Schrift:

Willst du aus dieser wilden Stätt’ entrinnen,

denn dieses Tier, weshalb du riefst um Hilfe

lässt niemanden frei ziehn auf seiner Straße,

ja, hindert ihn so sehr, bis es ihn tötet.

Der Text auf dem Zettel darunter schien in direktem Zusammenhang zu stehen:

Von Natur ist dieses Tier so schlimm und boshaft,

dass nimmer es den gier’gen Trieb befriedigt

und nach dem Fraße

mehr noch hungert als zuvor.

Emilia fragte sich, ob der Mörder das in seinen Texten beschriebene Tier bewusst oder unbewusst als Metapher für sich selbst sah. Ein drittes Stück Papier, das daneben an der Wand pinnte, entstammte offenbar einem anderen Kontext:

Folge mir, und ich sei dein Führer,

der rettend durch den ew’gen Ort dich leite.

Dort wirst du der Verzweiflung Schrei’n vernehmen,

die Trauerschar der alten Geister schauen,

wo jeglicher des zweiten Tods begehret.

Emilia hatte die Texte bereits gestern von der Rechercheabteilung in Lyon analysieren lassen, daher wusste sie, dass sie alle aus demselben Buch stammten: aus Dante Alighieris Die Göttliche Komödie. Es war dasselbe Schema wie bei den Morden in Melazzo in Norditalien, Benthem in Holland und Arques, einer Gemeinde mit zweihundertfünfzig Einwohnern im südfranzösischen Languedoc. Dort hatte Dante zum ersten Mal zugeschlagen. Am 14. Mai 2009.

»Was denken Sie?«, fragte Hauptkommissar Friedkin. »Ist das das Werk Ihres Killers?«

»Gut möglich«, sagte Emilia. »Aber bevor ich das endgültig beurteilen kann, möchte ich noch das Schlafzimmer und das Bad sehen.«

Mit einem Nicken ging Friedkin voraus. Das Schlafzimmer befand sich am hinteren Ende des Wohnzimmers und war nur spärlich eingerichtet. Ein Doppelbett mit zwei Nachttischchen, ein Eichenholzschrank, ein Stuhl, der als Kleiderhalter diente, ein aufgehängtes Jesuskreuz – mehr gab es hier nicht. Zettel mit Dante-Zitaten suchte man hier vergeblich. Auffällig war aber das viele Blut: ein großer, rotbrauner Fleck auf der zurückgeschlagenen Decke, zudem jede Menge Sprenkel und Spritzer, teilweise auch auf dem Boden und an den Wänden. Hier musste Dante wenigstens eines der beiden Opfer angegriffen haben.

Wegen der zunehmenden Intensität des Blutgeruchs öffnete Friedkin auch das Schlafzimmerfenster. Danach gingen sie ins nebenan liegende Badezimmer, wo es noch viel mehr Blut gab. Der ganze Boden war voll davon, beinahe vollständig getrocknet von der sommerlichen Hitze. In der Mitte des Raums befanden sich zwei verwischte, körpergroße Stellen.

»Dort haben die Leichen gelegen«, sagte Hauptkommissar Friedkin. »Gertrud und Helmut Waginger, die Eigentümer des Hofs. Beide Mitte fünfzig, seit achtundzwanzig Jahren verheiratet. Laut Aussage von Freunden, Bekannten und Anwohnern aus Simmerath waren sie ruhige, zurückgezogen lebende Menschen, die ihr ganzes Leben lang hart auf dem Hof gearbeitet haben.«

Vor Emilias geistigem Auge erschienen die Fotos der Spurensicherung. Die Eheleute Waginger hatten auf dem Rücken gelegen, mit ausgestreckten Beinen, die Arme eng am Körper. Beinahe wie aufgebahrt.

Beide hatten ihren Pyjama angehabt.

Beide hatten diverse Stichverletzungen erlitten.

Beiden war die Kehle durchschnitten worden.

»Wir gehen davon aus, dass Helmut Waginger in seinem Bett erstochen oder zumindest schwer verletzt wurde«, sagte Friedkin. »Danach ist der Täter ins Badezimmer gegangen, wo Gertrud Waginger sich gerade die Zähne geputzt hat. Von dem, was im Schlafzimmer vorgefallen ist, scheint sie nichts mitgekommen zu haben, denn sie ist wohl da drüben am Waschbecken erstochen worden.«

Emilia nickte. Die Wand am Waschbecken, genau gegenüber der Tür zum Schlafzimmer, war die einzige im Raum, die Blutspritzer abbekommen hatte. Hätte Gertrud Waginger Kampfgeräusche oder einen Schrei ihres Mannes gehört, wäre sie vermutlich zu ihm gerannt.

Oder sie war von dem, was sie durch die offene Tür gesehen hat, so schockiert, dass sie sich vor lauter Angst nicht mehr bewegen konnte.

»Gertrud Wagingers Mund war voller Zahnpasta, als wir sie fanden«, fuhr Hauptkommissar Friedkin in seinem Vortrag fort. »Ich denke, sie stand da drüben, über das Waschbecken gebeugt, und hat gar nicht bemerkt, wie der Mörder ins Zimmer kam. Sie hat einen Stich in den unteren Rückenbereich abbekommen, außerdem mehrere Stiche in Bauch und Brust, und natürlich den Schnitt durch die Kehle. Der Täter hat beide Leichen hier im Badezimmer nebeneinander auf den Boden gelegt und einen Teil ihres Bluts in einem Glasbecher aufgefangen. Der Becher wurde auf dem Wohnzimmertisch gefunden, zusammen mit einem altmodischen Füller – einem, den man noch mit Tinte aufziehen muss. Weder auf dem Füller noch auf dem Becher befanden sich Fingerabdrücke. Wir gehen davon aus, dass der Mörder im Wohnzimmer seine Zettel schrieb. Da es außer im Badezimmer und im Schlafzimmer aber nirgends Blutspuren auf dem Boden gibt, hat der Mörder während der Tat wahrscheinlich Schutzkleidung getragen. Bevor er sich ans Schreiben machte, hat er die dann abgelegt.« Friedkin räusperte sich. »Was denken Sie? Hat das der Kerl getan, den Sie suchen?«

Emilia nickte nachdenklich. »Es sieht ganz so aus«, antwortete sie. »Unser Mörder sucht sich immer Ehepaare in alleinstehenden Bauernhäusern als Opfer aus. Die Leichen liegen jedes Mal nebeneinander im Badezimmer, mit mehreren Stichverletzungen und aufgeschlitztem Hals. Überall sind Zettel mit dem Blut der Opfer an die Wände gepinnt. Darauf stehen Zitate aus Dantes Inferno. Und der Mörder achtet immer darauf, keine Blutspuren im Rest des Hauses zu hinterlassen.« Emilia seufzte. »Allerdings gibt es zwei Dinge, die hier anders sind als in den vorangegangenen Fällen«, sagte sie. »Zum einen der Zeitpunkt. Bisher haben zwischen den Taten immer mindestens ein oder zwei Jahre gelegen. Diesmal sind es nur knappe fünf Wochen. Und bis jetzt hat der Mörder seinen Opfern auch keine Waffen in die Hände gelegt.«

Die Fotos der Spurensicherung hatten jeweils ein Messer in Gertrud und Helmut Wagingers Faust gezeigt. Was bezweckte der Täter damit? Wollte er den Eindruck erwecken, dass das Ehepaar sich gegenseitig umgebracht hatte? Wohl kaum! Er hatte schon mehrere Morde begangen, ohne den kleinsten Hinweis auf seine Identität preiszugeben. Er war ein verdammt schlauer Fuchs. Hätte er es wie einen eskalierten Ehestreit aussehen lassen wollen, hätte er es viel raffinierter angestellt.

Aber welchen Zweck verfolgte er dann?

Emilia knetete mit Daumen und Zeigefinger ihr Kinn. Im Moment fand sie auf diese Frage noch keine sinnvolle Antwort, aber sie war sicher, dass es eine gab. Die Bluttat war Dantes Werk, nicht das eines Nachahmungstäters. Irgendetwas wollte er ihr mit den Messern in den Fäusten der Toten sagen.

Vier Überfälle mit jeweils zwei Toten und drastisch kleiner werdenden Zeitabständen. Wenn wir den Kerl nicht stoppen, wird es bald noch mehr Opfer geben.

»Ich würde gerne mit Ihnen aufs Revier kommen und die sichergestellten Beweisstücke sehen«, sagte Emilia.

Friedkin nickte. »Ich fahre voraus. Folgen Sie mir einfach zur Zentrale.« Für den Fall, dass sie sich unterwegs verloren, nannte er ihr die Adresse.

Sie gingen nach draußen. Endlich konnte Emilia wieder frei atmen. Im Vergleich zu dem Blutgestank im Haus war der Geruch nach Kuhmist die reinste Wohltat.

Als sie zu ihrem Wagen kam, lag etwas auf ihrer Motorhaube: ein kleines Päckchen, in Geschenkpapier eingewickelt, rosarot, mit Herzchen darauf – beinahe wie eine kitschige Liebeserklärung. Auf dem aufgeklebten Kärtchen stand nur: Für E. Das Päckchen war eindeutig für sie bestimmt.

Sonderbar!

Wer wusste überhaupt, dass sie heute hier war? Ihre Kollegen in Lyon natürlich, aber von denen war es bestimmt keiner gewesen.

Vielleicht Mikka? Eigentlich konnte das Päckchen von niemand anderem sein. Sie hatte ihm gestern Abend am Telefon von diesem Fall erzählt, auch davon, dass sie heute nach Simmerath fahren würde, um sich mit eigenen Augen ein Bild vom Tatort zu machen. Mikka musste jemanden mit der Lieferung des Päckchens beauftragt haben.

Ein Lächeln legte sich auf Emilias Gesicht. Das sah ihm ähnlich! Immer wenn sie es am wenigsten erwartete, überraschte er sie mit kleinen Geschenken, einem unerwarteten Anruf, ein paar netten Worten oder einer anderen liebevollen Geste.

Vorsichtig löste sie den Tesafilm vom Herzchenpapier und öffnete den kleinen, neutralen Karton, der sich darin befand. Er enthielt eine mehrmals gefaltete, weiße Plastiktüte, die mit einem Schnellklipser verschlossen worden war – nicht besonders stilvoll, aber Emilia konnte Mikka dafür nicht böse sein. Mit allem anderen hatte er sich so viel Mühe gegeben! Neugierig öffnete sie die Tüte.

Und spürte, wie ihr das blanke Entsetzen eiskalt über den Rücken strich.

In der Tüte befand sich ein abgeschnittenes menschliches Ohr.

3

Im Schutz der Bäume beobachtete Avram Kuyper durch sein Fernglas die Villa, die sich am Fuß des Steilhangs unter ihm befand. Das Moos, auf dem er lag, war weich und trocken. Die anhaltende Hitze der letzten Wochen hatte alles ausgedörrt, selbst hier oben, in den auslaufenden Bergen des Schweizer Juras, rund dreißig Kilometer südlich von Basel. Myriaden von Mücken taumelten durch die Streifen aus Licht und Schatten, die die Sonne durch die Baumwipfel in den Wald warf. Grillen zirpten. Vögel zwitscherten. Irgendwo über Avram klopfte ein Specht sein Stakkato in die Ferne.

Dieses Fleckchen Erde hätte das reinste Paradies sein können. Ein Ort des Friedens, der Ruhe und der inneren Einkehr. Aber die Villa, die Avram beobachtete, war das genaue Gegenteil davon. Hinter ihren frischgestrichenen weißen Mauern verbargen sich das Leid und die Angst eines siebzehnjährigen Mädchens – Sina Hobmüller. Sie war dort unten gefangen, seit über einem Jahr.

Avram ließ das Fernglas sinken und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Hier oben wehte kein Lüftchen. Er fühlte sich halb verdurstet.

Der einfachste Weg zu Alberto Pineros exklusivem Anwesen führte über die Straße von Graichling, dem nächstgelegenen Dorf, das etwa zwei Kilometer weiter hangabwärts lag. Doch zu dieser Seite hin ließ Pinero sein komplettes Anwesen videoüberwachen, nicht nur die Straße, sondern auch die fünfzig Ar Wald. Mindestens dreißig Kameras waren dort versteckt. Avram hielt es für ausgeschlossen, sich der Villa unbemerkt von unten nähern zu können.

Deshalb hatte er den Weg über die Berge gewählt. Sein Wagen stand auf der anderen Seite der mächtigen Felsformation auf einem Waldparkplatz – in Luftlinie höchstens einen Kilometer entfernt. Dennoch hatte Avram in dem schwierigen, von Klüften und dichter Vegetation durchsetzten Gelände über drei Stunden gebraucht, um hierher zu gelangen.

Aber die Anstrengung hatte sich gelohnt. Hier oben gab es keine Überwachungskameras, ebenso wenig wie im hinteren Teil des Anwesens, das sich bis zu der Steilwand erstreckte, auf der Avram lag. Aus dieser Richtung schien Alberto Pinero keine Gefahr zu befürchten.

Sehr viele Feinde hatte er wohl auch nicht mehr, dafür war er schon zu lange aus dem Geschäft. Als ehemaliger Geldeintreiber des spanischen Vargas-Clans hatte er seine aktive Phase in den 1980er und 1990er Jahren gehabt. Mittlerweile lebte er seit fast zwanzig Jahren zurückgezogen im Schweizer Kanton Solothurn, beinahe wie ein Eremit.

Aber eben nur beinahe. Aus irgendeinem Grund hatte er vor vierzehn Monaten die Tochter des Schweizer Großindustriellen Franz Hobmüller entführt.

Das Mädchen, ein Scheidungskind und damals sechzehn Jahre alt, hatte übers Wochenende seine Mutter in Zürich besuchen wollen. Dort aber war sie nie angekommen. Die besorgten Eltern hatten zunächst vermutet, dass Sina irgendwo unterwegs aus dem Zug gestiegen und ausgebüxt war, weil sie schon immer einen Sinn für Abenteuer gehabt hatte und – ihrem Alter entsprechend – einen großen Freiheitsdrang verspürte. Doch als sie am Montag immer noch wie vom Erdboden verschluckt war, hatten die Eltern sich Sorgen gemacht. Die Vermisstenanzeige bei der Polizei war ergebnislos geblieben. Von Sina Hobmüller fehlte wochenlang jede Spur. Dann, etwa einen Monat später, ging bei ihrem Vater ein Brief ein. Ohne Absender, abgestempelt in einem Postamt im Baseler Vorort Inzlingen. Es waren nur zwei Zeilen:

Hören Sie auf, nach Ihrer Tochter zu suchen. Ich lasse sie nicht mehr zu Ihnen zurück.

Keine Lösegeldforderung und kein Hoffnungsschimmer. Nichts als die Feststellung, dass das Mädchen für immer verschwunden bleiben würde.

Natürlich hatte Franz Hobmüller alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seine Tochter aufzuspüren – ohne Erfolg. Die Polizei fand Sinas Fahrrad in Aarau, etwa vierzig Kilometer von Basel entfernt, aber dort konnte sich niemand an sie erinnern. Es war, als habe sie sich in Luft aufgelöst.

Irgendwann legte die Polizei den ungeklärten Fall beiseite, um sich anderen Dingen zuzuwenden, die ebenfalls ihrer Aufmerksamkeit bedurften. In seiner Verzweiflung engagierte Franz Hobmüller ein paar Detektive, die weiter nach seiner Tochter suchen sollten. Doch Sina Hobmüller blieb verschollen. Mehr als ein Jahr lang.

Schließlich hatte einer dieser Detektive, ein Mann namens Leopold Högler, aber doch noch Glück, als er dem Hinweis einer Bäckerin aus Graichling folgte. Sie hatte ein Mädchen, auf das die Vermisstenanzeige passte, in einem schwarzen Geländewagen gesehen und sich das Nummernschild aufgeschrieben. Auf diese Weise fand Högler heraus, wo Sina Hobmüller gefangen gehalten wurde.

Das war der Zeitpunkt, an dem Avram ins Spiel kam. Bei dem Treffen vor drei Tagen in Basel hatte Franz Hobmüller deutlich gemacht, dass er kein Mann war, der seinen Feinden verzieh. Alberto Pinero hatte ihm die Tochter geraubt. Er hatte ihn leiden lassen, monatelang, ihm seelische Schmerzen zugefügt wie noch niemand zuvor. Dafür sollte das Schwein mit allen seinen Helfern sterben …

Avrams Handy vibrierte. Er zog es aus der Tasche, um nachzusehen – vielleicht wollte Franz Hobmüller ihm letzte Anweisungen erteilen. Manche seiner Auftraggeber wollten Fotos der Opfer als Beweis dafür, dass er sie tatsächlich getötet hatte. Manche verlangten Körperteile. Avram hatte in dieser Hinsicht schon beinahe alles erlebt.

Aber die eingegangene E-Mail stammte von jemandem, den er nicht kannte. Er las:

Mein Angebot: 500000 EUR für einen Mord im Ruhrgebiet. Vorausgesetzt, es klappt in den nächsten zwei Tagen. Interesse?

L. Riveg

Eine sonderbare Art der Kontaktaufnahme. Und eine sonderbare E-Mail. Noch dazu eine enorme Summe Geld, wesentlich mehr als üblich. Das machte ihn skeptisch. Niemand bezahlte mehr, als er unbedingt musste.

Wer war dieser Riveg? Avram hatte den Namen noch nie gehört. Später würde er ein paar Nachforschungen über ihn anstellen. Im Moment war der Zeitpunkt ungünstig.

Er drückte auf »Antworten« und tippte ein: Wo ist der Haken? Dann steckte er das Handy weg, um sich wieder auf Alberto Pinero zu konzentrieren. Flach auf dem Boden liegend, robbte er ein Stück weiter unter dem Unterholz hervor, bis er den nackten Fels erreichte. Unmittelbar vor ihm führte die Steilwand zwanzig Meter senkrecht in die Tiefe.

Erneut blickte er durch das Fernglas. Pineros Villa passte eigentlich gar nicht ins Bild. Sie war nicht im typischen alpenländischen Stil errichtet worden, sondern als spanische Finca. Auf einer in den Wald geschlagenen Lichtung stand das Haupthaus, das über einen überdachten Freigang mit einem kleinen Turm verbunden war. Terracottafarbene Ziegel bedeckten die Dachflächen. Mittelpunkt der zwischen Haus und Turm liegenden Terrasse war ein großzügiger Swimmingpool.

Von seiner Warte aus konnte Avram Alberto Pinero nirgends entdecken, Sina Hobmüller ebenso wenig. Aber einer von Pineros Bodyguards saß im Schatten des Turms auf einem Teakholzstuhl, eine Zeitschrift in der Hand, auf dem Tisch neben sich ein kühles Getränk. Er trug ein schwarzes T-Shirt, dunkle Baumwollhosen und schwarze Lackschuhe. Um es sich bequemer zu machen, hatte er sein Schulterholster auf dem Tisch abgelegt.

Durchs Fernglas beobachtete Avram ihn genau. Der Mann war sichtlich entspannt. Ab und zu blätterte er eine Seite um, nach einer Weile nippte er an seinem Getränk und steckte sich eine Zigarette an.

Er rechnet nicht mit einem Angriff. Ihn auszuschalten wird keine Schwierigkeiten bereiten.

Allerdings gab es nach Avrams Informationen immer zwei Bodyguards auf dem Anwesen. Wenn er den am Pool eliminierte, würde er den anderen dadurch womöglich warnen. Das konnte die gesamte Mission gefährden.

Nein, er würde warten müssen. Das Überraschungsmoment war ein entscheidender Erfolgsfaktor.

Also zwang Avram sich zur Geduld. Er durfte sich heute keinen Fehler erlauben. Seit im letzten Sommer sein Sohn getötet worden war, hatte er sich mehr oder weniger zurückgezogen – sich auf das Nötigste beschränkt. Nicht nur, weil die Polizei nach ihm fahndete, sondern vor allem, weil er sich wie gelähmt gefühlt hatte.

In all den Monaten hatte er nur einen einzigen Auftrag angenommen, den von Jekaterina Worodin, für die er in Amsterdam ein Attentat auf ihren Mann verüben sollte. Aber der Anschlag war völlig schiefgelaufen, und obwohl Avram keine Schuld daran traf, hatte sich das in der Branche herumgesprochen. Wer einen Profikiller benötigte, suchte jemanden, der schnell und zuverlässig seine Arbeit erledigte, niemanden mit psychischen Problemen.

Deshalb erhielt Avram nur noch sporadisch Aufträge. Anfangs hatte ihm das nicht einmal etwas ausgemacht, weil er viel zu sehr mit sich und der Trauer um seinen Sohn beschäftigt gewesen war. Erst nachdem er dafür gesorgt hatte, dass Claus Thalinger, dieses perverse Dreckschwein, seine gerechte Strafe erhielt, hatte er wieder in sein altes Leben zurückkehren können.

Die Befreiung Sina Hobmüllers war sein erster Auftrag seit vergangenem November. Rutger Bjorndahl, sein langjähriger Freund und Informant, hatte von der Sache gehört und Avram bei Franz Hobmüller ins Spiel gebracht. Da Hobmüller seine Vorgeschichte nicht kannte und Avram einen vergleichsweise niedrigen Preis verlangte, war es schließlich zu dem Auftrag gekommen.

Avram wollte ihn nicht verpatzen.

4

Auf der Fahrt nach Aachen ließ Emilia das abgeschnittene Ohr keine Ruhe. Eigentlich war sie nach Simmerath gekommen, um die Ermittlungen im Dante-Fall voranzutreiben, aber momentan fühlte sie sich außerstande, sich darauf zu konzentrieren. Wer hatte ihr das Päckchen auf die Motorhaube gelegt? Hauptkommissar Friedkin und sie waren höchstens fünfzehn Minuten im Wohnhaus der Eheleute Waginger gewesen. In dieser kurzen Zeit hatte jemand sein makabres Geschenk auf ihrem Auto deponiert.

Was sollte das bedeuten?

Zwar fehlte ein richtiges Begleitschreiben, aber das aufgeklebte Kärtchen mit der Aufschrift »Für E.« war deutlich genug. Das Päckchen war für Emilia bestimmt. Daran gab es keinen Zweifel.

Genau das machte die Lieferung so gruselig.

Abgesehen von Mikka, den Kollegen bei Interpol und ein paar Beamten bei der Aachener Kripo hatte Emilia niemandem gesagt, dass sie heute hier sein würde. Doch der Zusteller des Päckchens wusste entweder genauestens über ihre Tagesplanung Bescheid, oder er hatte sie so lange verfolgt, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, die Lieferung loszuwerden. Beide Varianten waren gleichermaßen beunruhigend.

Emilia hatte mit Hauptkommissar Friedkin den Hof abgesucht, aber keinerlei Hinweise auf den ominösen Zusteller gefunden. Deshalb hatten sie beschlossen, das Päckchen nach Aachen mitzunehmen, um es dort untersuchen zu lassen. Die Kollegen von der Spurensicherung würden den Wagingerhof später noch einmal genau überprüfen.

In Aachen statteten sie zunächst der Pathologie des Universitätsklinikums einen Besuch ab.

»Wurden die Eheleute Waginger auch hierhergebracht?«, fragte Emilia, als sie den Parkplatz überquerten und den gewaltigen, futuristischen Gebäudekomplex betraten. Von außen wirkte er mit seinen unzähligen Türmen wie eine moderne Festungsanlage. Innen beherrschten Stahlskelettelemente und sichtbare Leitungsführungen unter der Decke die Optik. Die ganze Konstruktion wirkte wie aus einem Science-Fiction-Film.

Friedkin schüttelte den Kopf. »Die beiden Leichen liegen in Köln, weil es nur dort eine rechtsmedizinische Abteilung gibt«, sagte er. »Strenggenommen müssten wir das Amputat auch dorthin bringen. Aber für die Hin- und Rückfahrt gehen jedes Mal zwei Stunden drauf. Deshalb sind wir mit der Staatsanwaltschaft übereingekommen, kleinere Untersuchungen hier in Aachen durchführen zu lassen.«

Emilia nickte. Wer das Amputat untersuchte, spielte für sie keine Rolle. Wichtig war nur, dass etwaige Spuren zuverlässig sichergestellt wurden.

Friedkin ging voraus und führte sie durch den Eingangsbereich des Klinikums zu den Aufzügen. Emilia folgte ihm mit einer Tragetasche aus ihrem Handschuhfach. Darin befand sich das unheimliche Päckchen.

»Wir können hier nur das Ohr untersuchen lassen«, erklärte Friedkin im Aufzug. »Das Geschenkpapier und das andere Drumherum bringen wir gleich anschließend ins Polizeilabor. Vielleicht gibt es Fingerabdrücke, Haare, Hautpartikel oder andere Hinweise, die uns zum Täter führen.«

Sie betraten einen langen, mit Neonlicht beschienenen Flur, in dem es scharf nach Desinfektionsmittel roch.

»Dort vorne ist es«, sagte Friedkin. Er deutete auf eine Milchglastür am Ende des Gangs. »Ich habe uns schon von unterwegs aus angekündigt. Wir werden erwartet.«

 

Der Chef der Universitätspathologie hieß Dr. Anselm Neuberger. Er war ein weißhaariger, schlanker Mann mit schulterlangem, glatt nach hinten gekämmtem Haar, dichtem Schnauzer und spitzem Kinnbart. Nachdem Hauptkommissar Friedkin Emilia und ihn miteinander bekanntgemacht hatte, widmete er sich sofort seiner Aufgabe.

Vorsichtig öffneten seine in dünnen Latexhandschuhen steckenden Hände das Päckchen und den Clipverschluss an der Plastiktüte. Mit einer Pinzette fischte er das Amputat heraus, um es im Schein einer Laborlampe von allen Seiten zu begutachten, eingehend und hochkonzentriert. Anschließend legte er es mit der Wunde nach oben in eine Edelstahlschale und betrachtete es mit einem Vergrößerungsglas.

»Das Ohr wurde mit einer scharfen, glatten Klinge abgetrennt«, stellte er fest. »Darauf lassen die Wundränder eindeutig schließen. Vielleicht ein Filetiermesser, ein Skalpell oder eine Rasierklinge. Es waren nur ein oder zwei saubere Schnitte. Das Opfer scheint sich nicht dagegen gewehrt zu haben. Möglicherweise war es zu diesem Zeitpunkt bereits tot oder ohnmächtig, vielleicht auch narkotisiert. Ich werde das Gewebe auf Spuren von Betäubungsmitteln überprüfen. Das dauert aber eine Weile.« Er hielt inne, blinzelte mit den Augen und schaute dann wieder durchs Vergrößerungsglas. »Falls das Opfer schon tot war, dann jedenfalls noch nicht lange. Das Gewebe ist gut erhalten und kaum ausgetrocknet. Insektenbefall ist nicht zu erkennen.«

»Was denken Sie, wann das Ohr abgetrennt wurde?«

»Vermutlich heute. Möglicherweise auch schon gestern, wenn es zwischenzeitig gekühlt wurde und gut verpackt war. Aber keinesfalls vorher.«

Emilia nickte. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. »Was können Sie uns noch über das Opfer sagen?«, fragte sie.

Dr. Neuberger drehte das Ohr mit seiner Pinzette auf die andere Seite. »Die Oberflächenstruktur der Haut ist gleichmäßig und glatt. Kaum Falten, keine Verfärbungen oder Hautverformungen. Das lässt darauf schließen, dass das Opfer noch jung ist. Ich tippe auf ein Kind im Teenageralter, vermutlich ein Mädchen, wegen des Ohrlochs. Nach der Blutuntersuchung kann ich es genauer sagen.« Er rückte die Laborlampe in eine andere Position, um besser sehen zu können. »Am Ansatz der Ohrmuschel sind ein paar Härchen zu erkennen. Ich werde sie im Lauf des Tages mit unserer Datenbank abgleichen. Im Augenblick gehe ich von brünett oder dunkelblond aus.«

»Sonst noch etwas, Dr. Neuberger?«, fragte Hauptkommissar Friedkin.

Der Pathologe drehte das Ohr noch einmal auf die Rückseite, schüttelte dann aber den Kopf. »Im Moment ist das alles«, sagte er. »Ich rufe Sie an, sobald ich mehr weiß.«

5

Der zweite Bodyguard tauchte am Pool von Alberto Pineros Alpen-Finca auf.

Endlich!

Auf dem Steilhang liegend, beobachtete Avram durchs Fernglas, wie der Mann aus dem Haupthaus kam, die Terrasse überquerte und sich zu seinem Kollegen in den Schatten des kleinen Turms setzte, der an den überdachten Freigang angrenzte. Er nippte an dem Getränk, das er bei sich hatte, und begann mit dem anderen eine Unterhaltung. Worüber sie sprachen, konnte Avram natürlich nicht hören, dafür waren sie zu weit entfernt. Aber das spielte auch keine Rolle. Wichtig war nur, wie er die beiden ausschalten konnte, um unbemerkt ins Haus zu gelangen.

Von hier oben konnte er die Männer nicht erschießen. Bei freier Sicht wäre das zwar möglich gewesen, denn die Entfernung betrug höchstens zweihundert Meter. Aber zwischen dem Felsplateau und der Villa standen zu viele Bäume. Er musste die beiden Schüsse schnell und präzise anbringen. Jeder im Weg hängende Zweig konnte die Kugeln ablenken.

Nein, er würde die beiden Männer aus der Nähe erschießen müssen.

Vorsichtig robbte er zurück, bis das Gebüsch am Waldrand ihm Sichtschutz gab. Dann richtete er sich auf und ging zu seinem Rucksack, der nur ein paar Meter weiter am Stamm einer mächtigen Kiefer lehnte. Mit wenigen Griffen bereitete er seine Kletterausrüstung vor – das Gurtzeug, die Karabinerhaken, die Abseilsicherung und so weiter. Anschließend befestigte er das Seil an dem Baumstamm und warf es über den Klippenrand.

Jetzt noch die Waffen.

Seine Glock 22 saß fest im Schulterholster. Das Jagdmesser steckte gesichert in der Lederscheide an seinem Gürtel. Beides würde beim Klettern nicht herausfallen und ihn auch nicht behindern. Das Scharfschützengewehr, das neben dem Rucksack lehnte, hängte Avram sich quer über den Rücken, den Lauf nach unten, so dass er es notfalls mit einem einzigen Griff über die Schulter in Anschlag bringen konnte. So präpariert, ließ er sich über die Kante der Steilwand ab.

Schon nach wenigen Sekunden hatte er wieder festen Boden unter den Füßen. Er klinkte sich aus dem Gurtzeug aus und ging in die Hocke. Sein Blick richtete sich auf die Villa. Irgendwo zwischen den Baumstämmen erkannte er die Umrisse der beiden Bodyguards auf der Terrasse. Von der Abseilaktion am Felshang hatten sie offenbar nichts mitbekommen. Avram griff nach seinem Gewehr und machte sich auf den Weg zum Haus.

Er wählte nicht den direkten Weg, weil es im Wald zu viel trockenes Unterholz gab, das beim Anschleichen verräterisch knacken konnte. Deshalb näherte er sich der Villa in einem weiten Bogen über einen schmalen Pfad, den Alberto Pinero wohl für seine Spaziergänge hinter dem Haus hatte anlegen lassen. An einer Stelle befand sich sogar eine kleine Bank. Dieser Ort hätte ein wahres Idyll sein können.

Für Sina Hobmüller war er nichts weiter als ein Gefängnis.

Mit dem Gewehr im Anschlag eilte Avram zum Haus. Sein geübter Blick verriet ihm, dass es auch hier keine Überwachungskameras gab. Den Rücken an die Fassade gepresst, pirschte er sich zur Terrasse heran. Dort ging er in die Hocke, um sich hinter der steinernen Brüstung in Position zu begeben. Auf einem Bein kniend, schob er den Lauf seiner Waffe zwischen zwei Pfeilern hindurch. Den Schalldämpfer hatte er bereits auf dem Felsplateau aufgeschraubt.

Zwei Schüsse ploppten in kurzer Folge. Der erste Bodyguard wurde nach hinten gerissen und blieb aufrecht in seinem Stuhl sitzen, der zweite versuchte zwar noch, seine Pistole zu ziehen, war aber viel zu langsam. Die Wucht der Kugel ließ ihn eine halbe Pirouette vollführen, dann sank er auf die Knie und kippte wie ein Sack Mehl nach vorne um.

Das Ganze hatte kaum eine Sekunde gedauert.

Ein schlechtes Gewissen hatte Avram den beiden Männern gegenüber nicht. Sie halfen Pinero seit vierzehn Monaten, ein unschuldiges Kind gefangen zu halten. Sie waren Abschaum, genau wie ihr Boss.

Avram verharrte noch einen Moment in seiner Position, um sicherzugehen, dass die Bodyguards sich wirklich nicht mehr rührten. Außerdem wollte er abwarten, ob der Überfall womöglich von anderer Seite bemerkt worden war. Aber alles blieb ruhig.

In gebückter Haltung schlich Avram zum Ende der Brüstung. Dort schulterte er sein Gewehr und griff zur Pistole, die sich besser eignete, falls er schnell reagieren und schießen musste. Mit entsicherter Waffe eilte er am Pool entlang über die Terrasse. Die beiden toten Bodyguards beachtete er nicht mehr.

Zuerst nahm Avram sich den Turm vor. Die Tür war nicht abgeschlossen, so dass er ungehindert eintreten konnte. Der Grundriss maß etwa fünf auf fünf Meter. Ebenerdig bestand der Turm nur aus einem einzigen Raum. Darin standen ein paar Schränke und Vitrinen. Eine geländerlose Treppe führte nach oben, wo sich eine Art Atelier befand. Der Duft von Ölfarbe und Terpentin lag in der Luft. An den Wänden lehnten diverse Gemälde, die meisten davon noch unfertig. Unter dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand stand ein kleines, rotes Sofa. Dieses Sofa fand sich auch auf der Leinwand wieder, die in der Staffelei neben dem Treppenaufgang eingespannt war. Das Bild zeigte außerdem ein junges Mädchen, etwa siebzehn Jahre alt, schlafend auf den roten Polstern liegend, nackt, wie Gott sie geschaffen hatte.

Sina Hobmüller.

Avram kam beinahe die Galle hoch. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wozu Alberto Pinero sie noch gezwungen hatte. Aber zumindest bewies das Bild, dass er hier grundsätzlich richtig war. Jetzt musste er Sina nur noch finden.

Er ging die Treppe hinab, diesmal bis nach ganz unten. Dort stieß er auf eine verschlossene Tür. Vorsichtig klopfte er daran. Keine Reaktion.

»Sina? Sind Sie da drin? Ich bin hier, um Sie nach Hause zu bringen!«

Hinter der Tür regte sich nichts.

Avram ging wieder hinauf zur Terrasse. Die beiden Bodyguards lagen unverändert neben dem Pool auf dem Boden, mit leeren Augen und starren Gesichtern. Der schnelle Tod war viel zu gut für sie gewesen.

Sina Hobmüller musste sich im Haupthaus befinden. Die Pistole im Anschlag, eilte Avram über den Freigang durch die offene Terrassentür ins Innere der Finca. Hier war es deutlich kühler als draußen. Irgendwo summte eine Klimaanlage, und ein Deckenventilator wälzte die Luft um – eine angenehme Abwechslung zur Bruthitze, die draußen herrschte.

Der Wohnbereich war ein weitläufiger Raum mit modernen Möbeln in nüchternem Weiß – eine Ledercouch, ein paar Ledersessel, Hochglanzschränke und ein dazu passendes Sideboard, auf dem ein riesiger Plasmafernseher thronte. Anstelle eines Tisches stand in der Mitte der Sitzgruppe ein kreisrunder Kamin mit einem futuristischen, kegelförmigen Rauchabzug. Die Wanddekoration bestand aus anzüglichen Bildern, hier und da standen ein paar Fruchtbarkeitsskulpturen herum.

Der Wohnbereich ging über in eine elegante Bar mit Marmortresen und einer Spiegelwand, an der sich Dutzende von Spirituosenflaschen und noch viel mehr Gläser reihten. Alberto Pinero schien gerne Gäste zu empfangen.

Avram durchquerte den Raum und fand sich auf einer großzügigen Empore wieder, von wo aus eine geschwungene Treppe nach unten führte. Dort befand sich der Eingangsbereich, weil die Frontfassade hangabwärts zeigte. Durch die großen Glaselemente, die die Haustür umrahmten, erkannte Avram zwei Autos auf dem Parkplatz vor der Finca – einen schwarzen, bulligen Jeep Grand Cherokee und einen dunkelblauen Porsche Panamera. Alberto Pinero hatte Geschmack – und das nötige Geld dafür.

Vorerst blieb Avram auf der Empore. Nach ein paar Schritten erreichte er die Küche und warf mit vorgehaltener Pistole einen Blick hinein, aber sie war leer.

Avram schlich weiter. Die Empore mündete in einen mit zahlreichen Schwarzweißfotografien ausgestatteten Flur. Von dort zweigten mehrere Zimmer ab. Drei nach links, drei nach rechts. Avram nahm sie sich nacheinander vor.

Zuerst kam das Bad, auf der gegenüberliegenden Seite eine separate Toilette. Daneben befanden sich eine Art begehbarer Kleiderschrank und eine Sauna.

Ganz am Ende des Flurs war Alberto Pineros Arbeitszimmer. Es stand offen und war vom Stil her ähnlich eingerichtet wie der Wohnbereich: Es gab einen weißen Schreibtisch, einen weißen Lackschrank mit Akten und Büchern und ein paar weiße Sideboards.

Pinero saß in seinem Drehstuhl am Schreibtisch, offenbar in eine Schreibarbeit vertieft. Seine Finger flogen geübt über die Computertastatur, sein Blick richtete sich über den Rand der Lesebrille hinweg auf den Monitor. Als Avram mit vorgehaltener Waffe das Zimmer betrat, zuckte Pinero zwar kurz zusammen, aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Avrams Pistole schien ihn nicht übermäßig zu beeindrucken.

Er sah älter aus als auf den Bildern, die Franz Hobmüller Avram gegeben hatte. Zahlreiche Falten zerfurchten seine Stirn, die Haut an seinem Hals wirkte wie zerknittertes Papier. Das schlohweiße, schulterlange Haar hatte er nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sein weißes Leinenhemd war bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Seine nackten Füße steckten in ledernen Flipflops. Mit der messingfarbenen John-Lennon-Brille auf der Habichtnase kam er Avram vor wie ein in die Jahre gekommener Hippie, ein Oldie der Flowerpower-Generation, der mit seiner Umwelt im Einklang lebte und keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Aber nach allem, was Avram über diesen Mann wusste, war er ein gefährlicher Irrer. Ein ehemaliger Geldeintreiber und Knochenbrecher für den Vargas-Clan. Und der Entführer von Sina Hobmüller.

Avram traute ihm nicht über den Weg.

»Wer sind Sie?«

Die Frage kam Pinero trotz seiner scheinbaren Gelassenheit nur gepresst über die Lippen. Gleichzeitig verriet sein Blick, dass er etwas im Schilde führte. Vielleicht lag in seiner Schreibtischschublade eine Waffe.

»Es spielt keine Rolle, wer ich bin«, sagte Avram. »Hände auf den Rücken.«

Der Spanier gehorchte widerstandslos. Avram trat hinter ihn und fesselte ihn mit den Kabelbindern, die er dabei hatte, so an den Stuhl, dass er sich nicht mehr davon lösen konnte. Dann schob er ihn in die Mitte des Raums, weit weg von jedem erdenklichen Waffenversteck, und positionierte sich so, dass Pinero genau zwischen ihm und der Tür saß. Er würde ihn als menschlichen Schutzschild benutzen, falls sich weitere Bodyguards im Haus aufhielten und auf den Überfall aufmerksam geworden waren.

Aber das schien nicht der Fall zu sein.

»Wo ist Sina Hobmüller?«, fragte Avram und drehte Pinero so auf seinem Stuhl, dass er sein Gesicht sehen konnte.

Der Spanier zog die Stirn kraus. »Sina Hobmüller? Wer soll das sein?«

Avram schlug ihm mit der geballten Faust gegen den Kiefer, hart und ansatzlos. Er hatte keine Lust auf Spiele. Aus seiner Westentasche zog er ein Foto und hielt es ihm hin. Es zeigte Pinero und Sina Hobmüller im Wald, beide nackt. Er lag auf ihr wie ein wildes Tier, das Gesicht zu einer Fratze verzogen. Sie hob abwehrend die Hände. Ihre Augen waren zusammengekniffen wie im Schmerz, ihr weit aufgerissener Mund schien einen stummen, verzweifelten Schrei auszustoßen.

Leopold Högler, der von Franz Hobmüller beauftragte Detektiv, hatte das Foto ganz in der Nähe geschossen, als er die Villa ausspioniert und Pinero mit seinem Opfer in flagranti ertappt hatte. Um dazwischenzugehen, hatte ihm wohl der Mut gefehlt. Aber zumindest hatte er das Foto geschossen, das bewies, was für ein perverses Schwein Pinero war.

Der betastete gerade mit der Zunge seinen Mundwinkel, aus dem ein dünner Blutfaden lief. Als er feststellte, dass alle Zähne sich noch an ihrem Platz befanden, verzogen sich seine Lippen zu einem höhnischen Lächeln. »Ach, Sie meinen dieses Mädchen«, sagte er. »Ich nenne sie nur ricura – mein Schätzchen. Ihren richtigen Namen kenne ich gar nicht. Sie ist zurzeit meine Geliebte.«

»Was Sie da im Wald mit ihr angestellt haben, sieht nicht nach Liebe aus«, erwiderte Avram. »Eher nach Vergewaltigung.«

Pinero zuckte leichthin mit den Schultern. »Guter Sex darf schon mal ein bisschen härter sein, finden Sie nicht?«

»Nur, wenn beide Seiten das wollen.«

»Ich versichere Ihnen, das Mädchen hat es genossen.«

Avram bedachte ihn mit einem kalten Blick. Es hatte keinen Sinn, sich auf eine Diskussion einzulassen. »Wo halten Sie Sina versteckt?«

Pineros Hohngrinsen wurde breiter. »Was hätte ich davon, wenn ich es Ihnen verrate?«

»Sie würden sich eine Menge Schmerzen ersparen. Sina ist seit vierzehn Monaten wie vom Erdboden verschwunden. Ihre Eltern sind vor Sorge fast umgekommen. Ihr Vater hat mich geschickt, um sie zu holen. Er will seine Tochter zurück, und es ist ihm völlig gleichgültig, wie ich das anstelle. Eine gebrochene Nase, eine Kugel ins Knie, ein paar abgeschnittene Finger. Sie allein entscheiden, wie viel Schmerz Sie ertragen können, bevor Sie mir verraten, was ich wissen will.«

Pinero machte keine Anstalten zu antworten.

Kurzentschlossen schoss Avram ihm in den Arm. Es war nur eine Fleischwunde, aber wenigstens wich dadurch das dämliche Grinsen aus Pineros Gesicht. Der Spanier zuckte zusammen und schrie auf: »Verdammtes Arschloch! Ich werde dir die Eier abschneiden und sie dir ins Maul stopfen, bis du daran erstickst!«

Avram schoss ihm auch noch in den anderen Arm. »Das ist nicht das, was ich hören wollte!«

Keuchend und schimpfend wand Pinero sich auf seinem Stuhl, aber die Fesseln verhinderten, dass er davon loskam.

»Falls Sie darauf hoffen, dass Ihre Männer kommen, um Ihnen zu helfen, muss ich Sie enttäuschen«, sagte Avram. »Die liegen auf der Terrasse und rühren sich nicht mehr.«

Etwas in Pineros Blick änderte sich. Offenbar begann er zu begreifen, dass er keine andere Wahl hatte, als zu kooperieren.

»Sie ist im Schlafzimmer«, presste er hervor. »Einen Stock tiefer.«

Avram verließ das Arbeitszimmer und eilte über die Treppe ins Untergeschoss. Für den Fall, dass dort wider Erwarten doch noch jemand auf ihn lauerte, behielt er seine Pistole im Anschlag, aber es gab keine bösen Überraschungen.

Er fand Sina Hobmüller in einem nach vorne gerichteten Zimmer unter dem Wohnbereich. Durch die zugezogenen Vorhänge fiel nur wenig Licht. Dennoch erkannte Avram einen großen Kleiderschrank, ein Bild an der Wand, zwei Nachttische und ein Doppelbett. Unter der zerknüllten Decke zeichnete sich ein menschlicher Körper ab, das Gesicht weggedreht, das braune Haar wild über das Kopfkissen verteilt. Eindeutig eine Frau.

Avram ging hin und berührte sie an der Schulter, aber sie zeigte keine Reaktion, auch nicht, als er sie rüttelte. Auf dem Nachttisch lagen ein paar kleine, durchsichtige Plastikbeutel. Zwei waren geöffnet, in den anderen steckten kleine, rötliche Pillen, vermutlich Ecstasy oder eine Variante davon.

Sina Hobmüller befand sich auf einem Trip.

Avram drehte sie zu sich und klopfte ihr auf die Wangen. Tatsächlich öffnete sie jetzt die Augen, aber ihr Blick verriet, dass sie noch weit davon entfernt war, ansprechbar zu sein.

Sie nuschelte etwas Unverständliches. Vermutlich sollte es so etwas wie »Wer sind Sie?« heißen.

»Ich bin hier, um Sie nach Hause zu bringen«, sagte Avram.

Um sicherzugehen, nicht doch noch aus einem Hinterhalt heraus angegriffen zu werden, ließ er Sina Hobmüller zunächst in ihrem Bett liegen. Weit würde sie in ihrem momentanen Zustand ohnehin nicht kommen, selbst wenn sie vorhätte, wegzulaufen.

Als er sich vergewissert hatte, dass auch hier unten keine Gefahr bestand, nahm er sich aus einem Kasten im Eingangsbereich den Schlüssel für den Geländewagen, der vor der Tür stand. Darin deponierte er sein Gewehr und seine Ausrüstung, bevor er Sina Hobmüller holte. Das Mädchen war schon wieder völlig weggetreten. Da sie sich sitzend kaum aufrecht halten konnte, legte er sie auf die Rückbank. Zu guter Letzt kehrte Avram noch einmal mit seiner Pistole ins Haus zurück, hinauf auf die Empore. Sein Auftrag lautete, Sina zu befreien und Alberto Pinero zu töten.

Genau das hatte er vor.

6

Nach dem Besuch in der Pathologie fuhr Emilia hinter Hauptkommissar Friedkin her zur Aachener Polizeizentrale, die sich im Norden der Stadt befand, unweit der A4. Der verschachtelte Gebäudekomplex war größer als das Interpol-Generalkonsulat in Lyon, wirkte mit den weißen Betonelementen und den braunen Verschalungen aber ziemlich angestaubt. Auf dem Parkplatz erzählte Friedkin, dass bereits mit dem Bau eines neuen Präsidiums begonnen worden sei, aber da die Arbeiten sich verzögerten, würde es bis zum Umzug noch ein paar Jahre dauern.

Im Gebäude führte er Emilia zuerst ins Labor der Spurensicherung. Dort bat er einen Kollegen, die Verpackung zu untersuchen, in dem sich das abgetrennte Ohr befunden hatte – den Karton, das Geschenkpapier, die aufgeklebte Karte und die Tüte. Vielleicht fanden sich darauf Hinweise auf den Täter.

Anschließend gingen sie in den dritten Stock, wo ein Teil der Kripo untergebracht war. Bei einer kurzfristig anberaumten Sitzung lernte Emilia zwei von Hauptkommissar Friedkins engsten Kollegen kennen. Alle anderen Mitglieder seines Ermittlungsteams waren unterwegs, um im Mordfall an den Eheleuten Waginger Zeugen zu befragen und anderen Spuren nachzugehen.

Die Besprechung fand in der Kaffee-Ecke statt, weil beide Sitzungsräume belegt waren und Friedkins Büro zu wenig Platz für vier Personen bot. Sie versorgten sich mit Getränken und setzten sich an einen etwas größeren Tisch, der durch ein Bambus-Arrangement vom Rest des Raums abgetrennt war. Emilia fand die Atmosphäre hier ausgesprochen angenehm.

»Ich möchte euch Agentin Ness von Interpol vorstellen«, sagte Friedkin mit Blick auf seine beiden Mitarbeiter. »Sie ist hier, weil der Verdacht besteht, dass die Morde auf dem Wagingerhof auf das Konto eines Serientäters gehen, der bereits seit 2009 sein Unwesen treibt. Bisher hat er in Italien, Holland und Frankreich zugeschlagen. Falls es sich bewahrheitet, dass er auch Helmut und Gertrud Waginger getötet hat, wäre das sein vierter Doppelmord in acht Jahren.« Er warf Emilia einen kurzen Blick zu, als wolle er sich vergewissern, ob er alles richtig wiedergegeben hatte.

Emilia nickte.

Danach berichtete er über den heutigen Besuch auf dem Wagingerhof und über den Geschenkkarton mit dem abgeschnittenen Ohr. Auch den Besuch in der Aachener Pathologie ließ er nicht aus. Als er damit fertig war, übergab er das Wort an seine rechte Hand, Kommissarin Behrendt, die frisch von der Polizeiakademie kam. Sie war Ende zwanzig, trug ihr langes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und wirkte in ihrer zu groß geratenen Uniform ein wenig verloren. Aber in ihren Augen glühte unbezähmbarer Ehrgeiz. Mit ihr konnte man arbeiten.

Kommissarin Behrendt räusperte sich und schlug den Ordner auf, der vor ihr auf dem Tisch lag. »Die beiden Leichen wurden am Montagmorgen von Anton Vogler entdeckt«, berichtete sie. »Vogler hilft dreimal die Woche auf dem Wagingerhof. Laut seiner Aussage hat der Hund bei seiner Ankunft wie verrückt gebellt, aber da dachte er sich noch nichts dabei. Er nahm den Hund von der Kette und versorgte ihn. Anschließend ging er zum Haus. Als niemand die Tür öffnete, dachte er, dass die Hofbesitzer schon auf der Weide oder auf den Feldern seien. Aber dort hat er vergeblich nach ihnen gesucht, deshalb ist er wieder zum Hof zurück.« Die Kommissarin blätterte eine Seite um und fuhr fort: »Anton Vogler umrundete das Haus und klopfte an die Fenster. Im Schlafzimmer und im Bad waren die Rollläden noch unten. Das hat ihn gewundert, weil es in den zwanzig Jahren, in denen er schon auf dem Hof arbeitet, noch nie vorgekommen ist. Danach klingelte er noch mal an der Haustür, wieder ohne Reaktion. Das kam ihm dann doch irgendwie sonderbar vor. Er erinnerte sich daran, dass im Stall ein Ersatzschlüssel versteckt war. Den hat er nach kurzer Suche auch gefunden und damit die Haustür geöffnet.« Wieder blätterte die Beamtin eine Seite weiter. Ohne aufzuschauen, setzte sie ihren Bericht fort. »Das Erste, was Vogler im Haus auffiel, war der Geruch. Im Wohnzimmer hat er dann die Zettel an der Wand und das Glas mit dem Blut entdeckt. Er ahnte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Deshalb wagte er einen Blick ins Schlafzimmer und ins Bad. Danach hat er gleich die Polizei verständigt.«

Emilia versuchte die ganze Zeit, sich auf den Fall zu konzentrieren, aber ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem abgeschnittenen Ohr. Das Amputat an sich schockierte sie wenig – ihr Beruf brachte es leider mit sich, dass sie immer wieder mit abstoßenden Anblicken konfrontiert wurde, und im Lauf der Zeit hatte sie sich ein dickes Fell zugelegt. Was sie in diesem Fall jedoch so beschäftigte, war die Art der Präsentation. Warum hatte der Täter das Ohr als Geschenk verpackt? Und warum hatte er es ausgerechnet an sie geschickt?

Diese Fragen kreisten unablässig in ihrem Kopf, weshalb es ihr schwerfiel, dem Mord an den Eheleuten Waginger die gebotene Aufmerksamkeit zu schenken. Sie hoffte nur, dass die anderen es nicht bemerkten.

Kommissarin Behrendt beendete ihren Bericht und gab das Wort an Oberkommissar Mehzud Baikan weiter, einen düster dreinblickenden Mann, dessen schwarzer Bartansatz den Großteil seines Gesichts einnahm. Unter den buschigen Augenbrauen saßen zwei dunkle Rabenaugen. Die eingedrückte Nase und der kompakte, muskulöse Körperbau legten die Vermutung nahe, dass er sich gerne mit Boxen fit hielt.

»Ich leite den Einsatz des Spurensicherungsteams im Fall Waginger«, sagte Baikan mit finsterer Miene. Er hätte in jedem amerikanischen Krimi einen hervorragenden Terroristen abgegeben. »Wir sind mit unserer Arbeit auf dem Gehöft noch nicht fertig, weil Interpol ja darum gebeten hat, die Spurensuche zu unterbrechen, bis Sie den Tatort inspiziert haben. Die bisher sichergestellten Beweisstücke sind im Labor, aber angesichts der knappen Zeit konnten wir sie noch nicht vollständig untersuchen. Die beiden Leichen haben wir an die Rechtsmedizin nach Köln überführt. Der Obduktionsbericht von dort steht noch aus. Worauf ich hinauswill, ist, dass ich aus allen genannten Gründen heute nur eine sehr unvollständige Aussage zum Tathergang auf dem Wagingerhof treffen kann.«

Dennoch schob er jedem ein vorbereitetes Handout über den Tisch zu – rund zehn DIN-A4-Seiten mit Bildern und erklärendem Text, meistens in Form von Stichworten.

»Das ist ein Auszug aus meinen bisherigen Aufzeichnungen«, fuhr Baikan fort. »Auf Seite eins sehen Sie rechts neben der Eingangstür des Wohnhauses das Fenster der Gästetoilette. Dort hat der Mörder sich Zutritt zum Gebäude verschafft. Er brach das Fenster auf – vermutlich mit einem Stemmeisen – und kletterte ins Haus. Weder am Fenster noch am Sims befanden sich andere Fingerabdrücke als die der Eheleute Waginger oder ihres Helfers Anton Vogler. Der Mörder hat also Handschuhe getragen.«

»Gab es an der Außenfassade Spuren von Kleidungsfasern?«, fragte Emilia.