Quasare tanzen wie Fliegende Fische - Paul Gisi - E-Book

Quasare tanzen wie Fliegende Fische E-Book

Paul Gisi

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Beschreibung

Paul Gisis Briefe an Ludwig, zu nächtiger Stunde spontan in sein Tablet getippt, gehören zum Besten was er mit seinem philosophischen Scharfsinn und seinem stupenden Wortschatz geschaffen hat. Obwohl in diesem Briefwechsel praktisch alle Briefe von Paul zu Ludwig gereist sind, offenbaren sie sehr viel vom Charakter des Empfängers sowie von einer Freundesbeziehung die das reine Menschliche zu hoher Blüte stilisiert hat.

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1.11.2006

In eigener Sache

Ha, ich denke mir, dass all die verschiedenen Welten, die, wenn auch vernetzt, sich kaum berühren ... Alle Welten sind unendlich verschieden, gut so. Ich höre jetzt Donizettis Oper “Lucrezia Borgia”, trinke Wein aus der Provence und dazu einen uralten Himbeergeist (gereift in einem Maulbeerbaumfass) – ich erlebte in den letzten Wochen Intensitäten wie in Jahrtausenden! Manchmal denke ich an die Sternbilder Grosser Bär, Kleine Waage, Kopf des Drachen, Cassiopeia, Schwanzstern Denebola, Vorderleib der Wasserschlange, Himmelsjäger Orion, Schultersterne Beteigeuze und Bellatrix, Aldebaran, Pegasus – und viele andere –, es ist so gelustig feldschön (= in der Ferne schön) ... Das Schlusskapitel meiner (unpublizierten) Liebesgedichte “Das nächtliche Singen der Bilder” wird vermutlich “Auf deinen Fingerbeeren tanzt das Weltall” heissen, – ob`s gelingen wird? Erlebnismässig und wortbildformal suche ich für “Das nächtliche Singen der Bilder”, mein Opus 80, die Schlussakorde, potzdonnerschtärnechaibnochmals, ja? Und ich tauche von den herrlich monströsen Romanen von Patrick White immer wieder in die anderen mir geliebten Tiefen der Vorsokratiker, in die platonischen Dialogklötze, in die Mythologien Homers und Hesiods, in die Orphik und die Kosmogonien Thrakiens und Dionysos, in die Gedankenwelten der Milesier und Pythagoreer, zu Heraklit und den Eleaten, zu Anaxagoras und Sokrates, ach, das ist ein Lebenslust(denk)fest der unvergleichlichen Art – da kommen die heutigen dümmlichen Medien und asthmatischen Kommunikations-Codes civil kein bisschen heran. “Da richtete ich mein Sinnen darauf, Weisheit und Wissen, Torheit und Unverstand zu durchschauen. Da erkannte ich, dass auch dies nur ein HASCHEN NACH WIND ist”, lese ich bei Kohelet, dem Hymniker der Nichtigkeit, geschrieben in einem Rabennest, in einem Krähenwinkel der Weltgeschichte vor zweieinhalbtausend Jahren ...! Und atme befreiend auf! Das ist individuelles (existenzielles) Denken, wovon in unserer idiotischen massenwahnmodischen Vergnügungsgesellschaft nichts zu finden ist, ha. Meine “Nachtwucherungen” wurden inzwischen in ein paar Zeitungen und Zeitschriften (und im Internet) angezeigt (Auflage dieser Printmedien über hundertachtzigtausend Exemplare, doch es kam keine einzige Buchbestellung, plaudite amici, finita est comedia ((wie Beethoven auf seinem Sterbebett gesagt haben sollte, uff)). Da lache ich mir den Buckel voll. Denn zu Ende ist noch nichts ...! Nach etwa dreissig begeisterten Briefen zu meinen “Nachtwucherung” ist jetzt auch ein vielseitiger Brief eines geckenhaften Literaten bei mir eingetröpfelt, der mir Infantilismus usw. vorwirft; parbleu, wie ulkig! Auch dass ich die Gesellschaft torpediere, obwohl ich von ihr profitiere usw.: Na, diese Diskusssion habe ich eigentlich bereits als Zwanzigjähriger erledigt, da muss ich nur noch hohnlachen. Da richtete ich mein Sinnen darauf, Weisheit und Wissen, Torheit und Unverstand zu durchschauen.? Merde! Da fühle ich mich bescheiden, doch selbstsicher als Ochsenfrosch, basta. “Vernunft” ist nun beileibe nichts, was mich verunsichert ..., da ich sowieso nicht gut von ihr denke. Und ich “lebe” derart intensiv in verschiedenen Zeitaltern und Völkern, dass mich diese spätkapitalistische (dekadente, “elektronische”) Epoche nicht viel zu sagen befähigt ist, voilà. Mystiker aller Couleurs und Zeitalter sind weit wichtiger als all diese Zeittheoretiker und angeblichen Experten, die einen jämmerlichen Stuss von sich lassen.

In “Haschen nach Wind oder Die Lust zu leben in den Verdunkelungen des nahenden Endes”, dem “Fortsetzungsband” meiner “Nachtwucherungen”, will ich polyperspektivisch (fern jeder Gnostik), diskursiv, hymnisch, axiomfreudig, universalistisch (hm), kosmogonisch, solipsistisch, geil wuchernd, pantheistisch (Xenophanes-nah), syllogistisch, gisisch, sensualistisch, poseidoniosisch – kikerikii! – subversiv, anklagend, aber auch heiter versöhnlich (usw. usw.) ((fluchend und segnend)) – in den acht Armen der indischen Göttin Shiva tanzend – meine Kettenreaktionen finden, meine Atormkerne spalten, in den Radarverbindungen von Erde und Mond mich verlieren, in der Ekliptik der Sonne mich wärmen, in astrophysikalischen Formeln lachen, mit Schäfchenwolken träumen, im Nimbostratus (einer Regenwolke) mich verausgaben, im Südostpassat singen, im Tuffwall mich verstecken, an einer Felsschulter mich ausruhen, in einer Flussaue von Gott psalmodieren, als Chinarindenbaum und als Bachstelze zur Artenvielfalt beitragen, als philosophische Weinbergschnecke meine Gedanken vortragen, als Seeigel meine Elegien schreiben, als Pagode lächeln, als Triforium (Laufgang in einer gotischen Kirche) mich verwinkeln, als Krummhorn die Umwelt entzücken, als Dreiachteltakt hüpfen, ach, die Welt ist unermesslich vielfältig .... In all meiner Verzweiflung kann ich es bestens, die Welt zu lieben, so, wie sie ist. Ich betrachte die Geisselkammer eines Süsswasserschwamms, die Mandalasymbolik, die Ganglien der Lust – und kann nicht anders, als zur Doxologie der Welt, des Seins vorzustosen (so ist das bei mir halt). Mit zunehmendem Alter werde ich wacher und wacher; es krabbelt und kribbelt in mir vor Leben! Ich möchte noch von so vielem singen, dass ich mindestens zehn Leben bräuchte. Henu. Akzelerieren kann man im schöpferischen Prozess nichts, es ist alles Retardation, das heisst einfach Wachstum (was eine Unmenge Zeit braucht). Bon, ja? Als junger Mensch fieberte ich wie heute intensiv mit Jean-Paul Sartre (dem Jahrtausendphilosophen!, so denke ich), der den Nobelpreis ablehnte, von einer Gesellschaft eben, die er verachtete (usw.). – Er ist der Einzige, der diesen Preis ablehnte, was mich heute noch wüst verzückt! Ich schreibe weiterhin meine Gisiaden, total unbekümmert, ob sie gelesen werden oder nicht, berührt mich kaum. (Ich schreibe bald nur noch für meinen Nachlass, als ob`s das gäbe.) Meine Liebesgedichte will ich in kleinster Auflage publizieren, dann - Valet Publikationen! Wer unter das Reflexionsniveau der Zeit geht, hat als Künstler keine Berechtigung, der ist doch bloss eine rosarote Sahnetorte, eine Vogelscheuche, ein Popanz der lächerlichen (machtgeilen) Respektabilität. Und was gäbe es tonangebend anderes? Ich werde mich auch in Zukunft kein bisschen mit diesen aufgeblasenen Nullen befassen, weil ich singen werde vom offnen kosmischen Leben in seiner Vergänglichkeit, von der Natur des Menschen, die etwas Herrliches, etwas grenzenloses Weites ist. Und im Grunde genommen etwas völlig Geheimnisvolles, Unbekanntes.

Naja, was soll’s! Ich habe ein Manuskript, etwas über neunhundert Seiten lang, einen BRIEF an Ives, meinen Sohn, der einundzwanzigjährig ertrunken ist; und dann noch eine über fünfhundert Seiten interpunktionslose Raserei, in der ich einfach von allem ekstatisch lalle, was mir so einfiel ... Es vergnügt mich zu sehen, dass es Derartiges noch niemals gab, dass das völlig verrückt ist, voilà, bon. (Es wird wohl kaum mehr publikationsfähig, lesbar sein, henu.)

Ansonsten, naja, ich erlebe wohl in meinem Altern so etwas wie “einen Frühling”, da ich halsüberkopf liebe – doch das wäre ein anderes (biografisches) Kapitel, uff. Gewiss ist, meine “Bindung” an die “Normalität” unserer Zeit ist nicht mehr sehr fest (war es überhaupt noch niemals). Gegenpositionen stören mich in der Regel nicht die Bohne. Doch es gibt Ausnahmen, die mich wild machen, so zum Beispiel das Notat (in einem Brief an mich): “Sie verrennen sich in psychische Abnormitäten”, (... usw.). Aber achach, das ist nun wirklich aus der dümmsten Bierstammtischecke (und dies von einem Lektor eines grossen Verlags)! Wer vermöchte so locker zu sagen, was eine psychische Abnormität ist? Ich las in den letzten Jahrzehnten viele Dutzende (ich übertreibe nicht) psychoanalytische Werke der verschiedensten Couleurs, doch nirgendwo entdeckte ich eine solche perspektivisch verkürzte eindeutige Aussage. Weiter wird in diesem Brief fortgefahren: “... Abnormitäten wie in 'Nachtwucherungen', die niemand etwas angehen.” (usw.). Uff - wirklich? (Psychische) NORMEN ändern sich in den Zeiten und von Gesellschaft zu Gesellschaft, und ob diese auch “gut” seien, steht auf einem andern Blatt geschrieben. Wenn in einer Gruppe von zehn Menschen neun “spinnen”, so spinnt der Zehnte, der nicht spinnt ... Usw. Normen sind immer Massen(wahn)phänomene – und vielfach des Unguten, krr. So genannte Normen und Abnormitäten sind Variablen, die selten viel mit dem moralischen Denken (und der Ethik, der Philosophie etc.) zu tun haben, eher eben und mehr mit kurzgeschlossenen “Mehrheitsabmachungen” der Macht, mit modischen Verkümmerungen usw. Für alles gibt es unendlich viele Gegenargumente. Ich bilde mir nicht ein, dass meine Kapazität zu denken sehr gross ist, ich nehme einfach (für mich) Bezug, voilà. Doch in meinem kleinen Netz von Überlegungen komme ich zum Schluss: dass all diese vielen gesellschaftlichen Beziehungen ein Stuss sind, eine Lächerlichkeit grandiosen Ausmasses – und zutiefst verlogen. Dass man eine Gesellschaft, in der man lebt, auch akzeptieren müsse? Und dass ich ein Doppelleben spiele, lebe, nee: Ich lebe mein Leben in vieltausendfachen Brechungen, Vervielfachungen, Einschränkungen, Ergänzungen etc., da ist mir “das Doppelte” zu mager, zu blöd, zu infantil, zu einfach usw. Warum sollte ich mich an “Normen” ausrichten, die beim nähern Zusehen hin bloss ein Laufgitter, ein Kerkergitter sind? Die bloss Einbildungen, Täuschungen sind? Normatives Denken ist für mich immer etwas Infantiles, Blödsinniges, nicht dem Menschsein Gemässes. Dass wer A sagt, auch B sagen muss: das ist hirnrissig, überhaupt nicht logisch haltbar. Die “gängigen” Denkweisen sind nichts anderes als Spreu, als Vertrottelungen, eine Perfidie der Macht, um die Mehrheit ohnmächtig zu halten. Die Schamhaarfilzlaus kümmert sich nicht um die “Gesetze” einer Religion, einer Sekte, sie lebt. Was die Gesellschaft, die Norm, über mich sagt, kann zum Teufel gehen, das zählt nicht. Dass ich dionysisch-bacchantisch (noch) hemmungsloser als früher geworden bin, ich weiss es. Vraiment.

Der Kosmos ist tödlich gross und kalt – und unmenschlich. Wir sind vergänglich. Sterblich. Wie liebe ich das! – Nun, es gibt womöglich gegen vierzigtausend vielseitige Briefe von mir: Makulatur! Es wird davon kaum etwas überleben, sapperlotnochmals, macht mir nichts aus. Ich weiss nicht, was ich sagen möchte, vielleicht: Ich bin (wie Rimbaud) viele; und das gängige Literatengeschäft unserer Zeit ist mir nur ein Hohn. Ich liebe Zebraspinnen, Wimpertiere, Kelchwürmer, Mandalasymbole, die entfesselten Gegensätze im Chaos (prima materia), Juan Carlos Onetti, die Hagia Sophia, Jupitersatelliten, meine alten verteerten molchfarbenen Pfeifen, Belcantoopern, mein Kätzchen Maunzli, Schotterterrassen, Tuffwälle, Erdspalten (wie lasziv!), Endmoränen, Runkelrüben, Trockendocks, Jazzinstrumente, Lucrezia Borgia und Anna Bolena, Chagall und Strindberg, Tonnengewölbe, Schamhaare, Rindenkorallen, Glockenblumen, Polarmeerwalrosse, Heraklit, Partizipationen (Einzelseiendes in der Beziehung zu den Ideen), Philippika, Irrationales (usw. usw.). Ha! Das Leben ist eine sparrig verzweigte Sinfonie (à la Bruckner), eine Zungenhahnenfusslust, eine enzephalitische Ekstase. La joie de vivre! Ich liebe masslos haltlos die Coincidentia oppositorum, den – nach Nicolaus von Cues – Zusammenfall der Entgegensetzungen (wer mein Werk kennt, weiss darum). Merde.

Abraham a Sancta Clara maunzte wortgewaltig barock: gickes gackes bloderzung. Ja, in etwa so! (Stand: Novemver 2006)

Lektüre: Antoine de Saint-Exupéry, “Die Stadt in der Wüste”

7.10.2007

Lieber Ludwig

Ich schreibe in Dein grosses Vertrauen hinein – und gelange mit einer Anfrage an Dich, an Deine Güte. Du hast mir mit einem grossen Vorschuss auf meine Korrekturarbeiten sehr geholfen, ich konnte meine letzten Einzahlungen und Mahnungen begleichen, dafür danke ich Dir nochmals herzlich. Meine finanzielle Situation ist seit einigen Monaten (seit etwa zwei Jahren) schwer aus dem Ruder gelaufen: zwei Hypotheken, zusätzlich Kreditschulden mit monatlichen grossen Abzahlungen, Krankheit eines lieben unterversicherten Menschen, zudem lebte ich auf zu grossem Fuss, das bezahlte Buchprojekt in Hamburg (“Nachtwucherungen”, 4200 Euro) wurde ein Flop, der Verlag ging bankrott, wurde insolvent, ich bekam keinen Rappen Honorar etc. (und bloss 72 Exemplare), Auto- und Zahnkosten, Gasrechnung von 3800 Franken usw. usw., musste den Kredit laufend erhöhen, die monatlichen Abzahlungen wurden höher und höher: ein Teufelskreis. Die Bank hat ihre Geduld mit mir verloren, erwartet eine entsprechende Zahlung –: ich bin mit meinen finanziellen Kräften am Ende, weiss nicht mehr ein und aus. Ich bin tief beschämt, doch ich kenne keinen Menschen ausser Dir, den ich anfragen könnte, ob er mir helfen kann, helfen will. (Ich bin im Grunde recht vereinsamt.) Willst Du einem Poeten helfen, der sonst kaum mehr einen Ausweg sieht? Ich denke auch daran, das Haus zu verkaufen, doch das wird eine langwierige Sache – und ich brauche in den nächsten Tagen Hilfe. Mein 13. Lohn ist auch längst vorbezogen, und die gewöhnlichen Lohnzahlungen (Fr. 4750.– netto) reichen bei Weitem nicht aus, um alle notwendigen, bedrängenden Zahlungen zu leisten bis Ende Jahr. Meine Kreditbank will Lohnpfändungen einleiten, sofern ich nochmals ungenügend einzahle, mir schwirbelt`s (ich bin bös im Rückstand)!

Lieber Ludwig, dieser Brief ist mir äusserst peinlich, doch ich spürte (auch in Deinen einmaligen Schriften), dass Du ein wunderbarer grossherziger Mensch bist – und ich bin finanziell verloren, ausser die Götter hülfen mir ... Ich bin absolut fest gewillt, aus diesem Schlamassel herauszukommen, doch ohne tatkräftige Hilfe wird mir dies leider nicht gelingen. Ich möchte Dich anfragen: Kannst du mir 8000 Franken schenken? Oder vielleicht findest Du auch eine andere Lösung: ein vertraglich geregeltes Darlehen (das ich Dir in Raten ab dem Jahr 2009 zurückzahle), ich verspreche Dir existenziell, dass ich mich an Deine Vorgaben hielte! Ludwig, verzeih, wenn ich derart an Dich gelange: Doch was sollte ich sonst machen? Ich bin in einer ausweglosen Lage, und der Strick zöge sich zu. Mit dieser Hilfe könnte ich tief aufatmen, meinen Verpflichtungen nachkommen (bis der Hausverkauf klappte, doch das steht noch in den Sternen, denn es ist ein sehr, sehr altes, unrenoviertes Haus, voller Mängel).

Wenn Du, Ludwig, auf diesen Brief nicht einzutreten gedenktest, könnte ich es begreifen – auch wenn für mich dann die letzte rettende Tür nicht mehr zu öffnen bestimmt wäre. Auf mein Verhältnis zu Dir resp. zu Deinem Auftrag, “Liebe und Sein” und “Seinsgewissen” zu lektorieren, zu korrigieren, würde das keinen Einfluss haben: Da habe ich mich mit Freude dazu verpflichtet, und ziehe das gerne auch mit meinem besten Wissen und, ich glaube, mit grossem Einfühlungsvermögen durch; das, was ich bis jetzt von Dir lesen, korrigieren durfte, erfüllt mich mit dem allergrössten Respekt – ich sehe, da ist Dir ein “Meilenstein” in der Geistesgeschichte geglückt, auf einer Höhe, wie ich sonst nichts kenne. Du kast einen gedanklichen Textkorpus erreicht, der nicht Seinesgleichen hat!! Ich kenne aus manchen Jahrhunderten Tausende von Büchern, literarische, philosophische, spirituelle, mystische – doch nichts ist Dir ähnlich! Du wirst mir, Ludwig, glauben, dass ich das nicht leichtfertig sage, denn ich bin (wie Du mich wohl kennst) ein skeptischer, zweifelnder, prüfender Mensch – und was ich da in “Liebe und Sein” finde, entdecke, sprengt all meine “Erwartungen”. Dein Stil ist “hochheilig” entflammt wie bei Zarathustra; es ist wie ein (fiebriger) Strom, der zur Läuterung des eigenen Da-Seins führt. Da hast du einen Rang wie der grosse vorsokratische Philosoph Parmedides, 540–470 vor Christus, der sagte: “Man muss immer denken und sagen, dass nur Seiendes ist; es ist nämlich Sein; ein Nichts dagegen ist nicht.” Das ist beileibe keine billige Tautologie, aber auch kaum die Erkenntnis des Identitätsprinzips der Logik, sondern eine innere Haltung gegen die heraklitische Ontologie des Werdens; alors, Parmenides will sagen, dass es kein Werdendes gibt, sondern nur ein Sein. Und da kommt Ludwig Weibel im 21. Jahrhundert und sagt dasselbe – aber noch besser, noch ausführlicher, in einer inspirierten, durchkomponierten, rhythmisierten Prosa, die absolut unvergleichbar ist. Ich bin tief glücklich, mich in den nächsten Monaten auf meine dienende (“korrigierliche”) Art mich mit Deinem Werk befassen zu dürfen: Das ist eine bereichernde, sagenhaft fasziniernde Unvergleichlichkeit für mein Leben, ich danke Dir nochmals existenziell für Deinen Auftrag!

Ich weiss nicht, wie sehr (?) Du Interesse an meinem Werk hast; ich bin nicht mehr jung – und es ist ganz anders als das Deine. Wenn du magst, bringe ich Dir – zu einem Gesprächlein bei dir – einmal zehn, zwanzig (oder wie viel?) Opera mit. Du wirst es mir sagen, Ludwig. Ich möchte nicht aufdringlich sein, doch ich frage mich halt, was Du (dieser grossartige Mensch, Künstler und Mystiker!) dazu meinst, jawohl. Dass Du zu meiner Rheinecker Vorlesung (mit Opern), “Auf deinen Fingerbeeren tanzt das Weltall”, gekommen bist, erfüllte mich mit Gück, ich danke Dir nochmals ganz herzlich.

Voilà. Nun hab ich recht ausführlich von mir geschrieben; ich vertraue Dir, dass Du diesen Brief in das Vertrauen, das ich zu Dir habe, diskret aufnimmst. Ich fühle, dass Du, ein Mahatma, eine grosse Seele, viel verstehst – viel, viel mehr als all die zeitgenössischen Marktschreier allüberall. Und dass Du meine grosse Not verstehst. Wie Du Dich auch entscheiden wirst, lieber Ludwig, ich bin voll von Bewunderung für Dich – für Dein einsam-unnachahmliches Werk, das wie ein erratischer Block da-steht, von den Zeitgenosen wohl nicht verstanden wird (doch was heisst das schon, hm). Deine Grösse, Dein Glanz kann wohl erst in fünfzig bis hundert Jahren erkannt werden (durfte ich das sagen?). Und dass ich dazu auf meine kleine “korrigierliche” Art ein klein bisschen mithelfen durfte, darf, erfüllt mich wie ein rauschendes, taumelndes Glück. Ich danke Dir.

Ich werde auch Dein Buch “Glückselig im Sein” lesen – möchte auch “Gesang des Schweigens”, “Heiterkeit Elysiens” und “Poesie des Seins” kennen lernen (diese drei letzten Titel habe ich noch nicht), nun, du wirst entscheiden; und wenn Du mich als würdig erachtest, darf ich auch noch, später einmal?, Deine Liebesbriefe lesen, ja? –: Wir werden sehen.

Nun, ich wandte mich in meiner tiefen finanziellen Not an Dich, Ludwig: Kannst Du mir helfen? Auf einer andern seinshaften Ebene hilfst Du mir bereits jetzt: dass ich Deine zwei neusten Opera korrigieren darf, was für mich auch eine tiefe Art ist, in Dein Werk einzudringen. Und das nenne ich Glück.

Ich weiss, ja?, wenn wir uns beim nächsten Mal treffen (was ich wünsche), muss ich nicht bodenlos beschämt sein wegen meiner Hilfsbedürftigkeit: Ein Mensch wie Du kennt das Leben, seine Höhen, seine Tiefen, seine Flauten, seine Stürme, seine Depressionen, seine Verdunkelungen, seine Aufhellungen: La joie de vivre existenziell! Ich bin nur ein kleiner Lyriker, der die Synästhesien liebt, der in der Coincidentia oppositorum zuhause ist, der sich in Wasser-und-Dampf-Fontänen verliert, der in Einsturztricher saust, der in Seebeben lebt, der durch Flachmoore Rettung sucht, der Grabheuschrecken und Kreuzspinnen anbetet, der Wiesenflockenbumen und Stachelhäuter liebt, ach! In all meiner Verzweiflung liebe ich das pralle satte Leben unersättlich!

Du, ich danke Dir, dass ich so schreiben durfte, ja?, wie ich geschrieben habe ... Ich weiss, Du nimmst mich ernst – ich flunkerte nirgends.

Ich freue mich, bald etwas von Dir zu hören. Das Korrigieren von “Liebe und Sein” geht vorwärts; ich melde mich wieder.

Ich danke Dir für alles und wünsche Dir eine seinserhellte flockenleichte Zeit, herzlich grüsst Dein Paul Lektüre: August Strindberg, “Am offenen Meer”

23.10.07

Lieber Ludwig,

das Gespräch mit Herrn Knecht von der Kantonalbank verlief in dem Sinne gut, dass ich auf seine Forderung, mich kooperativ zu verhalten, eintrat, wobei Kooperation da nichts anderes heisst, als dass ich mich dem längern Hebelarm – der Bank – fügen musste. Von einer Wahl konnte keine Rede sein; er sperrte mir das Konto, das Bancomatkärtchen musste ich abgeben, voilà. Nun bin ich 58-jährig, einer der besten Lyriker weltweit (verzeih mir bitte diese Einschätzung), und musste mir derbe Belehrungen gefallen lassen (ich will diese nicht rekapitulieren). Gewiss, ich bin ernsthaft gewillt, aus meiner finanziellen Misere herauszukommen, doch auf diese rüde Art geht es nicht zu lange! Wohl durch meine partielle (romantische) Leichtfertigkeit bin ich in dieses finanzielle Malheur gerutscht, es tut mir Leid.

Mit Deiner Hilfe glaube ich, die Finanzschwierigkeiten zu meistern! Doch wenn das Messer zu sehr an meinen Hals gesetzt würde (wie es jetzt von der St. Galler Kantonalbank deutlich signalisiert ist), gedächte ich, meinen Lohn ab sofort auf ein anderes Konto überweisen zu lassen, – meinen Job zu kündigen und private Insolvenzerklärung (Bankrott, Konkurs oder wie das heisst) anzumelden – und dann müsste das ganze Tohuwabohu der Schuldeintreibungen, der Betreibungen, des Hauszwangsverkaufs gegen mich eröffnet werden (es wurden schon andere Künstler von der Gesellschaft vernichtet, man öffne nur die Augen). Ich hoffe, es kommt nicht so weit, doch es liegt NICHT nur bei mir; bei Zwang gegen mich muss man mit meinen Gegenzügen rechnen (ich bin ein guter Schachspieler).

Nun, das Ganze hat mich krank gemacht, ich kann auch morgen nicht arbeiten, ich bin sterbenselend kaputt. Die Korrektuarbeiten zu Deinem Buch, lieber Ludwig, werden nur um ein paar Tage verzögert ... Alors, und das ist existenziell wichtig! Ich bin nicht ganz befähigt, Deine Grösse einzuschätzen, Ludwig, doch ich ahne sie (argumentativ könnte ich in dieser Richtung dennoch vieles sagen).

Nun lese ich heute Nacht noch etwas in Paracelsus' “Vom Licht der Natur und des Geistes” – denn die geistigen Perspektiven lasse ich mir von Geld nicht, niemals verderben!

Ich bin glücklich zu wissen, dass es Dich, Ludwig, in dieser Bergstrasse in Gossau gibt, den Menschen, mit diesem wohl weltweit einmaligen Ethos. Du bist ein grosser Mensch und Künstler – mit den Imponderabilien des Lebens besser vertraut als ich (ich bin zu oft in Abgründen). Ich habe mit der Lektüre des Romans «Dichter und ihre Gesellen» von Joseph von Eichendorff begonnen: was für ein Fest! Oder Du kennst auch die kapitalen Niederlagen in Balzacs Romanen ...

Ich werde vorläufig noch kämpfen, kooperativ mich erweisen – doch allzulange glaube ich nicht, dies durchhalten zu können.

Du, ich melde mich Anfang der nächsten Woche. Als Lektor, Korrektor Deiner “Dichtung” bleibe ich sehr gefasst und professionell, da darf es keine Verunsicherung geben. Da bin, bleibe ich glücklich, dass ich Dir zu Deinem (jetzigen) Werk (im Auftragsverhältnis) ein paar formale und inhaltliche lektorliche, korrektorliche “Beihilfe” leisten darf, ich danke Dir nochmals dafür.

Ich weiss nicht genau, was ich dichterisch noch «leisten» werde, doch es wird etwas sein, das ich dann Dir widmen möchte.

Ich weiss und fühle, Du verstehst so vieles! Doch auch ich bin im Leben nicht undedarft.

Und gerade deshalb bin ich aus Tiefste bereit, auf Dich, Ludwig, auf Deine philosophischen, mystischen, genialen Werke einzugehen. Es wäre für mich denkbar möglich, in einem Buch auf Dich zu “reagieren”. Denn Du bist wohl die stringenteste, überzeugendste weltethisch seinsphilosophische “Figur” des Abendlandes. (Es gibt nichts Deinesgleichen.) So denke ich ungeschmälert bekennend. (Verzeih mir, doch ich darf sagen, ich bin philosophisch sehr belesen.) Und Deine Philosophie mischt sich mit Parmenides-nahen und Nietzsches “also-sprach-Zarathustra-fiebrigen Eloquenzen mit der hohen anthroposophischen Rudolf-Steiner-Sicht – und alles in Deiner, Ludwigs, Liebes-Seinstrun- kenheit.

Ich bin sehr glücklich, dass ich auf meine kleine bescheidene Art mich Deinem Spätwerk etwas widmen darf. (Ich habe noch vor, mich essayistisch zu Dir zu äussern.)

Lieber Ludwig, ich danke Dir seinstief für alles, was Du für mich bist. Du bist ein Wunder.

Ohne Dich würde ich jetzt wohl untergehen. Ich bleibe offen gesprächsbereit. Herzlichst dankend grüsst Paul

31.10.07

Lieber Ludwig

vraiment, mein “Lebensschiff” drohte auf der gesellschaftlichen (allgemeinen) Ebene zu versinken, da tratst Du in mein Leben: Für mich ist das ein unfassbares Wunder. Ich bin glücklich, Dir mit meinem “lektorlichen, korrektorlichen” Know-how etwas für Dein Werk zu helfen, da ich, ich darf das wohl sagen, mit der Sprache seit Jahrzehnten auf innigem Du-zu-Du-Fuss lebe ... Ludwig, ich bin begeistert, fasziniert von Deinem Werk, das ich bis jetzt kennen lernen durfte; ich griffe wohl nicht zu hoch, wenn ich da von “genial” spräche! Ich erlebe in Deiner Seinsmystik eine (leicht irrationale) Stringenz – mit Prädikabilien, die es wohl seit Parmenides, Aristoteles (und Kant) nicht mehr gegeben hat! Was für eine Sensation! Deine meisterlich souverän lebenszugewandten Auffächerungen kennen weltweit gewiss nichts Seinesgleichen – das sehe ich (der ja nicht unbelesen ist, hm).

Soeben ist Maunzli, mein geliebtes Schildpattkätzchen, auf meinen Schreibtisch gesprungen und schnurrlet und murrlet –: In solchen Augenblicken ist die Welt (für mich) gut. Höhen und Tiefen des Lebens (ich kenne diese gut) stehen nahe beisammen. Manchmal muss der Geist durch die Niederungen der Sophistik gehen, durch ihre Oberflächlichkeit, ihre leichte Reden, ihre zersetzende Kritik, ihren Relativismus und Skeptizismus, um, im Innersten erschüttert und bedroht, zum Positiven hin zu reagieren – mit allem, was an Kraft und Leben in einem verborgen ist. Was gibt es gefühlsmässig und metaphysisch erkenntnistheoretisch? In der Armut kann man die geltenden Werte umkehren (etwa wie Diogenes von Sinope). Oder es wäre die Frage nach “Wahrheit” zu stellen, ach. (Ich denke mir, dass es keine Wahrheit an sich gibt, sondern nur unendlich viele Wahrheiten.) Ideen der Wiedergeburt: (taoistische) buddhistische wie auch rudolfsteinersche “Lehren” gehen in dieser Richtung. Platon berichtet: “Man hat den Massstab für den Wert in sich selbst und hält für wahr und wirklich, was man eben persönlich fühlt.” (Theaitetos) Und ich, der kleine Strudelwurm Paul Gisi, denke mir, dass es keine WIRKLICHKEIT (an sich) gibt, sondern nur unendlich viele Wirklichkeiten: Angstwirklichkeit, Lustwirklichkeit, Gottsuchwirklichkeit, Fluchtwirklichkeit, Sehnsuchtswirklichkeit, Pessimismus- oder Optimismuswirklichkeit, hedonistische oder spirituelle Wirklichkeit, a-priorische oder Protagoras-nahe Wirklichkeit: ach, da fände die Aufzählung von Wirklichkeiten niemals ein Ende, so denke ich (atomisiert). Doch Du, lieber Ludwig, kommst als Mensch und Künstler von einer andern Seinseinheit daher, und das fasziniert mich existenziell! Mit Deinem unerreichbar hohen Seinsgewissen hast Du wohl alle Niederungen unserer Welt hinter Dir gelassen, und das bewundere ich uneingeschränkt. Ich bin ein Strudelwurm in den Elementen Feuer, Wasser, Luft, Erde, Tod und Leben – Du hast längst eine höhere Warte erreicht. Ich bin gut bewandert in Teilhard de Chardins evolutionärer Ekstatik, Du hast Dich gefunden hinter Meister Eckharts Mystik – der Weg der Einheit ist der Weg der Gottesgeburt im Individuum (das Individuelle im individualpsychologischen Sinn von C. G. Jung z. B.). Die Frage der Dialektik ist vorbei. Es geht ums Wesentliche; und das Wesentliche des Menschen kennt keine vorgegebenen Allgemeinbegriffe, sondern ist offen, einfach offen für alles, so denke ich.

Na, lieber Ludwig, das sind so Sachen. Ich bin glücklich, dass es Dich gibt, dass es Dich so gibt, wie es Dich gibt. Du bist ein WUNDER. Ich danke Dir für alles, für alles!

Herzlichst grüsst Dein kleiner Paul

Lektüre: Vicente Aleixandre, “Nackt wie der glühende Stein”

°°°°°°°°°°

Paul Gisi wurde 1949 in Basel geboren. Korrektor, Lyriker, Schriftsteller, Feuilletonist, Philosoph, Pazifist. Gründer und Inhaber der Edition Lucrezia Borgia (vormals Aiolos-Verlag), Lehrer in verschiedenen Kantonen der Schweiz (Baselland, Schwyz, Solothurn), Trappistenpostulant im Elsass, Maler in der Provence, Psychiatriehilfspfleger in Basel, Verlagsvertreter und Verleger in Zug und Oberägeri, Buch- und Schallplattenverkäufer in Zürich, eigenes Korrektur- und Textbüro, viele Jahre lang Korrektor bei namhaften Zeitungen und Druckereien der Ostschweiz («Die Ostschweiz», St. Gallen; «Rheintalische Volkszeitung», Altstätten; «Appenzeller Zeitung», Appenzeller Medienhaus, Herisau).

77 Publikationen: Gedichte (mehrere Gedichtbände von Malern illustriert), Sätze und Erzählungen in verschiedenen Verlagen Deutschlands (Relief Verlag, München; R. G. Fischer Verlag, Frankfurt) und der Schweiz (Jeger-Moll-Verlag, Breitenbach SO; Dendron Verlag, Chabrey VD; Reineke Verlag, Bern; Rotten-Verlag, Brig VS). —Vertreten in mehreren Anthologien Deutschlands, Österreichs und der Schweiz.

1997 Preis der Stadt St. Gallen (Werkzeitbeitrag). 2001 Preis der Ausserrhodischen Kulturstiftung (Werkbeitrag). Mitglied des Schweizerischen Schriftstellerinnen- und Schriftsteller-Verbands. Vertreten u. a. im «Deutschen Schriftstellerlexikon», Bund Deutscher Schriftsteller BDS, Deutschland.

°°°°°°°°°°

Wir leben bloss ein paar wenige Jahrzehntchen – in einem geistigen Umfeld, das Jahrtausende umfasst. Da mag ich keine Grenzen, Einschränkungen, Fremdbestimmungen von Seiten eines rechnenden Verlegers – deshalb ist für mich meine Edition Lucrezia Borgia weltweit der beste Verlag für mein Schreiben. Einst hiess mein eigener Verlag Aiolos (griech., Gott der Winde) – ich verlegte auch Bücher des Zürcher Lyrikers und Schriftstellers Karl Kuprecht – seit 1988 nenne ich meinen Verlag Edition Lucrezia Borgia. (Ich liebe Lucrezia Borgia, 1480–1519, die Tochter des Papstes Alexander VI., die femme fatale, die Renaissancefürstin, die Kunstliebhaberin und -mäzenin, die Brudergeliebte, die mehrmals in Ferrara Verheiratete, die grosse Liebende – selbstbewusst, schön, prachtliebend, geistvoll, sensibel, sinnenfroh, mit schillerndem, unabhängigem Charakter, leichtsinnig, liebenswürdig und unglücklich; zudem und eigentlich zuerst: Gaetano Donizettis düster-schöne Belcantooper “Lucrezia Borgia” ist meine Lieblingsoper. Voilà.)

In meinen Händen

flammt

dein Körper auf

zur masslosen Lust –

Kassiopeia lacht

Teufelsrochen lachen

im Gelächter der Schöpfung

der Strudelwürmer der Engel

finde ich dich

– weinend

5. Nov. 07

Lieber Ludwig

Ich bin noch ganz ausser Atem vor Glück! Du hast mir einen wunderbaren Brief geschrieben, der mir enorm Kraft gibt! Was für eine Weisheit hast Du erreicht, das ist einmalig – die, das spüre ich, von einem grossen, beharrlichen Durchsetzungsvermögen herkommt, durch die Jahrzehnte Deines Lebens erworben auf einer wohl weltweit einmaligen Höhe: hin aufs letzte Sein. Ich bin nur ein kleiner Strudelwurm, doch ich beginne zu ahnen, was für ein grossartiger Mensch Du bist, Ludwig. Ich höckle jetzt etwas anachoretisch in meinem geliebten Tusculum, höre Donizettis erhaben-düstere romantische Oper “Belisario”, nippe an einem Himbeerlikör, rauche meine schopenhauersche Pfeife, hm. (Das Telefon habe ich gesperrt, damit ich wirklich heute Nacht ungestört – existenziell einsiedlerisch – meinen Gedanken nachhangen kann ...) Ich brauche solche Inseln des Alleinseins, des Denkens, um tief in mich selbst hinabzuhorchen, ich weiss, Du verstehst das. Vorhin las ich – meditativ offen – in Seng-Ts'ans “Die Meisselschrift vom Glauben an den Geist”; diese gehört zu den Basisschriften eines kontemplativen Zen-Buddhismus, geschrieben vor etwa 1500 Jahren. “Je mehr ihr sagt, / je mehr ihr denkt, / desto weiter / entfernt ihr euch von der Wahrheit. / Wenn ihr nicht an Worten / und Unterscheidungen hängt / und alle relativen Mittel vernichtet, / dann seid ihr eins mit allem.” Oder: “Unfreiheit ermüdet den Geist; / wozu / über Entfernung und Nähe / nachdenken?” Lieber Ludwig, solche “Bausteine” des Humanen bereichern mich unendlich! Da lebt der Geist im tiefen Sein, unwandelbar – und doch geheimnisvoll werdend. Da vereinigen sich Quelle und Mündung. In den letzten Nächten habe ich auch stundenlang in Hans Urs von Balthasars “Spiritus Creator”, seinen monumentalen theologischen Skizzen, gelesen – und in Thomas Mertons “Der Aufstieg zur Wahrheit”: Für mich ist das ein Fest! Johannes vom Kreuz' mystisches Gesamtwerk gehört längst seit vielen, vielen Jahren (seit Jahrzehnten) zu meinem steten Begleiter (z. B. “Die dunkle Wolke des Nichtwissens”). Seit ich etwa fünfzehnjährig war, gehört die “Gottesfrage” schier täglich, nächtlich zu mir –: z. B. auch in der (vierbändigen) “Geschichte der Religionen” von Mircea Eliade; “der Spur Gottes” bei allen Völkern der Erde zu allen Zeiten nachzuforschen, das ist ein geistiges Abenteuer, das mich zutiefst fasziniert, nicht mehr loslässt. “Letztlich und endlich / gibt es keine Bestimmungen”, oder: “Der höchste Weg / ist nicht schwierig, / nur ohne Wahl” (von Seng-Ts'an) – das sind doch “Überlegungen”, Markierungen im Kosmos, die mich schaudern lassen – da spüre ich einen “ewigen Wind”, der die höchste Poesie ist. Die Gleichzeitigkeit von divergenten Ansichten, diese offene “Philosophie”, die wohl recht persönlich urgisisch ist, ha, ist tief in meinem Blut, deshalb mag ich “abschliessende” Gedanken, Überzeugungen nicht. Ich glaube nicht, dass es “letzte” Antworten gibt, alles ist Vorstufe, Fragment, vor-prästabilierte Harmonie, atomisiert auch (eins ist das andere, eins ist nicht das andere); das Leben als Lavastrom – das Leben als Schmetterlingshauch. Beides. Der Mensch ist, so hoffe ich, eine Fluoreszenz, ein Aufleuchten eines guten Gottes im unermesslichen Strom des Kosmos, in den Ganglien des Nichts, des Fatums, der Täuschungen. Kein Mensch hat die Wahrheit – alles ist in statu nascendi. “Gewissheit” ist kein Begriff der echten Philosophie, sondern des Kleinbürgers. Alles findet sich letztlich in dem, was sich ausschliesst, in der Evidenz des Fragens, des Nichtwissens. Denkerisch gesehen (in der Evolution des Denkens) ist es heute nicht mehr möglich, so zu tun, als könnte es noch ein “abgeschlossenes” philosophisches System geben (wie bei den Monaden von Leibnitz etwa); man kann ernsthaft nicht mehr unter das Reflexionsniveau unserer Zeit gehen (und so tun, als hätte es den grossen Philosophen E. M. Cioran nicht gegeben). Eine Aussage ist nur auf Widerruf akzeptabel. Ansonsten hätte man es mit Denkdiktatur zu tun. Ein “Ganzes” kann nur in den zögernden Schritten des Durchdenkens der Teile geschehen. Und das ist ein uferloses Bemühen (das ich liebe). Wenn, mit Heraklit, alles fliesst, kann es nur Relativismen geben – auch für uns Menschen in der Gottesfrage. Das Werden ist immer eingespannt in Gegensätze von Ruhe und Unruhe, Auf und Ab, Kalt und Heiss, Lebendiges und Totes, Wachendes und Schlafendes, Jung und Alt, Frühlingshaftes und Winterliches usw. Deshalb, hm, bin ich als Lyriker unendlich verliebt ins Irdische, in die unendlich facettenreichen Arten der möglichen Wahrnehmungen und der Bildhaftigkeit, des Mikroskopischen (in dem sich das Makrokosmische spiegelt). Dass im Grashalm das Universum mitkomponiert ist, ist eine romantische Ansicht; in diesem Sinn bin ich (natürlich) Romantiker ... Nun, ich nenne mich gern vergnügt pantheistischer Agnostiker, ha, da liesse sich existenziell köstlich disputieren. -

Ich habe erst etwa fünfzehn Seiten Deiner Liebesbriefe, Ludwig, Deines Briefwechsels gelesen – und bin überrumpelt! Ich ahne bereits konkret, das wird ein Briefwechsel, der einmalig in der Weltgeschichte ist: Du musst ihn, lieber Ludwig, unbedingt publizieren! Da “geschieht” auf allerhöchstem Niveau Menschliches, Philosophisches, unerwartet Existenzielles, in einer gepflegten Bildungshöhe, die mich kribbeln lässt. Da bist Du ein “Seelenführer”, der nicht von der hohen Warte aus spricht sondern der eingebunden ist in eine Vox humana, die nicht Ihresgleichen kennt. Nachdem ich Deinen Liebesbriefwechsel erst “angelesen” habe, darf ich doch schon sagen: Das ist eine Weltsensation unvergleichlichen Ranges! Ich bin ein leidenschaftlicher Leser von Autobiografien, Briefbänden, Briefwechseln ... –: doch sowas begegnete mir noch nie, Du. Du darfst mir absolut vertrauen, Ludwig, dass ich individuelle “negative” Kritik – aus meinem Alter heraus (ich bin 58-jährig) – ungeschminkt deutlich formulieren würde (das bin ich mir immer unbarmherzig selbst schuldig), doch (als belesener Mensch, uff) sage ich ohne zu zögern: Du bist ein Genie! Gewiss, ich stelle Dich nicht auf einen “unfehlbaren Sockel” (dafür wäre ich zu alt, brr), ich sage einfach demütig und überwältigt: Dein Schreiben hat eine Gültigkeit erreicht, die weltweit einmalig ist! Du wirst in die Geschichte eingehen. Im Grunde genommen kenne ich noch so wenig von Dir, Ludwig, doch das, was ich von Dir lesen durfte, überwältigt mich masslos! “Gesang des Schweigens”, “Glückselig im Sein”, “Poesie des Seins”, “Sein und Liebe”, “Seinsgewissen”: Noch niemals erlebte die Menschheit eine solche Eruption an Gedanken, Weisheit und Menschlichkeit! Da stehst Du turmhoch über allen Seinsniederungen – und bist doch mit grossem Abstand inmitten darin. Du bist ein Wunder. Ein Wunder der Menschlichkeit, der Güte, der Seelenführung, der Toleranz. Da hast Du goethesche Grösse, fast unnahbar. Ich bin masslos gespannt auf Deinen weitern Liebesbriefwechsel, doch zuerst habe ich noch so viel von Dir zu lesen, Du. Ich freue mich riesig, bin unendlich dankbar, dass ich Dich kennen lernen durfte in diesem Verhältnis, Du beschenkst mich auf mancherlei Ebenen, wie zuvor noch niemals erlebt.

Ich bin glücklich, dass es Dich gibt; ich danke Dir existenziell.

Herzlichst grüsst Dein Dich bewundernder Paul PS. Inzwischen ist mein geliebtes Kätzchen Maunzli zu mir auf den Schreibtisch gestürmt, über die Klaviatur meiner Buchstaben.

Lieber Ludwig

Heute hast Du mich wiederum unermesslich beschenkt: Dein grösseres Sein hat mein kleineres Sein aufgerichtet, existenziell bereichert. Ich darf sagen: Ohne Deine Hilfe wüsste ich nicht mehr wie weiter ... In den kniffligsten Situationen findest Du einen Ausweg – und ohne Deine finanziellen Noteinspringungen würde ich es niemals schaffen.

Rudolf Steiners “Credo: der Einzelne und das All”, das Du, Ludwig, mir gegeben hast, habe ich mehrmals gelesen, ich danke Dir dafür! Nun verstehe ich Dich und Deine Seinsphilosophie noch besser.

Dass mein Credo fürs Einzelne und das All etwas anders ausfiele, Du weisst es bereits. Oder: Als Philosoph denke ich auch so – und differenziert anders. Und als Künstler, als Lyriker, sieht es für mich doch etwas individueller aus, hm. Die eigene Selbstheit auszulöschen, um im grössern Sein zu versinken, mag ich weniger. Ich denke mir: Nur im Individuellen strömt das kleine persönliche Sein ins grössere Sein. Also nicht, die eigene Selbstheit auszulöschen, sondern sich urindividuell zu suchen, bereichert das Sein, das Werden im Sein. In Deinen Büchern erlebe ich kein statisches Sein, sondern ein strömendes, offenes, und das begeistert mich.

Ich bin unendlich glücklich, Dich, Ludwig, kennen lernen zu dürfen.

Ich wünsche Dir eine gute Zeit, herzlichst grüsst Dein

Paul

Lektüre: Jens Peter Jacobsen, “Niels Lyhne”

28.11.07

Lieber Ludwig,

beiliegendes Gedicht schrieb ich heute Nacht; Du siehst, ich bin noch kein bisschen weise geworden ... sapperlotnochmals. Ich las letzthin wieder in Johannes vom Kreuz: was für ein existenzielles Erlebnis! Ich liebe es, mich in den Myriaden von Denkern aller Völker und Zeiten zu versenken: Kennst Du das auch? Es gibt nicht nur eine Antwort auf die tiefen Fragen des Menschen: sondern unmermesslich viele, so glaube ich. Und die “besten” Denker aller Zeiten wussten immer auch nur einen Zipfel übers Menschsein, übers Göttlichsein – das fasziniert mich. Das Ganze im Fragment hat immer nur eine relative Gültigkeit. Was Rudolf Steiner in seinem “Credo: der Einzelne und das Weltall” “wusste”, ist natürlich nur innerhalb einer anthroposophischen Einsicht “richtig” (es gibt beim Letzten kein “richtig” und “falsch”, sofern es human ist ...). Der Zustand “Glückselig im Sein” (Ludwig Weibel) ist ein augenblickhaftes Strömen. «Absurd die Frage nach dem Sein, wo Ich schon immer Bin als Aufmupf und Ertragen, als Geräderter und Rad ...», lese ich bei Dir («Glückselig im Sein», Seite 221). Eins ist das Andere, wird im seinszugewandten Strömen SEIN. Da atme ich bei Dir, in Deinen Werken auf, da finde ich den «Zipfel» Wahrheit, nach dem auch ich suche ... Die Menschheit – die ganze