Putins Krieg – Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen - Katrin Eigendorf - E-Book
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Putins Krieg – Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen E-Book

Katrin Eigendorf

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Beschreibung

Der Spiegel-Bestseller der bekannten ZDF-Korrespondentin für die Ukraine Katrin Eigendorf Seit vielen Jahren berichtet Katrin Eigendorf regelmäßig aus der Ukraine. So auch während der dramatischen Tage und Wochen nach dem 24. Februar 2022, als Wladimir Putin mit seinem grausamen Angriff auf die Ukraine den Krieg zurück nach Europa getragen hat. Angesichts der Bilder aus Mariupol, Charkiv und Kyiv ist auch Deutschland aufgewacht, nachdem es über viele Jahre Wladimir Putin verharmlost hat.  Katrin Eigendorf erzählt hier vom Krieg, den Putin mit aller Härte führt, vor allem gegen die Bevölkerung. Von ihren Begegnungen mit Menschen, die von einem Tag auf den anderen alles verloren haben, von Familien, die zerrissen wurden, von Kindern, die ihre Kindheit verloren haben. Es sind Begegnungen, die immer wieder an die Schmerzgrenze gehen, auch für eine Reporterin.  Sie hat den Beginn dieser Entwicklung bereits 2008 in Georgien erlebt, als der Kreml seine Truppen nach Tbilissi schickte. Und 2014 in Donezk, Luhansk und Mariupol, als die russische Armee nach der Krim auch den Osten der Ukraine angriff und besetzte. Kriege, die auch in Deutschland nicht ernst genug genommen wurden. Putins Narrativ vom Krieg gegen eine faschistische Regierung in Kyjiv, dem Eintreten für Russlands Sicherheit ist eine zynische Lüge. Und sein Krieg zeigt die ganze Schwäche eines autoritären Regimes. Ein System, das Kinder bombardiert und Menschen aushungert, das die Wahrheit nicht duldet, ist gescheitert. Noch nie war es Katrin Eigendorf wichtiger, vor Ort zu sein und zu zeigen, worum es in der Ukraine wirklich geht: um den Kampf eines Volkes für Freiheit und Demokratie – auch in Europa.

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Katrin Eigendorf

Putins Krieg – Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Noch nie war es mir wichtiger, vor Ort zu sein und zu zeigen, worum es in der Ukraine wirklich geht: um den Kampf eines Volkes für Freiheit und Demokratie.« Katrin Eigendorf

 

Viel zu lange wurde Wladimir Putin in der öffentlichen Diskussion in Deutschland verharmlost. Mit dem Angriff auf die Ukraine hat er den Krieg ins Herz Europas gebracht. Und plötzlich steht alles in Frage, was bislang selbstverständlich erschien: Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand

Katrin Eigendorf lebte lange in Moskau und berichtet seit vielen Jahren für das ZDF aus der Ukraine – vom ersten Tag des Krieges an war sie immer wieder vor Ort. Hautnah erzählt sie von erschütternden Szenen in zerbombten Städten, Begegnungen mit Menschen, die von einem Tag auf den anderen alles verloren haben. Es sind Erlebnisse, die immer wieder an die Schmerzgrenze gehen, auch für eine Reporterin. Ihr Buch ist ein bewegendes Zeugnis, das uns die dramatischen Entwicklungen in der Ukraine und die tiefgreifenden Konsequenzen dieses Krieges unmittelbar vor Augen führt. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Katrin Eigendorf, geboren 1962, hat seit vielen Jahren und insbesondere ab dem 24. Februar 2022 immer wieder für das ZDF live aus der Ukraine berichtet. Sie gehört zu den renommiertesten deutschen TV-ReporterInnen, seit den 1990er Jahren ist sie Auslandskorrespondentin und berichtet für ZDFheute, heute-journal und auslandsjournal aus Krisenregionen. Seit 2018 ist sie Internationale Reporterin des ZDF mit den Schwerpunkten Ukraine, Russland, Afghanistan, Libanon, Irak und Türkei.

2021 erhielt Katrin Eigendorf für ihre Arbeit als Kriegsberichterstatterin in Afghanistan und der Ukraine den renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus und wurde von einer Jury des Medium-Magazins für die beste Reportage in überregionalen Medien ausgezeichnet. 2022 erhielt sie den Grimme-Preis. Katrin Eigendorf lebt in Berlin.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

Die Ukraine in [...]

Vorwort

Kapitel 1 Winnyzja

Kapitel 2 Chmelnyzkyj

Kapitel 3 Odesa

Kapitel 4 Wosnesensk

Kapitel 5 Lwiw

Kapitel 6 Butscha, Irpin, Borodjanka

Kapitel 7 Butscha

Kapitel 8 Kyjiw

Kapitel 9 Charkiw

Kapitel 10 Dnipro

Kapitel 11 Kyjiw

Epilog

Dank

Zum Weiterlesen

Für Jörg, Philip und Alexandra

Die Ukraine in den Staatsgrenzen von 1991

Vorwort

Krieg ist immer ein Bruch mit der modernen Zivilisation, so jedenfalls habe ich es in meiner Arbeit in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt stets erlebt. Sei es das brutale Vorgehen der russischen Armee in Tschetschenien oder der andauernde Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, die immer wiederkehrende Gewalt und der fortwährende Terror im Nahen Osten, die Vertreibung der Taliban von der Macht und ihre Rückkehr 20 Jahre später oder Russlands Einmarsch in Georgien 2008. So unterschiedlich diese Konflikte sind und waren – immer hatte ich als Reporterin das Gefühl, dass die Brutalität und das damit verbundene Leid eine schmerzhafte Renaissance eines Zeitalters sind, das wir allmählich überwinden würden.

In all diesen Jahren habe ich es immer als großes Privileg empfunden, in eine sichere Welt zurückkehren zu können, in ein Land, das für immer aus seiner Geschichte gelernt hat – das den Hass zwischen den Nationen in die Geschichtsbücher verbannt hat. Der Krieg in der Ukraine hat alles verändert. Kein Ereignis habe ich in den fast 30 Jahren, die ich als Reporterin arbeite, als so bedrohlich und einschneidend auch für unser Leben und unsere Zukunft empfunden, wie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Es ist ein Krieg, in dem es um fundamentale Fragen geht: In welcher Welt werden wir künftig leben? Welche Werte und Grundsätze sehen wir als unverrückbar und damit auch als global gültig an? Sind Demokratie, Menschenrechte, Freiheit und Frieden die Resultate eines Fortschritts, den zu verteidigen wir bereit und im Stande sind? Oder werden sich totalitäre Regime wieder auf brutale Art und Weise über alles hinwegsetzen können, was wir als Fundament unserer europäischen Friedensordnung betrachten?

Es sind Fragen, die wir uns lange nicht gestellt haben, weil wir glaubten, dass es dafür keinen Anlass gebe. Weil uns das Vorstellungsvermögen fehlte, dass ein solcher Zivilisationsbruch wie Russlands Überfall auf die Ukraine im 21. Jahrhundert in Europa noch möglich ist.

Mit dem Fall der Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 kam Hoffnung auf, dass die Welt ein Stück friedlicher und sicherer werden könnte. Wladimir Putins Auftritt vor dem Deutschen Bundestag im September 2001, in dem der russische Präsident in deutscher Sprache von gemeinsamen Aufgaben und Herausforderungen für die Zukunft sprach, schien eine neue Ära der Annäherung und Zusammenarbeit einzuläuten. Doch zu dieser Zeit hatte der russische Präsident bereits mit dem Umbau seines Landes begonnen, mit dem er eine Konzentration von politischer Macht auf die Kreml-Elite bewirken wollte, um eine zügellose Kleptokratie abzusichern. Lange, viel zu lange hat die Welt und haben auch wir in Deutschland darüber hinweggesehen, was da in Russland gärte. Weil das, was geschah, so ganz und gar nicht mehr in die Zeit zu passen schien.

Das liegt wohl auch daran, dass uns der Osten Europas immer fern und fremd war und ein Stück weit auch unergründlich. Es ist eine Mischung aus mangelndem Interesse und Vorstellungsvermögen, Ignoranz und Wunschdenken, die zu den vielen Fehleinschätzungen in der deutschen Russlandpolitik geführt hat. Die Konsequenzen werden künftig bitter spürbar sein.

Dabei war vieles erkennbar, hätten wir es nur sehen wollen. Dass Wladimir Putins politisches Denken nicht in die Zukunft, sondern rückwärtsgewandt ist, wurde deutlich, als er den Zusammenbruch der Sowjetunion als »die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnete. Das war 2005. Dass sich der russische Präsident im Krieg mit dem Westen, allen voran den USA, sieht, ist spätestens seit seinem legendären Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 klar. Damals machte Putin unmissverständlich deutlich, dass sein Land die vermeintliche Dominanz Amerikas und auch der NATO als Bedrohung wahrnimmt.

Doch die wirkliche Gefahr sieht Putin nicht für sein Land, sondern für sein Regime. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, wie sehr die Kreml-Elite den Arabischen Frühling und den damit verbundenen Sturz von Diktaturen anders als der Westen als Bedrohung wahrgenommen hat. Was, wenn Aufstände wie in Tunis, Kairo und Tripolis auch auf Moskau überschwappen?

Tatsächlich begannen in Russland 2011 die größten Massenproteste seit dem Ende der Sowjetunion. Die Demonstranten gingen nicht nur wegen Wahlfälschungen auf die Straße, sondern vor allem wegen Putins Anspruch, dauerhaft an der Macht zu bleiben. Das Regime schlug zurück: Festnahmen und drakonische Gefängnisstrafen für seine Gegner und Kritiker, die weitere Einschränkung der Pressefreiheit und nicht zuletzt das Verbot von ausländischen Organisationen sicherten Putins Macht im Inneren. Fortan kam aus Sicht des Kreml die Bedrohung zunehmend auch von außen. Von der NATO und Europa, vor allem aber vom Erzrivalen des Kalten Krieges, den USA.

Geprägt von den Ereignissen des Arabischen Frühlings, setzte Putin im Konflikt mit dem Westen auf eine Strategie, die nicht neu ist, aber von Moskau zum ersten Mal mit weitreichenden Konsequenzen eingesetzt wird: hybride Kriegsführung. Die 2010 formulierte Militärdoktrin setzte auf die Effektivität von nichtmilitärischen Mitteln: Information als Waffe, Nutzung des Protestpotenzials einer Bevölkerung. In dieser Militärdoktrin wurde erstmals auch die Bedeutung von Söldnertruppen genannt. Es waren Männer aus dem engsten Netzwerk Putins, die beauftragt wurden, neue Strukturen zu schaffen. Einer der bekanntesten, Jewgenij Prigoschin, trägt den Spitznamen »Putins Koch«. Russische Journalist:innen haben detaillierte Beweise dafür zusammengetragen, dass Prigoschin der Drahtzieher hinter dem Aufbau einer sogenannten Trollfabrik mit Sitz in Sankt Petersburg war, die seither vor allem in sozialen Medien mit einer Flut von Posts und Kommentaren zur virtuellen Kriegsführung beiträgt. Die amerikanische Justiz hat 2018 Anklage gegen Prigoschin erhoben, weil er 2016 die Wahl in den USA durch den Einsatz seiner Trollfabrik massiv zu Gunsten von Donald Trump beeinflusst haben soll.

In der Ukraine erleben wir seit 2014 gar den ersten Informationskrieg der modernen Geschichte – eine Entwicklung, die den Westen leider weitgehend unvorbereitet traf und auch uns Reporter:innen vor eine neue Herausforderung stellte. Als ich im November 2013 über die Protestbewegung des Majdan berichtete, wurde mir das schnell klar. Wir sahen uns plötzlich mit den Narrativen von professionellen Propagandist:innen und Propagandaplattformen konfrontiert – nicht selten als Journalist:innen und Medien getarnt.

Putin bezeichnete die Ereignisse in Kyjiw 2014 als faschistischen Umsturz und sprach von der Machtergreifung einer »Junta«. Ein Narrativ, das mit der Realität wenig gemein hatte, genauso wenig wie die vermeintliche Bedrohung Russlands durch die NATO, die auch in unserer öffentlichen Debatte verfing. Zweifel kamen auf: Hatten die Reporter:innen westlicher Medien die Majdan-Proteste verklärt und dabei die Rolle der rechtsradikalen Gruppen für den Sturz der Regierung verschwiegen? Musste man nicht verstehen, dass sich die überwiegend russisch-sprachigen Bürger:innen im Osten des Landes von Kyjiw abspalten wollten, weil sie sich Russland näher fühlten als Europa? Waren die Ukrainer wirklich ein eigenständiges Volk?

Es war dieser erfolgreiche Informationskrieg, der es Putin ermöglichte, 2014 zunächst die Krym zu annektieren und dann Teile der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk zu sogenannten »Volksrepubliken« zu machen.

Dabei nutzte der Kreml sehr gezielt das Grundprinzip von Medien in einer Demokratie, stets auch die andere Seite zu Wort kommen zu lassen. So wurde die Lüge zum Teil der Wahrheit. Oder anders gesagt: Wenn die Wahrheit wie beim Abschuss des Malaysia-Airlines-FlugesMH17 zu grausam war, dann wurden wir mit so vielen Versionen und Lügen konfrontiert, dass am Ende auch die Wahrheit als Lüge erschien. Immer wieder musste auch ich mich für meine Berichterstattung rechtfertigen, auch wenn das, was ich berichtete, längst bewiesen war. Mit seiner Desinformationsstrategie erreichte der Kreml in den deutschen Reaktionen genau das, was er erreichen wollte: Zweifel, Verunsicherung, Ungewissheit. Die russische Desinformationspolitik traf auch die großen deutschen Medienhäuser unvorbereitet.

Die Zeitenwende, von der Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 sprach, hätte früher kommen müssen. Erst mit der für alle Menschen offensichtlichen und nicht mehr abstreitbaren militärischen Invasion Russlands in der Ukraine sind die Zweifel und die Verunsicherung weitgehend verschwunden. Putin und der Kreml haben ihr wahres Gesicht gezeigt. Und sie haben unterschätzt, wie stark die Kraft der wahren Geschichten vor Ort die Dynamik verändern würde – und wie wenig ihre Trollfabriken authentischen und echten Bildern entgegensetzen können, wenn Aufnahmen von Smartphones mit einem Klick in alle Welt geschickt werden können. Wohl nie war es deshalb für uns Journalist:innen so wichtig, vor Ort professionelle Zeitzeug:innen zu sein, um von der Brutalität, dem Leid und den Konsequenzen des Krieges zu berichten und dies alles einzuordnen.

In diesem Buch, das am Tag vor den ersten russischen Angriffen beginnt, schildere ich meine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen, die ich in der Ukraine gemacht habe. Es sind Begegnungen mit Menschen auf der Flucht, an den Bahnhöfen des Landes, mit Familien, die monatelang in einer Metrostation Schutz vor Bomben und Raketen suchten, mit Soldaten und Soldatinnen in den Schützengräben des Ostens. Meine Reisen haben mich an Orte geführt, deren Namen heute weltbekannt sind, weil sie für die grauenvollen Verbrechen stehen, die russische Soldaten und Söldner in der Ukraine begangen haben. Butscha, Irpin und die vielen anderen Städte rund um Kyjiw. Kramatorsk, Bachmut, Charkiw im Osten, Dörfer und Landschaften, durch die sich die Spuren der Zerstörung und Vernichtung ziehen. Es geht aber auch um positive Ereignisse, die von der Solidarität der Menschen, von ihrem Mut und ihrer Widerstandskraft zeugen. Im Krieg zeigen Menschen nicht nur ihre hässlichsten, sondern auch ihre schönsten Seiten.

Oft frage ich mich, was aus jenen geworden ist, denen ich begegnete. Mit einigen Menschen habe ich bis heute Kontakt gehalten, mit manchen habe ich mich noch einmal persönlich getroffen. Ihre Geschichten habe ich in einem Epilog fortgeschrieben.

Der Krieg in der Ukraine hat die Welt verändert. Russlands Angriff ist ein Zivilisationsbruch, den kaum jemand mitten in Europa für möglich gehalten hatte. Doch gleichzeitig ist es auch eine Erfolgsgeschichte. Ein kleines Land, das bis vor einigen Jahren noch weitgehend unbekannt und unbeachtet war, ist zu einem Symbol für den Kampf um Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit geworden. Die ukrainische Armee hat mit westlicher Unterstützung militärische Erfolge erzielt, die niemand für möglich gehalten hätte. Und ein Präsident, der als ehemaliger Comedian belächelt wurde, zählt inzwischen zu den wichtigsten Führungspersönlichkeiten der westlichen Welt. In diesem Buch schildere ich meine persönliche Begegnung mit Wolodymyr Selenskyj. Dass wir auf Russisch und ohne Dolmetscher miteinander sprechen konnten, hat diese Begegnung entscheidend geprägt. Für mich war es eines der spannendsten und intensivsten Gespräche, die ich je mit einem Staatsmann führen durfte.

»Wie neutral und objektiv sind Ihre Berichte aus der Ukraine?«, werde ich immer wieder gefragt. Mir fällt auf, dass diese Fragen niemand gestellt hat, als ich über das Unrecht in Afghanistan berichtet habe, wo die Taliban Mädchen und Frauen jeglicher Rechte berauben. Russlands Krieg gegen die Ukraine dagegen hat heftige Debatten darüber ausgelöst, wie objektiv Journalisten berichten. Dabei gibt es keine objektive Darstellung der Realität. Wir Journalist:innen sehen die Welt, wie alle Menschen, mit unserem subjektiven Blick, der geprägt ist vom eigenen Hintergrund. Das menschliche Gehirn ist darauf angelegt, unsere Wahrnehmungen einzuordnen. Aus diesem Grund müssen wir Journalist:innen immer wieder deutlich machen, wie wir zu unseren Einschätzungen kommen. Und wir müssen uns an Fakten halten. Das ist die wichtigste Waffe gegen Lügen, Propaganda und gezielte Desinformation.

Ich versuche, meine Erlebnisse einzuordnen, indem ich auf meine Erfahrungen zurückgreife: aus fast einem Jahrzehnt, das ich in Russland gearbeitet habe, aus vielen Reisen, die ich seit 2013 in die Ukraine unternommen habe, aus Erlebnissen in anderen Kriegen und Konflikten. Dieses Buch habe ich mit dem Ziel geschrieben, dass wir mit einem anderen, realistischeren Blick auf das schauen, was in der Ukraine und in Russland geschieht – und was es für uns bedeutet. Es ist ein Krieg, in dem ein autokratisches Regime seine Soldaten, Söldner und Waffen dazu einsetzt, um ein Volk brutal zu unterjochen und seine Identität zu vernichten – ganz gleich, was es kostet. Viele Tausende Menschen haben ihr Leben verloren, viele weitere werden noch folgen. In der Ukraine entscheidet sich, in welcher Welt wir leben werden. Deshalb ist es so wichtig, diesen Krieg und seine Ursachen genau zu dokumentieren und zu verstehen. Nur auf dieser Grundlage können wir künftig über unser eigenes Handeln in Deutschland, aber auch als Europäer entscheiden.

 

Berlin, April 2023

Kapitel 1Winnyzja

Erwachen und Entschlossenheit

2022: Eine Soldatin der ukrainischen Territorialverteidigung spricht mit einer Einwohnerin, die im Dorf direkt an der Frontlinie zurückgeblieben ist.

»Was, wenn wir nicht merken, dass nichts vorbei ist und sie gerade wieder dabei sind, den nächsten Krieg vorzubereiten, wenn unter der Asche noch immer Glut glimmt, in die sie jetzt hineinblasen, als müsse man sich nicht fürchten vor dem Feuer.«

Christiane Hoffmann, »Alles, was wir nicht erinnern«

»Ich kann Ihr Gepäck nicht bis Kyjiw schicken, ich kriege hier nur Warschau angezeigt.« Der Mitarbeiter am Schalter der polnischen Fluggesellschaft LOT schaut ratlos auf seinen Computerbildschirm, als handele es sich um einen Systemfehler. Es ist Mittwoch, 23. Februar 2022, ich stehe am Terminal 1 des Frankfurter Flughafens, um 19.50 Uhr soll meine Maschine nach Warschau starten, von dort soll es dann weitergehen in die ukrainische Hauptstadt, Ankunft am Flughafen Kyjiw Sikorskyj um 1.20 Uhr, so steht es auf meinem Reiseplan. Doch kurze Zeit später wird klar: Über den Luftweg ist die ukrainische Hauptstadt nicht mehr zu erreichen, seit dem frühen Abend haben alle Fluggesellschaften ihre Flüge in die Ukraine aus Sicherheitsgründen eingestellt. Auch über Lwiw in der Westukraine zu fliegen, ist nun nicht mehr möglich. Mist, denke ich mir. Damit hätte ich eigentlich rechnen können. Vier Tage zuvor hatte das Auswärtige Amt bereits alle Deutschen dringend dazu aufgefordert, die Ukraine sofort zu verlassen. Eine militärische Auseinandersetzung sei jederzeit möglich, hieß es.

Die Situation hatte sich immer weiter zugespitzt, mit jedem Tag. Im Westen hofften dennoch die meisten politischen Beobachter, dass Wladimir Putin nicht in die Ukraine einmarschieren würde. Ein Angriff auf die Hauptstadt Kyjiw – das schien undenkbar. Warum sollte der Kreml-Herrscher dieses Risiko wagen? Pokerte er nicht nur, um möglichst große Zugeständnisse vom Westen zu bekommen? Um klarzumachen, dass eine Grenze erreicht sei und niemand wagen sollte, ihn, den Präsidenten jenes Landes, das der frühere amerikanische Präsident Barack Obama einmal »Regionalmacht« nannte, zu provozieren?

Am 21. Februar 2022 aber fallen alle Masken und Mauern. Wladimir Putin zeigt sein wahres Gesicht, das viele westliche Staatsführer, allen voran deutsche Politiker:innen, lange nicht hatten sehen wollen: In einer Rede, live übertragen im russischen Staatsfernsehen, macht der russische Präsident unmissverständlich klar, dass alle Bemühungen um Verhandlungen, aber auch alle Warnungen, die der Westen in den vergangenen Wochen ausgesendet hat, für ihn bedeutungslos sind. In einer grotesk anmutenden Inszenierung bitten die beiden Separatistenführer aus dem Donbas, Leonid Pasetschnik und Denis Puschilin, den russischen Präsidenten im Kreml um Hilfe, um einen angeblichen Genozid in der Ostukraine zu beenden. Wer da wen umbringt, bleibt offen, jegliche Beweise fehlen. Aber es ist in diesem Moment unmissverständlich klar: Hier wird Geschichte geschrieben. Es ist eine Zeitenwende – eine Zeitenwende nach Machart des Wladimir Putin.

Alles, was einen brüchigen Frieden oder einen vergessenen Krieg in Schach halten sollte, ist nunmehr Geschichte. Russland verabschiedet sich von den Minsker Abkommen, die es selbst unter Vermittlung von Deutschland und Frankreich mit der Ukraine in der belarusischen Hauptstadt 2015 vereinbart hatte, damals mit dem Ziel, einen Waffenstillstand und Frieden herzustellen.

Der russische Präsident macht in dieser Fernsehansprache am 21. Februar 2022 auch klar, dass das Völkerrecht für ihn keine Geltung hat. Der Kreml erkennt nun die abtrünnigen ostukrainischen Separatistengebiete, die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, als unabhängige Staaten an. Und spricht zugleich der Ukraine ihre staatliche Souveränität ab. Putin erklärt, die moderne Ukraine sei von Russland erschaffen und nie ein eigenständiger Staat gewesen. »Die Ukraine ist nicht einfach ein Nachbarland. Sie ist integraler Bestandteil unserer Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Kontinuums.« Wie die Separatistenführer wirft auch er der ukrainischen Regierung vor, einen »Genozid« an der russischsprachigen Bevölkerung zu begehen. Und damit nicht genug: Am nächsten Tag lässt Putin sich vom russischen Parlament autorisieren, die Armee auch außerhalb Russlands einzusetzen.

Die Überraschung, das Entsetzen im Westen sind groß. Dabei ist es längst nicht das erste Mal, dass Wladimir Putin die staatliche Souveränität des Nachbarlandes in Frage stellt. Seine Überzeugung, die Ukraine sei ein Teil Russlands, ist fester Bestandteil seiner Vision eines »russkij mir«, einer russischen Welt, deren Machtzentrum Moskau ist, in der Ukrainer und Russen eine Einheit bilden, ein Volk sind. Es hatte viele Anzeichen für dieses geradezu faschistoide Denken eines Staatsführers gegeben, der in Formen der staatlichen Expansion denkt, die Europa überwunden zu haben glaubte. Nur die amerikanischen Geheimdienste schienen verstanden zu haben, worauf das hinauslief, und scheuten sich nicht, es zu kommunizieren. Die US-Regierung hatte Wochen vorher gewarnt und noch am 11. Februar erklärt, militärisch habe Russland alle Vorbereitungen für einen Angriff auf die Ukraine getroffen. Eine Woche später, am 18. Februar, ging der amerikanische Präsident Joe Biden noch einen Schritt weiter und erklärte: »Wir glauben, dass sie auf die ukrainische Hauptstadt Kyjiw zielen. Eine Stadt mit 2,8 Millionen unschuldigen Menschen.«

An diesem 18. Februar 2022 war ich in Kabul, um über die Konsequenzen des Truppenabzugs zu berichten, mit dem die USA und ihre Verbündeten im Sommer 2021 den Weg frei gemacht hatten für eine Rückkehr der radikalislamischen Taliban an die Macht. Mit der bislang wohl gravierendsten außenpolitischen Fehlentscheidung seiner Amtszeit hatte der amerikanische Präsident Joe Biden Amerikas Anspruch, die Führungsmacht der westlichen Welt zu sein, enorm geschwächt. Die Bilder von verzweifelten Afghanen, die sich im August 2021 an eine abhebende Maschine der US-Airforce klammerten, gingen um die Welt und sind zum Symbol für ein tragisches historisches Versagen der westlichen Staatengemeinschaft geworden. Viele Afghanen, die ihre Hoffnungen auf Demokratie und Freiheit gesetzt hatten, sahen alle Pläne und Träume wie Luftblasen zerplatzen. Die Menschen am Hindukusch – vor allem die Frauen – zahlen nun einen bitteren Preis für eine fehlgeschlagene Politik des Westens in ihrem Land.

So wie sich nur wenige hatten vorstellen können, dass Putin seine Armee auf Kyjiw losschicken würde, hatten sich viele Menschen in Afghanistan nicht vorstellen können, dass die Alliierten quasi über Nacht das Land den Taliban ausliefern würden. Mit dem Ziel, diese Geschichte zu erzählen, aufzuzeigen, warum die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan gescheitert waren, war ich mit meinem Team Anfang Februar 2022 nach Kabul gereist. Und dann erhielt ich am 21. Februar den Auftrag, umgehend in die Ukraine zu reisen – um über einen möglichen Krieg zu berichten.

Auch ich war mir bis wenige Wochen zuvor ziemlich sicher gewesen, dass Putin einen Krieg gewinnen wollte, ohne ihn wirklich zu führen. Auch nach der Unterzeichnung der Minsker Abkommen 2015 hatte er die Separatisten immer wieder so weit gestärkt, dass es nie wirklich Frieden gab. Wie bei einem Bunsenbrenner hatte der Kreml seit dem Frühjahr 2014 den Konflikt in der Ostukraine nach Belieben rauf- und runtergedreht. Jetzt, so schien es mir, würde er eben weiter aufdrehen, als er das zuvor getan hatte – indem er nun die Grenzen im Osten des Landes verschieben würde.

Bereits im Frühjahr 2021 hatte Russland seine Truppen an der Grenze zur Ukraine massiv verstärkt, zeitweise auf bis zu 100000 Soldaten. Im April 2021 war ich selbst mit ukrainischen Militärs in Awdijiwka unterwegs gewesen, einem Stützpunkt nahe Donezk, im Osten der Ukraine. Die Soldaten, die ich damals in ihren Schützengräben direkt an der sogenannten Kontaktlinie interviewt hatte, zeigten sich entspannter, als wir es in Deutschland angenommen hatten. Ja, es werde immer mal wieder geschossen, seit acht Jahren herrsche eben Krieg im Osten des Landes, hatte mir ein Offizier erklärt. Aber für eine Eskalation hatte er keine Anzeichen gesehen.

Russlands Truppenaufzug, so schien es mir zu diesem Zeitpunkt, war der Aufbau einer Drohkulisse, die sich auch an den Westen richtete. Das Ziel: die Ukraine weiter zu destabilisieren und klarzumachen, dass niemand im Westen auf die Idee kommen sollte, die Ukraine könne Mitglied der Europäischen Union oder gar der NATO werden. Für ihn, so hatte der russische Präsident immer wieder unmissverständlich klargemacht, würde damit eine rote Linie überschritten.

Aber einen flächendeckenden Krieg zu führen, so weit würde Russland nicht gehen. Das Risiko, einerseits den erbitterten Widerstand der Ukrainer:innen zu provozieren, die die russischen Truppen letztendlich in einen langwierigen und grausamen Häuserkampf verwickeln würden, und andererseits wichtige wirtschaftliche Beziehungen zu Europa zu zerstören, würde Wladimir Putin nicht eingehen – darüber waren sich die meisten Expert:innen, auch diejenigen, die das Land kennen, einig. Doch wir alle sollten nicht recht behalten.

Und deswegen bin ich nun, am 23. Februar 2022, auf dem Weg in die Ukraine. Mein Ziel ist, so schnell wie möglich nach Kyjiw zu gelangen. Als ich am Schalter im Frankfurter Flughafen stehe, erreiche ich zum Glück noch meine Kollegin Susanne Landeck in der Produktion in Mainz. Obwohl es schon spät am Abend ist, setzt sie sich noch einmal an den Schreibtisch und findet kurze Zeit später eine Lösung. Wir beschließen, dass ich noch am selben Abend um 22.15 Uhr nach Krakau fliege, dort soll mich ein polnischer Fahrer um Mitternacht am Flughafen abholen und zur ukrainischen Grenze bringen. Ein Mitarbeiter der Sicherheitsfirma, die unsere ZDF-Teams bei gefährlichen Einsätzen immer begleitet, wird dort auf mich warten, wir werden mit dem Auto nach Kyjiw fahren und dort in den frühen Morgenstunden ankommen. Etwas mühsam, aber ein guter Plan. Wie schnell ich auf meinem Weg vom Lauf der Ereignisse eingeholt werden sollte, ahne ich noch nicht, als ich wenig später mein Gepäck erneut auf das Band am Schalter der LOT lege.

Seit fast 30 Jahren begleitet mich die Ukraine in meinem Journalistenleben. Als ich 1993 mit meinem Mann Jörg den Entschluss fasste, gemeinsam als Reporter nach Moskau zu gehen, um von dort über die spannenden Umbrüche in der ehemaligen Sowjetunion zu berichten, stand für uns zunächst Russland im Vordergrund. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren insgesamt 15 neue Staaten entstanden, wobei die drei baltischen Staaten schnell aus dieser Gruppe ausbrachen. Die Komplexität dieser Gemeinschaft unabhängiger Staaten, wie sie sich damals nannte, erschloss sich erst allmählich, wobei die Ukraine kaum im Fokus stand. Wir bereisten Aserbaidschan, Armenien, Kirgisistan und den Kaukasus. Die Ukraine hingegen stand im Schatten Russlands. Es gab in diesen Jahren selten Anlässe, nach Kyjiw oder Lwiw zu reisen. Das änderte sich mit dem Streit, den Russland und die Ukraine um ein wichtiges militärisches Erbe der Sowjetunion führten: die Schwarzmeerflotte. Über Jahre währte der Konflikt um die Marineeinheiten, deren Heimathafen in Sewastopol auf der Halbinsel Krym liegt. Er endete mit einem Freundschaftsabkommen, das der russische Präsident Boris Jelzin und sein ukrainischer Amtskollege Leonid Kutschma am 31. Mai 1997 in Kyjiw unterzeichneten: Zuvor hatte die ukrainische Regierung Russland zugesichert, die Militäranlagen in Sewastopol für die nächsten 20 Jahre pachten zu können. Das Abkommen sollte sich viele Jahre später als verhängnisvoll für die Ukraine erweisen.

Alles änderte sich am 21. November 2013. In Kyjiw postete der Journalist Mustafa Najem, Kind afghanischer Flüchtlinge in der Ukraine, auf Facebook: »Also lasst es uns heute auf die ernste Art versuchen. Wer hier ist bereit, heute bis Mitternacht auf den Majdan zu kommen?« Zunächst waren es nur 500 Menschen, die sich auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt der Ukraine versammelten, um gegen die Entscheidung der Regierung von Mykola Asarow zu demonstrieren. An diesem Tag wurde das lange verhandelte Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union gestoppt. Präsident Wiktor Janukowytsch, der jahrelang selbst die Weichen für eine Annäherung seines Landes an Europa gestellt hatte, unterzeichnete das Assoziierungsabkommen nicht, womit er sich offensichtlich dem Druck des Kreml fügte.

Es sollte eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte des modernen Europa werden, und sie festigte den Zusammenhalt im Land gegen den übermächtigen russischen Nachbarn in einer Art und Weise, die die Vorstellungskraft Putins und seiner Kreml-Elite übersteigen sollte.

Schon einmal, im November 2004, hatten sich Ukrainer:innen zu Massenprotesten in Kyjiw versammelt, um gegen Wahlfälschungen während der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zu demonstrieren. Und auch damals schon stand Russlands treuer Verbündeter Wiktor Janukowytsch im Mittelpunkt der Ereignisse. Während des Wahlkampfes wurde auf seinen wichtigsten Herausforderer, den Oppositionspolitiker Wiktor Juschtschenko, ein Giftanschlag mit Dioxin verübt, den er nur knapp überlebte, sein Gesicht war danach entstellt. Die Hintergründe wurden nie aufgeklärt, doch einige Spuren wiesen nach Russland. Juschtschenko setzte den Wahlkampf mit seiner Partei »Unsere Ukraine« dennoch nach einer Unterbrechung fort und trat schließlich in einer Stichwahl gegen Janukowytsch an. Aus der Stichwahl ging Wiktor Janukowytsch knapp als Sieger hervor. Doch sowohl die Anhänger Juschtschenkos als auch die OSZE-Beobachter sprachen von Wahlbetrug.

Am 22. November 2004 versammelten sich die ersten Demonstrierenden mit Tüchern und Flaggen in Orange, der Farbe des Juschtschenko-Lagers, auf dem Majdan in Kyjiw. Einen Tag später bereits wurden daraus landesweite Proteste. Die Orangene Revolution zog weltweit Aufmerksamkeit auf sich – friedliche Proteste, die erreichten, dass die Stichwahl wiederholt wurde. Am 26. Dezember 2004 wurde Wiktor Juschtschenko zum Präsidenten der Ukraine gewählt.

Wie in Georgien, wo die Rosenrevolution ein Jahr zuvor ebenfalls zu Neuwahlen geführt hatte, wurde auch die Orangene Revolution zum Symbol für ein neues Selbstbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger, sie war ein Aufstand gegen die alten Eliten. Ein Aufstand, der in Moskau mit großem Missfallen beobachtet und kritisiert wurde.

Neun Jahre später folgte der »Euromajdan«, wie die Ukrainer:innen heute sagen, wenn sie sich auf die Monate von November 2013 bis ins Frühjahr 2014 beziehen. Die Protestbewegung sollte die Ukraine von Grund auf verändern – und die Basis für die Widerstandsbewegung gegen Russlands Einfluss bilden. Menschen aus dem ganzen Land kamen in diesen Monaten nach Kyjiw und schlugen im Herzen der Hauptstadt ihre Zelte auf.

Im Januar 2014 reise ich das erste Mal wieder nach Kyjiw, um für das ZDF zu berichten. Mit Alexander Alfes, der mich als Kameramann begleitet, verbringe ich Tage zwischen den Barrikaden, die die Protestierenden überall in der Innenstadt errichtet haben. Im Herzen der Hauptstadt ist eine eigene kleine Stadt entstanden, die sich weit über den Majdan und den Chreschtschatyk bis zum Europaplatz erstreckt, über die Instytuzkastraße zum Hotel Ukraina, das inzwischen zu einem Medienzentrum geworden ist, wo Journalist:innen aus aller Welt zusammenkommen. Auch wir haben Zimmer in dem stalinistischen Prachtbau gemietet und unseren Schnitt dort aufgebaut.

Es sind schwierige Dreharbeiten, denn es ist so kalt, dass die Kamera immer wieder ausfällt. Wir können uns nicht zu lange auf der Straße aufhalten, kehren immer wieder ins Hotel zurück, um uns aufzuwärmen. Auch die Demonstrierenden frieren, deshalb haben sie zwischen Barrikaden aus Sandsäcken und alten Autoreifen beheizte Zelte aufgestellt und Tonnen, in denen Feuer brennen, an denen man sich aufwärmen kann. Es gibt überall Suppenküchen, die kostenlos eine warme Mahlzeit ausgeben, Krankenstationen, Technikzentren und sogar eine offene Universität. Hotelbesitzer haben ihre Lobbys bereitgestellt, wo sich Menschen aufhalten und arbeiten können, sogar McDonalds hat seine Filiale zur Verfügung gestellt, in der nun eine psychologische Notbetreuung eingerichtet wurde.

Ich habe viele Aufstände und Bürgerproteste auf vielen Plätzen der Welt miterlebt: den arabischen Frühling 2011 auf dem Tahrir in Kairo, die Demonstrationen gegen Putin auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, die Gezi-Park-Proteste 2013 auf dem Istanbuler Taksim, die Aktivistencamps auf dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv 2011. Doch keiner dieser Proteste war so gut und solidarisch organisiert wie der auf dem Kyjiwer Majdan. Wer etwas braucht, bekommt es – zahlen muss man nicht, wer Hilfe benötigt, findet jemanden, der organisiert, vermittelt, gibt. Es sind vor allem Bürger:innen aus Kyjiw und viele, die aus dem Westen der Ukraine angereist sind, die den Majdan prägen. Aber auch Bergarbeiter:innen aus Donezk, Student:innen aus Odesa und Lehrer:innen aus Chmelnyzkyj sind in die Hauptstadt gekommen. Es ist ein buntes Sammelsurium von ganz unterschiedlichen Gruppen.

Die große Mehrheit der Aktivist:innen möchte Gerechtigkeit und Würde, europäische Werte wie Rechtssicherheit, Pressefreiheit und Wohlstand. Die alten politischen Eliten, die die Ressourcen des Landes bislang unter sich aufgeteilt haben, sollen entmachtet werden. Dafür treten sie friedlich ein.

Aber es mischen sich auch nationalistische Aktivist:innen vom »Rechten Sektor« unter die Demonstrierenden, treten mit Baseballschlägern auf. Es sind Gruppen, die dem Ansehen der Bewegung schnell schaden werden. Die Gewalt geht maßgeblich von der Regierung aus, die sich jedoch nicht zu erkennen gibt: Janukowytsch lässt nachweislich maskierte Schlägertruppen, sogenannte Tituschky, als Provokateure durch Kyjiw ziehen, sie sollen Angst und Chaos stiften, immer wieder werden Aktivist:innen entführt und verprügelt.

Dann, am 20. Februar 2014, kommt es zu einem traumatischen Ereignis: Plötzlich fallen unbewaffnete Demonstrierende auf dem Majdan und der dahinter liegenden Instytuzkastraße zu Boden. Sie werden mit gezielten Schüssen in den Kopf oder ins Herz, den Hals und die Brust getötet. Bis heute ist nicht aufgeklärt, wer die Scharfschützen waren, die auf die Menschen gezielt und so über 100 Aktivist:innen und 18 Polizisten hingerichtet haben. Die plausibelste Version ist, dass militärisch ausgebildete Auftragskiller am Morgen eingeflogen und sofort wieder ausgeflogen wurden. Ihr Ziel: maximale Angst und Verunsicherung zu schaffen, die Menschen zu terrorisieren und somit den Protest zu schwächen.

Trotz der eskalierenden Gewalt in Kyjiw versucht Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit seinen polnischen und französischen Amtskollegen noch am 21. Februar 2014 zu vermitteln. Sie treffen sich mit Präsident Wiktor Janukowytsch, und der erklärt sich zunächst zu Kompromissen mit der Protestbewegung bereit. Doch kaum haben Steinmeier und seine Kollegen die Ukraine verlassen, flieht Janukowytsch außer Landes.

Für Wladimir Putin, der selbst seit 2011 die Protestbewegung im eigenen Land brutal niedergeschlagen hat, sind die Ereignisse im Nachbarland eine Entwicklung, die er fürchten muss. Russland droht ohne seinen langjährigen und engsten Verbündeten Wiktor Janukowytsch nicht nur den Einfluss auf die Ukraine zu verlieren. Von den Protesten könnten auch Impulse an die russische Bevölkerung ausgehen. Eine demokratische und liberale, möglicherweise sogar erfolgreiche Ukraine – nichts muss der russische Präsident mehr fürchten als eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie im Baltikum oder in Polen. Zu eng sind die Verbindungen zwischen der russischen und der ukrainischen Bevölkerung, zu stark die Vernetzung, als dass er tatenlos zusehen könnte, wie sich die Ukraine auf den Weg zu mehr Demokratie und Freiheit macht.

Fortan läuft die russische Propagandamaschine auf Hochtouren. Eine »Machtübernahme von Faschisten« – so bezeichnet der Kreml-Herrscher das, was in der Ukraine passiert. Das Narrativ vom Faschismus ist auf der Seite der Separatisten in der Ostukraine in aller Munde. Die Logik ist einfach: Wer sich gegen das Land stellt, das Hitler-Deutschland besiegt hat, muss ein Faschist sein. Das gilt auch für Journalist:innen, die den Kreml zu kritisieren wagen. Mich persönlich trifft es auch: Wer in der Google-Suche meinen Namen eingibt, findet mich als »Nazi-Braut« oder »einschlägig bekannte Berufslügnerin«.

Da Russland mit Wiktor Janukowytsch seinen wichtigsten Verbündeten in Kyjiw verloren hat, setzt Wladimir Putin fortan darauf, das Land zu destabilisieren. Was anfangs wie ein Putschversuch einiger Radikaler in Donezk beginnt, wird schnell zu einer kriegerischen Auseinandersetzung. Der Kreml tut alles, um den Anschein zu erwecken, er habe nichts damit zu tun. Es soll aussehen wie ein Bürgerkrieg. Tatsächlich aber ist es der Beginn des Krieges gegen die Ukraine – denn immer wieder, auch bei meinen eigenen Recherchen, finden sich Beweise dafür, dass die russische Armee involviert ist.

So beginnt Russland, im Osten der Ukraine seine Macht zu etablieren. Erst fällt die Administration in Donezk, dann in Luhansk. Es ist immer das gleiche Schema: Polizeistationen, Militärkomplexe, die Rundfunkstation und dann das Administrationsgebäude werden in den traditionell russlandnahen Industrieregionen des Donbas übernommen. Russland gelingt der Aufbau einer Separatistenbewegung mit dem Ziel, die Ukraine zu spalten. An ihrer Spitze steht Denis Puschilin, Putins wichtigster Verbündeter in Donezk – jener Mann, der acht Jahre später in der Kreml-Inszenierung Wladimir Putin um Hilfe bitten sollte.

Ich habe zu dieser Zeit immer wieder über die Ereignisse im Osten der Ukraine berichtet. Wochenlang war ich im Frühjahr 2014 mit meinem Team in Donezk. In diesen Tagen begann ich, meine Erlebnisse in der Ostukraine in einem Tagebuch festzuhalten.

Donezk, 11. März 2014

 

Kommt nach der Krym jetzt die Ostukraine? Die Regierung in Kyjiw ist besorgt, der Gouverneur in Donezk tut alles, um die Lage zu beruhigen, um Russland keinen Vorwand für ein Eingreifen zu liefern. Im Osten wird jetzt die Zukunft der Ukraine entschieden.

Es sind ein paar hundert Aktivisten, die sich immer wieder zusammenfinden, um am Lenin-Platz in Donezk zu protestieren. Es ist nicht einfach, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Für sie sind wir, das deutsche Fernsehen, Feinde. Misstrauisch reagieren die meisten, aggressiv eine kleine Minderheit. Mir scheint, Putins Propaganda zeigt erste Früchte. Sie beschimpfen die Regierung in Kyjiw als Terroristen und Banditen, die Stimmung ist so aufgeheizt, dass wir uns kaum mit der Kamera dazwischen trauen. »Eure Merkel unterstützt die Terroristen, ihr bewaffnet sie doch, und eure Medien machen Propaganda für den Majdan«, schreit eine rundliche Frau mit kurzen, struppigen schwarzen Haaren, sie ist ganz außer sich. Ein anderer macht sich lustig über die Demonstranten. »Ihr könnt nichts alleine, da müsst ihr wieder den großen Bruder in Moskau rufen: ›Hilf uns, bitte rette uns.‹« Sofort stellt sich eine Gruppe Polizisten vor den Mann, um ihn vor möglichen Schlägen und Angriffen zu schützen. Nur eine Handvoll Anhänger Kyjiws haben sich auf den Platz getraut. Immer wieder gibt es wütende Debatten, Ukrainer stehen gegen Ukrainer und dazwischen die Polizei, die versucht, Gewalt zu verhindern. Dass diese gezielt von russischen Provokateuren angeheizt wird, daran habe ich keine Zweifel. »Ich bin gegen Europa, für Russland, da bin ich geboren, da gehören wir hin«, höre ich noch.

»Katrin?« Der junge Mann, der am Ausgang des Flughafens nach der Landung in Krakau um 1 Uhr früh am 24. Februar 2022 auf mich wartet, hat ein Schild mit der Aufschrift ZDF in der Hand, aber er hat mich eher erkannt als ich ihn. Zum Glück spricht Mateusz Englisch, und der Wagen, in den er wenig später mein Gepäck lädt, ist so komfortabel, dass ich auf der Rücksitzbank sofort einschlafe. Zwei Stunden später weckt mich Mateusz. Vor uns steht eine lange Schlange von Lastern. Eigentlich soll ich hier abgeholt werden. Doch da ist niemand, der britische Sicherheitsmann, mit dem ich mich hier treffen wollte, hat es nicht auf die polnische Seite geschafft. »Ich kann mit meinem Auto nicht in die Ukraine fahren«, sagt mir Mateusz. Ich werde also zu Fuß gehen müssen. Doch wo ist der Übergang? Wir suchen eine ganze Weile, bis irgendwann vor uns in der Dunkelheit ein Weg auftaucht, umgeben von hohen Stahlzäunen und Stacheldraht. Das sei wohl der Weg, sagt mir Mateusz. Es ist inzwischen 3 Uhr morgens, und niemand ist auf der Straße, den ich fragen könnte. Also bleibt nichts anderes, als einfach loszugehen.

In diesem Moment bedauere ich, dass ich nicht am Vortag mit unserem Kameramann Michael Pohl gemeinsam von Frankfurt nach Kyjiw fliegen konnte. Es kommt selten vor, dass ich ganz alleine reise. Kurz muss ich überlegen, wie ich die vielen Gepäckstücke, die ich dabeihabe, am geschicktesten trage. Den schweren Rucksack mit der schusssicheren Weste und Helm auf dem Rücken, einen weiteren Rucksack über der rechten Schulter; der kleine und der große Koffer lassen sich zum Glück rollen, aber auch das wird schwierig auf dem Weg, der überwiegend mit Kopfsteinpflaster belegt ist. Nach ein paar hundert Metern erreiche ich endlich die Grenze, die wie ausgestorben daliegt. Doch dann taucht ein kleines Häuschen auf, hinter der Glasscheibe sitzt eine junge Frau. Die ukrainische Grenzbeamtin nimmt keine Notiz von meinem Gepäck, möchte aber den Nachweis einer Krankenversicherung sehen, den ich brauche, um ins Land einzureisen. Ich wusste davon, lege alles vor.

Und dann habe ich es endlich geschafft, am Ausgang warten Oleg und Oleksandr auf mich, der britische Sicherheitsmann, unverkennbar ein gebürtiger Russe, und der ukrainische Fahrer. Als sei es der Überraschungen nicht genug für eine Nacht, erfahre ich, dass Oleg mich nicht nach Kyjiw begleiten wird, ich muss die Strecke mit Oleksandr, dem Fahrer, alleine zurücklegen. Er stammt, wie sich kurz darauf herausstellt, aus der Ostukraine und kennt sich leider im Westen des Landes nicht aus.

Zwei Stunden später klingelt mein Handy, es ist Iryna, eine ukrainische Kollegin, mit der ich mich für den Abend