Reise ohne Heimkehr - Werner Helwig - E-Book

Reise ohne Heimkehr E-Book

Werner Helwig

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Beschreibung

3. Teil der Hellas-Trilogie von Werner Helwig Mein Erwachen vollzog sich bei goldträumender Stille. Sanftes Morgennebelregenwetter nieselte. Kaum bewegte Wellen plätscherten an die Wände des Bootes. Der Nikolaos lag verankert vor einer kleinen lehmgelben Felsenhöhle, ragte mit dem Bug halb in sie hinein. Das wasserdurchschwemmte Gemach war bequem mit Trittsteinen ausgelegt, die zu einem schmalen Strandsaum führten, auf welchem sich angespültes Holz, Obstkisten und Tonnenreste häuften. Mein Freund hängte gerade den Kupferkessel ins Feuer, warf ein Bündel frischgerupfter Salbeiblätter hinein. Der Dampf des Gebräus zog mir anregend in die Nase. »Wo sind wir denn?« fragte ich erstaunt, ungläubig, schlafbefangen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 438

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Werner Helwig

Reise ohne Heimkehr

Roman

FISCHER Digital

Nachwort von Richard Bersch

Inhalt

O Hoffnung, [...]Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebentes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDreißigstes KapitelEinunddreißigstes KapitelZweiunddreißigstes KapitelDreiunddreißigstes KapitelVierunddreißigstes KapitelFünfunddreißigstes KapitelSechsunddreißigstes KapitelSiebenunddreißigstes KapitelAchtunddreißigstes KapitelNeununddreißigstes KapitelVierzigstes KapitelEinundvierzigstes KapitelZweiundvierzigstes KapitelDreiundvierzigstes KapitelVierundvierzigstes KapitelFünfundvierzigstes KapitelSechsundvierzigstes KapitelSiebenundvierzigstes KapitelAchtundvierzigstes KapitelNeunundvierzigstes KapitelFünfzigstes KapitelEinundfünfzigstes KapitelZweiundfünfzigstes KapitelDreiundfünfzigstes KapitelVierundfünfzigstes KapitelFünfundfünfzigstes KapitelSechsundfünfzigstes KapitelSiebenundfünfzigstes KapitelAchtundfünfzigstes KapitelNeunundfünfzigstes KapitelSechzigstes KapitelEinundsechzigstes KapitelZweiundsechzigstes KapitelZu dieser AusgabeNachwort

O Hoffnung,

du allein trennst uns von der Erlösung

Erstes Kapitel

»… und falls es Dir doch noch einfallen sollte, hier aufzukreuzen, bemühe Dich um den Postdampfer Wassiliki. Er fährt einmal wöchentlich zu den Sporaden. Löse ein Billett bis zur Insel Alonisi. Da ich mir mit Ausbooten von Frachtgut oder Passagieren gelegentlich ein paar Drachmen verdiene, ist es wahrscheinlich, daß wir uns schon am Fallreep des Dampfers treffen …

Clemens«

Diese frostigen Zeilen las ich in einem Brief, den mir Papa Pferdefuß ausgehändigt hatte. Papa Pferdefuß war der Betreuer der kleinen katholischen Gemeinde der griechischen Hafenstadt Volos, in welcher ich soeben angekommen war. Im Hause des Priesters unterhielt Clemens ein winziges Kellerzimmer für seine gelegentlichen Aufenthalte. Das wußte ich von früheren Besuchen her. Nun, der Postdampfer nach den Sporaden war natürlich gerade abgefahren. In meinem Ärger darüber kam mir die Einladung des Priesters, inzwischen das Zimmer zu benützen, recht gelegen. Da kein Stuhl vorhanden war, verbrachte ich die meiste Zeit auf dem unerfreulichen Bett. Alles zeugte hier vom Wesen und Sein meines Freundes. Ein Schiffstau hing an der Wand. Ein mit brüchigem Wachstuch überzogener Schließkorb stand unter dem hochgelegenen eisenvergitterten Kellerfenster. Und am meisten war es der Geruch dieser Dinge, der ihn verriet. Ein Gemisch von Jod (das war das Hanftau), von Armut (das war das Wachstuch) und von Kälte (das war das eiserne Gestell des Bettes). In dem Schließkorb wußte ich seine Vergangenheit verborgen. Die Kleider, in denen er stak, als er vor Jahren hier ankam und den Österreicher ablegte, um Grieche zu werden. Zweimal hatte er das aufgegeben, und zweimal war er wiedergekommen. Die Heimat hatte ihn ausgespieen. Er war zu groß für sie, er, mit seinem unbändigen Freiheitsanspruch. Und Hellas – war es groß genug für ihn? Mehrmals hatte ich ihn besucht, war Zeuge seiner Auf- und Untergänge gewesen. Immer war da ein Rest geblieben, ein ungeklärter, unerklärbarer. Und jetzt war ich da, zu einem letzten Besuch, um mit diesem Rest abzuschließen, erkläre er sich nun oder nicht. – Meine neue Umgebung stand in schreiendem Gegensatz zu den Annehmlichkeiten, die ich um des Freundes willen auf Capri verlassen hatte. Dort stand mir ein hübsches Häuschen zur Verfügung, und es war eine Schande, daß ich nicht arbeitete wie ein Verrückter, um es zu halten. Doch ich will nicht vorgreifen. Jedenfalls, kaum im Beginn meines Unternehmens steckend, fing ich schon an, seine Sinnfälligkeit zu bezweifeln.

Es galt zwar, das Wort einzulösen, das ich dem Freund gegeben. Aber da ich mich mit meiner Abreise bedeutend verspätet hatte, war, wie aus den Zeilen seines Briefes hervorging, ohnehin der ganze Plan verrutscht. Und außerdem war ich – schon wieder – durch ein anderes Versprechen über dies hinaus gebunden. Nun saß ich da und mußte warten, warten in einer Zwickmühle sich widerstreitender Gefühle. Meine Untätigkeit unterbrach ich nur, wenn ich ausging, um mir etwas zu essen zu kaufen, oder wenn ich mit der hohlen Hand Fliegen fing, die sich dicht an dicht auf den weißen Wänden paarten. Es war ein Versuch, die Dürftigkeit zu bestehen. Durch die Fensterluke blickte man auf Schuhe und Hosenbeine der vorübereilenden Straßenpassanten. Im Garten des Hauses erhob sich wie ein Pavillon aus Zuckerwerk die neue kleine Kirche und quälte mich morgens mit ihrem dünnen Gebimmel. Je nach den Gezeiten des Gottesdienstes sah ich Papa Pferdefuß in fleckiger Soutane, in schwarzen ausgetretenen Schuhen über den knirschenden Kies zur Sakristei eilen. Wenn er mit mir sprach, pflegte er die großen fleischigen Hände aneinander zu reiben und den spitzbärtigen Kopf schief an die Schulter zu lehnen, wobei er sein Gesicht väterlich liebenswürdig verzog. Er fühlte sich ein wenig unsicher mir gegenüber. Er kleidete seine Verlegenheit in die Worte: »Na, was macht denn unser Clemens?« Und da ich es auch nicht wußte und dies mit ein paar nichtssagenden Worten bezeugte, entgegnete er, als ob das eine zureichende Antwort gewesen wäre: »Er ist ein großer Fischer vor dem Herrn, unser Argonautilos. Und zugleich ist er ein Fischlein in der Reuse unsrer alleinseligmachenden Kirche. Immer, wenn er hier ist, besucht er unser schönes Gotteshaus, beichtet, läßt sich Absolution erteilen und ißt vom Tische des Herrn, das heißt, damit Sie mich nicht mißverstehen – er nimmt das Heilige Abendmahl.«

Lächelnd und mit dem Kopfe nickend, entschwand er und ließ mich, den Abtrünnigen, den Protestanten, in den Bewegungen seines breiten Rückens so etwas wie Verachtung spüren.

Während der Nachtfahrt mit einer III.-Klasse-Deckplatzkarte befand ich mich immer noch in schlechter Stimmung. Drückende Nebelfinsternis umhüllte die hellenische Welt mit lauer Feuchtigkeit. Für mich hatte das einen geradezu sägenden Kopfschmerz zur Folge. Der eiserne Kiel des umständlich schnaufenden und stampfenden Dampfers furchte das trägflüssige Wasser. Ich ging in die ›Salon‹ benannte Kajüte, setzte mich an den Tisch unter die schirmlos schaukelnde Lampe und ärgerte mich, daß ich den Zuschlag für eine Schlafkoje eingespart hatte. Die Hände an die schmerzenden Schläfen gepreßt, versuchte ich, der Leere standzuhalten, die mich würgend umkreiste. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, kramte ein Schreibheft hervor und zwang mich, Worte aneinanderzureihen. Worte, die sich ungewollt zu Versen fügten. Verse, die angstvoll nach GERMAINE suchten. Ein Name, mit dem etwas Neues für mich aufgegangen war. Ein Licht. Licht eines weiblichen Menschen in der weiten pfadlosen Landschaft meines Inneren.

Im Einklang des Herbstes

erneuern sich die Wasser

der tiefen alten Seen.

 

Lautlose Kälte

kann einem plötzlich die Schläfe füllen,

und ein Gefühl von Wissen,

daß man nie zurückkehren werde,

wohin auch immer.

 

Die Schiffslaterne sucht vor sich hin

am Rande des Dunkels.

Es ist, als trüge man

ein Vögelchen unter der Achsel

und spürte sein Herz klopfen.

 

Mit dem Laut eines Kindes,

das die Mutter sucht,

wird man Ausschau halten

nach den brokatenen Gewändern

des Todes.

Im buntbleichen Morgendämmern erschien endlich der graue zackige Umriß von Alonisi. Mit pochenden Schläfen, sehr nach Kaffee gelüstig, sah ich mich in der leeren kleinen Bucht um. Die Reisenden, die zu der einzigen abseits gelegenen Ortschaft der Insel gelangen wollten, mußten sich hier von Fischerbooten an Bord nehmen lassen. Die Wassiliki sparte Umwege ein, denn sie hatte den ganzen Archipel zu bedienen. Erwartungsvoll musterte ich die in der kahlen kalten Bucht herumliegenden Fischerkähne, von denen sich mehrere dem Fallreep des Dampfers näherten. Der Agios Nikolaos mit dem mir so vertrauten blauroten Anstrich war nicht dabei. Endlich bemerkte ich ihn. Völlig entfärbt, kaum vom Felsenhintergrund zu unterscheiden, dümpelte er backbords der Wassiliki, und niemand rührte sich in ihm. Oder doch? Während ich, von einem fremden Fischer ausgebootet, an Land ging, erhob sich in jenem Boot ein bleicher bärtiger Mann aus einem Schutthaufen von Decken, streckte sich und gähnte hörbar. Ohne mir ein Zeichen des Erkennens zu geben oder auf mein freudiges Winken einzugehen, zog er den Anker am Heck herauf und ließ zugleich mit den ihm eigenen Handbewegungen das Tau vor seinen nackten Füßen in Ringen aufs Deck fallen, hängte die Ruder in die Dollen und hatte immer noch keinen Blick für mich, der ich mich auf der Klippenbank förmlich in meiner Person aufplusterte, um von ihm als fröhlicher Ankömmling bemerkt zu werden.

Sehr ernst, erschöpft, verkommen, nachdenklich ruderte er auf mich zu. Kein lauter Gruß. Ein paar stille Worte: »Bist also doch noch gekommen?« Ich war auf die Frage gefaßt, konnte ihm aber doch nicht sofort darauf antworten. Was hinter mir lag, war nicht mit drei Worten erzählt. Es brauchte dazu seine Stunde, seine ganz besondere, höchst geeignete Stunde. Mein immer sprungbereiter Blick indessen entdeckte (vielleicht aus Verlegenheit) am weißen Steingrund des grünen Wassers etwas Ungewöhnliches: ein kleines Laternchen mit offener Tür. Ich zeigte darauf hin. Clemens holte es mit einem Fischhaken empor. Während er sich bückte, erschienen weiße schmutzige Mullbinden unter seinen Hosenbeinen. An der Laterne war nur eine Scheibe zersprungen. Im übrigen war sie brauchbar. Sogar der kleine Blechbecher fürs Öl war noch drin. Sie wurde an Bord verstaut.

Clemens nahm außer mir noch drei weitere Fahrgäste auf, wodurch unsere Unterhaltung fürs erste verhindert wurde. Mein Reisesack und die Gitarre erhielten (oft war das in früheren Jahren schon geschehen) ihre gewohnten Plätze unter dem Vorderdeck. Nach Umschiffung eines bimssteinfarbenen, breit umwogten Kaps fuhren wir auf der Ostseite der Insel in den Fischerhafen Batir ein. In der Ferne verschwand dampfend die Wassiliki. Ich war, wenigstens bis zu ihrer Wiederkunft, unentrinnbar der neuen Lage ausgeliefert. Ich schwieg. Aber meine Zunge betastete nervös eine kleine Lücke zwischen meinen Schneidezähnen.

Vor uns erschienen niedrige, flüchtig gekalkte Häuser. Ihre Dachziegel waren rosa wie menschliche Fingernägel. Clemens legte die Ruder in den Außenbordgabeln zur Ruhe. Die Fahrgäste gelangten mit ihren Bündeln und Körben über die Schiffslände ans Ufer. Wir beide standen uns allein gegenüber.

»Zunächst mal, wenn es möglich ist, Kaffee«, sagte ich. Er lachte unfreundlich. »Ein kostspieliger Wunsch«, und wies unter die Bordwände, wo in den kleinen Fächern zwischen den Spanten, wie ich von früher her wußte, die Blechdosen für Zucker und Kaffee untergebracht waren. Jetzt befanden sich dort nur dicke Knäuel von Angelschnur, Bleiklumpen, schwere Fischhaken und Drahtbündel.

»Du hast keine Vorräte mehr?« fragte ich.

»Die Herbstfischerei hat eben erst begonnen«, sagte er.

»Also gut, gehen wir einkaufen. Ich habe ja Geld mitgebracht.«

»Wie du willst …«

»Aber hernach muß ich noch ein Auge voll Schlaf nehmen.«

»Das läßt sich einrichten« (er sah nach dem Himmel mit prüfendem ernstem Seemannsblick).

In einem der Häuser bekam ich eine winzige Tasse Kaffee, sämig vor lauter Zucker. Dazu ein großes Glas kellerkalten Wassers. Selten habe ich pures Wasser so als Genuß empfunden wie auf dieses Getränk hin. Clemens trug zusammengerollte Zeugfetzen über der Schulter und schritt mir voran, einem kleinen windgeschützten Föhrenwäldchen zu. Väterlich besorgt (ich deutete dies als erstes Zeichen von Nettigkeit) baute er mir unter geschickter Ausnützung des Geländes ein gefälliges Ruhelager und zog sich mit einem Kopfnicken zurück. Immer noch wie betäubt, hüllte ich mich in die alten fischrüchigen Felle und Decken und ergab mich dem Wind, dem Himmel und der beginnenden Sonne. Fühlte ich dies alles wieder wie ehemals oder war’s ein wenig so, als hätte ich es mir inzwischen verscherzt, oder war’s einfach anders? Es war anders. Aber das sollte mir erst nach und nach bewußt werden.

Es mochte gegen Mittag sein, ich erwachte mit dumpfem Kopf. Eben kam Clemens herauf, eine frische Zigarette im seegeschwärzten Gesicht.

»Konntest du schlafen?« fragte er.

Ich bejahte eifrig, von seiner Freundlichkeit überrascht. »Ich muß mit dir sprechen«, sagte er, während sein sinnender Blick die blaßblaue Ferne zwischen den rotrindigen Stämmen suchte. »Eigentlich hatte ich dich nicht mehr erwartet.«

»Stimmt, wir waren auf Juli verabredet. Aber bei mir kam etwas dazwischen. Vorerst nur ein Name: Germaine. Bei Gelegenheit werde ich dir alles erklären.«

»Ich hatte dich nicht mehr erwartet. War ohne Geld. Ohne Hilfe. Mußte arbeiten. Als die Abmachungen für die Herbstfischerei fällig wurden, verpflichtete ich mir einen Genossen und setzte das Boot als Pfand für die Heuer ein. Den Kotschu. Du erinnerst dich seines Namens? Erzählte ich dir früher von ihm?«

»Ich erinnere mich. Ist es jener, mit dem du Seevogeleier an den Steilküsten sammeltest?« Clemens ließ sich nicht aus der Reihe bringen und fuhr fort: »Er gab die Geräte. Paragali, Kettenangel. Du triffst mich also im festen Arbeitsverhältnis. Ich kann da jetzt nicht mehr heraus.«

»Dumm.«

Er rauchte nachdenklich vor sich hin.

»Ich könnte dich hier auf einer der Inseln einquartieren. Würde dich ab und zu besuchen. Hast du dir Bücher mitgebracht?«

»Nein«, log ich.

»Du möchtest also lieber, daß wir unsere Küstenschleicherfahrt machen, so wie wir sie damals verabredet hatten?«

»Offen gestanden: Ja!«

»Das ist unmöglich.«

»Kann ich dich nicht freikaufen von deiner Verpflichtung?«

»Es ginge nicht unter zweitausend Drachmen ab. Der Mann muß voll entschädigt werden. Er kann jetzt keinen Anschluß mehr an andere Fischergruppen finden. Die sind alle schon unterwegs.«

»Ich habe dreitausend Drachmen mitgebracht. Wie lange könnten wir von den restlichen tausend leben?«

»Zwei Monate.«

»Gewiß?«

»Ganz gewiß.«

»Sprich mit dem Kotschu.«

Er warf lässig eine frisch geöffnete Schachtel zwischen uns auf den Boden, nahm eine Zigarette, drückte sie zwischen behutsamen Fingerspitzen rund und locker.

»Gut«, sagte er abschließend.

Auch ich nahm eine Zigarette, denn ich fühlte, daß hier mehr entschieden wurde als nur Geschäftliches. Ich sagte:

»Falls du aber nicht wirklich Lust hast: Ich kann mich hier schon einrichten. Langeweile fürchte ich nicht. Langeweile erzwingt Ereignisse. Außerdem (ich schlug auf meinen Reisesack, der mir als Kopfkissen gedient hatte), außerdem habe ich doch Bücher bei mir. Homer, Apollonius. Schwer auslesbare Bücher.«

»Was werden wir machen, wenn der Tausender aufgebraucht ist?«

»Ich erwarte Geld von einer Zeitung.« (Ich verschwieg ihm, daß ich es schon auf Capri längere Zeit vergeblich erwartet hatte.)

»Eine Fahrt nach dem Süden«, flüsterte er, »das wäre nicht schlecht. Chalkis, Nauplia, Kreta, das ist etwas, das mir schon lange vorschwebt. Schon um zu sehen, wie es dort mit dem Fisch bestellt ist.«

»Ja«, hakte ich ein, »ich denke, wir könnten es gut haben miteinander.«

»Und hier entgehen wir dem strengen ägäischen Winter.«

»Ich möchte dich nicht überreden.«

Man sah, daß er sich innerlich einen Ruck gab. Sein Gesicht, bis dahin fremd, abweisend, fern, belebte sich, füllte sich mit erfreulichen Hoffnungen. Seine seefarbenen Augen blickten warm, voll und dunkel auf mich. »Abgemacht«, sagte er plötzlich und hielt mir die Hand hin. Ich schlug ein in der Meinung, ihn nun endlich gebannt zu haben. Aber er war schon wieder innerlich entwandert. Er schwieg, und sein Schweigen war mehr als Nachdenklichkeit. Wir hockten noch eine Weile mit untergeschlagenen Beinen, lichtüberfleckte Gestalten im rieselnden Zweigewind. Mit der Mittagshitze kamen Schmeißfliegen. Sie waren von quälender Beharrlichkeit. Ihre Stiche dünkten mich ungewöhnlich schmerzhaft. Clemens rührte sich nicht, ließ sie ruhig auf seinen Händen krabbeln. Um etwas zu tun, packte ich die Gitarre aus. Drehte lange an den Wirbeln der Saiten herum. Die Töne klangen dumpf und schwankend wie unter Wasser.

»Sie läßt sich schwer stimmen«, sagte ich. »Das bedeutet Wetterwechsel.«

»Meinst du?« fragte er zweifelnd und bog den Kopf gegen den Himmel. Als sein Gesicht so hell im Lichte stand, zeigte sich seine Haut kränklich gelb. Irgend etwas an ihm stimmte nicht. Auch erschien sein Haar sonderbar dürr und struppig wie bei einem Hund, wenn er Staupe hat.

»Gehen wir!« entschied er, bevor ich ihn auf sein Aussehen hin ansprechen konnte.

Wir gingen also. Er führte mich zum Hause der Angehörigen des Kotschu. In der Küche – zugleich das Wohngemach – hantierte eine junge Frau, die beklemmend wirkte durch ihre Schönheit und Scheu. Sie trug das Haar in der Mitte gescheitelt. Es fiel wie ein Kopftuch an den Wangen entlang, von einzelnen enggeflochtenen Zöpfen unterteilt; eine Frisur von altertümlichem Reiz. Sie sah wie absichtlich immer starr an Clemens vorbei. Meine unverhohlene Bewunderung schien sie zu verwirren. Dann, uns den Rücken drehend, kniete sie auf den Stufen eines offenen Feuerplatzes, wobei sie darauf achtete, daß die Falten des Rockes wie ein geöffneter Fächer ihre Beine deckten. In dieser gezierten und zugleich angestrengten Haltung schlug sie Eier für uns in die Pfanne. Wir hatten es zu büßen. Die Speise war reichlich versalzen. Ich mußte hernach das blecherne Litermaß dreimal in den Wassereimer tauchen. Die Schönheit errötete bis in den Nacken, als sie erriet, was geschehen war. Aber sie verhielt sich schweigend abseits, neben sich selbst gleichsam. Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß sie mit verzehrender Neugier unserem für sie unverständlichen Gespräch lauschte.

Auffallend dünkte mich auch das Verhalten meines Freundes ihr gegenüber. Beharrlich hielt er den Kopf gesenkt, folgte aber, sowie sie von ihm abgewandt hantierte, aufmerksam ihren Bewegungen, maß mit dem Auge ihren Körper – alles aus dem Hinterhalt einer mir unbegreiflichen Reserve. Ich nahm an, daß er hier irgendwelches ›Eigentum‹ respektierte, da wir uns ja in der Bannmeile des Kotschu befanden.

Halb und halb bestätigte sich dieser Eindruck, nachdem er selbst, der Sohn und Erbe dieser Häuslichkeit, eingetreten war. Die Art nun, wie er mit dem Mädchen den Gruß tauschte, bevor er sich uns zuwandte, zeigte an, daß sie Geschwister waren.

Er wandte sich uns zu, und das war, als ob eine Art Unwetter auf uns loskäme, mit dem fahlen Widerschein von Blitzen in sich selbst und einem Donner, der aus Lautlosigkeit bestand. Diese Lautlosigkeit war Abwarten. Abwartend nahm er neben uns Platz, aber behielt uns in voller Sicht. Clemens begann zögernd unseren neuen Plan vor ihm zu entwickeln. Seine kleine Rede schloß er ab mit der Überreichung der Entschädigungssumme von zweitausend Drachmen. Das Mädchen im Hintergrund ließ einen sonderbaren Laut hören. Etwas zwischen Lachen und Schluchzen. Ich blickte mich befremdet um. Sie schob frisches Holz ins Feuer. Die Geldscheine glitten in die schwieligen Fäuste Kotschus. Er befingerte sie langsam und ausgiebig, als ob er dem fettigen Papier einen geheimen Sinn abgewönne und ihn sich langsam übersetzte. Sein Haar glich einer Fellmütze. Er hockte mit einer unnachahmlichen Sicherheit in sich selbst drin.

»Um diese paar Scheine«, sagte er, den Kopf langsam hebend, »tauschst du also meine Person gegen die des Fremden aus«, und er streckte zeigend sein starkes Kinn gegen mich vor. »Verrate mir nun, mit wieviel der dich gekauft hat?« Er sprach mit langsamen, gleichsam ausgefüllten Worten. Man konnte merken: Die Steine, die er warf, trafen immer. Ich machte mich auf das Schauspiel einer erregten Unterhaltung gefaßt. Clemens schlug die Augen nieder und begann mit herzwärmender Bruststimme:

»Kotschu, du weißt, was ich von dir halte. Aber der Anspruch dieses Ankömmlings auf mich ist für dies Jahr älter als der deine.«

Ich fühlte mich nach diesen Worten gleichsam in seinen Schutz aufgenommen und rückte, um das zu bestätigen, ein wenig näher zu ihm heran. Der Kotschu musterte uns. Seine Mundwinkel drückten seine Meisterschaft im Verachten aus.

»Hör zu«, hob Clemens wieder an, indem er das Schweigen brach, das sich uns allen lähmend aufs Gemüt schlug, »hör zu, nächstes Jahr werden wir, du und ich …« Sein Satz verlor sich in einem Gestammel. Ich wagte eine kleine versöhnliche Geste, indem ich dem Kotschu meine Zigarettenschachtel hinstreckte. Er nahm, ohne zu zögern. Genuß oder Verdruß, alles griff er mit dem gleichen Grimm auf. Dennoch empfand ich es als einen Erfolg, als unseren Erfolg, und alle empfanden es so. – Im Hintergrund ertönte wieder jener Laut, diesmal deutlich als Schluchzen. Kotschu wandte sich mit dem ganzen Oberkörper um. »Maria«, sagte er nur (ich hätte nicht für möglich gehalten, daß er eine so leise und zärtliche Stimme haben könnte), »Maria, was hast du?« Er stand auf, ging zu dem Mädchen hin. Auch sie erhob sich ihm entgegen. Er legte einen Arm um ihre Schulter. Sie lehnte den Kopf an seine Brust. Ohne zu sprechen oder sich zu bewegen oder auch nur ihr gemeinsames Atmen hören zu lassen, blieben sie so, bis wir das Zimmer verlassen hatten.

Während Clemens das Fischereigerät aus dem Boot räumte, war mir auferlegt, Kartoffeln, Reis, Brot, Mehl, Öl und Salz einzukaufen. Der Laden befand sich im Keller eines großen alten Schuppens. Aus einem Riesenfaß im dunklen Hintergrund floß Wein wie aus einer Wasserleitung in ein Steinbecken. Nacktfüßige Frauen waren beschäftigt, das duftende Naß mit Blecheimern in kleinere Fässer umzuschöpfen, die mit grüngestrichenen Böden an der Wand entlang lagerten.

Mein restlicher Tausender wurde gewechselt. Schon die paar Einkäufe machten sich spürbar. Aber die Preise stimmten, wie Clemens nachher bestätigte. Es bedurfte keiner großen Rechnerei, um festzustellen, daß wir nicht lange reichen würden.

Was nach dem Ausräumen des Kotschu-Eigentums im Boot verblieb, war wenig:

Einige rostige Blechdosen, deren Deckel, wenn man sie aufschraubte, ein krächzendes Geräusch hören ließen. Zwei plumpe irdene Teller, seitwärts verbogen, Ausschußware, wahrscheinlich irgendwann vor einer Töpferei im Schutt aufgelesen.

Eine Bratpfanne ohne Stiel.

Ein ausgewitterter, blau emaillierter Kochtopf, fünf Liter fassend, der am Boden einen zackig ausgesprungenen Fleck hatte.

Ein in Auflösung begriffener geräumiger Henkelkorb, lose mit Angelschnur geflickt und zusammengehalten. Drei rostige Forken mit krummgebissenen Zinken (mir von früher her wohlbekannt).

Zwei Amphoren, die eine etwa zwanzig Liter fassend, roher Ton, für Trinkwasser sehr geeignet, die andere, kleinere, grünglasiert, mit abgebrochenen Henkeln und angeschlagenem Hals.

Zwei zerrissene Bettücher. Ein paar aufgeschnittene Jutesäcke, ein Wolfsfell, ziemlich dünn.

Ein olivgrüner österreichischer Militärmantel, mürbe wie Löschpapier. Zwei Hemden mit ausgetrennten Ärmeln. Eine lange Hose, die dadurch, daß man mit dem Messer roh ihre Beinröhren abgehackt hatte, zu einer kurzen Hose geworden war. Man konnte in diese Hose auch vom Hintern her einsteigen, denn sie war überall durch.

Das Wertstück: Eine halbe Seekarte von Hellas, sorgfältig in altes Öltuch eingeschlagen.

Schiffsinventar:

Einige Meter brüchigen Ankerseils, zwei Anker von etwa fünfzehn Kilogramm Gewicht. Ein Flaschenzug. Ein Stück Kette. Ein Segel aus zinngrauem Leinen mit weißen Flicken.

Der etwa drei Meter lange Mastbaum. Der Großbaum fürs Spreitsegel, sechs Meter lang. Ein Firstholz, um bei Schlechtwetter ein Bordzelt herzustellen. Dazugehörige scherenförmige Stützhölzer.

Eine Stange mit eisernem Fischhaken.

Zwei lange Ruder, in der Mitte balkenmäßig verdickt. Bei Nichtgebrauch lagerten sie in klauenförmigen Eisengabeln backbords oder steuerbords parallel zum Schiff und bildeten eine Art Geländer.

Das geringe Haushaltsgerät meines Freundes erfuhr noch eine Ergänzung aus meiner Reisehabe: ein Löffel aus Silber. Ein Kupferkessel in der Form eines brütenden Huhns. Ein hohles Ochsenhorn, verschließbar, mit dickem Korken (ich pflegte meinen Tee in ihm aufzubewahren, weil es unbedingt trockenhielt).

Ein Beutel mit Näh- und Flickgerät.

Ein krummes Rebmesser zum Zusammenklappen.

Die Frage der Einordnung alles dessen in die Enge des Bootes zwang zu genauen Überlegungen. Den Dingen des täglichen Gebrauchs mußte ein von Hand erreichbarer Platz zugewiesen werden. Die Spanten der Bordwände wurden also schrankmäßig aufgeteilt.

In der Mitte: die Eßgeräte, das Geschirr, der Kessel, das Teehorn. Die alten Blechbüchsen schrubbten wir mit Strandsand sauber und füllten sie mit dem frischen Kauf: Reis und Mehl.

Das Salz schüttete Clemens in einen ausgetrennten Hemdärmel. Unten verknotet und oben mit einem Stück Angelschnur zugeschnürt, wurde der pralle Beutel an einem Nagel des mittleren Bordfaches aufgehängt. Das Öl befand sich in dem grünglasierten Tonkrug, korkverschlossen. Der runde Brotlaib wurde unterm Verdeck seitwärts aufrecht angelehnt. Die aufgefischte Laterne, die ich mit einem Docht aus Baumwollfäden versah (ich löste sie von den inneren Nähten meiner Hose), fand dann im Heck in der Nähe meines Bücherbündels (Bibliothek nannten wir das Fach) ihren Platz.

Zweites Kapitel

Das war nun zwar keine gültige Ausrüstung für eine lange Seereise, aber wir hofften, daß wir das Fehlende im Laufe der Fahrt schon zusammenfinden würden. Schmerzlich empfanden wir zunächst den Mangel eines Bordofens.

»Den machen wir uns dann schon zurecht. Brauchen nur einen alten Petrolkanister«, sagte Clemens.

Der frühe Nachmittag fand uns im fertig zugerüsteten Boot. Ohne von den Geschwistern Kotschu Abschied zu nehmen, stießen wir von Land ab, setzten das geflickte Segel und überantworteten uns dem Wind.

Über die Art des Segels ist noch einiges zu bemerken. Es war vom Typ des Spreitsegels. Der Mastbaum ruhte fest in seinem Mastschuh auf dem Kielbalken. Er wurde durch zwei Seile nach vorn gestrammt, die durch Löcher in den Bugbacken gezogen waren. An dem Mast wiederum wurde der Großbaum knapp über der Decksfläche in einer Art losem Halfterband befestigt. Es war eine absichtlich bewegliche Haft. Denn zwischen dem nach vorn gestrammten Mast und dem schräg nach hinten hängenden Großbaum war das Segel schnurläufig befestigt, und zwar an kleinen Ringen. Wie eine Gardine konnte man es auf- und zuziehen. Es bot somit unschätzbare Vorteile im Getriebe jenes ewig ungewissen Wetters, das die hellenischen Meere gefährlich macht. Indem man die Gardinenschnur beim Segeln dauernd in der Hand hielt, war es möglich, den geringsten Atem Luft abzufangen oder aber einen großen festen Sturm mit kleinster Segelfläche auszunutzen. Mit einem solchen Segel kann man unschwer durch haushohe Wellen gleiten, denn es trägt das Boot wie eine hohle, ganz niedrig über dem Deck entfaltete Vogelschwinge. Beruhigt in der Gewißheit, mit solchen erprobten (wenn auch abgenützten) Einrichtungen versehen zu sein, durchquerten wir die Enge zwischen Alonisi und Skopelos. Ich saß am gewohnten Platz im Heckloch. An den nackten Füßen fühlte ich die große kühlfeuchte Wasseramphora, die unter mir im Heckwinkel ihren sichersten Ort erhalten hatte. Die Steuerpinne hielt ich in der einen, die ›Gardinenschnur‹ in der anderen Hand und beobachtete zwischendurch meinen Freund.

Der befleißigte sich nämlich eines auffälligen Tuns: Er wickelte lange schmutzige Mullstreifen von seinen Waden. Darunter zeigten sich entzündete Wunden, brandig umrändert. Neben sich am Boden hatte er einen kleinen Blechdeckel voll eines gelben Gelees.

»Was machst du denn da?« fragte ich.

»Siehst du doch.«

»Schon. Aber womit hast du dir diese Brandlöcher zugezogen?«

»Das bringt das Seeleben so mit sich.«

»Unverbindlicher kannst du dich wohl nicht ausdrücken?«

»Iß mal monatelang nichts anderes als Tintenfisch; das muß ja schließlich wieder herausschwären.«

»Warum ißt du denn nichts anderes?«

»Du verstehst zu spaßen!«

»Nicht gerade. Aber du bist doch sonst sehr wählerisch im Essen.«

»Sind eben schlechte Zeiten für unsereinen gekommen.«

»Wieso sind sie schlechter als je und immer?«

Er beugte sich über Bord, wusch die Binden im Seewasser und sah ausdruckslos vor sich hin. Vorm Mastschuh kniend, begann er, das fädenziehende Gelee mit den Fingerspitzen in die Wunden zu streichen.

»Was schmierst du denn da drauf?«

»Baumharz. Das isoliert die Wunde am besten. Kommt sie mit Salzwasser in Berührung, heilt sie nie zu.«

»Aber die Wunde wird luftdicht verglast unter deiner Schmierage.«

»Was braucht sie Luft? Die Luft ist auch salzig.«

»Also im nächsten größeren Hafen wird Jod und Verbandzeug gekauft. Und wir bleiben so lange auf dem Trockenen, bis diese Löcher da heil sind.«

»Was du sagst.«

Verdrossen wickelte er die abgenutzten Binden wieder über seine Schienbeine.

Vom Nachmittagslicht enthüllt, erschienen die Berghügel ferner Inseln rund und glatt, als seien sie mit Sandpapier abgeschmirgelt. Gelb lagerten sie vor dem blauen Dunsthimmel. Aus der Gegend des Windes näherten sich unerfreuliche Wolken.

»Aber wie ist das mit den schlechten Zeiten?« begann ich. »Das mußt du mir noch erklären.«

Völlig mit seinen Wunden beschäftigt, machte ihm das Reden offensichtlich wenig Freude.

»Sie sind hinter mir her.«

»Die schlechten Zeiten?«

»Hast du schon mal Ameisen in der Hose gehabt?«

»Du mußt deutlicher werden, wenn ich dich verstehen soll.«

»Das Politische wirft seine Schatten.«

»Was in aller Welt hast du mit dem Politischen zu tun?«

»Möchte ich auch wissen.«

»Wie äußert es sich denn? Ich meine für dich?«

»Ich kann mich nirgends mehr lange aufhalten. Sofort ist mir der Gendarm auf den Fersen.«

»Deshalb bist du von deinem alten Fischereigebiet am Pelion in diese gottverlassene Inselwelt umgesiedelt?«

»War leicht zu erraten.«

»Aber weshalb? Was wollen sie denn von dir?«

»Mich ausfragen.«

»Wegen was denn?«

»Spionage.«

»Sagtest du Spionage?«

»Hast du mal was von dem spanischen Bürgerkrieg gehört?«

»In aller Welt entsetzt man sich darüber.«

»Auch darüber, daß fremde U-Boote in griechischen Gewässern russische Dampfer versenken?«

»Das ist mir neu. Warum geschieht denn das?«

»Weil diese russischen Dampfer Waffen und Munition für die Roten nach Spanien transportieren.«

»Na und … was sollst du damit zu schaffen haben?«

»Die Behörden vermuten, ich sei mit dem U-Boot in Verbindung.«

»Nicht möglich.«

»Sie können sich die Wegsicherheit des fremden U-Bootes in diesen unsicheren Gewässern nicht erklären. Das U-Boot muß, vermuten sie, hier irgendwo verständigt werden. Und da ich in der ganzen Ägäis als verrückter Kerl bekannt bin, sind die Herren von der Polizei auf mich verfallen.«

»Die Wahrheit läßt sich nicht feststellen?«

»Für die Polizei gibt es keine Wahrheit, sondern nur das Gerücht. Und das Gerücht sitzt wie Schorf an meinem Namen.«

»Darum willst du lieber verschwinden?«

»Mir ist’s hier herum verleidet.«

»Wie schaut’s eigentlich mit deinen Papieren aus?« fragte ich, von seinen Eröffnungen unbehaglich berührt. Clemens’ Entscheidung für mich, für unsere Reise sah ich jetzt in einem anderen Licht.

»Sind soweit in Ordnung. Was fehlt, können wir unterwegs in Volos ergänzen. Bei solchen Zeiten kann man nie genug Papiere in der Tasche haben.«

»Versteht sich.« (Oh, meine Germaine, sprach ich innerlich, enträtseln sich jetzt die schlechten Vorzeichen, die meinen Abschied von dir begleiteten?)

Ich hatte nicht viel Zeit, nachdenklich vor mich hin zu starren, war vielmehr genötigt, mich meiner Gitarre und ihres störrischen Verhaltens beim Stimmen zu erinnern: der Wetterwechsel kam. Ein warmes Wehen hatte mehr und mehr den Raum mit Dunst erfüllt, und jetzt zog es sich plötzlich zusammen. Die Abenddämmerung ging in kompakte Schwärze über. Regen, wie aus Wannen geschüttet, stürzte vom niedrig herabgesenkten Himmel. Schnellstens hatten wir das Segel eingeholt, Clemens sich in seinen Militärmantel gehüllt, ich mir meinen dreischichtigen Trenchcoat über die Schultern gezogen.

Steuerbords hatten wir die völlig abweisende Küste der Insel Skopelos. Ihr Haupthafen lag auf der uns abgewandten Seite. Kurzfristige Böen bliesen wechselnd von Süden und Norden. Es war das erste Mal, daß ich Clemens unschlüssig sah. Er war förmlich überfallen worden von dem Wolkenbruch. Jetzt zögerte er: Wohin? Er hielt die Ruder in den Fäusten und blickte angestrengt ins Wetter, als wollte er seine Dauer, seine Richtung, seinen Umfang ergründen. Schwarzbrausendes Sturmherannahen bestimmte ihn, gen Alonisi zu halten. Da blies es um die Ecke, unwiderstehlich, von Land her. Also wieder gen Skopelos. Schließlich hielt er vor einer kaum angedeuteten Klippenbucht der Steilküste an. Man erriet die Landnähe aus dem Krachen der Brandung. Wallend breitete sich immer mehr Schwärze aus. Nicht mal meinen hellen Mantelärmel konnte ich sehen. Erschöpft, müdegepeitscht vom Regen, keines Gedankens mehr fähig, da der Sturm mir in die Nasenlöcher blies, ließ ich das Steuer fahren und schlüpfte unter das Vorderdeck. Kauerte mich zusammen, zog die Knie ans Kinn. Fühlte gerade noch, wie Clemens über meinen triefenden noch seinen triefenden Mantel deckte, und dann, trotz des stößigsten Geschaukels, fiel ich übergangslos in Ohnmacht. Alles, was mich bis zu diesem Augenblick gequält hatte, brach als auslöschende Schwärze über mich nieder, und ich verging, war nur noch Atem.

Drittes Kapitel

Mein Erwachen vollzog sich bei goldträumender Stille. Sanftes Morgennebelregenwetter nieselte. Kaum bewegte Wellen plätscherten an die Wände des Bootes. Der Nikolaos lag verankert vor einer kleinen lehmgelben Felsenhöhle, ragte mit dem Bug halb in sie hinein. Ich sah zunächst niemand, hörte nur im Höhlengrunde das unverkennbare Geräusch eines knisternden Zweigefeuers. Das wasserdurchschwemmte Gemach war bequem mit Trittsteinen ausgelegt, die zu einem schmalen Strandsaum führten, auf welchem sich angespültes Holz, Obstkisten und Tonnenreste häuften. Mein Freund hängte gerade den Kupferkessel ins Feuer, warf ein Bündel frischgerupfter Salbeiblätter hinein. Der Dampf des Gebräus zog mir anregend in die Nase. »Wo sind wir denn?« fragte ich erstaunt, ungläubig, schlafbefangen.

»In der Bucht von Agnonda«, sagte Clemens, ohne von seiner Beschäftigung aufzublicken. Er kauerte auf den Zehen, saß mit dem Hintern auf seinen eigenen Fersen. »Nachdem du schlapp gemacht hattest«, erzählte er, »gelang es mir mittels eines trockenen Streichhölzchens, die neue Laterne anzuzünden. In ihrem Schein konnte ich meine alte Seekarte studieren. Es erwies sich, daß, wenn ich die Lage recht erraten hatte, eine kleine Bucht in der Nähe sein mußte. Agnonda. Ich fand sie.«

»Großartig«, sagte ich mit unverhohlener Bewunderung.

»Schöner Anfang das, für unsere Fahrt«, murmelte er mißmutig. »Reich mal das Brot her.« Und er stapfte barfuß durchs Wasser zu mir hin.

»Immer rein mit deinen Wunden ins Salzwasser«, rief ich.

»Gib dein Hakenfingermesser her«, gebot er. Ich gehorchte kopfschüttelnd. Lange Scheiben säbelte er vom Brot herunter, schnitzte Zweiggabeln, spießte die Scheiben auf und lehnte sie gegen die Glut. Den Tee tranken wir in Ermangelung von Tassen aus den großen Tellern. Mir rann die Hälfte dabei ins Hemd. Clemens lachte spöttisch. Das Röstbrot, das er mir reichte, war kohlschwarz verbrannt.

»Was ist denn das für eine Nymphenhöhle?« fragte ich. Er überhörte mich geflissentlich. Ich kaute – was blieb mir übrig? – schweigend mein Brot.

Nach vollbrachter Mahlzeit stießen wir das Boot ins Freie, zogen das Segel zum Trocknen auf und ruderten quer über die Bucht auf eine Gruppe kleiner Häuser zu.

»Agnonda«, murmelte er. »Kein guter Ort. Hier leben aus dem Gefängnis entlassene Leute. Na, wollen sehen.« Unsere Landung lohnte sich. Wir fanden neben der Schiffslände Massen alter schmutziger Blechkanister.

»Aha, da haben wir unseren Bordofen«, sagte ich.

Clemens machte sich gleich darüber her, wählte den besten aus, schnitt mit meinem Hakenfingermesser seitwärts eine Türöffnung und oben eine Kochöffnung, schichtete eine Lage Seegras zuunterst und darüber eine Schicht groben Sandes. Ich indessen sammelte neben einem pelzig zerfressenen Hauklotz Holzspäne auf. Schon brannte ein rasches Feuer in dem wie durch Zauberei entstandenen Öfchen. Es zog prächtig.

Bleiche Leute krochen aus den Häusern, belauerten wortlos unser Tun und verzogen sich wieder.

»Laß uns jetzt Nachlese auf den abgeernteten Feldern halten«, regte Clemens an.

»Du bist, scheint’s, um unsere Mittagssuppe besorgt«, frotzelte ich. »Von den Resten, die diese Enterbten auf ihren Feldern gelassen haben, ist doch wohl nicht viel zu erwarten.«

»Man nimmt, was man findet. Das ist die neue Lehre.«

»Drück dich genauer aus und sag: Was man genommen hat, hat man gefunden.«

Feiner Regen winselte vom gelben Dunsthimmel herab. Einen Sack unterm Arm, trotteten wir den Bergen zu, wo die Äcker zu vermuten waren. An den Zweigen hängengebliebene Oliven, hie und da ein paar Kartoffeln, die an der Luft grün geworden waren, faule Kohlstrünke – das war uns beschieden. Während Clemens ins Boot zurückkletterte, sammelte ich, der Strandlinie folgend, schnell noch allerlei Holzstücke in unseren Korb und schüttete sie auf dem Bootssteg aus. Geringschätzig wühlte Clemens mit den Zehen darin herum. »Du solltest endlich wissen, daß Feigenholz unbrauchbar ist.« Damit schob er ein paar wurmig gewundene grauglatte Äste beiseite. »Olivenholz ist schon besser.« Er stieß das Holz zu kleinen Häufchen auseinander. – »Aber das hier ist das allerbeste.« Er würdigte ein Stück schwarzgedörrten Wurzelholzes des Aufhebens durch seine bewertenden Finger. Er betastete es, wog es, roch daran:

»Erikawurzel«, sagte er. »Schau, das ist gutes Mangaliholz. Man möchte am liebsten darauf beißen. Das hält die Glut am längsten, setzt weiße feste Asche an. Mit solcher Asche kann man Geschirr säubern, Metall und Zähne putzen, sogar Speisen salzen, wenn man nichts anderes hat.« Er lachte, während ich mit hängenden Mundwinkeln und Armen dastand.

Wir hatten uns in der Mitte der Bucht vor Anker gelegt. Da waren wir vor den Schnüffelnasen der düsteren Ansiedler sicher und hatten unsere Ruhe. Der blaue Emailletopf stand wassergefüllt auf dem brennenden Ofen. Ich, in meine Heckecke gelehnt, schälte Kartoffeln, Clemens, in seine Bugecke gelehnt, putzte das Gemüse. Das zerfetzte Segel war zeltförmig über uns gespannt. Es hielt notdürftig den dünnen Dauerregen ab. Der Wind schlug in Pausen den Rauch des offenen Feuers ins Zeltinnere zurück. Mir tränten die Augen, ich hüstelte, hob den Zeltsaum hinter mir, um Luft zu schnappen und fluchte: »Ein Tränenherd ist mir das!«

»Hast schon genug von der so gefeierten Wärme«, brummte Clemens. Aber der Ofen hatte nun ein für allemal seinen Namen weg.

Wir pflückten die Stunden. Die unwiderstehliche Gemütlichkeit des Behelfsmäßigen breitete sich aus. Zerschnittene Kartoffeln plumpsten ins brodelnde Gemüse.

»Ich bin dir Rechenschaft schuldig, wegen meines Zuspätkommens«, eröffnete meine Wenigkeit das Gespräch.

»Habe ich gesagt, daß du mir etwas schuldest?«

»Nein, nicht geradezu.«

»Aber du möchtest mir etwas erzählen?«

»So kannst du es nennen.«

Ich schwieg eine Weile, mußte mich erst wieder sammeln.

»Ich nannte dir den Namen Germaine?«

»Ja, du schriebst davon.«

Ich zog meine Wolldecke unter mich, um mir das Hocken etwas bequemer zu machen. Die vier Schachteln Zigaretten aus Alonisi hatten wir geteilt. Zwei lagen bei mir, in der ›Bibliothek‹ bei den Büchern, zwei bei Clemens neben der Seekarte, die im wassersichersten Spantenfach der vorderen Bordwand geborgen war. Ich fingerte mir eine Zigarette hervor, angelte mit einer jener alten Eisenforken ein Stück Glut aus dem Ofentürchen (Streichhölzer waren teuer), balancierte es unter meine Nase und sog. Der Rauch füllte feucht und fett meinen Schlund. Mein Gesicht verschwand unter den fühlsamen Streifen einer beweglichen Maske.

»Es fing mit einem Haus an.«

»Mit einem Haus? Bist du Hausbesitzer geworden?«

»Ja. Fast. Ein Haus auf der Insel Capri. Im höchstgelegenen Dorf der Insel, in Anacapri.«

»Von dort schriebst du mir.«

»Das Haus ist schneeweiß, maurisch, mit flachem Dach.«

»Wie kamst du an das Haus?«

»Ein gutes Honorar in der Tasche und ein zufälliges Angebot bei einem zufälligen Aufenthalt auf der Insel, die ich eigentlich nur für einige Tage besuchen wollte.«

»Und dann bliebst du dort?«

»Dann blieb ich dort.«

»Das sieht dir ähnlich.«

»Ich setzte mich also in das Haus. Und das Haus muß ich dir schildern, bevor ich fortfahre. In der mittleren Halle ist ein großer runder Tisch. Hochlehnige schwarze Lederstühle drum herum. Die Wände sind gelblichweiß, ohne Schmuck. Der Fußboden ist in große Schachbrettfelder aufgeteilt. Wenn ich da allein hinter dem großen Tisch saß und die doppelflügelige Glastür vorm Gesicht hatte, befand sich linker Hand das Schlafzimmer, weißgekalkt, mit einem flachen Riesenbett, und rechter Hand befand sich das Bücherzimmer. Eine kleine Tür hinter meinem Rücken führte in die Küche. Kannst du dir eine schönere Gliederung vorstellen?«

»Hm.«

»Wenn ich morgens durch die doppelflügelige Glastür hinaustrat, war da vor meiner Balustrade ein Wasserteppich entrollt bis an den Rand des südwestlichen Himmels.«

»Das Meer, das Tyrrhenische Meer?«

»Ja. Und an der linken Seite des Hauses die abfallende Linie eines Berges, des Monte Solaro. Weißt du, eine Linie wie ein erstarrter Peitschenknall.«

»Hm.«

»Wenn ich mich dann umdrehte, um mein Haus genießerisch zu betrachten, grüßten mich von beiden Seiten des schneeweißen Portikus je eine dünne hochwipfelige Zypresse.«

»Hm.«

»Und ein Garten, voller Ölbäume und Weinstöcke.«

»Du erwartest, daß ich das glaube.«

»Das erwarte ich tatsächlich.«

»Gut. Aber wolltest du mir nicht etwas zu deiner Rechtfertigung erzählen?«

»Du bist also doch darauf aus?«

»Daß du mir etwas über Germaine berichtest.«

»Die Gemüsesuppe kocht über«, rief ich. Clemens ergriff mit seinen wetterharten Händen, denen heiß oder kalt gleich galt, den Topf. Ich legte zwei Holzstücke als Unterlage auf den Planken zurecht. Die Suppe stand dampfend zwischen uns. Die Steingutteller ließen, von der glühenden Brühe gefüllt, ein porenknisterndes Geräusch hören. Mit gierigen Bewegungen beugten wir uns über die schwierige Speise.

Nach dem Essen streckte ich erneut die Glieder und starrte zu dem niedrigen Zeltdach empor. Das Nachmittagslicht leuchtete naßgelb hindurch. In dem dreieckigen Ausschnitt erschien und verschwand wechselnd je nach den Bewegungen des Bootes ein grau zerklüftetes Kap, das die Hafeneinfahrt bewachte.

»Ein Haus, das mir gefallen sollte, müßte anders aussehen als deines«, begann Clemens, nachdem er die Teller und das Geschirr in den leergegessenen Topf versenkt und beides hinter sich aufs Bugverdeck geschoben hatte. Er zog sich den Henkelkorb als Stütze ins Genick und machte es sich bequem. Der Tränenherd, mit langsam zerfallender Glut gefüllt, verbreitete einen Geruch von Wärme. Das Qualitätsholz tat seine Pflicht.

»Erkläre dich«, sagte ich, fast ein wenig gekränkt. Ich konnte mir kein anderes Haus mehr als schön vorstellen.

»Es müßte ein Turm sein, an einer unwirtlichen Küste. Zuunterst eine verschließbare Höhle direkt überm Wasser für meinen Nikolaos. Darüber die Vorratskammer. Ein Weinfaß, eingemauert. Büschel von Gewürzkräutern und Zwiebelketten an den Wänden. Ein tönernes Klärfaß für Olivenöl, randvoll. Ein großer Sack Mehl, zum Fladenbacken. Ein Holzmörser voll Klippensalz. In der nackten Bruchsteinwand Pflöcke für Segel, Mast, Ruder und Fischlanzen. Zuoberst: das Wohngemach. In ihm ein geräumiger offener Kamin. Sitzbänke. Ein Lager aus ungebleichten Schafsfellen. Und Fensterluken, gegen das Meer hin offen. Mit Eichenholzläden verschließbar. Das Dach ein offener Zinnenkranz, damit ich ein Feuer auf meinem Turm anzünden kann, wenn ich mich nachts allein fühle.«

»Hm. Und die Treppe? Innen oder außen?«

»Treppen? Wo denkst du hin. Durch alle Böden, vom Boot aufwärts, Löcher mit Falltüren. Und leichte Leitern, die ich hinter mir einziehen kann.«

»Bißchen räuberhaft.«

»Das nächste Dorf nur mit dem Boot erreichbar und hinter mir weit und breit keine Eisenbahn, keine Telegraphenleitung und keine Autostraße, die das Land zerschneidet. Kein anderes Geräusch als Meer und Wind.«

»Hm.«

»Wäre nichts für dich, was?«

»Auf eine Weise schon.«

Viertes Kapitel

Der Regen verdichtete sich bei zunehmender Dunkelheit. Die Glut im Tränenherd bestrahlte von unten das Zeltdach. Kleine Tropfen rannen an dem Gewebe entlang, sammelten sich an den Nähten der Flicken, verdickten sich dort und platschten endlich schwer auf uns Liegende herab oder auf den Plankenboden oder in die Glut. Wir schoben Blechdosen an besonders durchlässigen Stellen als Tropfenfänger unter, lauschten der klimpernden Wassermusik. Das Boot hüpfte müde zwischen seinen beiden Ankern. Meine Gedanken wanderten auf Capri herum, kehrten ein in mein schönes verlassenes Haus. Als ich gerade, aufgelockert vom Heimweh, anfangen wollte zu erzählen, bog ein helles scharfes Motorengeräusch fern aus offener See in die Bucht ein. Clemens erhob sich, spähte durch die Zeltfalten. Mit angeregtem Ausdruck blickte er zu mir zurück.

»Das ist Ribar Tschorbar, der Haifischjäger«, erklärte er. »Ich kenne das Geräusch seines Motors. Schnell, zünde die Laterne an.«

Ich reichte sie ihm brennend. Er schwenkte sie vor dem Zelt.

»Jassuh, Ribar!« schrie er, als das fremde Boot, Bord an Bord mit uns, anhielt. Man hörte die brüchigen Stimmen von mehreren Männern. Der Motor wurde gedrosselt. Anker planschten ins Wasser.

»Jassuh, Xenophon«, wurde geantwortet.

Das Boot war etwas größer als unseres. Die Ankömmlinge zogen, kaum daß sie hielten, das Bordzelt auf. Es regnete grau und warm.

Clemens unterhielt sich draußen lärmend mit den Männern. Rief mit ungewohnt lauter Stimme zu mir herein: »Komm, wir steigen ein bißchen zu ihnen hinüber.«

Unlust mischte sich bei mir mit Neugier. Immerhin, wie mochte es bei jenen unterm Zelt aussehen?

Zwei Männer, einer mit schwarzem dickem Schnurrbart und komisch verwittertem Hut, der andere weißhaarig, mit dunklen unruhigen Augen, hockten am Boden. Zwischen ihnen ein Knabe, das schwarze dichte Haar in die Stirn gestrichen. Dicke Lippen wie rohes Fleisch im bleichfrischen Gesicht. Regenduft strömte der ganze innere Bootsraum aus; auch Regenkühle, auch Regennässe. Ich fröstelte und fühlte, wie die Kälte mir die Backen zusammenzog. Grelles Karbidlampenlicht bestrahlte uns. Das ganze Boot war innen mit Mennige gestrichen. So unterm Regendach gewann das Rot eine Macht, als säße man mitten im Fruchtfleisch einer Wassermelone.

Clemens, sehr beflissen, fragte, ob er ihnen unseren Tränenherd zum Wärmen und Kleidertrocknen anbieten könnte.

Sie bejahten mürrisch.

Offensichtlich waren sie erschöpft. Das Gespräch, mit rauhen Stimmen begonnen, sank wieder in sich zusammen. Sie zerschnitten mit Fischmessern einen schwarzen Brotlaib und wälzten die trockenen Scheiben in einem Holznapf voll Klippensalz, bevor sie hineinbissen. Clemens bot ihnen die herbstmürben Oliven, die wir unterwegs gesammelt hatten, an. Sie gelten unter Hellenen als Leckerbissen. Man bediente sich. Auch ich begann solche Oliven zu lutschen. Spie, da ich nicht wußte wohin damit, die Kerne in den Bordofen.

»Mensch, das tut man nicht«, herrschte Clemens mich auf deutsch an.

Die Männer errieten aus meines Freundes Tonfall, daß ich von untergeordnetem Rang sein müßte.

Sie redeten nun in aller Ruhe an mir vorbei und über mich hinweg.

»Jagst du immer noch Haifische?« fragte Clemens, in dessen Schatten ich kauerte.

»Ich jage sie, das ist wahr, aber die Jagd wirft nichts mehr ab.«

»Das Öl aus Haifischleber wird hoch bezahlt«, hörte ich sagen.

»Das ist wahr. Aber es gibt keine Haifische mehr.«

»Weil es keine Fische mehr gibt in unseren Gewässern, gibt’s auch keine Haie mehr. Das läßt sich denken. Was unternimmst du also?«

»Ich ködere die Haifische.«

»Du köderst sie? Stavros altinos che panajia pros, Kreuz wahrhaftiges und heilige Muttergottes voraus! Das hat es wohl noch nicht gegeben, daß man Haifische ködern muß. Köderst du sie etwa mit Fisch?«

»Nein, ich ködere sie mit toten Eseln.«

»Mit toten Eseln? Du hast Witz, muß man schon sagen.«

»Ich habe Unkosten, mein Lieber. Ich kaufe sie beim Abdecker.«

»Und dann führst du sie aufs Meer hinaus, die stinkende Last?«

»In diesem meinem Boot da. Ich lege sie vor Anker und mich ein wenig abseits auf die Lauer. In einer Stunde sind sie da, acht, neun, zehn Haie. Magere Burschen. Ich schieße sie mit der Flinte ab, wenn sie sich um den gedunsenen Esel balgen.«

»Und dann, wieviel erwischst du mit einem toten Esel?«

»Vier Stück, wenn’s schlecht geht.«

»Wieviel solltest du erwischen, um die Unkosten zu decken?«

»Zehn Stück, wenn’s gut geht.«

»Trotzdem bleibst du bei deinem Erwerb?«

»Es ist schon am besten so.«

»Hoffst du auf Haifischzuwachs mit der Zeit?«

»Darauf muß ich wohl hoffen.«

»Wir haben da ja einen ganz besonderen, einen stählernen Haifisch in unseren Gewässern. Wenn du den erwischst, das möchte sich wohl lohnen.«

»Ich vermute, du willst mich verhöhnen.«

»Ich spreche im Ernst.«

»Du willst also sagen, daß der stählerne Hai meine Beute steigern könnte?«

»Wenn du es so auffassen willst.«

»Du weißt natürlich, wo der jagt.«

»Ich, wieso sollte ich das wissen? Ich spreche von dem U-Boot, falls du mich falsch verstehst.«

»Ich habe dich sehr gut verstanden, und du, denke ich, mich auch.«

»Du willst mir unterschieben, daß ich weiß, wo das U-Boot jagt?«

»Im Ernst.«

»Du hast gehört, daß mich Gendarmen verdächtigt haben?«

»Du bist Fremder hier bei uns, du kannst von Haus aus nicht arm sein und lebst so schlecht wie wir. Warum tust du das? Du wirst einen geheimen Auftrag haben.«

»Deine Scherze, Kapitän Ribar, gefallen mir nicht. Wir werden dein Boot verlassen.«

»Jeder nimmt sein Geld, wo er es findet.«

»Sag, daß es ein Scherz ist!!«

»Gut, es ist ein Scherz. Aber spare nächstens deinen Hohn. Man plagt sich sowieso genug.«

»Du hast wohl Grund, so schnell gekränkt zu sein.«

»Ich kann das gleiche sagen.«

»Bleiben wir lieber bei den Tatsachen. Was weißt du Genaues über das U-Boot?«

»Wir kreuzten gestern seine Spur.«

»Los! Berichte!«

»Es war nördlich von Kap Artemision, da sichteten wir etwas Dunkles auf dem Wasser. Es war eine eiserne Tonne. Eine Art Boje. Und da dort nie Bojen liegen, versuchte ich, sie ins Boot zu heben. Es war unmöglich. Sie lag vor Anker. Ich faßte nach. Fand einen Ring und eine Stahltrosse, die in die Tiefe lief.«

»Machtest du Meldung?«

»Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Ortspolizisten von Skiathos wieder hin. Es war nichts mehr zu finden.«

»Und jetzt glaubst du, das U-Boot habe unter der Tonne am Grund gelegen?«

»Am Grunde gelegen und geschlafen, gewiß!«

»Hast du das gehört?« Clemens drehte sein gespanntes Gesicht zu mir, der ich in den Oliven herumfingerte, sie in Salz tunkte und gemächlich verspeiste.

»Ja«, erwiderte ich so gleichmütig wie möglich und verspürte, ohne hinzusehen, die plötzlich auf mich gerichteten Blicke der Männer. Der Knabe, als einziger unter ihnen arglos, begann jetzt auch von unseren Oliven zu essen und spuckte unbekümmert die Kerne in die Glut. Einer davon, anscheinend der von mir ausgespuckte, zerbarst krachend und warf eine kleine Garbe von Asche und Glut empor. Alle erschraken. Ich schielte auf Clemens, ob er nicht die Gelegenheit ergreifen würde, etwas Harmloses und Ablenkendes zu sagen. Aber er starrte nur böse auf den Tränenherd. Seitwärts, unter dem Dollbord, tickte es gewaltig. Ein blaubemaltes Holzgehäuse hing dort. Ein Glasfensterchen darin ließ einen kräftigen blechernen Küchenwecker sehen. Seine Zeiger wiesen auf neun. Unser geladenes Schweigen ging langsam in Gähnen über. Ribar Tschorbar kratzte sich unter seinem verbogenen Hut die Haare. Man entschloß sich zum Schlafen. Clemens ließ – mir schien es fast zu viel des Entgegenkommens – unseren Ofen bei ihnen. »Damit ihr eure Sachen trocknen könnt.« Sie bedankten sich nicht einmal.

Der Nikolaos empfing uns unangenehm ausgekühlt. Ich entfaltete meine Decke, Clemens seine Säcke und sein Wolfsvlies. Wir verkrochen uns, der eine nach achtern, der andere nach vorn, die Köpfe unter den Decks geborgen. Aus dem anderen Boot tönte noch lange flüsterndes Gerede.

 

Und in meinen Traum bohrte sich, von meinen Gedanken gelenkt, unabweisbar der haifischgraue zugespitzte Stahlleib eines U-Bootes ein, füllte ihn aus, ließ mich selbst zum Gewässer werden, zum horchend das künstliche Ungetüm umschließenden Gewässer … und ich vernahm, durch seine Stahlhaut abgedämpft, das präzise Motorticken seines Herzens, die rauhe Rede seiner Besatzung, das schweigende Wachsein seines Kapitäns, der unterseeisch einen Weg suchte durch die Wasserwüsteneien und Einöden meines meergewordenen Körpers. – Es durchglitt mich. Kalt. Ich konnte ihm nicht entrinnen, denn ich, ich selber war ja sein Element.

Fünftes Kapitel

Poltern nebenan. Stampfendes Anlassen des Motors. Verschleimtes Sichräuspern. Morgenflüche. Ankerketten rieselten hohl klirrend auf Verdecksplanken. Eine grobe Stimme rief: »Heh, Fremder, dein Ofen.« Clemens schoß empor, riß das Zelt beiseite. Regen regnete grün, kalt, aus niedrigen flauschigen Wolken. Sie schoben uns den Tränenherd herüber. Er war triefend naß. Unsere mit so viel Sorgfalt hergestellte Schichtung von Glut, Asche und Sand ein einziger Schlamm. Sie hatten sich nicht einmal an ihm gewärmt. Hatten wahrscheinlich gleich nach unserem Gutenacht-Gruß den braven Ofen aus ihrem Zelt herausbalanciert und rücksichtslos dem Regen ausgesetzt.

Ich fluchte, warf Clemens sein übertriebenes Entgegenkommen vor. Er brummte etwas von dem gefährlichen Mißtrauen, das er durch Freundlichkeit habe beschwichtigen wollen. Der Haifischjäger Ribar Tschorbar fuhr ab. Hinterließ ein kleines Wellenrauschen, flockigen Rauch, Ölgestank und schlechte Laune.

Wir bewegten uns immer noch um die Ränder der Insel Skopelos, trachteten deren größten Hafen Murtja zu erreichen, der unterhalb des Bergstädtchens Glossa gelegen ist. Aber das Wetter, ständig die Wolkenvorhänge wechselnd, ließ uns nicht weit kommen. Nachmittags nutzten wir eine Wind- und Regenflaute aus, um wenigstens bis Panormos zu gelangen. Ein Hafenbecken nahm uns auf, ähnlich dem von Agnonda, jedoch ohne Häuser. Eingewinterte Segelschiffe des schweren ägäischen Kalibers lagen leblos auf dem Wasser, von Planen überspannt, vernagelt und verschlossen.

Wir stiegen, Säcke und Mäntel über den Schultern, an Land und durchforschten wiederum die rote Lehmerde verwilderter Gärten nach Ernteresten. Brachten etwa dreißig Oka Quitten ein. Vergessene Früchte, die wir von regenschmierigen Bäumen lösten oder unter ihnen auflasen. Mit nunmehr geschultem Blick hatte ich mich der Holzsuche gewidmet und zeigte Clemens einige Wurzelstrünke, die schwer waren wie Eisenerz.

»Wacholder- und Steineichenwurzelstöcke«, sagte er anerkennend.

»Das könnte man auch einem Pariser Delikatessenkoch anbieten.«

»Verstehen die was von Holz?«

»Und ob. Weil die feineren Gerichte unterschiedliche Glut brauchen.«

»Glaub’s schon. Die Franzosen verstehen was vom Essen. Und wer was vom Essen versteht, versteht auch was vom Leben.«

In dem hügelumzingelten Hafenbecken Panormos’ verbrachten wir einen Abend und eine Nacht. Der Ofen glomm. Immer noch zehrten wir von dem bitteren Salbeitee ohne Zucker. Aber er tat uns wohl. Und die Hitze innen und außen lockerte unsere Herzen, so daß unsere Münder in trägen Gesprächen überronnen.

»Du hast von deinem Haus auf Capri gesprochen. Du hast den Namen Germaine genannt. Was hat es damit auf sich?«

»Augenblick mal«, sagte ich, denn ich war gerade mit unserer Öllampe beschäftigt. Mit der Spitze einer Sicherheitsnadel stocherte ich den Docht durch das kleine Loch im Ölbehälter und zündete ihn an. Still erglomm das Licht im gläsernen Häuschen. Dann lagerte ich mich bequem auf die Seite, streckte die nackten Füße gegen den Tränenherd, stützte den Kopf in die Hand und versenkte mich träge und friedlich in meine Erinnerungen. »Capri, das Haus, Germaine«, sagte ich, »da ist viel zu erklären, sonst wirst du nicht verstehen, was sich in mir verändert hat.«

»Verändert hat?« unterbrach er mich drängend.

»Ja, verändert hat. Hör zu. Jeden Morgen, solange die Sonne noch erträglich war (unerträglich wird sie dort eigentlich schon nach zehn), lag ich nackt auf der Terrasse vor dem schönen weißen Bogen des Portikus und ließ mich bräunen. Eines Tages nun hörte ich auf dem Weg, der unter meiner Terrasse entlangführt, deutsch reden. Eine dünne Männerstimme, fast wie die einer heiseren Frau. Und eine glockenreine Mädchenstimme antwortete französisch. Die beiden Spaziergänger äußerten sich voller Bewunderung über mein Anwesen. Ich streifte, am Boden liegend, schnell Hemd und Hose an, denn ich wollte mich gern ein wenig beneiden lassen. Lässig ging ich ein paar Schritte umher, betrachtete meine Weinstöcke und schielte aus den Augenwinkeln auf den Weg. Ein etwa dreißigjähriger Mann mit dem Gesicht eines Knaben und eine junge Frau mit einem Kranz schwarzer Locken um das helle schmale Gesicht blickten zu mir herauf. ›Buon giorno‹, sagte die junge Frau. ›Sie können mit mir auch deutsch reden‹, sagte ich zu dem Mann.

So begann meine Bekanntschaft mit Germaine.«

Clemens brachte mich durch eine Handbewegung zum Schweigen. Kauernd löste er die Binden von seinen Waden, beugte sich aus dem Zelt heraus, kroch so weit aufs Verdeck, daß seine Füße im Zelt blieben. Während er, mit dem Oberkörper übers Wasser hängend, die Binden wusch (die Waschbewegung teilte sich dem ganzen Boot mit), betrachtete ich leicht befremdet seine gelbverhornten Fußsohlen.

»Weiter«, befahl er und hing die ausgefransten Binden wie Girlanden an das Firstholz.

Ich fuhr fort: