Realität+ - David J. Chalmers - E-Book
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Realität+ E-Book

David J. Chalmers

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Beschreibung

Virtuelle Realität+ ist echte Realität+! In seinem höchst originellen Buch liefert der international führende Philosoph David J. Chalmers eine verblüffende Analyse unserer technologischen Zukunft. Er argumentiert, dass virtuelle Welten keine Welten zweiter Klasse sind und dass wir in der virtuellen Realität+ ein sinnvolles Leben führen können – ja, vielleicht befinden wir uns sogar schon in einer Simulation.

Auf dem Weg dorthin unternimmt Chalmers eine mitreißende Tour durch die großen Ideen der Philosophie und der Wissenschaft. Er nutzt die Technologie der virtuellen Realität+, um neue Perspektiven auf altbekannte philosophische Fragen zu eröffnen. Woher wissen wir, dass es eine Außenwelt gibt? Gibt es einen Gott? Was ist die Natur der Realität+? Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? Wie können wir ein gutes Leben führen? All diese Fragen werden durch Chalmers' Analyse in ein anderes Licht gerückt und dadurch auf fruchtbare Weise erhellt.

Gespickt mit wunderbar gewitzten Illustrationen, die abstrakte philosophische Themen anschaulich werden lassen, ist Realität++ ein Grundlagenwerk, das die Diskussion über Philosophie, Wissenschaft und Technologie in den kommenden Jahren prägen wird.

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Seitenzahl: 917

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Cover

Titel

3David J. Chalmers

Realität+

Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie

Abbildungen von Tim Peacock

Aus dem Englischen von Björn Brodowski und Jan-Erik Strasser

Suhrkamp

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Zur Gewährleistung der Zitierfähigkeit zeigen die grau gerahmten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Reality+. Virtual Worlds and the Problems of Philosophy bei W. W. Norton & Company, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Copyright © 2022 by David ChalmersAbbildungen © 2022 by Tim Peacock

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth, Berlin, unter Verwendung des Originalumschlags von W.W. Norton & Company, Inc., New York. Umschlagabbildung: suns07butterfly/Shutterstock

eISBN 978-3-518-77564-6

www.suhrkamp.de

Widmung

5Für Claudia

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

7Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Einleitung. Streifzüge durch die Technophilosophie

I

. Virtuelle Welten

Kapitel

1

Is this the real life?

Kapitel

2

Was ist die Simulationshypothese?

II

. Wissen

Kapitel

3

Wissen wir etwas?

Kapitel

4

Können wir beweisen, dass es eine Außenwelt gibt?

Kapitel

5

Ist es wahrscheinlich, dass wir uns in einer Simulation befinden?

III

. Realität

Kapitel

6

Was ist Realität?

Kapitel

7

Ist Gott eine Hackerin in der nächsthöheren Welt?

Kapitel

8

Besteht das Universum aus Informationen?

Kapitel

9

Erschaffen Simulationen Its aus Bits?

IV

. Reale virtuelle Realität

Kapitel

10

Erschaffen Virtual-Reality-Brillen Realität?

Kapitel

11

Sind Virtual-Reality-Geräte Illusionsmaschinen?

Kapitel

12

Führt Augmented Reality zu alternativen Tatsachen?

Kapitel

13

Können wir verhindern, von Deepfakes getäuscht zu werden?

V

. Geist

Kapitel

14

Wie interagieren Geist und Körper in einer virtuellen Welt?

Kapitel

15

Kann es in einer digitalen Welt Bewusstsein geben?

Kapitel

16

Erweitert Augmented Reality den Geist?

VI

. Werte

Kapitel

17

Lässt sich in einer virtuellen Welt ein gutes Leben führen?

Kapitel

18

Sind simulierte Leben von Bedeutung?

Kapitel

19

Wie sollten wir eine virtuelle Gesellschaft gestalten?

VII

. Grundlagen

Kapitel

20

Was bedeuten unsere Wörter in virtuellen Welten?

Kapitel

21

Laufen Computerprogramme auch auf Staubwolken?

Kapitel

22

Ist die Realität eine mathematische Struktur?

Kapitel

23

Sind wir jenseits von Eden?

Kapitel

24

Sind wir Boltzmann-Gehirne in einer Traumwelt?

Danksagung

Glossar

Anmerkungen

Namenregister

Fußnoten

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9Einleitung

Streifzüge durch die Technophilosophie

Als ich zehn Jahre alt war, entdeckte ich Computer für mich. Der erste war ein PDP-10, ein Großrechner in der Klinik, in der mein Vater arbeitete. Ich brachte mir selbst bei, einfache Programme in der Computersprache BASIC zu schreiben. Wie es für einen Zehnjährigen typisch ist, freute ich mich besonders, als ich entdeckte, dass man auf einem Computer auch spielen kann. Eines der Spiele war bloß mit »ADVENT« beschriftet. Ich startete es und sah Folgendes:

Du stehst am Ende einer Straße vor einem kleinen Backsteingebäude.

Du bist umgeben von einem Wald.

Ein Rinnsal fließt aus dem Gebäude und einen Abfluss hinab.

Ich fand schnell heraus, dass ich mich mit Befehlen wie »Go north« [Gehe nach Norden] oder »Go south« [Gehe nach Süden] fortbewegen konnte. Ich betrat nun das Gebäude und fand dort etwas zu essen, Wasser, mehrere Schlüssel und eine Lampe. Dann ging ich wieder nach draußen und stieg durch einen Gully hinab in ein unterirdisches Höhlensystem. Schon bald kämpfte ich gegen Schlangen, suchte nach Schätzen und schleuderte Äxte auf gefährliche Angreifer. Das Spiel bestand dabei allein aus Text, es gab keinerlei Grafiken, und doch konnte ich mir das Höhlensystem, das sich unter der Erdoberfläche erstreckte, leicht vorstellen. Ich spielte dieses Spiel monatelang, drang immer weiter und tiefer in diese Welt vor und machte mir Schritt für Schritt einen Plan von ihr.

Man schrieb das Jahr 1976, das Spiel hieß Colossal Cave Adventure und es war meine erste virtuelle Welt.

In den folgenden Jahren entdeckte ich dann Videospiele für mich. Es 10begann mit Pong und Breakout und als man auf einmal Space Invaders in unserer Shopping Mall spielen konnte, waren meine Brüder und ich wie besessen davon. Schließlich bekam ich einen Apple-II-Computer und wir konnten zu Hause pausenlos Asteroids und Pac-Man spielen.

Seitdem sind virtuelle Welten aufwändiger geworden. In den 1990er Jahren waren Doom und Quake bahnbrechend für Spiele aus einer Ego-Perspektive, in den 2000ern verbrachte man dann zum ersten Mal viel Zeit in virtuellen Multiplayer-Welten wie Second Life oder World of Warcraft. In den 2010er Jahren machten die ersten kommerziellen Virtual-Reality-Brillen, wie zum Beispiel die Oculus Rift, von sich reden. Das war auch das Jahrzehnt, in dem erstmals Augmented-Reality-Umgebungen wie Pokémon Go, in denen virtuelle Objekte die physische Welt erweitern, eine größere Verbreitung fanden.

Heute finden sich zahlreiche Virtual-Reality-Systeme in meinem Arbeitszimmer, darunter eine Oculus Quest 2 und eine HTC Vive. Ich setze mir zuweilen ein Headset auf, öffne eine Anwendung und schon befinde ich mich in einer virtuellen Welt. Die physische Welt ist dann völlig verschwunden und ersetzt durch eine computergenerierte Umgebung. Um mich herum befinden sich nun virtuelle Gegenstände, zwischen denen ich mich bewegen und die ich beeinflussen kann.

Ebenso wie die gewöhnlichen Videospiele von Pong bis Fortnite umfasst auch die virtuelle Realität (oder VR) eine virtuelle Welt, das heißt einen interaktiven, computergenerierten Raum. Das Besondere an der VR ist, dass diese virtuellen Welten darüber hinaus immersiv sind: Anstatt auf einen zweidimensionalen Bildschirm zu blicken, taucht man in der VR in eine dreidimensionale Welt ein, die man so hören und sehen kann, als würde man sich in ihr befinden. Zu virtueller Realität gehört also ein immersiver, interaktiver und computergenerierter Raum.

Ich habe schon viel in der VR erlebt. Ich habe einen weiblichen Körper angenommen und Attentäter abgewehrt, bin wie ein Vogel geflogen, zum Mars gereist, habe mir ein menschliches Gehirn von innen angesehen und war dabei von Neuronen umgeben. Ich habe 11über einer Schlucht auf einer Planke gestanden und hatte riesige Angst, obwohl ich genau wusste, dass ich, wenn ich springen würde, unter der Planke gefahrlos direkt auf dem nichtvirtuellen Boden landen würde.

Wie viele andere habe auch ich während der Pandemie 2020 und 2021 viel Zeit damit verbracht, über Zoom und andere Videokonferenz-Software mit Freundinnen, Familienangehörigen und Kollegen zu sprechen. Zoom ist zwar bequem, doch es hat auch seine Grenzen. Echter Augenkontakt ist zum Beispiel schwierig, die Interaktion in einer Gruppe ist eher holprig als zusammenhängend und man hat einfach nicht das Gefühl, sich gemeinsam in einem Raum zu befinden. Ein Grund für dieses Problem ist, dass Videokonferenzen keine virtuelle Realität sind. Sie sind zwar interaktiv, aber sie sind weder immersiv noch gibt es dabei eine gemeinsame virtuelle Welt.

Während der Pandemie traf ich mich auch einmal pro Woche mit einer lustigen Truppe von Philosophinnen in der VR, um viele verschiedene Plattformen und Aktivitäten auszuprobieren: Wir sind mit Engelsflügeln in Altspace geflogen, haben in Beat Saber zu einem bestimmten Rhythmus Würfel zerhackt, uns auf der Empore von Bigscreen über Philosophie unterhalten, in Red Room Paintball gespielt, in Spatial Vorlesungen gehalten und in VRChat bunte Avatare ausprobiert. Die VR-Technologie ist noch längst nicht perfekt, aber wir hatten trotzdem das Gefühl, uns in einer gemeinsamen Welt zu befinden. Als wir einmal nach einem kurzen Vortrag zu fünft beisammenstanden, meinte jemand: »Das ist ja hier genau wie eine Kaffeepause auf einer Philosophiekonferenz.« Wenn in ein oder zwei Jahrzehnten die nächste Pandemie ausbricht, werden sich wahrscheinlich viele Menschen in immersive virtuelle Welten begeben, die speziell auf soziale Interaktionen ausgelegt sind.

Auch die Augmented Reality [erweiterte Realität] oder AR macht rasche Fortschritte. Diese Systeme bieten uns eine Welt, die teils virtuell und teils physisch ist, indem sie die gewöhnliche physische Welt um virtuelle Objekte erweitern. Ich selbst habe noch keine Augmented-Reality-Brille, aber es heißt, dass Firmen wie Apple, Facebook und Google bereits daran arbeiten. Augmented-Reality-Systeme ha12ben das Potenzial, die Bildschirmarbeit vollständig zu ersetzen oder zumindest physische Bildschirme durch virtuelle zu ersetzen. Eine Interaktion mit virtuellen Gegenständen könnte für uns damit alltäglich werden.

Die heutigen VR- und AR-Systeme sind noch sehr einfach, die Headsets und Brillen klobig und die visuelle Auflösung virtueller Gegenstände ist grobkörnig. Virtuelle Umgebungen sind zwar audiovisuell immersiv, doch man kann in ihnen keine virtuellen Oberflächen berühren, keine virtuellen Blumen riechen und keinen virtuellen Wein trinken.

Diese vorläufigen Grenzen werden wir jedoch überwinden. Die Physik-Software, die der VR zugrunde liegt, wird immer besser. In den nächsten Jahren werden die Headsets kleiner werden und man wird zu Brillen, Kontaktlinsen und schließlich zu Retina- oder Gehirnimplantaten übergehen. Die visuelle Auflösung wird sich stetig verbessern, bis eine virtuelle Welt letztlich genauso aussehen wird wie eine nichtvirtuelle, und auch für Berührungen, Riechen und Schmecken werden wir Lösungen finden. Womöglich werden wir sogar einen großen Teil unseres Lebens in diesen Umgebungen verbringen – sei es bei der Arbeit, um soziale Kontakte zu pflegen oder zu unserer Unterhaltung.

Ich vermute, dass wir innerhalb eines Jahrhunderts über virtuelle Realitäten verfügen werden, die sich nicht mehr von der nichtvirtuellen Welt unterscheiden lassen. Möglicherweise werden wir uns über Gehirn-Computer-Schnittstellen an Geräte anschließen und so unsere Augen, Ohren und anderen Sinnesorgane umgehen. Diese Geräte werden extrem detaillierte Simulationen physischer Realitäten ermöglichen und physikalische Gesetze simulieren, die das Verhalten eines jeden Gegenstands innerhalb dieser Realitäten festlegen.

Manchmal wird uns die VR in Abwandlungen der uns bekannten physischen Realität versetzen, und manchmal werden wir mit ihr sogar in gänzlich neue Welten eintauchen. Menschen werden sich vorübergehend in Welten begeben, um darin zu arbeiten oder sich zu vergnügen. Vielleicht wird zum Beispiel ein Unternehmen wie Apple eine eigene Welt für die Arbeitsplätze seiner Mitarbeiter 13einrichten, die über ganz besondere Sicherheitsmaßnahmen verfügt, damit niemand Informationen zum jeweils aktuell in Entwicklung befindlichen Reality-System durchsickern lassen kann. Die NASA wird vielleicht eine Welt mit Raumschiffen entwerfen, in der man das Weltall mit Überlichtgeschwindigkeit erkunden kann. In anderen Welten werden Menschen ewig leben können, und virtuelle Immobilienagenturen werden darum konkurrieren, die Wünsche ihrer Kundinnen nach Welten mit perfektem Wetter in Strandnähe oder mit luxuriösen Wohnungen in pulsierenden Metropolen zu erfüllen.

Es könnte auch so kommen wie in dem – unter gleichem Namen auch verfilmten – Roman Ready Player One, in dem unser Planet zerstört und überbevölkert ist und virtuelle Welten uns dafür neue Landschaften und Möglichkeiten bieten. In früheren Jahrhunderten standen Familien oft vor der Entscheidung: »Sollen wir in ein anderes Land auswandern, um ein neues Leben zu beginnen?« In zukünftigen Jahrhunderten könnten wir vor einer vergleichbaren Entscheidung stehen: »Sollen wir unser Leben in eine virtuelle Welt verlegen?« Und genau wie bei der Frage, ob man auswandern sollte, könnte auch hier die vernünftige Antwort häufig ja sein.

Sobald die Simulationstechnologie gut genug ist, könnten solche simulierten Umgebungen sogar von simulierten Menschen mit simulierten Gehirnen und Körpern bewohnt sein, die ihr gesamtes Leben, von der Geburt bis zum Tod dort verbringen. So wie die Nicht-Spieler-Charaktere, denen man in vielen Videospielen begegnet, werden auch solche simulierten Menschen Geschöpfe einer Simulation sein.

Manche Welten werden zu Forschungszwecken oder um die Zukunft vorherzusagen simuliert werden. Eine Dating-App könnte beispielsweise (wie in der Fernsehserie Black Mirror) für ein Paar viele verschiedene Zukunftsszenarien simulieren, damit sie einschätzen können, ob sie zueinander passen. Historikerinnen könnten untersuchen, was passiert wäre, wenn Hitler sich nicht dazu entschlossen hätte, die Sowjetunion anzugreifen, und Wissenschaftler könnten eine Reihe ganzer Universen simulieren – beginnend mit dem Urknall und mit nur geringen Variationen –, um dann die Bandbreite der Ergebnisse zu untersuchen: Wie oft entwickelt sich Leben? Wie 14oft entwickelt sich Intelligenz? Wie oft entwickelt sich eine galaktische Zivilisation?

Wir können uns auch vorstellen, dass ein paar neugierige Simulatorinnen aus dem 23. Jahrhundert ihre Aufmerksamkeit auf das frühe 21. Jahrhundert richten. Nehmen wir einmal an, diese Simulatoren leben in einer Welt, in der Hillary Clinton bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 gegen Jeb Bush gewonnen hat. Nun könnten sie sich fragen, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn Clinton verloren hätte. Durch die Veränderung nur weniger Parameter könnten sie sogar eine Welt simulieren, in der Donald Trump 2016 den Sieg davonträgt, und dann noch zusätzlich den Brexit und eine Pandemie simulieren.

Simulatorinnen, die sich für die Geschichte der Simulation interessieren, könnten gerade deshalb besonders am 21. Jahrhundert interessiert sein, weil es die Phase ist, in der sich die Simulationstechnologie durchsetzt. Vielleicht simulieren sie aus diesem Grund auch einmal Menschen, die Bücher über zukünftige Simulationen schreiben – oder solche, die diese Bücher lesen. Selbstverliebte Simulatoren könnten die Parameter so wählen, dass ein paar Philosophinnen im 21. Jahrhundert wilde Spekulationen darüber anstellen, welche Simulationen im 23. Jahrhundert erschaffen werden könnten. Sie könnten insbesondere daran interessiert sein, Reaktionen von Lesern aus dem 21. Jahrhundert zu simulieren, die Spekulationen über Simulatorinnen aus dem 23. Jahrhundert lesen – so wie Sie es gerade tun.

Eine Bewohnerin einer solchen virtuellen Welt würde von sich glauben, in einer normalen Welt im frühen 21. Jahrhundert zu leben, in einer Welt, in der Trump zum Präsidenten gewählt wurde, das Vereinigte Königreich die EU verlassen hat und in der es gerade eine Pandemie gibt. Solche Ereignisse mögen zum Zeitpunkt ihres Eintretens überraschend sein, aber Menschen sind außerordentlich anpassungsfähig und nach einer Weile wird auch so etwas normal. Obwohl sie von den Simulatoren dazu gebracht wurde, ein Buch über virtuelle Welten zu lesen, wird es dieser Bewohnerin so vorkommen, als täte sie es aus freien Stücken. Womöglich vermittelt ihr das Buch, das sie nun liest, mit dem Holzhammer die Botschaft, dass sie sich 15in einer virtuellen Welt befinden könnte, doch sie lässt sich trotzdem darauf ein und beginnt, über diesen Gedanken nachzugrübeln.

Und jetzt stellt sich die Frage: »Woher wissen Sie eigentlich, dass Sie sich nicht gerade in einer Computersimulation befinden?«

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Dieser Gedanke wird häufig als Simulationshypothese bezeichnet. Wir kennen ihn aus den Matrix-Filmen, in denen sich eine scheinbar normale Welt als das Resultat der Vernetzung menschlicher Gehirne mit einem riesigen Computersystem erweist. Die Bewohner der Matrix erleben ihre Welt ganz ähnlich wie wir, doch die Matrix ist eine virtuelle Welt.

Ist es möglich, dass auch Sie sich jetzt gerade in einer virtuellen Welt befinden? Denken Sie für einen Moment über diese Frage nach. Wenn Sie das tun, dann betreiben Sie Philosophie.

Die Übersetzung des Ausdrucks »Philosophie« lautet Liebe zur Weisheit, aber ich betrachte die Philosophie lieber als die Grundlagen von allem. Philosophinnen sind wie kleine Kinder, die ständig Warum?, Was ist das?, Woher weißt du das?, Was bedeutet das? oder Warum soll ich das tun? fragen. Wenn Sie diese Fragen ein paar Mal hintereinander stellen, gelangen Sie schnell zu den Grundlagen. Auf diese Weise untersuchen Sie dann die Grundannahmen, die dem zugrunde liegen, was wir sonst für selbstverständlich halten.

Ich war ein solches Kind, aber es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass das, woran ich interessiert war, die Philosophie ist. Anfangs studierte ich Mathematik, Physik und Informatik. Diese Fächer bringen einen ein ganzes Stück näher an die Grundlagen von allem heran, aber ich wollte noch tiefer gehen. Also begann ich Philosophie zu studieren, und dazu Kognitionswissenschaft, um auf dem festen Boden der Wissenschaft zu bleiben und gleichzeitig deren Grundlagen zu erforschen.

Zunächst zog es mich zu den Fragen über den Geist – wie zum Beispiel Was ist Bewusstsein? –, mit denen ich einen großen Teil meiner Karriere zugebracht habe. Doch Fragen über die Welt – wie zum 16Beispiel Was ist Realität?[1]  – spielen eine ebenso zentrale Rolle in der Philosophie, und die vielleicht zentralsten Fragen sind solche über das Verhältnis von Geist und Welt – wie zum Beispiel Wie können wir etwas über die Realität wissen?

Letztere Frage bildet den Kern der Herausforderung, die René Descartes uns in seinen Meditationen über die Erste Philosophie (1641) stellt und die die Agenda der westlichen Philosophie für die nachfolgenden Jahrhunderte setzte. Er stellte die Frage, die ich das Problem der Außenwelt nenne: Wie kann man überhaupt etwas über die Realität außerhalb von einem selbst wissen?

Descartes näherte sich dem Problem, indem er sich verschiedene Fragen stellte: Woher weiß man, dass die eigene Wahrnehmung der Welt keine Illusion ist?, Wie kann man wissen, dass man nicht gerade träumt?, Woher weiß man, dass man nicht von einem bösen Dämon darin getäuscht wird, dass all dies real ist, obwohl das gar nicht stimmt? Heutzutage könnte er sich dem Problem auch mittels der Frage nähern, die ich Ihnen eben gestellt habe: Woher wissen Sie, dass Sie sich nicht gerade in einer virtuellen Welt befinden?

Lange Zeit dachte ich, dass ich zu Descartes’ Problem der Außenwelt nicht viel beizutragen hätte, doch das Nachdenken über virtuelle Realität eröffnete mir dann eine neue Perspektive darauf. Die Reflexion über die Simulationshypothese machte mir klar, dass ich virtuelle Welten unterschätzt hatte, so wie Descartes und viele andere das auf ihre Weise taten, und kam dadurch zu dem Schluss, dass wir 17uns einer Lösung des Problems der Außenwelt nähern können, indem wir genauer über virtuelle Welten nachdenken.

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Die zentrale These dieses Buchs lautet: Virtuelle Realität ist echte Realität. Oder zumindest: virtuelle Realitäten sind echte Realitäten. Virtuelle Welten müssen keine Realitäten zweiter Klasse sein, sondern können vollwertige Realitäten darstellen.

Diese These können wir in drei Teile gliedern:

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Virtuelle Welten sind keine Illusionen oder Fiktionen oder zumindest müssen sie es nicht sein. Was in der VR geschieht, geschieht wirklich. Die Gegenstände, mit denen wir in der VR interagieren, sind real.

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Das Leben in virtuellen Welten kann im Prinzip genauso gut sein wie das Leben außerhalb virtueller Welten. Man kann in einer virtuellen Welt ein vollkommen sinnvolles Leben führen.

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Die Welt, in der wir leben, könnte eine virtuelle Welt sein. Ich behaupte nicht, dass sie das ist. Aber es ist eine Möglichkeit, die wir nicht ausschließen können.

Die These – und insbesondere ihre ersten beiden Teile – haben praktische Konsequenzen für die Rolle, die VR-Technologie in unserem Leben spielen kann. Im Prinzip kann VR viel mehr als nur Eskapismus sein, nämlich eine vollumfängliche Umgebung, in der man ein echtes Leben führen kann.

Ich behaupte nicht, dass virtuelle Welten irgendeine Art von Utopie sein werden. Die VR-Technologie wird, genau wie das Internet, mit ziemlicher Sicherheit zu ebenso schrecklichen wie wunderbaren Dingen führen. Sie wird ganz sicher, ebenso wie die physische Realität, von manchen missbraucht werden, aber ebenso wie die physische lässt auch die virtuelle Realität Raum für die ganze Bandbreite der conditio humana – für das Gute, das Schlechte und das Hässliche.

18Ich werde mich in diesem Buch auf die VR mehr im Prinzip als in der Praxis konzentrieren. In der Praxis wird der Weg hin zu einer vollwertigen virtuellen Realität sicher holprig sein. Es würde mich nicht wundern, wenn die Verbreitung der VR noch für ein oder zwei Jahrzehnte eingeschränkt bliebe, während die Technologie weiter heranreift, und zweifellos wird sie sich in alle möglichen Richtungen entwickeln, die ich nicht vorhergesehen habe. Sobald jedoch eine ausgereifte VR-Technologie existiert, sollte es möglich sein, darin ein Leben zu führen, das dem in der physischen Realität ebenbürtig ist oder es sogar übertrifft.

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Der Titel dieses Buches erfasst die darin enthaltenen Hauptaussagen. Man kann ihn auf verschiedene Weise verstehen. Jede virtuelle Welt ist eine neue Realität: Realität+. Augmented Reality ist eine Ergänzung der Realität: Realität+. Manche virtuellen Welten sind genauso gut oder sogar besser als die normale Realität: Realität+. Falls wir uns in einer Simulation befinden, gibt es mehr Realität, als wir dachten: Realität+. Es wird einmal ein Sammelsurium verschiedener Realitäten geben: Realität+.

Ich weiß, dass das, was ich hier behaupte, vielen kontraintuitiv erscheinen wird. Womöglich glauben Sie, dass die VR vielmehr eine Realität− bzw. Realität minus ist, dass nämlich virtuelle Welten unechte und keine genuinen Realitäten sind oder dass keine virtuelle Welt so gut sein kann wie unsere normale Realität. Im Folgenden werde ich versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass Realität+ der Wahrheit näherkommt.

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Dieses Buch ist ein Projekt der – wie ich sie nenne – Technophilosophie. Die Technophilosophie ist eine Kombination aus (1) philosophischen Fragen über Technik und (2) der Anwendung von Technik zur Beantwortung traditioneller philosophischer Fragen.

19Der Name ist inspiriert von dem, was die kanadisch-amerikanische Philosophin Patricia Churchland in ihrem bahnbrechenden gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1987 als Neurophilosophie bezeichnet. Die Neurophilosophie verbindet philosophische Fragen zur Neurowissenschaft mit der Anwendung von Neurowissenschaft zur Beantwortung traditioneller Fragen der Philosophie. Die Technophilosophie macht dasselbe mit der Technik.

Es gibt einen florierenden Bereich der Philosophie, der oft als Philosophie der Technik bezeichnet wird und das erstere Projekt zu philosophischen Fragen über Technik durchführt. Was die Technophilosophie demgegenüber auszeichnet, ist das zusätzliche zweite Projekt: die Anwendung der Technik zur Beantwortung traditioneller philosophischer Fragen. Der Schlüssel zur Technophilosophie ist die wechselseitige Interaktion von Philosophie und Technologie. Die Philosophie hilft dabei, (zumeist neue) Fragen über Technik zu beleuchten, während die Technik dabei hilft (zumeist alte) Fragen der Philosophie zu beleuchten. Dieses Buch habe ich geschrieben, um beide Arten von Fragen gleichzeitig zu beleuchten.

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Zunächst möchte ich die Technik nutzen, um einige der ältesten Fragen der Philosophie zu beantworten, vor allem Descartes’ Problem der Außenwelt. Die VR-Technologie kann uns zumindest dabei helfen, dieses Problem – das aus den beiden Fragen besteht, wie wir irgendetwas über die uns umgebende Realität wissen können bzw. wie wir wissen können, dass die Realität keine Illusion ist – zu veranschaulichen. In den Kapiteln 2 und 3 werde ich diese Probleme darlegen, indem ich die Simulationshypothese vorstelle und frage: »Woher wissen wir, dass wir uns nicht gerade in einer Simulation befinden?«

Allerdings veranschaulicht die Vorstellung einer Simulation nicht nur Descartes’ Problem, sie schärft es zusätzlich, indem sie sein weit hergeholtes Szenario eines bösen Dämons durch realistischere Computer-Szenarien ersetzt, die wir ernst nehmen müssen. In Kapitel 4 argumentiere ich dafür, dass die Vorstellung einer Simulation viele 20der gängigen Erwiderungen auf Descartes untergräbt. In Kapitel 5 verweise ich dann auf statistische Überlegungen in Bezug auf Simulationen, um dafür zu argumentieren, dass wir nicht wissen können, dass wir uns nicht in einer Simulation befinden. All das macht Descartes’ Problem nur noch schwieriger.

Vor allem aber kann uns das Nachdenken über die VR-Technologie dabei helfen, eine Antwort auf Descartes’ Problem der Außenwelt zu geben. In den Kapiteln 6 bis 9 argumentiere ich dafür, dass, falls wir uns tatsächlich in einer Simulation befinden, Tische und Stühle keine Illusionen sind, sondern vollkommen reale Gegenstände: digitale Gegenstände, die aus Bits bestehen. Das führt uns dann zu dem, was in der modernen Physik manchmal als It-from-Bit-Hypothese bezeichnet wird, der These, dass physische Objekte zugleich real und digital sind. Durch das Nachdenken über die Simulationshypothese und die It-from-Bit-Hypothese – zwei Ideen, die von moderner Computertechnologie inspiriert sind – ergibt sich ein Ansatz dafür, Descartes’ klassisches Problem zu beantworten.

Descartes’ Argument können wir wie folgt formulieren: Wir wissen nicht, dass wir uns nicht in einer virtuellen Welt befinden, und da in einer virtuellen Welt nichts real ist, wissen wir nicht, ob irgendetwas real ist. Das Argument beruht auf der Annahme, dass virtuelle Welten keine echten Realitäten sind. Sobald wir zeigen können, dass virtuelle Realitäten sehr wohl echte Realitäten sind – und insbesondere, dass Objekte in virtuellen Welten real sind –, können wir daher auf Descartes’ Argument antworten.

Ich muss meinen Anspruch dabei etwas einschränken: Meine Untersuchung geht nicht auf alles ein, was Descartes sagt, und sie beweist auch nicht, dass wir sehr viel über die Außenwelt wissen. Und dennoch: Wenn meine Analyse richtig ist, löst sich damit der in der westlichen Tradition wohl primäre Grund für den Zweifel daran auf, dass wir irgendetwas über die Außenwelt wissen können, und hilft uns somit zumindest bei dem Versuch nachzuweisen, dass wir Wissen über die uns umgebende Realität haben.

Wir werden auch über Technik nachdenken, um traditionelle Fragen über den Geist zu beleuchten: Wie interagieren Geist und Kör21per? (Kapitel 14), Was ist Bewusstsein? (Kapitel 15), Reicht der Geist über den Körper hinaus? (Kapitel 16). In jedem dieser Fälle kann das Nachdenken über eine Technologie – VR, künstliche Intelligenz (KI) oder Augmented Reality (AR) – diese Fragen für uns erhellen und umgekehrt kann das Nachdenken über diese Fragen die entsprechenden Technologien erhellen.

Es erscheint mir angebracht zu betonen, dass meine eigenen Ansichten über das Bewusstsein und den Geist nicht im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Ich bin diesen Fragen in anderen Arbeiten nachgegangen und dieses Buch ist davon weitgehend unabhängig. Deshalb hoffe ich, dass jene, die meine Positionen zum Bewusstsein nicht teilen, dennoch mein Bild der Realität attraktiv finden. Gleichzeitig gibt es viele Berührungspunkte zwischen diesen beiden Bereichen. So kann man insbesondere die Kapitel 15 und 16 als vierte Säule der These betrachten, dass virtuelle Realität eine echte Realität ist – nämlich dafür, dass ein virtueller oder erweiterter Geist ein echter Geist ist.

Technik kann auch traditionelle Fragen über Wert und Ethik erhellen. Werte bilden den Bereich von Gut und Schlecht bzw. von Besser und Schlechter, die Ethik den von Recht und Unrecht. Was macht ein gutes Leben aus? (Kapitel 17), Was ist der Unterschied zwischen richtig und falsch? (Kapitel 18), Wie sollte eine Gesellschaft organisiert sein? (Kapitel 19). In diesen Fragen bin ich keineswegs Experte, aber die Technik eröffnet uns zumindest einen interessanten Blickwinkel auf sie.

Im Laufe des Buches werden wir noch weiteren altehrwürdigen Fragen der Philosophie begegnen: Gibt es einen Gott? (Kapitel 7), Woraus besteht das Universum? (Kapitel 8), Wie beschreibt die Sprache die Wirklichkeit? (Kapitel 20), Was sagt die Wissenschaft uns über die Realität? (Kapitel 22 und 23). Wie sich herausstellt, müssen wir gründlich über diese alten Fragen nachdenken, wenn wir zeigen wollen, dass virtuelle Realität echte Realität ist. Dabei gilt wie stets, dass die Erkenntnis in beide Richtungen verläuft, denn das Nachdenken über die Technik erhellt seinerseits auch diese Fragen.

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22Ich möchte außerdem die Philosophie dafür nutzen, um auch neue Fragen zur Technik, insbesondere zur Technologie virtueller Welten, zu erörtern. Dazu gehören Fragen zu Videospielen, zu Augmented-Reality-Brillen und Virtual-Reality-Headsets bis hin zu Simulationen ganzer Universen.

Meine zentrale These, dass virtuelle Realität echte Realität ist, habe ich bereits dargelegt. Im Zusammenhang mit VR werde ich außerdem Fragen stellen wie: Ist virtuelle Realität eine Illusion? (Kapitel 6, 10 und 11), Was sind virtuelle Gegenstände? (Kapitel 10), Erweitert eine erweiterte Realität wirklich die Realität? (Kapitel 12), Kann man in einer VR ein gutes Leben führen? (Kapitel 17) und Wie soll man sich in einer virtuellen Welt verhalten? (Kapitel 19).

Ich werde auch auf andere Technologien wie künstliche Intelligenz, Smartphones, das Internet, Deepfakes und Computer im Allgemeinen eingehen. Wie können wir wissen, dass wir nicht von Deepfakes getäuscht werden? (Kapitel 13), Können KI-Systeme ein Bewusstsein haben? (siehe Kapitel 15), Erweitern Smartphones unseren Geist und macht uns das Internet klüger oder dümmer? (siehe Kapitel 16), Und was ist überhaupt ein Computer? (Kapitel 21).

All diese Fragen sind philosophische, aber viele von ihnen sind zudem auch äußerst praktische Fragen. Wir müssen heute schon Entscheidungen darüber treffen, wie wir Videospiele, Smartphones und das Internet nutzen wollen, und wir müssen verhindern, auf Deepfakes hereinzufallen. In den kommenden Jahrzehnten werden wir zunehmend mit solchen praktischen Fragen konfrontiert werden, und da wir immer mehr Zeit in virtuellen Welten verbringen werden, müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob ein Leben dort wirklich sinnvoll sein kann. Irgendwann werden wir uns vielleicht sogar entscheiden müssen, ob wir uns gänzlich in die Cloud hochladen wollen oder nicht. Die philosophische Reflexion kann uns dabei helfen, uns über solche Entscheidungen darüber, wie wir unser Leben führen wollen, klar zu werden.

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23Am Ende dieses Buches werden Sie viele der zentralen Fragen der Philosophie kennengelernt haben. Wir werden sowohl historischen Größen aus früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden als auch Zeitgenossen und ihren Argumenten aus den letzten Jahrzehnten begegnen. Wir werden viele der zentralen Themen der Philosophie aufgreifen, darunter Wissen, Realität, Geist, Sprache, Werte, Ethik, Wissenschaft und Religion. Ich werde einige der mächtigen Denkwerkzeuge vorstellen, die Philosophinnen im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben, um über sie nachzudenken. Dies ist nur eine mögliche Perspektive auf die Philosophie und einen beträchtlichen Teil von ihr klammere ich hier aus, doch am Ende werden Sie einen Eindruck von einem Teil der historischen und zeitgenössischen philosophischen Landschaft gewonnen haben.

Um dem Leser dabei zu helfen, über diese Fragen nachzudenken, habe ich, wo immer möglich, Bezüge zur Science-Fiction und zu anderen Bereichen der Popkultur hergestellt. Viele Science-Fiction-Autorinnen haben sich mit diesen Fragen ebenso intensiv auseinandergesetzt wie die Philosophen, und ich bin auch schon oft auf neue philosophische Ideen gekommen, indem ich über Science-Fiction nachgedacht habe. Dabei liegt diese meiner Ansicht nach bei unseren Themen manchmal richtig und manchmal nicht, aber in jedem Fall können Science-Fiction-Szenarien Anlass vieler wertvoller philosophischer Überlegungen sein.

Am besten führt man in die Philosophie ein, indem man Philosophie betreibt. Während ich also viele Kapitel damit beginnen werde, eine philosophische Frage im Zusammenhang mit virtuellen Welten zu formulieren und einige philosophische Hintergründe zu erläutern, gehe ich in der Regel recht bald dazu über, gründlich über das jeweilige Problem nachzudenken. Ich werde die Themen sowohl innerhalb als auch außerhalb virtueller Welten analysieren, um so meine Argumentation für den Reality+-Standpunkt aufzubauen.

Als Folge davon ist dieses Buch so voll von meinen eigenen philosophischen Thesen und Argumenten wie keine andere Arbeit, die ich je geschrieben habe. Einige Kapitel behandeln Themen, die ich bereits in akademischen Aufsätzen diskutiert habe, aber mehr als die Hälfte 24des Buches ist völlig neu. Selbst wenn Sie schon ein alter Hase in Sachen Philosophie sein sollten, hoffe ich also, dass Sie auf Ihre Kosten kommen werden. Ergänzend stelle ich online ausführliche Anmerkungen und Anhänge bereit, in denen die Themen, oft mit Verweisen auf die wissenschaftliche Literatur, vertieft werden (〈consc.net/reality〉).

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Dieses Buch hat sieben Teile. Teil 1 (Kapitel 1 und 2) stellt die zentralen Probleme des Buches sowie die Simulationshypothese vor, die darin eine zentrale Rolle spielen wird. Teil 2 (Kapitel 3-5) beschäftigt sich mit Fragen des Wissens, insbesondere mit Descartes’ Argumenten für den Außenwelt-Skeptizismus. Teil 3 (Kapitel 6-9) befasst sich mit Fragen über Realität und liefert erste Argumente für meine These, dass die virtuelle Realität eine echte Realität ist.

In den nächsten drei Teilen des Buches werden viele verschiedene Aspekte dieser These vertieft. In Teil 4 (Kapitel 10-13) begeben wir uns auf den Boden der Tatsachen, um uns ganz praktisch mit Fragen zur tatsächlichen Virtual-Reality-Technologie – zu Virtual-Reality-Headsets, Augmented-Reality-Brillen und Deepfakes – zu beschäftigen. Teil 5 (Kapitel 14-16) befasst sich mit Fragen des Geistes, in Teil 6 (Kapitel 17-19) widmen wir uns Fragen über Werte und Ethik. Schließlich beschäftigt sich Teil 7 (Kapitel 20-24) mit grundlegenden Fragen zu Sprache, Computern und Wissenschaft, die für eine vollständige Ausarbeitung der Vorstellung von Reality+ unerlässlich sind. Das letzte Kapitel trägt dann diese Einzelteile zusammen, um einschätzen zu können, wo wir mit Descartes’ Problem der Außenwelt stehen.

Das Buch kann von verschiedenen Leserinnen auf unterschiedliche Weise gelesen werden. Jeder sollte Kapitel 1 lesen, aber danach kann man in viele verschiedene Richtungen weitergehen (in den Anmerkungen schlage ich, je nach Ihren Interessen, verschiedene mögliche Pfade vor). Viele der Kapitel stehen mehr oder weniger für sich. Die Kapitel 2, 3, 6 und 10 sind vielleicht als Hintergrund für die nachfolgenden Kapitel hilfreich, aber auch nicht absolut unverzichtbar.

25Die meisten Kapitel enthalten zu Beginn einführende Erläuterungen, danach wird die Argumentation zum Ende eines jeden Kapitels und zum Ende des Buches hin mitunter dichter. Sollten Sie auf der Suche nach einem kürzeren Buch und einem leichteren Leseerlebnis sein, könnten Sie es damit versuchen, die ersten zwei bis drei Abschnitte eines jeden Kapitels zu lesen, und dann, wann immer Sie mögen, zum jeweils nächsten Kapitel springen.

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Wir leben in einer Zeit, in der Wahrheit und Wirklichkeit unter Beschuss geraten sind. Es heißt zuweilen, wir befänden uns in einer Ära postfaktischer Politik, in der die Wahrheit irrelevant geworden ist, und häufig hört man, es gebe gar keine absolute Wahrheit und keine objektive Realität. Manche glauben, die Realität sei reine Kopfsache und es liege daher allein an uns, was real ist. Die vielfältigen Realitäten dieses Buches legen vielleicht zunächst auch eine Sichtweise nahe, nach der Wahrheit und Wirklichkeit billig zu haben sind. Dieser Meinung bin ich aber nicht.

Ich sehe diese Dinge folgendermaßen: Unser Geist ist zwar Teil der Wirklichkeit, doch es gibt auch einen großen Teil der Wirklichkeit, der sich außerhalb unseres Geistes befindet. Die Realität enthält unsere Welt; und vielleicht enthält sie noch viele andere. Wir können neue Welten und neue Teile der Realität erschaffen. Wir wissen ein wenig über die Wirklichkeit Bescheid und wir können versuchen, mehr über sie zu erfahren. Vielleicht gibt es aber Teile davon, die wir nie erkennen werden.

Vor allem aber: Die Wirklichkeit existiert, und zwar unabhängig von uns. Es kommt auf die Wahrheit an. Es gibt Wahrheiten über die Realität, und wir können versuchen, sie herauszufinden. Selbst im Zeitalter multipler Realitäten glaube ich immer noch an die objektive Realität.

27I. Virtuelle Welten

29Kapitel 1

Is this the real life?

Die ersten Zeilen von »Bohemian Rhapsody«, dem Hit der britischen Rockgruppe Queen aus dem Jahr 1975, fünfstimmig gesungen von ihrem Frontmann Freddie Mercury, lauten:

Is this the real life?

Is this just fantasy?

[Ist das das wirkliche Leben?

Oder ist das nur Einbildung?]

Diese Fragen haben eine Geschichte. In drei der großen antiken Philosophietraditionen – der chinesischen, griechischen und indischen – werden verschiedene Versionen von ihnen gestellt.

Diese Fragen drehen sich um alternative Versionen der Realität. Ist dies das wirkliche Leben oder ist es nur ein Traum? Ist es das wirkliche Leben oder ist es nur eine Illusion? Ist es das wirkliche Leben oder nur ein Schatten der Realität?

Heutzutage könnte man fragen: Ist dies das wirkliche Leben oder ist es virtuelle Realität? Wir können uns Träume, Illusionen und Schatten als altertümliche Entsprechungen von virtuellen Welten vorstellen – nur eben ohne den Computer, der erst zwei Jahrtausende später erfunden werden sollte.

Ob nun mit oder ohne Computer, werfen diese Szenarien einige der tiefsten Fragen der Philosophie auf. Sie können uns dabei helfen, diese Fragen zu stellen und uns beim Nachdenken über virtuelle Welten zu orientieren.

30Zhuangzis Schmetterlingstraum

Der altchinesische Philosoph Zhuangzi (auch bekannt als Dschuang Dschou, Dschuang Dsi oder Tschuang-tse) lebte um 300 vor Christus und war eine zentrale Figur der daoistischen Tradition. Er erzählt das berühmte Gleichnis des Schmetterlingstraums:

Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei […].

Zhuangzi – oder wie er hier veraltet genannt wird, Dschuang Dschou – kann sich nicht sicher sein, dass sein Leben als Zhuangzi die Realität ist. Vielleicht war auch der Schmetterling echt und Zhuangzi ist nur ein Traum.

Abb. 1: Zhuangzis Schmetterlinsgtraum. War es Zhuangzi, der träumte, ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der träumte, Zhuangzi zu sein?

Eine Traumwelt ist eine Art virtuelle Welt, die ohne einen Computer auskommt. Die Hypothese Zhuangzis, dass er sich gerade in einer Traumwelt befindet, ist also eine computerfreie Version der Hypothese, dass er sich gerade in einer virtuellen Welt befindet. Dazu stellt die Handlung von Matrix, dem Film der Wachowski-Schwestern aus dem Jahr 1999, eine interessante Parallele dar. Die Hauptfigur Neo führt ein gewöhnliches Leben, bis er eine rote Pille schluckt und in einer anderen Welt erwacht, in der er erfährt, dass die ihm bekannte Welt nur eine Simulation war. Hätte Neo so tiefgründig wie Zhuangzi gedacht, wäre ihm vielleicht auch der durchaus begründete Gedanke gekommen: »Vielleicht war mein altes Leben die Realität und dieses neue Leben ist die Simulation.« Während seine alte Welt voll mühseliger Arbeit war, ist die neue eine Welt der Kämpfe und Abenteuer, in der er als Erlöser angesehen wird. Vielleicht hat ihn die rote Pille bloß lange genug betäubt, damit er an diese aufregende Simulation angeschlossen werden konnte?

31Nach einer möglichen Interpretation wirft Zhuangzis Schmetterlingstraum eine Frage des Wissens auf: Woher weiß irgendjemand von uns, dass er oder sie nicht gerade träumt? Es handelt sich dabei um eine enge Verwandte der Frage, die wir uns in der Einleitung gestellt haben: Woher weiß irgendjemand von uns, dass wir uns nicht gerade in einer virtuellen Welt befinden? Diese Fragen führen uns zu einer noch grundlegenderen: Woher wissen wir, dass überhaupt irgendetwas real ist?

Naradas Verwandlung

Die altindischen Philosophen der hinduistischen Tradition waren von der Frage nach Illusion und Wirklichkeit fasziniert. Ein wichtiges Motiv zeigt sich dabei in der Volkserzählung von der Verwandlung des Weisen Narada. In einer Version der Geschichte sagt Narada zu dem Gott Vishnu: »Ich habe die Illusion besiegt.« Daraufhin verspricht Vishnu, ihm die wahre Macht der Illusion (oder Maya) zu zeigen. Narada erwacht als Frau – Sushila – ohne Erinnerung an das, 32was vorher geschah. Sushila heiratet einen König, wird schwanger und bekommt schließlich acht Söhne und zahlreiche Enkel. Eines Tages werden all ihre Söhne und Enkelsöhne von einem Feind bei einem Angriff getötet. Als die Königin um sie trauert, erscheint Vishnu und sagt: »Warum bist du so traurig? Das ist bloß eine Illusion.« Daraufhin findet sich Narada in seinem ursprünglichen Körper wieder, nur ein Augenblick war nach der ursprünglichen Konversation vergangen, woraus er schließt, dass sein ganzes Leben, genauso wie sein Leben als Sushila, eine Illusion ist.

Abbildung 2: Vishnu beobachtet Naradas Verwandlung in Sushila, im Stil von Rick and Morty.

Naradas Leben als Sushila ähnelt einem Leben in einer virtuellen Welt: Es ist eine Simulation, bei der Vishnu als Simulator fungiert. Als solches suggeriert es, dass auch Naradas gewöhnliche Welt bloß eine virtuelle Welt ist.

Naradas Verwandlung findet ein Echo in einer Episode der Zeichentrickserie Rick and Morty, die von den interdimensionalen Abenteuern des mächtigen Wissenschaftlers Rick und seines Enkels Morty handelt. In dieser Folge setzt sich Morty einen Virtual-Reality-Helm auf, um ein Videospiel mit dem Namen Roy: A Life Well Lived zu 33spielen. (Für dieses Buch wäre es noch passender gewesen, wenn Morty ein Spiel mit dem Namen Sue: A Life Well Lived gespielt hätte, aber man kann nicht alles haben.) Morty durchlebt in dem Spiel Roys gesamtes fünfundfünfzigjähriges Leben: Kindheit, Footballstar, Teppichverkäufer, Krebspatient, Tod. Als Morty nur einen Moment später aus dem Spiel zurückkehrt, tadelt sein Großvater ihn für seine falschen Lebensentscheidungen in der Simulation. Und das ist ein wiederkehrendes Thema der Serie. Die Figuren befinden sich zuweilen in scheinbar normalen Situationen, die sich dann als Simulationen herausstellen, und daher stellen sie sich auch häufig die Frage, ob ihre gerade aktuelle Realität wieder eine Simulation ist.

Naradas Verwandlung wirft tiefgreifende Fragen über die Realität auf. Ist sein Leben als Sushila real oder ist es eine Illusion? Vishnu behauptet, es sei eine Illusion, aber das ist alles andere als offensichtlich. Eine entsprechende Frage können wir auch zu virtuellen Welten, wie der Welt von Roy: A Life Well Lived, stellen. Sind diese Welten real oder Illusion? Und es drängt sich uns eine noch dringlichere Frage auf: Vishnu behauptet, dass unsere normalen Leben genauso illusionär sind wie Naradas verwandeltes Leben. Wie steht es dann mit unserer eigenen Welt, ist sie real oder eine Illusion?

Platons Höhle

Etwa zur gleichen Zeit wie Zhuangzi stellte der altgriechische Philosoph Platon sein Höhlengleichnis auf. In einem Teil seines langen Dialogs Der Staat (Politeia) schildert er die Geschichte von in einer Höhle angeketteten Menschen, die dabei nur Schatten sehen, die von Puppen auf eine Wand geworfen werden und die Dinge in der Welt des Sonnenlichtes nachbilden. Die Schatten sind das Einzige, was die Höhlenmenschen kennen, und deshalb halten sie sie für die Wirklichkeit. Eines Tages gelingt es einem von ihnen zu fliehen und er entdeckt die Schönheit der realen Welt außerhalb der Höhle. Irgendwann kehrt er in die Höhle zurück und berichtet von dieser Welt – doch niemand glaubt ihm.

34Platons Schatten betrachtende Gefangene erinnern mich an Kinogänger. Es ist, als ob sie noch nie etwas anderes als Filme gesehen hätten – oder, aktualisiert auf den neuesten Stand der Technik, als ob sie bisher nur mit Virtual-Reality-Brillen Filme gesehen hätten. Auf einer Konferenz für Mobiltechnologie im Jahr 2016 entstand ein berühmtes Foto, auf dem Facebook-Chef Mark Zuckerberg an den Konferenzteilnehmern vorbei einen Gang entlanggeht. Alle im Publikum Anwesenden tragen in dem abgedunkelten Saal Virtual-Reality-Brillen und scheinen gar nicht zu bemerken, wie Zuckerberg an ihnen vorüberschreitet. Das erscheint mir wie eine zeitgemäße Illustration von Platons Höhle.

Platon verwendet sein Gleichnis für verschiedene Zwecke. Er suggeriert, dass unsere eigene, unvollkommene Realität auf gewisse Weise der Höhle ähnelt, und außerdem will er uns dabei helfen darüber nachzudenken, was für ein Leben wir führen wollen. In einer zentralen Passage wirft Platons Sprachrohr Sokrates die Frage auf, ob wir ein Leben innerhalb oder außerhalb der Höhle vorziehen sollten.

Sokrates: Wenn es damals aber unter ihnen gewisse Ehrungen und Lobpreisungen und Auszeichnungen gab für den, der die vorübergehenden Gegenstände am schärfsten wahrnehmend sich am besten zu erinnern wusste, welche von ihnen eher und welche später und welche gleichzeitig vorüberwandelten, und aufgrund dessen am sichersten das künftig Eintretende zu erraten verstand, glaubst du etwa, dass er sich danach zurücksehnen werde und die bei ihnen durch Ehre und Macht Ausgezeichneten beneiden werde. Oder nicht vielmehr, dass er, nach Homer, das harte Los wählen, nämlich viel lieber »einem anderen, einem unbegüterten Manne um Lohn dienen wolle« und lieber alles andere über sich ergehen lassen würde als im Banne jener Trugmeinungen zu stehen und ein Leben jener Art zu führen?

Glaukon: Ja, ich denke, er würde lieber alles andere über sich ergehen lassen als auf jene Weise leben.

Abbildung 3: Platons Höhle im 21. Jahrhundert.

35Das Höhlengleichnis wirft tiefgreifende Fragen über unsere Werte auf, in diesem Fall darüber, was gut und was schlecht, oder zumindest, was besser und was schlechter ist. Ist ein Leben innerhalb oder außerhalb der Höhle besser? Platons Antwort darauf ist eindeutig: Ein Leben außerhalb der Höhle, selbst ein Leben als einfacher Arbeiter, ist um vieles besser als ein Leben in ihr. Die gleiche Frage können wir auch in Bezug auf virtuelle Welten stellen: Ist ein Leben innerhalb einer virtuellen Welt oder außerhalb davon besser? Und das verweist uns auf eine noch grundlegendere Frage: Was bedeutet es, ein gutes Leben zu führen?

Drei Fragen

Einem traditionellen Bild zufolge widmet sich die Philosophie der Erforschung von Wissen (Was wissen wir über die Welt?), Wirklichkeit (Wie ist die Welt beschaffen?) und Werten (Was ist der Unterschied zwischen gut und schlecht?).

36Unsere drei Geschichten werfen entsprechend Fragen in Bezug auf jeden dieser Bereiche auf. Zum Wissen: Wie kann Zhuangzi wissen, ob er träumt oder nicht? Zur Wirklichkeit: Ist Naradas Verwandlung wirklich oder eine Illusion? Zum Wert: Kann man in Platons Höhle ein gutes Leben führen?

Wenn wir diese drei Geschichten aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang von Träumen, Verwandlungen und Schatten in das Gebiet der Virtualität übertragen, dann werfen sie drei entscheidende Fragen über virtuelle Welten auf.

Die erste, von Zhuangzis Schmetterlingstraum aufgeworfene Frage betrifft das Wissen, deshalb nenne ich sie die Wissensfrage: Können wir wissen, ob wir uns in einer virtuellen Welt befinden oder nicht?

Die zweite, von Naradas Verwandlung aufgeworfene Frage betrifft die Realität und ich nenne sie die Realitätsfrage: Sind virtuelle Welten real oder Illusionen?

Die dritte, von Platons Höhlengleichnis aufgeworfene Frage bezieht sich auf Werte und darum nenne ich sie die Wertfrage: Kann man in einer virtuellen Welt ein gutes Leben führen?

Diese drei Fragen wiederum führen uns zu drei noch allgemeineren Fragen, die ihrerseits zum Kern der Philosophie gehören: Können wir irgendetwas über die uns umgebende Welt wissen? Ist unsere Welt real oder eine Illusion? Was heißt es, ein gutes Leben zu führen?

Im Verlauf dieses Buches werden diese Fragen über Wissen, Wirklichkeit und Wert im Mittelpunkt unserer Erkundung sowohl der virtuellen Welten als auch der Philosophie stehen.

Die Wissensfrage: Können wir wissen, ob wir uns in einer virtuellen Welt befinden oder nicht?

In dem Film Die totale Erinnerung – Total Recall aus dem Jahr 1990 (der mit ein paar Plotänderungen im Jahr 2012 neu verfilmt wurde) ist sich der Zuschauer nie ganz sicher, welche Teile des Films in einer virtuellen und welche in einer normalen Welt spielen. Die Hauptfigur, ein von Arnold Schwarzenegger gespielter Bauarbeiter namens 37Douglas Quaid, erlebt auf der Erde und dem Mars zahlreiche haarsträubende Abenteuer. Am Ende des Films blickt Quaid über die Marsoberfläche und beginnt sich (wie wir Zuschauer) zu fragen, ob seine Abenteuer in der normalen Welt oder in der virtuellen Realität stattgefunden haben. Der Film deutet an, dass sich Quaid tatsächlich in einer virtuellen Welt befinden könnte, denn in der Handlung spielt eine Virtual-Reality-Technologie eine wichtige Rolle, die Menschen Erinnerungen an Abenteuer implantiert. Da heldenhafte Abenteuer auf dem Mars wohl eher in virtuellen Welten stattfinden als im normalen Leben, wird Quaid, wenn er darüber nachdenkt, zu dem Schluss kommen, dass er sich wahrscheinlich in einer virtuellen Realität befindet.

Und was ist mit Ihnen? Können Sie wissen, ob Sie sich in einer virtuellen oder einer nichtvirtuellen Welt befinden? Ihr Leben ist möglicherweise nicht so aufregend wie das von Quaid, aber die Tatsache, dass Sie gerade ein Buch über virtuelle Welten lesen, sollte Ihnen zu denken geben (und die Tatsache, dass ich eines schreibe, sollte mir noch mehr zu denken geben). Warum? Weil ich vermute, dass im Zuge der fortschreitenden Entwicklung von Simulationstechnologien Simulatorinnen zukünftig dazu neigen werden, Menschen zu simulieren, die über Simulationen nachdenken – vielleicht um zu sehen, wie nahe diese Menschen dabei der Wahrheit über ihr eigenes Leben kommen. Können wir irgendwie erkennen, ob unser scheinbar ganz normales Leben virtuell ist?

Um meine Karten gleich auf den Tisch zu legen: Ich weiß nicht, ob wir uns in einer virtuellen Welt befinden oder nicht, und ich glaube, Sie wissen es ebenso wenig. Tatsächlich glaube ich nicht, dass wir jemals wissen können, ob wir uns in einer virtuellen Welt befinden oder nicht. Im Prinzip könnten wir herausfinden, dass wir uns tatsächlich in einer virtuellen Welt befinden – zum Beispiel, indem sich die Simulatorinnen zu erkennen geben und uns erklären, wie die Simulation funktioniert. Aber wenn wir uns nicht in einer virtuellen Welt befinden, werden wir das nie mit Sicherheit wissen.

Auf die Gründe für diese Unsicherheit werde ich in den nächsten Kapiteln genauer zu sprechen kommen. Den wesentlichen Grund 38dafür werde ich in Kapitel 2 genauer ausführen: Wir können niemals zeigen, dass wir uns nicht in einer Computersimulation befinden, da sich jeder Beleg für die gewöhnliche Realität – sei es die Schönheit der Natur, die Launen Ihrer Katze oder das Verhalten anderer Menschen – mutmaßlich simulieren lässt.

In den vergangenen Jahrhunderten haben zahlreiche Philosophen Strategien entwickelt, mit denen sie zeigen wollten, dass wir uns nicht in einer virtuellen Welt befinden. In Kapitel 4 werde ich diese Strategien diskutieren und dafür argumentieren, dass sie nicht funktionieren. Darüber hinaus sollten wir die Möglichkeit ernst nehmen, dass wir uns tatsächlich in einer virtuellen Welt befinden. Der schwedische Philosoph Nick Bostrom hat auf Grundlage statistischer Überlegungen dafür argumentiert, dass es unter bestimmten Vorannahmen viel mehr simulierte als nichtsimulierte Menschen im Universum gibt, und wenn das stimmt, dann sollten wir es womöglich für wahrscheinlich halten, dass auch wir uns in einer Simulation befinden. In Kapitel 5 argumentiere ich für eine etwas schwächere Schlussfolgerung: All diese Überlegungen laufen darauf hinaus, dass wir nicht wissen können, dass wir uns nicht in einer Simulation befinden.

Dieses Ergebnis hat erhebliche Konsequenzen für Descartes’ Problem, wie es möglich sein soll, dass wir irgendetwas über die Außenwelt wissen. Wenn wir nicht wissen, ob wir uns in einer virtuellen Welt befinden oder nicht, und wenn nichts in einer virtuellen Welt real ist, dann sieht es so aus, als könnten wir nicht wissen, ob irgendetwas in der Außenwelt real ist. Und das wiederum scheint zu bedeuten, dass wir überhaupt gar nichts über die Außenwelt wissen können.

Das wäre eine schockierende Konsequenz. Wir können nicht wissen, ob Paris in Frankreich liegt? Ich kann nicht wissen, dass ich in Australien geboren bin? Ich kann nicht wissen, dass ich gerade an einem Schreibtisch sitze?

Viele Philosophen haben versucht, diese schockierende Schlussfolgerung zu vermeiden, indem sie für eine positive Antwort auf die Wissensfrage argumentiert haben: Wir können sehr wohl wissen, dass wir uns nicht in einer Simulation befinden – und wenn wir das wissen können, dann können wir sehr wohl auch etwas über die Außen39welt wissen. Aber wenn ich recht habe, haben wir keine Möglichkeit, uns auf diese Position zurückzuziehen. Wir können nicht wissen, dass wir uns nicht in einer Simulation befinden, und das macht das Problem des Wissens über die Außenwelt umso schwieriger.

Die Realitätsfrage: Sind virtuelle Welten real oder Illusionen?

Wann immer von virtueller Realität die Rede ist, hört man dasselbe Lied: Simulationen sind Illusionen. Virtuelle Welten sind nicht real. Virtuelle Gegenstände existieren nicht wirklich. Virtuelle Realität ist keine echte Realität.

Diese Gedanken finden wir auch in Matrix. Neo begegnet in einem Wartezimmer innerhalb der Simulation einem Kind, das anscheinend mit der bloßen Kraft seines Geistes einen Löffel verbiegt. Sie unterhalten sich:

KIND: Versuch nicht den Löffel zu verbiegen. Das ist nämlich nicht möglich. Versuch dir stattdessen einfach die Wahrheit vorzustellen.

NEO: Welche Wahrheit?

KIND: Den Löffel gibt es nicht.

Dies wird als tiefgründige Wahrheit dargestellt: Den Löffel gibt es nicht. Innerhalb der Matrix sei der Löffel nicht real, sondern bloß eine Illusion. Der amerikanische Philosoph Cornel West – der selbst in Matrix Reloaded und Matrix Revolutions den Councilor West, Mitglied des Rats von Zion, spielte – führt diesen Gedankengang in einem Kommentar zur Matrix noch einen Schritt weiter. Über das Erwachen aus der Matrix sagt er: »Der Ort, an dem du glaubst zu erwachen, kann tatsächlich eine weitere Form der Illusion sein. Da sind Illusionen auf allen Ebenen, bis ganz nach unten.« Hier begegnen wir einem Nachhall von Vishnu: Simulationen sind Illusionen und die normale Realität könnte ebenfalls eine Illusion sein.

Der gleiche Gedankengang begegnet uns auch in der Fernsehserie 40Atlanta. Drei der Figuren sitzen nachts um einen Pool und diskutieren über die Simulationshypothese. Nadine ist überzeugt: »Wir sind alle ein Nichts. Es ist eine Simulation, Van. Wir sind alle unecht.« Sie geht also davon aus, dass wir nicht real sind, wenn wir in einer Simulation leben.

Ich denke, dass diese Behauptungen alle falsch sind. Ich glaube, es ist vielmehr so: Simulationen sind keine Illusionen, virtuelle Welten sind real, und virtuelle Gegenstände existieren wirklich. Meiner Ansicht nach hätte das Kind in der Matrix besser sagen sollen: »Versuch dir die Wahrheit vorzustellen. Es gibt einen Löffel – und zwar einen digitalen Löffel.« Neos Welt ist vollkommen real und Nadines Welt genauso, selbst wenn sie sich in einer Simulation befinden.

Abb. 4: Cornel West, wie er aus seinem Leben als Councilor West von Zion erwacht, über Illusion und Realität.

Dasselbe gilt für unsere eigene Welt. Selbst wenn wir uns in einer Simulation befinden, ist unsere Welt trotzdem real. Es gibt darin trotzdem Tische, Stühle und Menschen, und es gibt Städte, es gibt Berge und es gibt Meere. Natürlich kann es auch viele Illusionen in unserer Welt geben. Wir können von unseren Sinnen und von anderen Menschen getäuscht werden. Aber die normalen Gegenstände um uns herum sind real.

Was meine ich mit »real« oder »wirklich«? Das ist schwierig zu beantworten, denn diese Wörter haben keine einzelne, feste Bedeutung. In Kapitel 6 diskutiere ich fünf verschiedene Kriterien dafür, was es heißt, »real«, »wirklich« oder »echt« zu sein. Ich werde dafür argumentieren, dass selbst wenn wir uns in einer Simulation befinden, die Dinge, die wir wahrnehmen, all diese Kriterien für Realität erfüllen.

Wie sieht es mit der uns bekannten virtuellen Realität aus, die wir zum Beispiel über ein Headset erleben können? Hier kann es manchmal Illusionen geben. Wenn uns nicht bewusst ist, dass wir uns in einer VR befinden, und wir die virtuellen Objekte für normale physische Gegenstände halten, dann liegen wir falsch. In Kapitel 11