Projekt Zukunft -  - E-Book

Projekt Zukunft E-Book

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Beschreibung

Robert Jungk, Journalist, Bestsellerautor und politisch engagierter Zukunftsforscher, hat die Entwicklung des 20. Jahrhunderts in wesentlichen Aspekten beschrieben und auf seine Entwicklung vorausschauend, warnend und ermutigend Einfluss genommen. Am 11. Mai 2013 wäre er, der seit dem Jahr 1970 in Salzburg lebte, einhundert Jahre alt geworden. Die Erkundung möglicher, wahrscheinlicher, unerwünschter "Zukünfte" war sein zentrales Anliegen, vor allem aber ging es ihm auch darum, "Betroffene zu Beteiligten", zu Akteuren und Mitgestaltern des Kommenden zu machen. Der Band versammelt Beiträge prominenter Freunde und Weggefährten Robert Jungks, beleuchtet die Aktualität seines Wirkens und schreibt dieses, durchaus auch kontroversiell argumentierend, fort. Demokratie und Mitbestimmung, Herausforderungen und Potenziale der Energiewende und der Friedensforschung, Möglichkeiten eines gelingenden (Zusammen)Lebens oder die Rolle von Kunst als Instrument der Zukunftsgestaltung sind einige der diskutierten Themen. Darüber hinaus wird in sehr persönlich gehaltenen Erinnerungen die private Seite Robert Jungks beleuchtet: Eine differenzierte Würdigung des "Zukunftsmenschen" Robert Jungk und zugleich eine spannende Erörterung zentraler Fragen unserer Zeit.

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PROJEKT ZUKUNFT

14 Beiträge zur Aktualität von Robert Jungk

PROJEKT ZUKUNFT

14 Beiträge zur Aktualität von

Robert Jungk

HerausgegebenvonKlaus Firlei und Walter Spielmann

O T T O  M Ü L L E R  V E R L A G

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1207-8eISBN 978-3-7013-6207-3

© 2013 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.at, SalzburgDruck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. StefanCoverfoto: Walter Spielmann

www.jungk-bibliothek.at

INHALTSVERZEICHNIS

GRUSSWORTE

Gabi Burgstaller, Landeshauptfrau

Heinz Schaden, Bürgermeister

EINLEITUNG

Klaus Firlei/Walter Spielmann:„Betroffene zu Beteiligten machen“ oder14 Variationen über den ,Zukunftsmenschen‘Robert Jungk

1. KAPITEL:DEMOKRATISIERUNG DER ZUKUNFT

Norbert R. Müllert:Der lange Weg zu Zukunftswerkstätten undsozialen Erfindungen

Andreas Gross:Europa braucht mehr Demokratie,die Demokratie aber auch mehr Europa.Robert Jungks Utopiebegriff und die dringendeReform der politischen Ordnung unseres Kontinents

Horst W. Opaschowski:Auf in die neue Mitmachgesellschaft!Gesellschaftliche Perspektiven desfreiwilligen Engagements

2. KAPITEL:ZUKUNFT ERKENNEN UND GESTALTEN

Mathias Greffrath:Zorn der Vernunft.Kämpfer, Skeptiker, Aufklärer: Erinnerungen an dieAvantgardisten der Anti-Atom-Bewegung

Ernst Ulrich von Weizsäcker:Atomstaat und Klimadesaster verhindern!

Franz Alt:Erneuerbar statt atomar – Die Demokratisierungder Energiewirtschaft

Ekkehart Krippendorff:Pazifismus – ein offenes Projekt

Rolf Kreibich:Zukunft gewinnen durch interdisziplinäre Zukunftsforschung und nachhaltige Zukunftsgestaltung

3. KAPITEL:EINSATZ FÜR GERECHTIGKEIT UND HUMANE LEBENSFORMEN

Marianne Gronemeyer:Das Abseits als wirtlicher Ort.Wider die Verzweckung von Bildung und Leben

Klaus Firlei:Alle Macht dem Text.Zukunftswissenschaft als Anleitung für globale Verfassungskonstruktionen

4. KAPITEL:KREATIVITÄT UND KUNST ALS SEISMOGRAF DES KOMMENDEN

Peter Stephan Jungk/Walter Spielmann:Lebenselixier Neugier

Hildegard Kurt:Nachhaltig wachsen!

Olaf Schwencke:Die Zukunft hat schon begonnen.Kulturpolitik im Denken Robert Jungks

Karl-Markus Gauß:Robert Jungk 1972. Drei Erinnerungen

Autorinnen und Autoren

Das Projekt Zukunft hat erst begonnen

Wer den Satz von Gandhi, wonach wir aus der Geschichte nur lernen, dass wir nichts daraus lernen, keineswegs als Verdikt, sondern als Appell verstehen will, wird in Robert Jungk ein sprechendes Gegenbeispiel finden. Schon als junger Mensch im Berlin der 30er-Jahre politisch interessiert und engagiert, erlebte er Wahn und Wirklichkeit des Nationalsozialismus ebenso, wie in den Nachkriegsjahrzehnten die Irrungen und Verwirrungen blinder Technologiegläubigkeit.

Jungk hat seine Gegenwart – heute dürfen wir sie „Geschichte“ nennen – nicht bloß erlebt, er hat mit scharfem Intellekt und großem Einfühlungsvermögen die Nöte der Zeit analysiert und als Journalist und Wissenschaftler für viele transparent und verständlich gemacht. Die unvergleichliche Art, wie sich Robert Jungk mit brennenden technologischen, demokratiepolitischen und ökologischen Zukunftsfragen befasst hat, macht ihn zu einem der großen Aufklärer und Visionäre des 20. Jahrhunderts. Mit seinem persönlichen Leitmotiv, Betroffene zu Beteiligten werden zu lassen, hat er das Wesen einer ebenso zukunftsorientierten, wie menschengerechten Demokratie geradezu auf den Punkt gebracht.

Wir dürfen es auch im Nachhinein noch als Glück betrachten, dass Robert Jungk ab 1970 Salzburg zu seinem Lebens- und Arbeitsmittelpunkt gewählt hat. Sein persönliches Vermächtnis liegt seit seinem Tod im Jahr 1994 nicht nur in der privaten Erinnerung all jener, die ihn gekannt haben, nicht nur in seinen Büchern, sondern auch in der von ihm initiierten Robert-Jungk-Stiftung und der Robert-Jungk-Bibliothek als Stätte der Dokumentation und praktischen, wie wissenschaftlichen Arbeit im Dienst der Zukunftsforschung.

Als Landeshauptfrau und Wissenschaftsreferentin des Landes begrüße und unterstütze ich es, wenn anlässlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstags durch eine Reihe von Publikationen, Veranstaltungen und wissenschaftlichen Aktivitäten der Person Robert Jungks in besonderer Weise die Reverenz erwiesen wird. Es überrascht dabei nicht, dass hier nicht bloß ein biographisches Jubiläum gebührend begangen werden soll. Weit darüber hinaus – und ganz im Sinne des Jubilars – sollen zahlreiche gegenwarts- und auch weiterhin zukunftsbezogene Aspekte des Wirkens von Robert Jungk in zeitgemäßer Form aufbereitet und öffentlich gemacht werden.

Robert Jungk hatte und hat uns bis heute viel zu sagen: Wenn es wider die Entmenschlichung unserer Zivilisation geht, um den Weg von einem blinden zu einem wissenden Fortschritt, um eine humane Revolution, um ein Menschenbeben als Antwort auf die Krisen der Gegenwart und vor allem um ein neues Projekt Ermutigung.

In Salzburg und weit darüber hinaus haben wir allen Anlass, das Robert-Jungk-Jahr 2013 mit höchster Wertschätzung für eine der großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu begehen. Aus der dialogischen Auseinandersetzung mit seinem Lebenswerk dürfen wir als Betroffene und Beteiligte wichtige Impulse erwarten. Denn: Das Projekt Zukunft hat erst begonnen!

Mag.a Gabi Burgstaller

Landeshauptfrau

Blick auf das Wesentliche

„Wir sollten das Unmögliche verlangen, damit wenigstens ein Teil davon ermöglicht wird“ – diese Aussage von Robert Jungk stand nicht nur für Anspruch und Verantwortung von jedem Einzelnen, er selbst lebte diesen Anspruch mit jeder Faser seiner Persönlichkeit. Als unermüdlicher Warner vor unhinterfragter Fortschrittsgläubigkeit, exzellenter Analytiker, Philosoph und Vordenker beschäftigte er sich auf den unterschiedlichsten Ebenen mit der sozialen und demokratischen Gestaltung der Zukunft. Der alternative Nobelpreis, hochrangige nationale und internationale Auszeichnungen haben sein Leben und Werk entsprechend gewürdigt.

Die Stadt Salzburg darf sich freuen, dass Robert Jungk hier seine Heimstätte gefunden hat. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums werden sich viele SalzburgerInnen an den Menschen Robert Jungk erinnern, einen kritischen Geist, der sich an vielen Diskussionen zu lokalen Themen beteiligt hat. Seiner Haltung „Zukunft ist kein Schicksal. Die Welt kann verändert werden“ hat er in seinem Engagement als Vorsitzender der österreichischen Anti-Atom-Bewegung ebenso Ausdruck verliehen wie weltweit als Fachreferent auf internationalen Tagungen, als millionenfach verlegter Publizist und Zukunftsforscher. Er machte dabei keinen Unterschied, ob er bei den Vereinten Nationen sprach, oder ob er sich an einer Diskussion gegen Wackersdorf in Salzburg beteiligte. Das Hinterfragen der scheinbaren Gegebenheiten, die Argumentation für konstruktive Veränderungsprozesse, die Offenheit gegenüber den verschiedensten Wahrheiten haben Robert Jungk ebenso ausgezeichnet wie sein ungetrübter Blick auf das Wesentliche.

Dass er in seinem Engagement sogar für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert hat, zeigt, wie groß die Bereitschaft war, den Versuch zu wagen, das „Unmögliche“ in die Praxis umzusetzen.

Mit der Gründung der „Internationalen Bibliothek für Zukunftsfragen“ hat Robert Jungk nicht nur seine Arbeit und sein Werk dauerhaft in Salzburg verankert. Es ist gleichzeitig Auszeichnung und Auftrag für unsere Stadt, das Werk von Robert Jungk zu pflegen und zu würdigen. Der 100. Geburtstag von Robert Jungk gibt uns Anlass, dieser Aufgabe verstärkt nachzukommen und einer Persönlichkeit zu gedenken, die durch ihr Wirken unser Leben mitgeprägt hat.

Dr. Heinz Schaden

Bürgermeister der Stadt Salzburg

KLAUS FIRLEI/WALTER SPIELMANN

„Betroffene zu Beteiligten machen“ oder 14 Variationen über den ,Zukunftsmenschen‘ Robert Jungk

Am 11. Mai 2013 hätte Robert Jungk seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Für ihn – weltbetroffen und zukunftsbesessen, wie er war – wäre dies gewiss ein bemerkenswertes Ereignis, bei weitem aber kein Grund gewesen, sich von seinem Thema, dem „Projekt Zukunft“, auch nur einen Moment abzuwenden. Dies auch deshalb, weil er seinem Sohn Peter Stephan immer wieder versprochen hatte, „mindestens 120 Jahre alt zu werden“.

Nun, wir wissen – und freilich wusste dies auch Robert Jungk: Zukunft ist nicht vorhersehbar, aber doch gestaltbar. Umso mehr sah er es, geprägt von den Grauen „seines Jahrhunderts“, als seine Verpflichtung und Passion an, das Kommende in den Blick zu nehmen, mögliche Gefahren frühzeitig aufzuzeigen und, mehr noch, wünschenswerte Alternativen zu antizipieren. Von seiner Ausbildung her Historiker, bestand er als unverbesserlicher Optimist darauf, dass die Menschheit von den Desastern der Vergangenheit lernen und einer besseren Zukunft entgegen gehen würde. Sie darin zu unterstützen und zu begleiten, hat er sein Leben gewidmet.

Auch wenn dieses – selbst „Zukunftsforscher“ dürfen irren – kürzer als vorhergesagt dauerte, so hat es doch vielfache Spuren hinterlassen. Ihnen nachzugehen, ist eines der Anliegen, die wir mit dieser Publikation verbinden, zu der Freunde und Weggefährten – Robert Jungk auf unterschiedlichste Weise verbunden – beigetragen haben.

Der Anspruch aller Beteiligten ist es dabei, nicht nur den ‚Zukunftsmenschen‘ Robert Jungk zu würdigen, sondern ganz in seinem Sinn Risiken und Optionen des Vor-uns-Liegenden in den Blick zu nehmen.

Für Robert Jungk, der sich selbst als „Agitator für das Überleben“ gesehen, für das „Projekt Ermutigung“ geworben und sich dem Prinzip „Trotzdem“ verschrieben hatte, war Zukunft zwar stets ein Stück weit determiniert. Dennoch setzte er auf die Möglichkeit, sie aktiv zu gestalten. Durch und durch Demokrat, der er war, schien es ihm unabdingbar, die Räume der Teilhabe entscheidend zu erweitern. Sein Credo – auch wenn er dies so nur gelegentlich formulierte – war es, „Betroffene zu Beteiligten zu machen“. Mit dieser Chiffre lässt sich, wie wir meinen, sein stets auf das „große Ganze“ zielende Denken und Handeln treffend charakterisieren. Sein vielfältiges Engagement für eine „hellere Zukunft“ lässt sich im Wesentlichen vier Themenbereichen zuordnen (wobei fließende Übergänge selbstverständlich sind): der Demokratisierung der Zukunft, der Kontrolle von Wissenschaft, Technik und Macht, dem Einsatz für Gerechtigkeit und humane Lebensformen und schließlich der Bedeutung von Kunst und Kreativität für die Entwicklung des Kommenden. Die hier versammelten Beiträge folgen diesen seinen Themen.

Kapitel eins widmet sich der „Demokratisierung der Zukunft“. Norbert Müllert, gemeinsam mit Robert Jungk ‚Vater‘ der Methode „Zukunftswerkstatt“, macht den Anfang und gibt erstmals Einblick in die Genese dieser „sozialen Erfindung“, die – soweit wir sehen – als die folgenreichste „Zukunftsinvestition“ von Robert Jungk anzusehen ist. Dabei wird nicht nur der historische Kontext – die Aufbruchstimmung der „1968er-Generation“ in Berlin – lebendig, sondern darüber hinaus deutlich, welches Potenzial in diesem nun bereits in dritter Generation zum Einsatz kommenden Problemlösungskonzept noch liegt. Andreas Gross folgt mit einem vehementen Plädoyer für eine grundlegende Neuorientierung nationalstaatlicher Willensbildung einerseits und der politischen Verfasstheit Europas andererseits. In politischer Praxis auf mehreren Ebenen versiert und, mehr noch, Triebkraft der Demokratieentwicklung in Europa, legt Gross, ausgehend vom Utopie-Verständnis Robert Jungks, dar, dass aus dem „Eliteprojekt Europa“ ein zentrales Anliegen der Bürgerinnen und Bürger werden muss – und kann! Angesicht der Routinen herkömmlicher Politik mag dies visionär klingen. Es ist höchst an der Zeit, Neues zu wagen. Wann, wenn nicht jetzt! Horst W. Opaschowski schließlich zeigt sich – empirisch wohl begründet und doch gegen die weitverbreitete öffentliche und veröffentlichte Meinung argumentierend – zuversichtlich, was die Entwicklung der „Mitmachgesellschaft“ anbelangt. Das „Ende der Ichlinge“ sei gekommen, meint der prominente Beobachter und Analytiker gesamtgesellschaftlicher Trends und plädiert eindringlich für die Aufwertung des Ehrenamts. Zugleich macht er eine Reihe von Indizien aus, die darauf hindeuten, dass wir an der Schwelle zu einer neuen „Kultur des Helfens“ stehen; ein Befund, dem Robert Jungk gewiss alle Sympathie entgegen gebracht hätte, der aber, wie zu zeigen ist, nicht unwidersprochen bleibt.

Zu Beginn des zweiten Abschnitts, in welchem unter dem Titel „Zukunft erkennen und gestalten“ nicht nur Möglichkeiten, sondern mehr noch Voraussetzungen einer dauerhaft lebenswerten Zukunft ausgelotet werden, erinnert Mathias Greffrath an die „Rolle“ von Robert Jungk als einem der „Avantgardisten der Anti-Atombewegung“. Neben Günther Anders und Jürgen Dahl habe Jungk, der „Kämpfer“ und „chronisch Zukunftsverliebte“, maßgeblich zu dem in Deutschland erst vor Kurzem – endgültig? – beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie beigetragen, weiß der Autor, eingebettet in viele persönliche Erfahrungen, zu berichten. Daran anschließend setzt Ernst Ulrich von Weizsäcker einen zweifachen Akzent, indem er für die herakleische Aufgabe wirbt, angesichts zunehmend knapper Ressourcen ein allen Menschen angemessenes Maß an Wohlstand zu sichern und zugleich die Risiken eines tendenziell totalitären Techno-Regimes zu verhindern – eine Entwicklung, vor der Robert Jungk eindringlich gewarnt hatte. Die intelligente Nutzung des begrenzten Naturkapitals und die Umsetzung einer damit verbundenen Kostenwahrheit weisen nach Ansicht des renommierten Biologen, der über viele Jahre in Politik und Forschung Akzente gesetzt hat, den Weg in die richtige Richtung. Franz Alt – Institution, wenn es darum geht, die Potenziale der Energiewende hin zu den „Nachhaltigen“ mit Nachdruck und Begeisterung zu argumentieren – erzählt nicht nur von der Bedeutung, die Robert Jungk bei der Bekehrung des in jungen Jahren der atomaren Option durchaus zugeneigten Autors spielte. Höchst zuversichtlich – gerade so, als wäre die Entscheidung über unser aller Energiezukunft längst schon gefallen – skizziert Alt die Demokratisierung der „Erneuerbaren“ als so gut wie ausgemachte Sache. Auch er ein unverbesserlicher Optimist, ganz im Sinne Robert Jungks. Ekkehart Krippendorff, Vordenker und Wegbereiter einer demokratisch-emanzipierten Friedensforschung, denkt gewissermaßen spielerisch prospektiv über Möglichkeiten nachhaltiger Friedenssicherung nach, wobei er, dem Dreischritt der Methode „Zukunftswerkstatt“ vergleichbar, dafür wirbt, in einem sukzessive sich erweiternden Verfahren Betroffene zu Beteiligten zu machen. Auf den Versuch käme es an! Mit dem letzten Beitrag in diesem Abschnitt rückt erstmals die Zukunftsforschung im engeren Sinn in den Blick. Rolf Kreibich, wie sonst keiner dazu berufen, zu den Potenzialen, aber auch den Grenzen der Disziplin Stellung zu nehmen, erinnert zunächst an die (durchaus auch ambivalente) Position, die Jungk als Vordenker und Ermutiger im Methodendiskurs einnahm. Darüber hinaus plädiert er mit Nachdruck für die Verbindung der beiden Leitbilder „Wissensgesellschaft“ und „Nachhaltigkeit“, wie sie erstmals bei der ersten „Rio-Konferenz“ (1992) propagiert und in vielen Aspekten auch erfolgreich umgesetzt wurde. Selbst nach den ernüchternden Resultaten der Nachfolgekonferenz 2012 gibt es wohl keine überzeugende Alternative zu dem hier skizzierten Weg.

Die zwei Beiträge des dritten Kapitels, „Einsatz für Gerechtigkeit und humane Lebensformen“ betitelt, können als radikale Kritik des neoliberalen Modernisierungskonzepts gelesen werden, wobei bei weitgehender Übereinstimmung in der Beurteilung der immer deutlicher sich abzeichnenden Krisensymptome unterschiedliche Lösungsstrategien diskutiert werden. Marianne Gronemeyer wirbt in ihrer hier erstmals publizierten Rede aus Anlass der Verleihung des „Salzburger Landespreises für Zukunftsforschung 2011“1 dafür, sich in Anbetracht des Übergangs in eine „menschenlose Gesellschaft“, in der unter dem Monopol von Ökonomie, Naturwissenschaft und Technik alles „Tun und Lernen der Verzweckung unterworfen werde“, sich im „Abseits als Ort der Freundschaft und der Befreundung wirtlich einzurichten“. Gronemeyer sieht dieses Abseits als Form der Verweigerung und doch auch als Beitrag dazu, eine „menschliche Zivilisation zu bauen“, wie es ihr Robert Jungk gleichsam als letzten Auftrag mitgegeben hatte. In der Analyse vielleicht noch schonungsloser, beschreibt Klaus Firlei zunächst den Niedergang staatlicher Gestaltungsmacht angesichts eines „unkontrolliert wuchernden technischen ‚Fortschritts‘“; ihm hätten, so sein ernüchternder Befund, die zivilgesellschaftlichen Bewegungen wenig entgegenzusetzen, würden doch im Prozess totaler Medialisierung und Individualisierung selbst „Widerstand zum Event“ und Weltprobleme zum „unermesslichen Stoff für die Voyeurkultur“. Wie aber wäre der geballten Macht der kapitalisierten Globalökonomie, unter deren Regime die Faktoren „Recht“ und „Mensch“ zunehmend subsumiert werden, zu begegnen? Einzig durch die Begrenzung individueller Freiheitsansprüche und eine transnationale Verrechtlichung der als unumgänglich erkannten Voraussetzungen einer auf Dauer tragfähigen Entwicklung. Neue, bisher kaum angedachte Allianzen zwischen den Disziplinen „Zukunftsforschung“ und „Rechtswissenschaft“ erscheinen unter den hier dargelegten Prämissen unabdingbar.

Das abschließende vierte Kapitel spürt, von verschiedenen Gesichtspunkten und Erfahrungen ausgehend, der Bedeutung nach, die Robert Jungk – selbst einer Künstlerfamilie entstammend – der Rolle von Kunst und Kreativität als Indikatoren „anderer Zukünfte“ beigemessen hat und fragt danach, welche Bedeutung sie bei der Gestaltung des Kommenden spielen könnten. Dabei umrahmen persönlich akzentuierte Erinnerungen zwei Beiträge, die grundsätzliche Aspekte ansprechen. Im Gespräch, das Peter Stephan Jungk mit Walter Spielmann führte, werden etwa die Wertschätzung des Dialogs, die Naturverbundenheit, die Freude Robert Jungks am Austausch mit Kunstschaffenden oder auch sein Wunsch nach einer Karriere als Filmschaffender oder Romancier lebendig. Kritisch hinterfragt werden aber auch die zeitgeschichtliche Verortung seines Wirkens und die Tragweite seines Vermächtnisses. Hildegard Kurt, seit Jahren den Zusammenhängen von Kunst und Nachhaltigkeit aufs Engste verbunden, erörtert, von Erkenntnissen der Anthropologie und Quantenphysik ausgehend, Möglichkeiten der individuellen wie kollektiven Selbstermächtigung und Selbstorganisation. Mit Bezug unter anderem auf Hans-Peter Dürr, Joseph Beuys, Otto Scharmer und nicht zuletzt auch Robert Jungk wirbt sie für eine „Kultur jenseits der Moderne“, in der „verlebendigtes Denken zur Quelle sozialen Wandels“ werden kann. Ob freilich die Erfahrungen des „arabischen Frühlings“ bereits als Vorboten dieser Entwicklung gelten können, muss vorerst unbeantwortet bleiben. Olaf Schwencke, Robert Jungk über Jahrzehnte persönlich eng verbunden, greift mit Bedacht nicht nur den Titel jenes Buches auf, das seinen Autor berühmt gemacht hat, sondern zeichnet als ausgewiesener Kenner und Promotor des gesamteuropäischen Kulturdiskurses nach, wie sehr der Begriff „Nachhaltigkeit“ auch dem Einsatz von Robert Jungk zu danken ist. Mit drei sehr persönlichen Erinnerungen beschließt Karl-Markus Gauß – wie Robert Jungk leidenschaftlicher Salzburger, Europäer und Weltbürger – diesen Band. Aus der Perspektive des Klassenkameraden von Peter Stephan Jungk lässt er dessen „berühmten Vater“ auf ganz besondere Weise lebendig werden: als ‚gegenwärtigen’, lebensvollen Menschen, bescheiden, ja zurückhaltend im Persönlichen, bis zum Äußersten jedoch entschlossen, wenn es darum ging, die für ihn (und uns) entscheidenden Zukunftsthemen zu „verhandeln“.

Wir danken allen voran den Autorinnen und Autoren2, die unserer Einladung gefolgt sind, in der Erinnerung an Robert Jungk nicht nur den Menschen und sein Werk sichtbar werden zu lassen, sondern – ganz in seinem Sinne – dem „Projekt Zukunft“ Kontur und Gestalt zu verleihen, sei es aus der Perspektive begründeten, radikalen Zweifels, sei es aus jener der unerschütterlichen Zuversicht in die Gestaltbarkeit der „menschlichen Zivilisation“.

Stadt und Land Salzburg, die die Aktivitäten der „Internationalen Bibliothek für Zukunftsfragen“ von Beginn an mit Nachdruck unterstützen, haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Stiftung Robert Jungks aus gegebenem Anlass auf vielfältige Weise auf das Wirken ihres Gründers und die Aktualität seines Denkens aufmerksam machen kann. Die Umsetzung dieses Buchprojekts ist Teil dieses Anliegens. Nicht zuletzt haben auch die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg sowie Arno Kleibel und das Team des Otto-Müller-Verlags dieses Vorhaben entscheidend unterstützt. Allen Mitwirkenden gilt dafür unser besonderer Dank.

Mögen die hier in Erinnerung an Robert Jungk versammelten Beiträge aufmerksame Leserinnen und Leser finden und so manche Diskussion anregen.

Klaus Firlei

Walter Spielmann

Robert-Jungk-Stiftung, Int. Bibliothek für Zukunftsfragen

 

ANMERKUNGEN:

1 Der „Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung“, der 1993 erstmals an Robert Jungk ging, wird auf Vorschlag des Kuratoriums der Robert-Jungk-Stiftung von der Salzburger Landesregierung an eine Persönlichkeit verliehen, „die sich in herausragender Weise durch zukunftsweisende Ideen und Initiativen verdient gemacht hat“.

2 Die Textgestalt der jeweiligen Beiträge folgt den orthografischen Wünschen der Autorinnen und Autoren.

1. KAPITEL:

Demokratisierung der Zukunft

NORBERT R. MÜLLERT

Der lange Weg zu Zukunftswerkstätten und sozialen Erfindungen

Soziale Phantasie

Es ist vor Beginn des Wintersemesters 1967/68. Durch die Technische Universität Berlin (TUB) geht ein Lauffeuer. Der berühmte Bestseller-Autor des Buches „Die Zukunft hat schon begonnen“ hält eine Vorlesung und ein Seminar ab. Die überwiegende Mehrheit der Naturwissenschafts- und Ingenieurstudenten kennt das Buch von Robert Jungk, hat teilweise sogar dadurch zu einem Studium an der TU gefunden. Bei dieser Bekanntheit verwundert es nicht, dass an den Fakultäten über die Veranstaltung nicht nur diskutiert wird, sondern so etwas wie ein Muss entsteht, dorthin zu gehen.

Der Andrang ist entsprechend stark. Ein größerer Hörsaal wird nötig. Und immer noch dicht zusammengedrängt staunen wir über den untersetzten Mann in Anzug und Rollkragenpullover, der beladen mit mehreren Plastiktüten den Raum betritt. Auf dem Tisch neben dem Podium breitet er Bücher und Zeitschriften aus. Dann tritt er ans Pult und beginnt seinen Vortrag zu Prognosemethoden und Befunden der Zukunftsforschung. Doch nach ein paar Sätzen geht er zum Tisch, entschuldigt sich, dass er unterbreche, er wolle versuchen, frei zu sprechen und zugleich in den Austausch mit den ZuhörerInnen kommen. Dazu merkt er noch an, ablesen sei überholt, sein Skript könne zum Nachlesen und Vertiefen vervielfältigt werden.

Für uns Studentinnen und Studenten ist das, was da passiert, außergewöhnlich. Wir erleben zum ersten Mal einen Dozenten, der von einem anderen Stern zu sein scheint. Er unterbricht seine Ausführungen nämlich wiederholt, um uns zu Meinungsäußerungen und Diskussionen herauszufordern. Dabei hat er anfänglich sichtlich Mühe, uns zum Sprechen zu bringen. Von Veranstaltung zu Veranstaltung aber wird es lebendiger, so lebendig schließlich, dass nach Ende der ,Vorlesung‘ die Gespräche weitergehen, sich Diskussionstrauben um ihn bilden.

Wir erfahren, es gibt auch andere Möglichkeiten der Wissensvermittlung. Das unkonventionelle Vorgehen setzt sich auch im Seminar fort. Die Tische werden nach draußen getragen. Wir finden es zunächst befremdlich, im großen Kreis zu sitzen, in den sich der Dozent mit einreiht. Robert Jungk erläutert dazu, nur die Bereitschaft zur Veränderung seiner selbst und seiner Umgebung eröffne neue Perspektiven und Chancen. Und daran wolle er in diesem Seminar mit uns zusammen arbeiten, an wünschbaren und alternativen, an ökologischen und menschenfreundlichen Zukünften. In diesem Zusammenhang betont er, Zukunft sei im Grunde genommen etwas Offenes, doch wie er in der Vorlesung schon dargelegt hätte, drohe der Gesellschaft eine Zukunft, die von wirtschaftlichen, militärischen und politischen Interessen bestimmt sei, oder, wie er es nenne, gemacht würde.

Im Seminar, das samstags stattfand und meist drei volle Stunden dauerte, standen wünschenswerte Zukünfte im Mittelpunkt. Hatten wir in der Vorlesung überwiegend linear fortgeschriebene Prognosen kennengelernt, so lautete die Aufgabe nun, selbst Zukunftsvorstellungen zu entwickeln, regelrecht Gegenentwürfe zu wagen. Das stellte sich als schwieriger als gedacht heraus. Denn es gelang uns kaum, den vorherrschenden und vorgefertigten Denkschablonen zu entrinnen. Wir mussten erst lernen, uns von den Fesseln des Bestehenden zu befreien, Phantasien, Wünsche, Ideen und Unausgegorenes auszusprechen.

Damit wir überhaupt zu etwas Neuem, zu alternativen Entwürfen gelangten, lernten wir, uns dem ‚Ver-rücken des Denkens’ durch Kreativitätsmethoden anzunähern. Beispielsweise benutzten wir die sogenannte ‚Kopfstandtechnik’, wodurch eingangs kritisierte Zustände umgekehrt, also positiv gesehen wurden. Oftmals entstanden auf diese Weise absurd anmutende Sichten, aus denen wir dann wünschenswerte Perspektiven abzuleiten suchten. So gab es beim Thema ‚Freizeit’ Kritiken wie ‚Muss zu festgelegten Stunden’, ‚notwendiges Outfit’ oder ‚organisierter Urlaub’. Daraus wurden die Umkehrungen: ‚nach Belieben losjoggen’, ‚Klamottentauschladen’, ‚Experimentierurlaub’.

Mithilfe derartiger Techniken benötigten wir viele Anläufe, um tatsächlich ohne Scheuklappen soziale Phantasien zu entwickeln, um ‚wild zu denken’, um niederdrückende Aussichten hinter uns zu lassen, um uns genehme Zukünfte ausmalen zu können. Durch Robert Jungk immer wieder angestachelt und von ihm mit Ideen unterfüttert, nahm schließlich unsere Zukunftsgesellschaft zu unterschiedlichen Bereichen Gestalt an: Berufe und Erziehung, Kommunikation und Bedürfnisse, Technik und Verkehr, Eigentum und Freizeit.

In dem Skript „Aspekte einer Zukunftsgesellschaft“, das aus den Seminaren hervorging, fassten wir unsere Wunschvorstellungen zusammen, ein Kaleidoskop, das Ideen zu zukünftigen Notwendigkeiten hoffnungsfroh aufblitzen ließ. Wie ein anderes Morgen aussehen sollte und könnte, dazu ein Auszug zur Thematik ‚Erziehung und Bildung‘:

„Aber wozu soll überhaupt erzogen werden? Wie soll der Mensch aussehen, der dem Erziehungsprozess entsteigt? Welche Fähigkeiten wird oder soll er haben?

–  er soll kritisch sein – Kritik als Vorbedingung jeder Verbesserung;

–  er soll schöpferisch sein – Kreativität darf nicht das Vorrecht einiger weniger bleiben;

–  er soll tolerant sein – wichtig für ein erträgliches Zusammenleben aller;

–  er soll wandlungsfähig sein – flexibel, änderungs- und anpassungsfähig;

–  er soll phantasievoll sein – zum Überleben und Gestalten unentbehrlich;

–  er soll experimentierfreudig sein – bereit zur Erprobung des Neuen;

–  er soll informiert sein – nur so kann er mitbestimmen und mitlenken;

–  er soll neugierig sein – um über das Wissen seiner Zeit hinauszugelangen;

–  er soll furchtlos sein – keine Angst mehr vor Fehlern und Versagen;

–  er soll freudig sein – Lustgewinn als eine legitime menschliche Möglichkeit.“

Am Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bedeuteten obige Erziehungsziele Brüche mit Überkommenem. Es handelte sich um Grundlagen für wahrhaftige Selbstverantwortung, letztlich um Eigenschaften mündiger BürgerInnen, die sich in die demokratischen Strukturen einzubringen verstehen. Genau genommen ist auch heute noch Vieles davon Forderung geblieben, ohne große Chance auf Verwirklichung, denn dazu müsste sich das Bildungssystem stark wandeln.

Endgültige Form der Zukunftswerkstatt

Dachten wir uns anfangs in Seminaren genehme Zukünfte aus, Gegenwelten zu den etablierten Vorgaben für das Aussehen der nächsten Jahrzehnte, so merkten wir bald, dass dieses akademische Vorgehen nicht genügte. Es fehlten Kommunikation und Diskussion über den universitären Tellerrand hinaus. In dieses Vakuum brachte Robert Jungk neues Leben, indem er vom ‚Citizen-Movement’ in den USA berichtete. Dort fanden sich in einer Reihe größerer Städte BürgerInnen zu Gruppen zusammen und überlegten, was in ihrer Umgebung schief lief, was sie störte, welche Ärgernisse es gab. Zu den Defiziten, die sie auf diesem Wege identifizierten, suchten sie nach Abhilfen, durchaus auch solche, die über das Übliche hinausreichten. Die Hauptfrage dieser Analyse lautete: „Was können und wollen wir mit unseren Mitteln tun, mit unserem Engagement und unseren Kräften?“ Als Antwort darauf wurden ganze Stadtteile gesäubert, hergerichtet und erneuert – und das in Eigeninitiative und Selbsthilfe.

Bei der Beschäftigung mit dieser Bewegung wurde uns bewusst: wir mussten beim eigenen Erfahrungsumfeld ansetzen, wollten wir in Richtung einer anderen Zukunft etwas bewegen. Diese Betroffenen-Komponente ließ uns die Universität in den Mittelpunkt rücken. Zuvor waren wir mit dem Praktischwerden bei den allgemeineren Gesellschaftsthemen gescheitert. Zu den ‚Aspekten einer Zukunftsgesellschaft’ erdachten wir zwar durchaus erstrebenswerte Zukünfte, gelangten aber über abstrakte Vorschläge und Ideen nicht hinaus.

Das war beim Universitätsbereich anders. Hier gehörten wir zur Struktur, hier eröffneten sich Realisierungsmöglichkeiten. Ohne in Details gehen zu können: Es wurde eine Universität erdacht,

–   die Beteiligung und Mitbestimmung auf allen Ebenen vorsah,

–  die kein Abitur als Zugangsbedingung mehr kannte,

–  die Öffentlichkeit in jeder Hinsicht anstrebte,

–  die Militärforschung und -zuarbeit verbot,

–  die Professoren zum Nachdenken über den Praxisbezug ihres Faches veranlasste,

–  die von den Fachbereichen Aussagen zu den beruflichen Zukunftsaussichten verlangte,

–  die Betreuung von Anfangssemestern durch Studenten mit Vordiplom organisierte,

–  die Studenten zeitweise zu Leitern von Seminaren machte,

–  die Professoren auf befristete Zeit Arbeiten in fachfremden Gebieten anempfahl,

–  …

In der universitären Aufbruchstimmung der siebziger Jahre blieben viele der erdachten, oft phantastisch anmutenden Vorschläge nicht Papier. Im Kleinen wurden Ideen direkt vorangebracht und erprobt, vielfach erzwungen durch kurze Besetzungen und Streiks. Vieles, was auf diesem Wege den Professoren und Fachbereichen abgetrotzt wurde, hatte meist nur kurzfristig Bestand. So versandeten beispielsweise das Leiten von Seminaren durch Studenten oder Patenschaften für jüngere Studenten bei nachfolgenden Studentengenerationen. Von den umfassenderen Projekten, die aus den Robert-Jungk-Seminaren – sie nannten sich jetzt Samstags-Zukunftswerkstätten – hervorgingen, ragen heraus:

–  Mit den Fachbereichen über ihre Zukunft reden: 12 von 21 Fachbereichen luden Robert Jungk und seine Seminargruppe jeweils zu einer vierstündigen Zukunftsveranstaltung ein.

–  Zur Bereicherung der Lehre Professoren der Humboldt-Universität (DDR) einladen: Drei Professoren der Politischen Ökonomie und Soziologie konnten gewonnen werden, und sie erhielten sogar ein kleines Honorar.

–  Studenten organisieren Gegenveranstaltungen und führen sie eigenverantwortlich durch. Etablierte Angebote werden so durch Stoff bereichert, der sonst unter den Tisch fällt – einen Monat lang im Rahmen der Kritischen Universität (KU).

Mit dem Lernen, wie Verwirklichungsfelder erschlossen werden können, hatten wir den Durchbruch geschafft, ohne es zunächst zu merken. Die Phantasiezustände waren in der Regel nicht zu halten. Es mussten Abstriche vorgenommen und Kompromisse eingegangen werden, um wenigstens einige praktische Schritte auf das Ideal hin machen zu können. Robert Jungk hatte seit Mitte der sechziger Jahre von Zukunftswerkstätten gesprochen, und jetzt war der letzte Baustein gefunden.

Wir erkannten, dass nicht nur Kritisieren und Phantasieren eine Zukunftswerkstatt voranbrachten, sondern das näherungsweise Umsetzen der Phantasien den Erfolg bestimmten. Die Zukunftswerkstatt als soziales Problemlösungskonzept erhielt durch diese Praxisklärung eine klare Ausrichtung. Der Dreischritt wurde verbindlich: Beschwerde-, Phantasie- und Verwirklichungsphase. Dass unser Vorgehen nur konsequent war, erkannten wir zudem bald. Im Grunde genommen entsprach es dem dialektischen Schließen. Die Beschwerde- und Kritikphase entsprach der THESE; die Phantasie- und Utopiephase der ANTITHESE und die Verwirklichungs- und Praxisphase der SYNTHESE. Diese Analogie stellt natürlich nur eine grobe Entsprechung dar, die jedoch zeigt, dass der Verlauf einer Zukunftswerkstatt durchaus auch theoretisch folgerichtig und nicht einfach aus der Luft gegriffen ist.

Was ist nun das Besondere an einer Werkstatt, wie sie sich über Jahre, vornehmlich in Seminaren an der Technischen Universität Berlin, herausgebildet hatte und immer wieder erprobt wurde? Vor allem sind folgende Punkte zu beachten: Eine Zukunftswerkstatt

–  durchläuft drei Phasen, die scharf voneinander getrennt sind,

–  wird inhaltlich von den Teilnehmenden verantwortet, aber methodisch von der Moderation,

–  kommt durch Arbeit in der Gesamtgruppe und in Kleingruppen voran,

–  lebt im Plenum von visualisierten Stichworten und Minisätzen,

–  versucht, stets konkret und beispielhaft am Thema zu bleiben.

Obige Hauptelemente des ‚Werkens‘ in Zukunftswerkstätten helfen, teilnehmerInnen-orientiert und -getragen zu Lösungen für das anstehende Problem zu gelangen, indem die drei Phasen nacheinander durchlaufen werden:

1.  Beschwerde- und Kritikphase

Das Anliegen durch seine kritische Aufarbeitung genau klären – Bestimmung des Ist-Zustands.

2.  Phantasie- und Utopiephase

Den Ist-Zustand mit sozialer Phantasie und Kreativität überwinden – Entwicklung des Wunschhorizonts.

3.  Verwirklichungs- und Praxisphase

Teile des Wunschhorizonts zu Forderungen bzw. Projektansätzen verdichten – Klärung des Handlungspotenzials.

Um das Vorgehen, besonders den Abschluss, zu veranschaulichen, greife ich auf eine Werkstatt zurück, bei der Arbeitsüberlastung und Arbeitsfrust in den Vordergrund rückten. In der Beschwerdephase spitzten sich die Kritiken zu: auf ‚ständige Kundenstörungen’, ‚keine Arbeitsvorgänge zu Ende bringen können’, ‚überreizte Kolleginnen’, ‚ständige Motzerei’. In der Phantasiephase fand die Arbeit in einer Gartenlandschaft auf einer Südseeinsel statt – in einer lustvollen Atmosphäre für MitarbeiterInnen und Klienten. Daraus entstanden über mehrere Zwischenschritte, schließlich mithilfe der Konkretisierungsfragen, zwei Projekte:

1.

Was soll angefangen werden?

Einmal wöchentlich einen Tag lang für Kunden nicht erreichbar sein.

Wie soll das angefangen werden?

Geschäftsführung ansprechen, Betriebsrat einschalten.

Wer hilft? Wer unterstützt?

Betriebsrat, Kolleginnen und Kollegen.

Ergebnis: Nach längeren Verhandlungen mit der Geschäftsführung: zwei Stunden wöchentlich das Büro zuschließen können – nach Eintragung in eine Liste.

2.

Was soll angefangen werden?

Freude in die Arbeit tragen, Umgang miteinander entspannen.

Wie soll das angefangen werden?

Blumen mitbringen, gemeinsames Frühstück, Lächeln üben, Klienten zu einer Tasse Kaffee einladen, …

Wer hilft? Wer unterstützt?

Alle in der Abteilung zusammen. Wöchentlich einen Nicht-Motz-Tag festlegen.

Ergebnis: Insgesamt Verbesserung des Arbeitsklimas, sich persönlich näher kommen, bei Rückfall in griesgrämiges Verhalten genügt meist der Ausruf: „Denk an die Zukunftswerkstatt!“

Angesichts obiger Ergebnisse lässt sich sicherlich einwenden, ob dazu wirklich eine Zukunftswerkstatt mit ihren drei Phasen notwendig war. Diese Argumentation verkennt die gruppendynamische Komponente. In einer Werkstatt finden die Beteiligten thematisch und persönlich auf eine konstruktive Weise zusammen, werden oft zu einer Gemeinschaft und übernehmen bei der Umsetzung eine voranbringende Rolle. Der Werkstattprozess verändert und unterstützt den Weg, sich für Neues zu öffnen – sei das Ergebnis von außen gesehen auch noch so klein!

Soziale Erfindungen

Um 1975 hatte die Zukunftswerkstatt ihre ‚praxistaugliche’ Form gefunden, eine Form, die wenig Aufwand verlangte und die alle Teilnehmenden in das Durchlaufen der drei Phasen gleichberechtigt einbezog. In der Zukunftswerkstatt wird mit basisdemokratischen Elementen gearbeitet, sie macht ernst mit der Beteiligung von unten. Jahre später formulierten Robert Jungk und MitarbeiterInnen Absichten und Hoffnungen zusammenfassend in einem Forschungsbericht:

„Uns geht es darum, das Konzept der Zukunftswerkstatt als eine Demokratisierungschance weiter zu verbreiten. Unsere Utopie: Zukunftswerkstätten in jeder Stadt und an jedem Ort, an dem gesellschaftliche Probleme auftauchen und Unmutsäußerungen hochkommen. Dort mit dem Werken zu beginnen, kann Kraft und Mut der Betroffenen fördern, so dass sie ‚ihre’ Sache wirklich anpacken – auch gegen Widerstände. (…)

Zukunftswerkstätten und soziale Experimente sind nur Werkzeuge, die der Entwicklung menschlicher Möglichkeiten dienen; sie sind keine neuen Instrumente der Lenkung, sondern Geburtshelfer einer Demokratie, die zwar oft versprochen und viel besprochen wurde, aber bisher noch nie und nirgendwo zu wirklichem Leben erwacht ist.“

Jenseits obiger Vorstellungen stellte sich uns bald die Frage, ob Zukunftswerkstätten nicht auch soziale Erfindungen hervorbringen könnten. Auslöser waren die Studien des kanadischen Sozialfürsorgers und Erwachsenenberaters Stuart Conger, der das Ständig-weiter-Auseinanderklaffen von technischen gegenüber sozialen Erfindungen herausstellte. Er verlangte, dass Regierungen ‚Social Invention Centers’ aufbauen sollten, um ein Gegengewicht zu der Übermacht des Technischen auf allen Gebieten, vor allem in Wirtschaft und Gesellschaft, zu schaffen.

Eine Antwort auf die Forderungen Congers gab Robert Jungk in seinem Buch „Der Jahrtausendmensch“, in dem er emanzipatorische Initiativen aus der ganzen Welt zusammentrug. Mit dem Untertitel ‚Berichte aus den Werkstätten der neuen Gesellschaft’ sprach er die soziale Dimension seiner Darstellung deutlich an. Und bis zu seinem Tod 1994 verschrieb er sich der Aufgabe, in Vorträgen und Aufsätzen, in Interviews und Diskussionen, bei Demonstrationen und Versammlungen, aber besonders in seinen Büchern, Perspektiven für ein humanes und umweltdienliches Miteinander von BürgerInnen aufzuzeigen. Was er vorstellte, waren zukunftsweisende soziale Projekte, Erfindungen und Experimente, insgesamt Keime für drängende Korrekturen in Richtung einer menschenfreundlichen Welt im wahrsten Sinne des Wortes – so beispielsweise in den Büchern „Modelle für eine neue Welt“, „Projekt Ermutigung“, „Menschenbeben“, „Delphinlösungen“ oder „Katalog der Hoffnung“.

Soziale Erfindungen zu machen und soziale Innovationen anzustoßen, faszinierte so stark, dass wir uns wiederholt in Robert-Jungk-Seminaren und -Arbeitsgruppen damit beschäftigten. Wir fanden heraus, dass das Problem der technischen Dominanz bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von dem amerikanischen Sozialwissenschaftler William F. Ogburn thematisiert worden war. Ogburn sah starke gesellschaftliche Verwerfungen mit der Industrialisierung einhergehen. Ob Rechtswesen, Arbeitsregelungen oder freie Meinungsäußerung, letztlich das gleichberechtigte Miteinander der BürgerInnen in Kommune und Staat wurden vom sogenannten technischen Fortschritt überrollt. Ogburn bezeichnete dieses Phänomen mit ‚social and cultural lag’, also dem Hinterherhinken des sozio-kulturellen Bereichs gegenüber den technisch-naturwissenschaftlichen ‚Errungenschaften’.

Dieser Wettlauf zwischen Gesellschaft und Technik ist zuungunsten des Sozialen weitergegangen. Eine Vorherrschaft des Technisch-Wissenschaftlichen im Verbund mit dem Ökonomischen hat sich herausgebildet, eine Vorherrschaft, die alles Lebendige zu vereinnahmen droht und bestrebt ist, es so reibungslos wie möglich anzupassen. Nicht Technik ordnet sich dem Menschen unter, sondern der Mensch muss sich ihren oft ‚inhumanen’ Vorgaben fügen. Es sei hier nur an die oft absurden Vorgaben des ‚Computerhandlings’ erinnert.

Dass Zukunftswerkstätten als basisdemokratisches Problemlösungskonzept Chancen für soziale Erfindungen boten, war für uns in keiner Weise strittig. Doch wir sahen es als schwierig an, die oft speziellen Werkstattergebnisse ins Gesamtgesellschaftliche zu übertragen, sie als soziale Erfindungen zu deklarieren. In dieser Hinsicht leistete das ‚Institute for Social Inventions’ in London Pionierarbeit. Die Mitarbeiter hatten das Zukunftswerkstätten-Buch übersetzt und begonnen, mit verschiedensten Gruppen von SchülerInnen, mit Müttern und mit unterschiedlichen Berufsgruppen Werkstätten durchzuführen sowie die Resultate als soziale Ideen und Erfindungen zu veröffentlichen.

In den Publikationen des Londoner Instituts werden soziale Erfindungen folgendermaßen definiert: Eine soziale Erfindung ist eine neue und phantasievolle Lösung für ein soziales Problem oder ein neuer Weg, die Qualität des Lebens zu verbessern – z. B. eine soziale Dienstleistung, eine neue Form lokaler Selbsthilfe, eine neue Organisationsstruktur oder eine neue Kombination bekannter Ideen; ausgenommen sind neue Produkte, technische Erfindungen und Patentierbares.

Um zu beurteilen, was soziale Innovationen bzw. soziale Erfindungen sind, benutzt das Institut eine Reihe von Fragen:

1.  Ist die Idee oder das Projekt neu und phantasiereich – oder wenigstens neu in England?

2.  Hilft die Projektidee, die Qualität des Lebens zu verbessern oder eine mehr an menschlichen Maßstäben orientierte Gesellschaft zu schaffen?

3.  Gibt es Anzeichen, mit der Projektidee voranzukommen? Wurden Anstrengungen zur Umsetzung unternommen? Gab es bereits Reaktionen?

4.  Hat die Projektidee eine Chance, selbsttragend oder selbstwachsend zu werden? Besitzt sie Modellcharakter?

5.  Setzt die Projektidee direkt bei den Menschen oder im lokalen bzw. kommunalen Sektor an?

6.  Ist die Projektidee auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegt?

7.  Nutzt die Projektidee einer großen Zahl von Menschen?

8.  Wie steht es mit den Chancen der Durchsetzung? Gegeninteressen? Unterstützer? Abwägung des Für und Wider?

Um einschätzen zu können, ob Projekte aus Zukunftswerkstätten das Potenzial von sozialen Erfindungen besitzen, entwickelten wir in einem Seminar Kriterien dafür, die sich an die Prüffragen des Londoner Instituts anlehnten. Danach sollten soziale Erfindungen folgende Eigenschaften aufweisen:

–  sozial orientiert und gemeinnützig

–  Lebensqualität verbessernd/menschengemäß

–  kostengünstig und ökologisch

–  einfach und nachahmbar

–  verbreitbar und durchsetzungsfähig

–  neuartig und phantasievoll

–  ansprechend und faszinierend

–  dauerhaft und zukunftsweisend

–  wenig Zeit benötigend und kurzfristig umsetzbar.

Damit nachzuvollziehen ist, wie die Checkliste der Eigenschaften genutzt werden kann, wird spontan eine Seite der Publikation „Farben der Zukunft 3“ aufgeschlagen, in der über 60 Projekte aus Zukunftswerkstätten beschrieben werden. Auf Seite 31 wird das ‚Info-Café‘ vorgestellt:

„Infocafé (…)

Zusammengefasst: Die Funktion des Cafés im hergebrachten Sinne als Ort der Begegnung und des Gesprächs, der Diskussion und des Lesens, wird erweitert um

–  das Kennenlernen und Nutzen von Neuer Technik;

–  das schnelle Beschaffen von Informationen jeglicher Art;

–  das Verbreiten und Weitergeben von Informationen;

–  das Kontakt-Knüpfen zu Gleichgesinnten;

–  das Finden von Gesprächspartnern mit gleichen Interessen;

–  das Sich-kritisch-Auseinandersetzen mit sozialen Folgen Neuer Technik;

–  das Vorschlagen von aktuellen Themen für Vorträge und Kurse.

Das Café steht allen Bevölkerungsgruppen offen. Kinder und Jugendliche, Frauen und alte Menschen sind willkommen. Es gibt keinen Zwang, sich mit Neuer Technik zu beschäftigen: Es ist ein Café, wo auch Neue Technik vorhanden ist.“

Infocafé

–  sozial orientiert und gemeinnützig

teils

–  Lebensqualität verbessernd und menschengemäß

teils

–  kostengünstig und ökologisch

nein

–  einfach und nachahmbar

teils

–  verbreitbar und durchsetzungsfähig

ja

–  neuartig und phantasievoll

teils

–  ansprechend und faszinierend

ja

–  dauerhaft und zukunftsweisend

teils

–  geringer Zeitaufwand und kurzfristig umsetzbar

nein

Aufgrund der Bewertung kann das Projekt nur bedingt als soziale Erfindung angesehen werden. Aus heutiger Sicht lässt es sich als Vorläufer der Internet-Cafés einordnen. Ende der achtziger Jahre in einer Zukunftswerkstatt angedacht und in einer mittelgroßen Stadt verwirklicht, stellte diese Art des Cafés etwas Ungewöhnliches dar. Vor allem SchülerInnen nutzten es für Computerspiele. Da sich jedoch die Reparaturen an den Commodore/Atari-Rechnern häuften, wurde der separate Raum bald geschlossen. Was blieb, waren Einführungen ins ‚Computern’ und Beratungen.

Nachdem wir weitere Projekte aus Werkstätten mit obiger Checkliste untersucht hatten, kamen wir zu dem Schluss, Zukunftswerkstätten können durchaus soziale Erfindungen hervorbringen, aber das Werkstattkonzept ist nur ein Instrument unter mehreren. Die meisten sozialen Neuerungen, Innovationen, Erfindungen entstehen wie nebenbei, oft aus Notsituationen heraus.

Um sich hier einzubringen, regte Robert Jungk Denkwerkstätten an: Sie sollten maximal fünfzehn Personen umfassen, die regelmäßig zusammenkommen und für gesellschaftlich drängende Probleme Lösungen entwerfen. Dazu sei das Konzept der Zukunftswerkstatt ebenso heranzuziehen wie Kreativitätsmethoden. Außerdem müsste eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit stattfinden. Er verglich dieses Herangehen mit den ‚Think Tanks’ in den USA, die teilweise großen Einfluss auf die Politik besäßen. Solche sozialen Denkwerkstätten sind bis auf einige Ansätze und Experimente Idee und Forderung geblieben.

Das eigentliche Konzept der Zukunftswerkstatt, so wie es Robert Jungk sah, kann selbst als eine soziale Erfindung gelten. Es hat rund dreißig Jahre gebraucht, um sich durchzusetzen. Die Entwicklung sozialer Erfindungen und Innovationen erfordert für gewöhnlich einen langen Atem, erfordert viel Einsatz und Engagement, erfordert auch, das Risiko des Scheiterns einzugehen. Nur so lassen sich soziale Erfindungen auf den Weg bringen. Um plastisch zu werden, sei an einige Innovationen der letzten Jahrzehnte erinnert: Frauenhäuser, Bürgerinitiativen, Obdachlosenzeitungen, Fair-Trade-Bewegung, Dritte-Welt-Läden, Netzwerke, Mikrokredite, Tafeln u. v. a. m.

Zu tun bleibt viel – angesichts der Übermacht des Nur-Technischen oder des Technisch-Vermittelten, das allmählich die gesamte Gesellschaft durchwirkt und dominiert. So wäre etwa Folgendes zu tun:

–  Ganz allgemein ein Bewusstsein für die Notwendigkeit sozialer Erfindungen schaffen und ihre Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung herausstellen.

–  Regelmäßig über soziale Erfindungen aus verschiedenen Bereichen berichten, z. B. in Form einer Publikation.

–  Eine Anlaufstelle für Fragen rund um soziale Erfindungen aufbauen und dazu eine originelle Öffentlichkeitsarbeit betreiben.

–  Als Einrichtung arbeiten, die zusammen mit einem engagierten Personenkreis soziale Erfindungen als Antwort auf drängende Probleme ‚ausbrütet’.

–  Jährlich zu einem Wettbewerb einladen, um ‚Die soziale Erfindung des Jahres’ zu prämieren und sie dann weiterhin zu unterstützen.

 

Literaturhintergrund:

Zu Kreativitätsmethoden:

H. Mauer/N. R. Müllert: Soziale Kreativitätsmethoden von A-Z, Nachschlagen – Verstehen – Anwenden, Neu-Ulm 2007

Zu Erziehungszielen:

A. H. Müller u. a.: Aspekte einer Zukunftsgesellschaft – Ergebnisse, Probleme, Ansätze, Ungereimtes, TUB-Skript, Berlin 1974, S. 25

Zu Zukunftswerkstätten:

R. Jungk/N. R. Müllert: Zukunftswerkstätten – Mit Phantasie gegen Routine und Resignation, überarbeitete und erweiterte Taschenbuchausgabe, München 1989

B. Kuhnt/N. R. Müllert: Moderationsfibel Zukunftswerkstätten, Verstehen – Anleiten – Einsetzen, 3. überarbeitete Auflage, Neu-Ulm 2006

Zur Utopie von Zukunftswerkstätten:

R. Jungk u. a.: Zukünfte ‚erfinden‘ und ihre Verwirklichung in die eigene Hand nehmen. Was Bürgerinnen und Bürger in Zukunftswerkstätten entwickeln und vorschlagen, Werkstattbericht 78, Ministerium für Arbeit des Landes NRW, Düsseldorf 1990, S. 207

Zu sozialen Erfindungen:

D. S. Conger: The History of Social Inventions, in: N. Albery (ed.): The Book of Visions, London 1992, p. 3–7; Fragenkatalog des ‚The Institute of Social Inventions‘, p. 337f.

N. R. Müllert: Zukunftswerkstätten, soziale Erfindungen und der lange Atem, in: Institut für Zukunftsstudien: Die Triebkraft Hoffnung, Band 7, Weinheim/Basel 1993, S. 93–103

N. R. Müllert: Soziale Erfindungen nötiger denn je, Texte & Materialien, Heft 10, Heppenheim 2001

Zur Theorie ,social and cultural lag’:

W. F. Ogburn, Fischer Lexikon der Soziologie, Frankfurt/M. 1967, S. 256 ff. und 290 ff.

Zu Projekten aus Zukunftswerkstätten:

J. Becker u. a.: Farben der Zukunft 3 – Du kannst mich ruhig ansprechen, Berlin/Ratingen/Zürich 1992

ANDREAS GROSS

Europa braucht mehr Demokratie, die Demokratie aber auch mehr Europa.

Robert Jungks Utopiebegriff und die dringende Reform der politischen Ordnung unseres Kontinents

„C’est quand chacun de nous attend que l’autre commence que rien ne se passe“Abbé Pierre (1912–2007)

„Wenn jeder von uns nur darauf wartet, dass der andere beginnt, passiert gar nichts!“

Jede Zeit hat ihre Utopie und ihr Utopieverständnis. In den 1950er-Jahren dominierte der „Pragmatismus“ und wurde antiutopisch verstanden. 1968 gehörte die Utopie zu einer der Lieblingsvokabeln der öffentlichen Diskussion. Mehr als 25 Jahre später war das „Ende der Utopien“ angesagt – kurz nach dem Ende des Kalten Krieges und dem unblutigen Zusammenbruch der Sowjetunion, zwei „Ereignissen“, die von Millionen von Menschen jahrzehntelang für „utopisch“ gehalten worden waren.

Mitte der 1980er-Jahre sprach Jürgen Habermas vor dem spanischen Parlament von der „Erschöpfung der utopischen Energien“, warnte aber vor der Verabschiedung des utopischen Denkens mit dem grossartigen Satz, gleichsam der Antithese zu Robert Jungks politischer Lebensmaxime: „Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus“1. Nach der letzten Jahrtausendwende, vor acht Jahren, erschien schliesslich ein Sammelband mit dem zuversichtlichen Titel „Von der Renaissance der Utopie“2.

Der Gebrauch des Begriffes Utopie und die Art, wie er verstanden wird, sagt mehr über den Autor sowie die Zeit und die Gesellschaft, in denen er lebt, als über den Begriff an sich.

Robert Jungk widersetzte sich zeitlebens dem Zeitgeist und seinen eindimensionalen Opportunismen. Er blieb lebenslang bei der Utopie, seiner echten Utopie als Alternative zur elenden, zukunftsunfähigen Gegenwart. Er suchte nach dem, was noch nicht ist. Denn er war sich bewusst, dass dies genauso zu dem gehört, was als Realität bezeichnet wird, wie das, was sichtbar und erfahrbar ist.

Jungk wusste, dass es dazu bloss Menschen braucht, die handelnderweise bereit waren, dem, was noch nicht ist, aber potenziell an Besserem möglich wäre, zur Wirklichkeit zu verhelfen. Er verstand sich als ein solcher Geburtshelfer des Utopischen. Ja er machte daraus sogar sein Lebenswerk: Eine Methode, die das Utopische als Konzept versteht, als Denkweise, mit der sich hervorbringen liesse, was an Besserem und Wünschenswertem in unserer unzulänglichen, selbstzerstörerischen Gegenwart schlummert: die berühmten „Zukunftswerkstätten“3.

Im Zentrum von Robert Jungks Denken und Handeln war die Zukunft, nicht die Utopie. Er war und verstand sich als „Zukunftsforscher“, nicht als „Utopist“4. Doch er suchte nach einer Zukunft, die mehr war als die Fortsetzung der Gegenwart, was Ernst Bloch als „unechte Zukunft“ bezeichnet hat.5 Das wollte Robert Jungk deutlich machen, wenn er öfter den „genialen Naturwissenschaftler John Bernal“ zitierte, der nach fast jeder seiner Vorlesungen im Londoner Birbek-College seine Studierenden ermahnt haben soll, wir könnten „nicht mehr auf dem gleichen Geleis gradlinig weiterfahren.“6

Jungk tat damit genau das, was Ernst Bloch als den Sinn der Utopie bezeichnete, nämlich „überlegt mit der Zukunft umzugehen“, echte Zukunft zu erarbeiten und diese als „docta spes“, als reflektierte konkrete gesellschaftliche Möglichkeit7 in einer anderen Zukunft zu verstehen. Denn die Zukunft ist nie einfach Schicksal. Wenn Menschen wollen, können sie etwas Anderes aus ihr machen. Etwas Besseres. Etwas, das eher ihren Hoffnungen und Sehnsüchten entspricht. Dazu wollte Robert Jungk sein Leben lang „ermutigen“.8 So schrieb er in seinem Aufsatz „Weltwetterwarten“, mit dem er 1993 seinen Sammelband mit alternativen „Zukunftsentwürfen“ eröffnete: „Es ist die Aufgabe aller, die sich um die Zukunft des Seins Sorgen machen, solche unumkehrbaren, langfristig gefährdenden Zerstörungen zu verhindern, solange dies noch möglich ist.“9

Robert Jungk suchte so nach Zukünften mit mehr Zukunft, als ob er die ganze Philosophie der Utopie Ernst Blochs verinnerlicht und sie sich ganz zu eigen gemacht hätte. Er tat dies, ohne in die Falle des autoritären Umgangs mit vermeintlich fertigen und zeitlosen Utopien zu gehen, wie dies im 19. Jahrhundert vielen Utopisten passierte.

Befreit aus dieser Falle hatte das utopische Denken zu Ende des 19. Jahrhunderts Gustav Landauer (1870–1919), einer der Inspirationsquellen von Bloch.10 In seiner Schrift „Revolution“ gelang Landauer 1908 meines Erachtens so etwas wie die Demokratisierung der Utopie. Er verstand darunter nicht mehr eine ein für alle Mal fixierte „Idealvorstellung“, sondern eine Zukunftsvorstellung, welche die Gegenwart verändert und teilweise zu einem künftigen „Topos“ wird, an dem wiederum neue weitergehende Utopien gedacht und vorgestellt werden, die den aus der alten Utopie gewordenen neuen Topos nochmals verändern und weiterentwickeln. So wird aus der Utopie eine Zielvorstellung, die sich aber aus den auf dem Weg dahin gemachten Erfahrungen zu erneuern weiss und von neuen beziehungsweise verfeinerten und präziseren Utopien abgelöst wird.11 Ein solches offenes, asymptotisches Utopieverständnis ermöglicht permanente kollektive Lernprozesse und Erfahrungen, welche die Utopien permanent erneuern und so verhindern, dass sie zu autoritären Vorlagen werden oder gar zur Gewalt entarten.12

Jungk war sich des offenen oder immer wieder neu zu öffnenden Ausgangs seiner Suche nach anderen, besseren und nachhaltigeren Zukünften nur allzu bewusst. Dies kommt sogar in einer kleinen Bemerkung zum Ausdruck, mit der er mir sein Buch mit den „Delphin-Lösungen“ widmete, als wir uns in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre in seiner Salzburger „Bibliothek für Zukunftsfragen“ des Öfteren trafen. Er gab mir handschriftlich auf den (Lese-)Weg: „Die wirklich kreativen Antworten müssen immer neu formuliert werden!“

„Je prekärer die Lage der Menschheit wird, je bedrohlicher und zugleich komplizierter die Krisen werden, mit denen wir uns herumschlagen müssen, desto größer wird der Bedarf an ungewöhnlichen, umfassenden und dauerhaften Problemlösungen“13