Reserve - Prinz Harry - E-Book
SONDERANGEBOT

Reserve E-Book

Prinz Harry

0,0
21,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Für Harry ist der Moment gekommen, endlich seine Geschichte zu erzählen

Es war eines der berührendsten Bilder des 20. Jahrhunderts: Zwei Jungen, zwei Prinzen, die hinter dem Sarg ihrer Mutter gehen, während die Welt voller Trauer und Entsetzen zusieht. Beim Begräbnis von Prinzessin Diana fragten sich Milliarden von Menschen, was die Prinzen in diesem Moment dachten und fühlten – und welchen Verlauf ihr Leben von diesem Augenblick an wohl nehmen würde.

Für Harry ist jetzt der Moment gekommen, endlich seine Geschichte zu erzählen.

In seiner unverstellten, unerschrockenen Offenheit ist »Reserve« ein einzigartiges Buch voller Einblicke, Eingeständnisse, Selbstreflexion und der hart erkämpften Überzeugung, dass die Liebe die Trauer für immer besiegen kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 806

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Es war eines der berührendsten Bilder des Zwanzigsten Jahrhunderts: Zwei Jungen, zwei Prinzen, die hinter dem Sarg ihrer Mutter gehen, während die Welt voller Trauer und Entsetzen zusieht. Beim Begräbnis von Prinzessin Diana fragten sich Milliarden von Menschen, was Prinz William und Prinz Harry wohl dachten und fühlten – und welchen Lauf ihr Leben von diesem Augenblick an nehmen würde.

Erstmals erzählt Prinz Harry seine Geschichte und berichtet mit unverstellter, unerschrockener Offenheit von seinem Weg. »Reserve« ist ein einzigartiges Buch voller Einblicke, Eingeständnisse, Selbstreflexion und der hart erkämpften Überzeugung, dass die Liebe die Trauer für immer besiegen kann.

Prinz Harry, Herzog von Sussex, ist Ehemann, Vater, Veteran der britischen Streitkräfte und engagiert sich in der humanitären Hilfe, für psychische Gesundheit und Umweltschutz. Er lebt mit seiner Familie und drei Hunden im kalifornischen Santa Barbara.

www.penguin-verlag.de

PRINZ HARRY

RESERVE

Aus dem Englischen von Stephan Kleiner, Katharina Martl, Johannes Sabinski, Anke Wagner-Wolff

Die Originalausgabe erscheint 2023

unter dem Titel SPARE

bei Random House, Penguin Random House LLC, New York, Transworld Publishers Ltd, Penguin Random House UK und Random House Canada.

Mit den Einnahmen aus dem Verkauf seines Buches möchte Prinz Harry britische Wohltätigkeitsorganisationen durch Spenden unterstützen. Der Herzog von Sussex hat bereits 1,5 Millionen Dollar an Sentebale gespendet, eine Organisation, die er gemeinsam mit Prinz Seeiso im Andenken ihrer Mütter gegründet hat und die von HIV/AIDS betroffene Kinder und Jugendliche in Lesotho und Botswana unterstützt. Prinz Harry wird außerdem eine Spende in Höhe von 300.000 Pfund an die gemeinnützige Organisation WellChild entrichten. Die Organisation, der er seit 15 Jahren als royaler Schirmherr verbunden ist, ermöglicht es Kindern und Jugendlichen mit komplexen gesundheitlichen Bedürfnissen, hauptsächlich zu Hause versorgt zu werden statt in einem Krankenhaus.

Zitatnachweis: Die Überschriften der drei Teile entstammen dem Gedicht »Invictus« von William Ernest Henley, 1875 (diverse Übersetzungen).

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2023

Prinz Harry, Herzog von Sussex

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Fotos: privat, mit Ausnahme von Aufmacherfoto Teil 2: © MoD/Newspix International

Bildbearbeitung: Helio Repro, München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, unter Verwendung eines Entwurfes von Christopher Brand

Cover: Ramona Rosales

ISBN978-3-641-30762-2V005

www.penguin-verlag.de

Für Meg und Archie und Lili … und natürlich für meine Mutter

Das Vergangene ist niemals tot. Es ist nicht einmal vergangen.

WILLIAMFAULKNER

Reserve

Wir wollten uns ein paar Stunden nach der Beerdigung treffen. Im Park von Frogmore, bei der alten gotischen Ruine. Ich war als Erster da.

Ich blickte mich um, sah niemanden. Warf einen Blick aufs Handy. Keine Nachrichten, nichts auf der Mailbox.

Sie kommen wohl zu spät, dachte ich und lehnte mich an die Steinmauer.

Dann steckte ich das Handy weg und sagte mir: Ganz ruhig bleiben.

Das Wetter war typisch für April. Nicht mehr Winter, aber auch noch kein Frühling. Die Bäume kahl, die Luft schon mild. Der Himmel grau, doch die Tulpen kamen. Das Licht war fahl, und trotzdem leuchtete der indigoblaue See, der sich durch den Park wand. Wie schön das alles ist, dachte ich. Und auch wie traurig.

Einst glaubte ich, ich würde den Rest meines Lebens an diesem Ort verbringen. Stattdessen hatte er sich nur als weitere Zwischenstation erwiesen.

Als meine Frau und ich von hier geflohen waren, aus Angst um unseren Verstand und unsere körperliche Unversehrtheit, wusste ich nicht, wann ich jemals hierher zurückkehren würde. Das war im Januar 2020. Heute, fünfzehn Monate später, stand ich hier, wenige Tage nachdem ich beim Aufwachen zweiunddreißig verpasste Anrufe vorgefunden und ein kurzes Gespräch mit Granny geführt hatte, das mir das Herz stocken ließ: Harry … Grandpa ist von uns gegangen.

Der Wind frischte auf, wurde immer kälter. Ich zog die Schultern hoch, rieb mir die Arme, bereute, dass ich ein so dünnes Hemd angezogen hatte. Wünschte, ich hätte den Beerdigungsanzug angelassen. Wünschte, ich hätte daran gedacht, mir einen Mantel mitzunehmen. Ich wandte mich vom Wind ab und sah die gotische Ruine düster aufragen, diese Ruine, die ebenso gotisch war wie das Millennium Wheel. Irgendein gewiefter Architekt, ein bisschen Bühnenzauber. Wie so vieles hier, dachte ich.

Von der Mauer aus ging ich hinüber zu einer kleinen Holzbank und setzte mich. Dort warf ich einen weiteren Blick aufs Handy, spähte den Gartenweg entlang.

Wo bleiben sie bloß?

Wieder einer dieser Windstöße. Wie seltsam, aber er erinnerte mich an Grandpa. An sein unterkühltes Auftreten vielleicht. Oder seinen eisigen Humor. Mir kam eines dieser Jagdwochenenden in den Sinn, es musste Jahre her sein. Ein Freund von mir, der nur höflich Konversation betreiben wollte, fragte Grandpa, was er denn von meinem neuen Bart halte, der in der Familie für Unmut und in der Presse für viel Wirbel gesorgt hatte. Sollte die Queen Prinz Harry zwingen, sich zu rasieren? Grandpa sah meinen Freund an, musterte mein Kinn und ließ ein teuflisches Grinsen aufblitzen. DASist doch kein Bart!

Alle lachten. Bart oder Nicht-Bart, das war hier die Frage, doch nur Grandpa stand es zu, mehr Bart zu verlangen. Lasstdie rauschenden Borsten eines verdammten Wikingers wachsen!

Ich dachte an Grandpas klare Ansichten, seine vielen Leidenschaften – Kutschefahren, Grillen, Jagen, Essen, Bier. Die Art, wie er das Leben genoss. Das hatten er und meine Mutter gemeinsam. Vielleicht war er ja genau deshalb ein solcher Fan von ihr gewesen. Lange bevor sie Prinzessin Diana wurde, damals, als sie einfach nur Diana Spencer war, Kindergärtnerin und heimliche Geliebte von Prinz Charles, war mein Großvater ihr lautstärkster Fürsprecher gewesen. Manche meinen gar, er habe die Ehe meiner Eltern überhaupt erst eingefädelt. Wenn das stimmt, dann könnte man sagen, dass Grandpa der eigentliche Ursprung meiner Welt war. Ohne ihn wäre ich nicht hier.

Und mein älterer Bruder ebenso wenig.

Andererseits, vielleicht wäre unsere Mutter dann noch hier. Wenn sie Pa nicht geheiratet hätte … Ich dachte zurück an eines unserer letzten Gespräche, nur zwischen Grandpa und mir, kurz nach seinem siebenundneunzigsten Geburtstag. Er dachte über das Ende nach. Er könne seinen Leidenschaften nicht mehr nachgehen, sagte er. Was er jedoch am meisten vermisse, sei die Arbeit. Ohne Arbeit, sagte er, bricht alles zusammen. Er wirkte nicht mal traurig, nur bereit. Man muss wissen, wenn man gehen sollte, Harry.

Nun ließ ich meinen Blick in die Ferne schweifen, hin zu der Mini-Skyline aus Grabmälern und Krypten, die längs des Parks emporragte. Der Royal Burial Ground. Die letzte Ruhestätte so vieler von uns – darunter Königin Victoria. Und auch die berüchtigte Wallis Simpson. Und ihr doppelt berüchtigter Gatte Edward, der einstige König und mein Urgroßonkel. Nachdem Edward für Wallis seinen Thron aufgegeben hatte, nachdem sie aus Großbritannien geflohen waren, sorgten sie sich bereits um ihre allerletzte Rückkehr – beide besessen von dem Wunsch, genau hier dereinst bestattet zu werden. Die Queen, meine Großmutter, gab ihrem Flehen nach. Doch sie ließ sie in sicherer Entfernung von allen anderen bestatten, unter einer windschiefen Platane. Ein letzter strenger Fingerzeig, vielleicht. Eine letzte Verbannung, möglicherweise. Ich fragte mich, was Wallis und Edward jetzt wohl über diesen ganzen Aufwand dachten. Ist es das alles am Ende wirklich wert gewesen? Ich fragte mich, ob sie sich darüber tatsächlich Gedanken machen konnten. Schwebten sie in luftigen Gefilden irgendwo umher und haderten noch immer mit ihren Entscheidungen, oder waren sie einfach nirgendwo und dachten gar nichts? Konnte es nach all dem wirklich ein Nichts geben? Geht das Bewusstsein, wie auch die Zeit, je zu Ende? Vielleicht, dachte ich, nur vielleicht, sind sie ja jetzt gerade hier, neben dieser nachgemachten gotischen Ruine, oder genau neben mir, und lauschen heimlich meinen Gedanken. Und wenn ja … hört dann vielleicht auch meine Mutter zu?

Der Gedanke an sie gab mir, wie immer, neue Kraft, erfüllte mich mit Hoffnung. Und einem stechenden Gefühl der Trauer.

Ich vermisste meine Mutter jeden Tag, doch an genau diesem, kurz vor dieser nervenaufreibenden Verabredung in Frogmore, merkte ich, wie sehr ich mich nach ihr sehnte, und ich konnte nicht mal sagen, warum. Wie so vieles an ihr war es schwer in Worte zu fassen.

Obwohl meine Mutter eine Prinzessin war und benannt nach einer Göttin, erschienen mir beide Begriffe immer zu schwach, irgendwie unzureichend. Ständig verglichen die Leute sie mit Ikonen und Heiligen, von Nelson Mandela über Mutter Teresa bis zu Jeanne d’Arc, doch jeder dieser Vergleiche, so hochgesteckt und liebevoll gemeint sie auch waren, kam mir völlig unpassend vor. Selbst als bekannteste Frau des Planeten, eine der beliebtesten dazu, war meine Mutter einfach unbeschreiblich, so war es nun mal. Und dennoch … wie konnte jemand, der von allem alltäglichen Ausdruck so meilenweit entfernt war, in meinem Kopf nur so real sein, so spürbar präsent, so ungemein lebendig? Wie konnte es sein, dass ich sie sehen konnte, so deutlich wie den Schwan, der auf dem tiefblauen See nun auf mich zuglitt? Wie konnte ich noch immer ihr Lachen hören, so laut wie das Lied der Singvögel in den kahlen Bäumen? Es gab so viel, woran ich mich nicht erinnern konnte, weil ich noch so jung gewesen war, als sie starb, doch das viel größere Wunder war, dass ich noch so viel von ihr wusste. Ihr umwerfendes Lächeln, ihr verletzlicher Blick, ihre kindliche Freude an Filmen, Musik, Kleidung und Süßigkeiten – und an uns. Oh, wie sie meinen Bruder und mich geliebt hat. Wie besessen, das hat sie einem Reporter einst gestanden.

Nun, Mummy … ich dich auch.

Vielleicht war sie aus demselben Grund allgegenwärtig, der sie auch so unbeschreiblich machte – weil sie Licht war, pures und strahlendes Licht, und wie soll man Licht denn beschreiben? Selbst Einstein hatte seine Mühe damit. Kürzlich richteten Astronomen ihre größten Teleskope neu aus, peilten einen winzigen Ausschnitt im Weltall an und entdeckten einen atemberaubenden Himmelskörper, den sie auf den Namen Earendel tauften, das altenglische Wort für Morgenstern. Milliarden von Kilometern weg von hier, entfernt sich Earendel rasend schnell von unserer Galaxie und jagt auf die Außenbereiche des bekannten Universums zu. Schon jetzt ist er dem Urknall, dem Augenblick der Schöpfung, näher als unserer Milchstraße, und doch können wir ihn mit unseren schwachen Menschenaugen irgendwie noch sehen, weil er so unfassbar hell und funkelnd leuchtet.

So war meine Mutter.

Das war der Grund, warum ich sie sehen konnte, spüren konnte, jederzeit, doch ganz besonders an jenem Aprilnachmittag in Frogmore.

Das – und weil ich ihre weiße Fahne trug. Ich war in diesen Park gekommen, weil ich Frieden wollte. Ich wollte ihn mehr als alles andere. Wollte ihn um meiner Familie willen und um meinetwillen – doch auch um ihretwillen.

Die Leute vergessen oft, wie rastlos meine Mutter sich für Frieden einsetzte. Sie reiste mehrmals um die Welt, stakste durch Minenfelder, umarmte AIDS-Kranke, tröstete Kriegswaisen, arbeitete unermüdlich, um irgendjemandem irgendwo auf dem Planeten Frieden zu bringen. Ich wusste, wie sehr sie gewollt hätte – nein, wollte –, dass zwischen ihren beiden Söhnen Frieden herrschte, und zwischen uns und Pa. Und innerhalb der ganzen Familie.

Seit Monaten herrschte bei den Windsors Krieg. Gewiss, im Laufe der Jahrhunderte hatte es in unseren Reihen immer wieder Streit gegeben, doch diesmal war es anders. Das hier war ein vollständiger öffentlicher Bruch, und er drohte irreparabel zu werden. Obwohl ich also im Grunde genommen einzig wegen Grandpas Beisetzung nach Hause geflogen war, hatte ich um dieses geheime Treffen mit meinem älteren Bruder Willy und meinem Vater gebeten, um die Lage der Dinge mit ihnen zu besprechen.

Um einen Ausweg zu finden.

Doch jetzt blickte ich wieder auf mein Handy, dann den Gartenweg entlang, und dachte: Vielleicht haben sie es sich anders überlegt. Vielleicht kommen sie gar nicht.

Für einen kurzen Augenblick war ich drauf und dran, aufzugeben und alleine durch den Park zu spazieren oder zum Haus zurückzugehen, wo alle meine Cousins und Cousinen tranken und sich Geschichten über Grandpa erzählten.

Dann sah ich sie endlich. Schulter an Schulter, mit großen Schritten auf mich zuschreitend, wirkten sie grimmig, fast schon bedrohlich. Mehr noch, sie wirkten wie eine fest gefügte Einheit. Mir wurde flau im Magen. Normalerweise zankten sie sich ständig über dies und das, doch jetzt marschierten sie im Gleichschritt auf mich zu.

Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Warte mal, sind wir zum Spazierengehen verabredet … oder zum Duell?

Ich erhob mich von der Bank, machte einen zögerlichen Schritt in ihre Richtung, lächelte sie zaghaft an. Sie lächelten nicht zurück. Jetzt fing mein Herz erst richtig an zu hämmern. Tief atmen, sagte ich mir.

Neben Angst ergriff mich nun auch eine Art gesteigerter Wahrnehmung, gepaart mit tiefer Verletzlichkeit, die ich in anderen einschneidenden Augenblicken meines Lebens schon empfunden hatte.

Als ich hinter Mummys Sarg herging.

Als ich zum ersten Mal in den Krieg zog.

Als ich mitten in einer Panikattacke eine Rede halten musste.

Es was dasselbe Gefühl, zu einem Abenteuer aufzubrechen, von dem ich nicht wusste, ob ich ihm gewachsen war, und gleichzeitig zu wissen, dass es keinen Weg zurück gab. Dass das Schicksal seinen Lauf nehmen würde.

Okay, Mummy, dachte ich und beschleunigte meine Schritte, dann mal los! Drück mir die Daumen.

Wir trafen uns in der Mitte des Pfads. Willy? Pa? Hallo.

Harold.

Schmerzlich reserviert.

Wir machten kehrt, bildeten eine Linie und wanderten den Weg entlang, der über die kleine efeuüberrankte Brücke führte.

Die Art, wie wir uns einfach so im Gleichtakt einreihten, wie wir wortlos mit denselben maßvollen Schritten und geneigten Köpfen nebeneinander hergingen, und das so nah an all den Gräbern – wer würde sich da nicht an Mummys Beerdigung erinnert fühlen? Ich nahm mir vor, nicht daran zu denken, sondern stattdessen an das angenehme Knirschen unserer Schritte auf dem Kiesweg und daran, wie der Klang unserer Worte durch die kühle Luft davonschwebte. Wie Rauchfahnen im Wind.

Weil wir Briten waren – und Windsors obendrein –, plauderten wir erst einmal ganz beiläufig über das Wetter. Tauschten unsere Eindrücke von Grandpas Begräbnis aus. Er hatte alles selbst geplant, jede noch so kleine Einzelheit, erinnerten wir uns mit wehmütigem Lächeln.

Smalltalk. Völlig belanglos. Wir streiften alle möglichen Nebenthemen, und ich wartete darauf, dass wir endlich zum Eigentlichen kamen, fragte mich, wieso es bloß so lange dauerte, und auch, wie um alles in der Welt mein Vater und mein Bruder nur so gelassen wirken konnten.

Ich sah mich um. Wir waren schon ein gutes Stück gelaufen und befanden uns mitten im Royal Burial Ground, umringt von noch mehr Toten als Prinz Hamlet am Ende seines Dramas. Doch wenn ich es mir recht überlegte … hatte ich nicht selbst einmal darum gebeten, hier bestattet zu werden? Nur wenige Stunden bevor ich in den Krieg gezogen war, hatte mein Privatsekretär mich angewiesen, festzulegen, wo meine sterblichen Überreste ruhen sollten. Sollte es zum Schlimmsten kommen, Ihre Königliche Hoheit … der Krieg ist nun mal eine solch ungewisse Angelegenheit …

Es gab mehrere Möglichkeiten. Die St. George’s Chapel? Die königliche Gruft in Windsor, wo Grandpa gerade zur Ruhe gebettet wurde? Nein, ich hatte mich für diesen Ort entschieden, weil die Parkanlage wunderschön war und weil dieser Ort friedlich wirkte.

Als wir beinahe über Wallis Simpsons Gesicht standen, holte Pa zu einem Minivortrag aus – über diese bedeutende Persönlichkeit hier, jenen königlichen Vetter dort, all die einst hoch angesehenen Herzöge und Herzoginnen, Lords und Ladys, die gegenwärtig hier unter dem Rasen ruhten. Da er sich sein Leben lang mit Geschichte auseinandergesetzt hatte, konnte er Unmengen von Wissen vermitteln, und ein Teil von mir befürchtete, dass wir hier noch Stunden stehen würden, und zum Schluss gäbe es womöglich eine Prüfung. Gnädigerweise hörte er bald auf, und wir gingen wieder los über den Rasen, am Ufer des Sees entlang, bis wir zu einem hübschen kleinen Flecken aus Narzissen gelangten.

Dort kamen wir endlich zur Sache.

Ich versuchte, ihnen meine Seite der Geschichte zu erklären. Ich war nicht in Bestform. Erstens war ich immer noch nervös, nach Kräften bemüht, meine Gefühle im Zaum zu halten, versuchte dabei zugleich aber, knapp und präzise zu sein. Mehr noch, ich hatte mir geschworen, diese Begegnung nicht in einen erneuten Streit ausarten zu lassen. Schon bald begriff ich jedoch, dass das nicht meine Entscheidung war. Pa und Willy hatten ihre Rollen zu spielen und sich längst schon für den Kampf gewappnet. Jedes Mal, wenn ich behutsam neue Gründe vorbrachte, zu einem neuen Gedankengang ansetzte, fiel einer mir ins Wort – manchmal sogar beide. Gerade Willy wollte gar nichts davon hören. Nachdem er mir schon mehrmals über den Mund gefahren war, gifteten wir uns nur noch an, warfen uns dieselben Dinge vor wie schon seit Monaten – nein, seit Jahren. Der Streit wurde so hitzig, dass Pa irgendwann die Hände in die Luft riss. Es reicht!

Er stand zwischen uns, schaute hoch in unsere wutroten Gesichter: Bitte, Jungs – macht mir meine letzten Jahre nicht zur Hölle.

Seine Stimme klang heiser, zerbrechlich. Sie klang, wenn ich ganz ehrlich bin, alt.

Ich dachte an Grandpa.

Mit einem Schlag änderte sich etwas in mir. Ich sah Willy an, sah ihn wirklich an, vielleicht das erste Mal, seit wir Kinder waren. Studierte alles ganz genau: den so vertrauten mürrischen Gesichtsausdruck, den er im Umgang mit mir seit jeher standardmäßig aufsetzte; seine erschreckende Kahlheit, die schon weiter fortgeschritten war als meine; seine berühmte Ähnlichkeit mit Mummy, die mit der Zeit verblasste. Mit dem Alter. In mancherlei Hinsicht war er mein Spiegelbild, in anderer mein Gegenteil. Mein geliebter Bruder, mein Erzfeind, wie hatte das geschehen können?

Ich war unendlich müde. Ich wollte nur noch nach Hause, und mir ging auf, was für ein kompliziertes Konzept Zuhause doch geworden war. Oder war es das vielleicht schon immer gewesen? Ich wies mit einer ausladenden Geste auf den Park, die Stadt dahinter, das Land, und sagte: Willy, all das hätte einmal unser Zuhause sein sollen. Wir wollten den Rest unseres Lebens hier verbringen.

Du bist gegangen, Harold.

Ja – und du weißt auch, warum.

Das weiß ich nicht.

Das … weißt du nicht?

Ich weiß es wirklich nicht.

Ich lehnte mich ein Stück zurück. Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Gewiss, man konnte unterschiedlicher Meinung darüber sein, wer schuld war oder wie alles hätte anders kommen können, aber dass er behauptete, er habe nicht die geringste Ahnung, wieso ich das Land meiner Geburt Hals über Kopf verlassen hatte – das Land, für das ich gekämpft hatte und für das ich bereit gewesen war zu sterben – mein Vaterland? Dieser so belastete Begriff. Behauptete er wirklich, nicht im Geringsten zu wissen, was meine Frau und mich zu diesem drastischen Schritt getrieben hatte, uns unser Kind zu schnappen und einfach so Reißaus zu nehmen, alles hier zurückzulassen – Haus, Freunde, Möbel? War das sein Ernst?

Ich blickte zu den Bäumen auf: Du weißt es nicht?

Harold … Ich weiß es wirklich nicht.

Ich wandte mich an Pa. Er starrte mich mit einem Ausdruck an, der sagte: Ich auch nicht.

Wow, dachte ich. Vielleicht wissen sie es tatsächlich nicht.

Unglaublich. Aber vielleicht stimmte es ja wirklich.

Und wenn sie nicht wussten, wieso ich gegangen war, vielleicht kannten sie mich einfach nicht. Kannten mich kein bisschen.

Vielleicht hatten sie mich nie wirklich gekannt.

Bei dem Gedanken wurde mir noch kälter. Ich fühlte mich schrecklich einsam.

Doch er stachelte mich auch an. Ich dachte: Ich muss es ihnen erzählen.

Wie kann ich es ihnen erzählen?

Ich kann es nicht. Es würde zu lange dauern.

Davon abgesehen sind sie offenbar nicht in der Verfassung zuzuhören.

Zumindest jetzt nicht. Nicht heute.

Und deshalb:

Pa? Willy?

Welt?

Bitte sehr!

Teil 1Aus der Nacht, die mich umfängt

1

Geschichten hatte es immer gegeben.

Hin und wieder erzählte man im Flüsterton von Leuten, denen in Balmoral Übles widerfahren war. Von dieser Königin vor langer Zeit, zum Beispiel. Vor Trauer wahnsinnig geworden, hatte sie sich in Balmoral Castle eingeschlossen und geschworen, nie wieder herauszukommen. Und dann war da dieser sehr korrekte einstige Premierminister. Er hatte den Ort »surreal« und »zutiefst verstörend« genannt.

Doch ich habe all diese Geschichten, glaube ich, erst viel später gehört. Oder ich habe sie zwar gehört, aber nichts davon ist hängen geblieben. Für mich war Balmoral einfach das Paradies. Eine Mischung aus Disney World und einem heiligen Druidenhain. Ich war immer viel zu sehr damit beschäftigt, zu angeln, zu jagen, »den Berg« hinauf und hinab zu rennen, als dass ich bemerkt hätte, dass irgendetwas am Feng Shui des alten Schlosses nicht stimmte.

Was ich damit sagen will: Ich war dort glücklich.

Ja, durchaus möglich, dass ich sogar nie glücklicher war als an diesem einen strahlenden Sommertag in Balmoral: dem 30. August 1997.

Wir hatten schon eine Woche im Schloss verbracht. Und wir hatten vor, noch eine weitere zu bleiben. So wie im letzten Jahr und auch in dem davor. Balmoral war wie eine eigene kleine Jahreszeit, ein zweiwöchiges Intermezzo in den schottischen Highlands, das den Übergang vom Hochsommer zum Frühherbst markierte.

Granny war auch da. Natürlich war sie da. Sie verbrachte den Großteil jedes Sommers in Balmoral. Und Grandpa. Und Willy. Und Pa. Die ganze Familie außer Mummy, denn Mummy gehörte nicht mehr zur Familie. Sie war entweder durchgebrannt oder rausgeworfen worden, je nachdem, wen man fragte. Aber ich fragte nie jemanden danach. Wie auch immer, jedenfalls machte sie woanders ihren eigenen Urlaub. In Griechenland, sagte jemand. Nein, auf Sardinien, meinte jemand anders. Nein, nein, fuhr noch jemand dazwischen, deine Mutter ist in Paris! Vielleicht war es sogar Mummy selbst, die das gesagt hatte. Als sie morgens angerufen hatte, um kurz mit uns zu plaudern? Ach, wie die Erinnerung einen belügt, liegt sie doch, so wie Millionen andere auch, jenseits einer hohen Mauer, die unseren Geist durchzieht. Was für ein furchtbares, quälendes Gefühl, zu wissen, dass sie da drüben sind, gleich auf der anderen Seite, nur ein kleines Stück entfernt – doch die Wand ist stets zu hoch, zu breit. Unüberwindbar. Ganz ähnlich wie die Türme von Balmoral.

Wo auch immer Mummy war, ich verstand, dass sie mit ihrem neuen Freund zusammen war. Das war das Wort, das alle benutzten. Nicht Geliebter. Einfach Freund. Ganz netter Typ, dachte ich. Willy und ich hatten ihn vor Kurzem kennengelernt. Ja, wir waren sogar bei Mummy gewesen, waren dabei gewesen, als sie ihm vor ein paar Wochen zum ersten Mal begegnet war. In Saint-Tropez. Wir wohnten in der Villa von irgendeinem alten Herrn und hatten jede Menge Spaß, nur wir drei. Es wurde viel gelacht und rumgealbert, was normal war, wenn Mummy, Willy und ich zusammen waren, doch in diesen Ferien war es noch lustiger als sonst. Alles an dieser Reise nach Saint-Tropez war einfach himmlisch. Das Wetter traumhaft, das Essen lecker, Mummy immerzu am Lächeln. Am besten aber war, dass es dort Jetskis gab.

Wem die gehörten? Keine Ahnung. Aber ich kann mich noch genau erinnern, wie Willy und ich damit hinaus aufs Meer rasten, wo die Fahrrinne am tiefsten war, und dort unsere Runden drehten, während wir auf die großen Fähren warteten. Ihre enormen Bugwellen benutzten wir als Sprungschanzen, um abzuheben. Noch heute ist mir schleierhaft, wie wir das überlebt haben.

War es vielleicht nach unserer Rückkehr von diesem waghalsigen Jetski-Abenteuer, als Mummys Freund zum ersten Mal auftauchte? Nein, wahrscheinlich war es schon davor. Hallo, du musst Harry sein. Rabenschwarzes Haar, sonnengegerbte Haut, knochenweißes Lächeln. Wie geht’s dir heute?Ich heiße … bla, bla, bla. Er quatschte uns an, quatschte Mummy an. Besonders Mummy. Ganz gezielt Mummy. Bekam riesengroße Herzchenaugen.

Er war dreist, keine Frage. Aber trotzdem ziemlich nett. Er gab Mummy ein Geschenk. Ein Diamantarmband. Es schien ihr zu gefallen. Sie trug es oft. Dann verblasst die Erinnerung an ihn schon wieder.

Solange Mummy glücklich ist …, sagte ich zu Willy, der meinte, dass es ihm genauso ginge.

2

Ein krasser Temperaturschock – vom sonnenprallen Saint-Tropez ins wolkenverhangene Balmoral. An den Schock kann ich mich vage erinnern, wenn auch an kaum etwas anderes aus unserer ersten Woche im Schloss. Und doch bin ich mir fast sicher, dass wir die meiste Zeit draußen verbrachten. Meine Familie war nirgends lieber als in der Natur, besonders Granny, die schlechte Laune bekam, wenn sie nicht mindestens eine Stunde am Tag an die frische Luft kam. Was wir da draußen taten allerdings, was wir sprachen, anhatten oder aßen, kann ich nicht heraufbeschwören. Einige Berichte sagen, dass wir auf der königlichen Jacht von der Isle of Wight aus zum Schloss gefahren seien, die letzte Fahrt des Schiffes. Klingt herrlich.

Woran ich mich jedoch erinnere, gestochen scharf sogar, ist die Umgebung von Balmoral. Die dichten Wälder. Der vom Wildfraß kahle Berg. Der sich durch die Highlands schlängelnde Fluss Dee. Lochnagar, der über unseren Köpfen in die Höhe ragt, sein Gipfel ewig schneebetupft. Landschaft, Geografie, Architektur, so funktioniert mein Gedächtnis. Daten? Sorry, die muss ich nachschlagen. Ich gebe mein Bestes, aber auf den genauen Wortlaut würde ich mich nicht verlassen, besonders wenn es um die Neunziger geht. Doch wenn Sie mich nach irgendeiner Örtlichkeit fragen, in der ich irgendwann einmal gewesen bin – ob Schloss, Cockpit, Klassenzimmer, Empfangssaal, Schlafzimmer, Palast, Park oder Pub –, beschreibe ich sie Ihnen haarklein bis hin zu den Teppichnägeln.

Wieso organisiert mein Gedächtnis Erlebtes gerade auf diese Art und Weise? Ist es Vererbung? Traumatische Erfahrungen? Irgendeine frankensteinartige Kombination aus beidem? Ist es noch immer der Soldat in mir, der jeden Raum als potenzielles Schlachtfeld auslotet? Die mir angeborene Häuslichkeit, die gegen das erzwungene Nomadentum in meinem Leben rebelliert? Ist es womöglich irgendeine grundlegende Ahnung, dass die Welt an und für sich ein Labyrinth ist und dass man ein Labyrinth niemals ohne Karte betreten sollte?

Aus welchem Grund auch immer, mein Gedächtnis ist nun mal, wie es ist, und es tut, was es tut. Es sammelt und ordnet nach Belieben, und in dem, woran ich mich erinnere und wie ich mich daran erinnere, liegt ebenso viel Wahrheit wie in den sogenannten objektiven Fakten. Dinge wie Chronologie und Ursache und Wirkung sind oft nur Märchen, die wir uns über die Vergangenheit erzählen. Das Vergangene ist niemals tot. Es ist nicht einmal vergangen. Als ich dieses Zitat vor nicht allzu langer Zeit auf BrainyQuote.com entdeckte, hat es mich völlig umgehauen. Ich dachte: Wer zum Teufel ist Faulkner? Und wie ist er verwandt mit uns, den Windsors?

Also deshalb: Balmoral. Wenn ich die Augen schließe, kann ich den Haupteingang sehen, die drei hölzernen Außenfenster, die breite Zufahrt und die grau-schwarz gesprenkelte Granittreppe, die empor zur massiven Vordertür aus whiskybrauner Eiche führt, häufig aufgehalten mithilfe eines schweren Curlingsteins und bewacht von einem rot berockten Diener. Und innen dann die weitläufige Eingangshalle, der weiße Steinboden mit den sternförmigen grauen Fliesen und der riesige Kamin mit seinem Sims aus reich beschnitztem dunklem Holz, auf der einen Seite eine Art Hauswirtschaftsraum und zur Linken, neben den hohen Fenstern, Haken für die Angelruten und Spazierstöcke und Anglerhosen und schweren Regenmäntel – so viele Regenmäntel, weil der Sommer überall in Schottland feucht und kühl sein konnte, in diesem sibirisch anmutenden Flecken aber schneidend kalt war – und die hellbraune Holztür, die auf den Gang mit dem purpurroten Teppich und den cremefarbenen Tapeten hinausging, ein goldbeflocktes Muster, hervorstehend wie Brailleschrift, und dann die vielen Räume, die von diesem Flur abgingen, jeder für einen ganz eigenen Zweck, zum Sitzen oder Lesen, Fernsehen oder Teetrinken, und einem extra für die Pagen, von denen ich viele so gernhatte wie kauzige Onkel. Und schließlich dann der Hauptsaal aus dem 19. Jahrhundert, errichtet beinahe auf dem Standort eines noch älteren Schlosses aus dem 14. Jahrhundert, wo nur wenige Generationen später ein anderer Prinz Harry lebte, der erst verbannt worden war und der bei seiner Rückkehr alles und jeden niedermetzelte, der ihm unter die Augen kam. Mein entfernter Verwandter. Mein Bruder im Geiste, wie manche wohl behaupten würden. Nun ja, jedenfalls mein Namensvetter.

Geboren am 15. September 1984, taufte man mich auf die Namen Henry Charles Albert David of Wales. Doch schon vom ersten Tag an nannten alle mich nur Harry.

In der Mitte dieses Hauptsaals war die Prunktreppe. Ausladend, spektakulär, selten benutzt. Wenn sich Granny samt ihren Corgis auf den Weg in ihr Schlafzimmer im oberen Stock machte, zog sie den Lift vor.

Und die Corgis ebenso.

Neben Grannys Aufzug gelangte man durch eine purpurne Schwingtür und über einen Teppichboden mit grünem Schottenmuster zu einer kleineren Treppe mit wuchtigem Metallgeländer; sie führte in den oberen Stock, wo eine Statue von Königin Victoria stand. Wenn ich an ihr vorüberging, vollführte ich stets eine Verbeugung. Eure Majestät! Willy tat es auch. Zwar waren wir dazu angehalten worden, aber ich hätte es auch so getan. Ich fand die »Großmutter Europas« ungemein faszinierend, und nicht nur, weil Granny sie so gernhatte oder weil Pa mich einst nach ihrem Ehemann benennen wollte (Mummy hielt ihn davon ab). Victoria hatte viel Liebe erfahren, himmelhohes Glück erlebt – im Grunde aber war ihr Leben tragisch verlaufen. Ihr Vater, Prinz Edward, Herzog von Kent und Strathearn, galt als Sadist, den es sexuell erregte, wenn er zusehen durfte, wie seine Soldaten ausgepeitscht wurden, und ihr geliebter Ehemann Albert starb vor ihren Augen. Zudem wurde im Laufe ihrer langen und einsamen Regentschaft acht Mal auf sie geschossen, bei acht verschiedenen Attentaten, verübt von sieben verschiedenen Untertanen.

Keine Kugel traf. Nichts konnte Victoria zu Fall bringen.

Hinter Victorias Statue wurde es kniffliger. Die Türen wurden immer ähnlicher, Zimmer gingen ineinander über. Es war leicht, sich zu verirren. Öffnete man die falsche Tür, konnte es sein, dass man hereinplatzte, wenn der Kammerdiener Pa beim Anziehen half. Oder noch schlimmer, man stolperte ins Zimmer, wenn er seinen Kopfstand machte. Von seinen Physiotherapeuten verschrieben, waren diese Übungen das einzig wirksame Mittel, das gegen Pas ständige Genick- und Rückenschmerzen half. Alte Verletzungen vom Polo größtenteils. Er machte sie täglich, nur in Boxershorts, gegen eine Tür gelehnt oder von einer Stange baumelnd wie ein geübter Akrobat. Wenn man nur den kleinen Finger auf den Türknauf legte, hörte man ihn schon von der anderen Seite flehen: Nein! Nein! Nicht aufmachen! Um Gottes willen, mach bitte nicht die Tür auf!

In Balmoral gab es fünfzig Schlafzimmer, von denen man eines für Willy und mich geteilt hatte. Die Erwachsenen nannten es das Kinderzimmer. Willy hatte die größere Hälfte mit einem Doppelbett, einem ziemlich großen Waschbecken, einem Kleiderschrank mit Spiegeltüren und einem wunderschönen Fenster mit Blick hinunter auf den Schlosshof, den Brunnen und die Bronzestatue eines Rehkitzes. Meine Hälfte des Zimmers war viel kleiner und auch weniger komfortabel. Ich habe nie gefragt, warum. Es war mir egal. Aber ich musste auch nicht fragen. Zwei Jahre älter als ich, war Willy nun mal der Thronfolger, der Heir, während ich der sogenannte Spare war, der Ersatzmann, die Reserve.

Nicht nur die Presse bezeichnete uns so, auch Pa, Mummy und Grandpa verwendeten diese Kürzel. Und sogar Granny.

Der Heir und der Spare – es lag keine Wertung darin, aber auch nichts Missverständliches. Ich war der Schattenmann, die Stütze, der Plan B. Ich wurde geboren für den Fall, dass Willy etwas zustieß. Wurde hierher beordert, um ihm Ablenkung und Zerstreuung zu verschaffen und, wenn nötig, ein Ersatzteil. Womöglich eine Niere. Eine Bluttransfusion. Eine Portion Knochenmark. All das wurde mir schon zu Beginn meines Lebensweges glasklar zu verstehen gegeben und auch später regelmäßig aufgefrischt. Ich war zwanzig, als man mir zum ersten Mal die Geschichte darüber erzählte, was Pa am Tag meiner Geburt zu Mummy gesagt haben soll: Wunderbar! Jetzt hast du mir einen Heir und einen Spare geschenkt – meine Arbeit ist getan. Ein Witz. Vermutlich. Andererseits – nur wenige Minuten nachdem er diese hochkomische Vorstellung gegeben hatte, brach er wieder auf und ging, so heißt es, mit seiner Freundin ins Theater. Nun. Manch wahres Wort wird oft im Scherz gesprochen.

Ich nahm es ihnen nicht übel. Es berührte mich nicht, nichts davon. Die Thronfolge war wie das Wetter, die Positionen der Planeten oder der Wechsel der Jahreszeiten. Wer hatte schon die Zeit, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die so unabänderlich waren? Wer würde sich die Mühe machen, mit einem Schicksal zu hadern, das ohnehin in Stein gemeißelt war? Ein Windsor zu sein hieß, herauszufinden, welche Wahrheiten zeitlos waren, um sie sich anschließend aus dem Kopf zu schlagen. Es hieß, die grundlegenden Kennwerte der eigenen Identität förmlich in sich aufzunehmen und instinktiv zu wissen, wer man war, was auf ewig davon abhing, wer man gerade nicht war.

Ich war nicht Granny.

Ich war nicht Pa.

Ich war nicht Willy.

Ich stand an dritter Stelle hinter ihnen.

Jeder Junge und jedes Mädchen träumt zumindest einmal im Leben davon, ein Prinz oder eine Prinzessin zu sein. Deshalb, Reserve hin oder her, war es gar nicht so übel, einer zu sein. Und mehr noch, mit aller Kraft die Menschen zu unterstützen, die man liebt, war das nicht die Definition von Ehre?

Von Liebe?

Wie sich vor Victoria zu verbeugen, wenn man an ihr vorüberging?

3

Neben meinem Schlafzimmer befand sich eine Art rundes Wohnzimmer. Runder Tisch, Wandspiegel, Schreibtisch, Kamin mit gepolsterter Umrandung. In der gegenüberliegenden Ecke war eine mächtige Holztür, die in ein Badezimmer führte. Die zwei Marmorwaschbecken sahen aus wie Prototypen für die ersten Waschbecken, die je gebaut wurden. Alles an Balmoral war entweder alt oder auf alt getrimmt. Das Schloss war ein Spielplatz, eine Jagdhütte, aber auch eine Bühne.

Den meisten Platz im Badezimmer nahm eine frei stehende Wanne mit Krallenfüßen ein, und selbst das Wasser, das aus ihren Hähnen sprudelte, schien alt zu sein. Doch nicht auf eine schlechte Art. Alt wie der See, wo Merlin König Artus half, sein Zauberschwert zu finden. Bräunlich, wie es war, erinnerte es an schwachen Tee und jagte so manchem Wochenendgast einen Schreck ein. Entschuldigung, aber mit dem Wasser in meiner Toilette scheint etwas nicht zu stimmen. Pa lächelte dann stets und versicherte dem Gast, dass mit dem Wasser alles in Ordnung war; im Gegenteil, der schottische Torf hatte es gefiltert und verfeinert. Dieses Wasser kommt geradewegs vom Berg, und was Sie bald erleben werden, ist ein absoluter Hochgenuss – ein Highland-Bad.

Je nach Vorliebe konnte dieses Highland-Bad entweder eiskalt oder brühheiß sein; die Wasserhähne im Schloss ließen sich präzise regulieren. Für mich gab es kaum etwas Wohltuenderes als ein ausgedehntes, siedend heißes Bad, besonders, wenn ich dabei durch die Schlitzfenster des Schlosses spähen konnte, wo, wie ich mir vorstellte, einst Bogenschützen Wache gehalten hatten. Dann starrte ich in den Sternenhimmel hoch oder hinab auf die von Mauern eingefassten Gärten und stellte mir vor, wie ich über der ausgedehnten Rasenfläche schwebte, die dank einer Armee von Gärtnern so glatt und grün war wie ein Billardtisch. Der Rasen war so makellos, jeder Grashalm so exakt getrimmt, dass Willy und ich immer ein schlechtes Gewissen hatten, wenn wir darüberliefen oder gar mit unseren Fahrrädern darauf herumrasten. Aber wir taten es trotzdem, sogar ständig. Einmal jagten wir unsere Cousine quer über den Rasen, wir auf Quads, die Cousine fuhr ein Gokart. Es war ein Riesenspaß, bis sie frontal gegen einen grünen Laternenpfahl krachte. Ein irrer Zufall – es war der einzige Laternenpfahl im Umkreis von etlichen Kilometern. Wir schrien vor Lachen, doch der Laternenpfahl, der bis vor Kurzem noch ein Baum in einem nahen Wald gewesen war, brach glatt entzwei und stürzte auf sie. Sie hatte ungeheures Glück, dass sie nicht ernsthaft verletzt wurde.

Am 30. August 1997 habe ich nicht lange runter auf den Rasen gestarrt. Willy und ich erledigten eilig unser abendliches Bad, schlüpften rasch in unsere Schlafanzüge und machten es uns vor dem Fernseher gemütlich. Ein paar Diener kamen mit Tabletts voller Teller herein, jeder davon abgedeckt mit einer silbernen Servierglocke. Die Diener stellten die Tabletts auf Holzständer und scherzten kurz mit uns, so wie sie es immer taten, bevor sie uns bon appétit wünschten.

Hausdiener, feines Porzellan – das klingt alles furchtbar vornehm, und womöglich war es das auch, doch unter diesen schicken Glocken war nur ganz normales Kinderessen. Fischstäbchen, Cottage Pie, Brathähnchen, grüne Erbsen.

Unser Kindermädchen Mabel, die auch schon Pas Nanny gewesen war, leistete uns Gesellschaft. Während wir uns den Bauch vollschlugen, hörten wir Pa in seinen Pantoffeln vorbeitappen, der aus seinem eigenen Badezimmer kam. Er hatte sein »Radio« dabei, wie er seinen tragbaren CD-Player nannte, auf dem er beim Baden gern seine »Geschichtenbücher« hörte. Nach Pa konnte man die Uhr stellen, als wir ihn also im Flur hörten, wussten wir, dass es kurz vor acht sein musste.

Eine halbe Stunde später hörten wir die ersten Anzeichen, dass die Erwachsenen ihre abendliche Wanderung nach unten antraten, gefolgt von den ersten blökenden Tönen des Dudelsacks, der sie stets auf ihrem Weg begleitete. In den nächsten zwei Stunden würden die Erwachsenen in ihrem Dinner-Kerker gefangen sein, gezwungen, an diesem langen Tisch zu hocken, gezwungen, sich im schummrigen Dämmer des von Prinz Albert entworfenen Kronleuchters mit verkniffenen Augen anzublinzeln, gezwungen, stocksteif vor Porzellantellern und Kristallkelchen zu sitzen, die von Bediensteten (mit Maßbändern) mathematisch präzise angeordnet worden waren, gezwungen, an Wachteleiern und Steinbutt herumzupicken, und eingezwängt in ihren schicksten Fummel hohles Geschwätz von sich zu geben. Smoking, feste schwarze Schuhe, enge Karohosen. Vielleicht sogar ein Kilt. Ich dachte: Ist doch die Hölle, ein Erwachsener zu sein.

Auf dem Weg zum Dinner kam Pa bei uns vorbei. Er war spät dran, trotzdem hob er theatralisch eine Silberglocke – Mmh, lecker, ich wünschte, ich dürfte das essen! – und roch lang und tief daran. Er beschnupperte ständig irgendetwas. Essen, Rosen, unser Haar. In einem früheren Leben muss er wohl ein Spürhund gewesen sein. Vielleicht roch er so ausgiebig an Dingen, weil es ihm schwerfiel, neben seinem eigenen Duft noch etwas anderes wahrzunehmen. Eau Sauvage. Er schüttete sich das Zeug in rauen Mengen auf die Wangen, den Hals, das Hemd. Blumig mit einem Hauch von etwas Scharfem, wie Pfeffer oder Schießpulver, es wurde in Paris gemacht. Das stand auf der Flasche. Was mich an Mummy erinnerte.

Ja, Harry, Mummy ist in Paris.

Genau vor einem Jahr war ihre Scheidung rechtskräftig geworden. Fast auf den Tag genau.

Seid brav, Jungs.

Ganz bestimmt, Pa.

Bleibt nicht zu lange auf.

Er ging. Sein Duft blieb da.

Wir aßen fertig zu Abend, schauten noch etwas fern, dann machten wir den üblichen Unfug, den wir immer vorm Zubettgehen noch anstellten. Wir hockten uns auf die oberste Stufe einer Nebentreppe und belauschten die Erwachsenen in der Hoffnung, ein Schimpfwort oder eine unanständige Geschichte aufzuschnappen. Sausten unter den wachsamen Blicken Dutzender toter Hirschköpfe die ellenlangen Gänge auf und ab. Irgendwann liefen wir dabei Grannys Dudelsackspieler in die Arme.

Zerzaust und mit birnenförmiger Figur, buschigen Augenbrauen und einem Kilt aus Tweed, folgte er Granny, wo auch immer sie hinging, weil sie den Klang des Dudelsacks so liebte, genau wie einst Victoria – obwohl Albert das Instrument angeblich für »bestialisch« hielt. Während ihrer Sommerfrische in Balmoral ließ Granny sich von dem Dudelsackspieler wecken, und auch beim Gang zum Dinner musste er sie stets begleiten. Das Instrument sah aus wie ein betrunkener Oktopus, nur dass die schlaffen Arme mit silbernen Intarsien versehen und aus dunklem Mahagoni waren. Wir hatten das Ding zwar schon gesehen, sehr oft sogar, aber an jenem Abend fragte er, ob wir es halten wollten. Versucht es doch mal.

Wirklich?

Ja, macht ruhig.

Wir brachten aus dem Sack kaum etwas heraus, nur ein paar jämmerliche Quietscher. Wir hatten einfach nicht die Puste. Der Piper dagegen hatte einen Brustkorb von der Größe eines Whiskyfasses. Er ließ die Pfeifen aufjaulen und heulen.

Wir dankten ihm für die Lektion und wünschten ihm Gute Nacht, dann machten wir uns wieder auf den Weg in Richtung Kinderzimmer, wo Mabel darauf achtete, dass wir uns ordentlich die Zähne putzten und uns die Gesichter wuschen. Dann ging es in Bett.

Mein Bett war hoch. Ich musste springen, um hinaufzukommen, woraufhin ich automatisch in die durchgelegene Mitte kullerte. Es war, als würde ich auf ein Bücherregal klettern und dann in einen Splittergraben fallen. Meine Bettwäsche war sauber, frisch gestärkt, in verschiedenen Weißtönen gehalten. Alabasterweiße Laken. Cremefarbene Decken. Eierschalfarbene Steppdecke (vieles davon mit dem Monogramm ER versehen, Elizabeth Regina). Das alles war so fest verspannt wie eine Marschtrommel und so fachmännisch geglättet, dass man problemlos die im Laufe des Jahrhunderts geflickten Löcher und Risse erkennen konnte.

Ich zog mir das Betttuch und die Decke bis zum Kinn, weil ich die Dunkelheit nicht mochte. Nein, das ist untertrieben. Ich hasste die Dunkelheit. Auch Mummy hasste sie, das hatte sie mir erzählt. Das hatte ich von ihr geerbt, dachte ich, zusammen mit ihrer Nase, ihren blauen Augen, ihrer Menschenliebe, ihrer Abneigung gegen Blasiertheit, Falschheit und alles Vornehme. Ich sehe mich, wie ich unter diesen Decken liege, in die Dunkelheit starre, den klackernden Insekten und dem Ruf der Eulen lausche. Habe ich in meiner Fantasie Gestalten über die Wände huschen sehen? Habe ich auf den langen Lichtbalken gestarrt, der immer da war, weil ich stets darauf beharrte, dass die Tür einen Spalt breit offen blieb? Wie lange hat es gedauert, bis ich einschlief? Anders gesagt, wie viel von meiner Kindheit blieb mir noch, und wie sehr wusste ich es zu schätzen, kostete es aus, bevor ich schlaftrunken bemerkte, dass da jemand war …

Pa?

Er stand am Bettrand und blickte auf mich hinab. Mit seinem weißen Morgenmantel sah er aus wie ein Gespenst in einem Theaterstück.

Ja, darling boy.

Er schenkte mir den Anflug eines Lächelns, dann schaute er weg.

Im Zimmer war es nicht mehr dunkel. Aber auch nicht hell. Eine merkwürdige Mischfarbe, fast bräunlich, fast wie das Wasser in der alten Wanne.

Er sah mich auf eine seltsame Art an, so, wie er mich noch niemals zuvor angesehen hatte. Voller … Angst?

Was ist los, Pa?

Er setzte sich auf die Bettkante. Legte eine Hand auf mein Knie.

Darling boy, Mummy hatte einen Autounfall.

Ich weiß noch, wie ich dachte: Unfall … Okay. Aber es geht ihr gut? Nicht?

Ich erinnere mich noch ganz genau, wie mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss. Und ich erinnere mich, wie ich geduldig darauf wartete, dass Pa mir bestätigte, dass es Mummy auch tatsächlich gut ging. Und ich erinnere mich, dass er es nicht tat.

Dann schien sich in meinem Inneren etwas zu verändern. Ich fing an, stumm zu flehen – flehte Pa an, oder Gott, oder beide: Nein, nein, nein.

Pa blickte hinab in die Falten der alten Decken, Betttücher und Laken.

Es gab Komplikationen. Mummy ist ziemlich schwer verletzt worden, und man hat sie ins Krankenhaus gebracht, darling boy.

Er nannte mich immer darling boy, »liebster Junge«, doch jetzt sagte er es ziemlich oft. Er sprach ganz leise. Offenbar stand er unter Schock.

Oh. Ins Krankenhaus?

Ja, mit einer Kopfverletzung.

Hat er Paparazzi erwähnt? Sagte er, dass man sie verfolgt hatte? Ich glaube nicht. Ich will es nicht beschwören, aber wahrscheinlich nicht. Die Paparazzi waren ein großes Problem für Mummy, für alle eigentlich, das musste nicht eigens gesagt werden.

Wieder dachte ich: Verletzt … aber es geht ihr gut. Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht, sie werden ihren Kopf verarzten, und wir werden hinfahren, sie besuchen. Heute. Spätestens heute Abend.

Sie haben es versucht, darling boy. Aber sie hat es leider nicht geschafft.

Diese Sätze haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, sind dort stecken geblieben wie Darts in einer Scheibe. So hat er es gesagt, da bin ich mir ganz sicher. Sie hat es nicht geschafft. Und dann schien alles plötzlich stillzustehen.

Nein, das stimmt nicht. Nicht schien. Nichts schien irgendwie. Alles stand eindeutig, zweifellos und unumstößlich still.

Nichts von dem, was ich ihm dann sagte, ist mir in Erinnerung geblieben. Gut möglich, dass ich gar nichts sagte. Woran ich mich jedoch mit verblüffender Deutlichkeit erinnere, ist, dass ich nicht geweint habe. Nicht eine Träne.

Pa umarmte mich nicht. Schon unter normalen Umständen war er nicht besonders gut darin, Gefühle zu zeigen, wie sollte man da erwarten, dass er es in einer derartigen Krise tat? Doch ließ er seine Hand noch einmal auf mein Knie sinken und sagte: Alles wird gut werden.

Für ihn war das schon eine ganze Menge. Väterlich, hoffnungsvoll, gütig. Und so durch und durch unwahr.

Er stand auf und ging. Ich erinnere mich nicht, woher ich wusste, dass er schon im anderen Zimmer gewesen war, es Willy schon gesagt hatte, aber ich wusste es.

Ich lag einfach da, oder ich saß. Ich stand nicht auf. Ich badete nicht, ging auch nicht pinkeln. Zog mich nicht an. Rief nicht nach Willy oder Mabel. Nachdem ich nun schon seit Jahrzehnten versuche, diesen Morgen zu rekonstruieren, bin ich zu dem eindeutigen Ergebnis gekommen: Ich muss in diesem Zimmer geblieben sein, ohne etwas zu sagen, ohne jemanden zu sehen. Und das bis Punkt neun Uhr, als der Dudelsackspieler draußen zu spielen anfing.

Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, was er spielte. Aber vielleicht ist das auch egal. Beim Dudelsack geht es nicht um die Melodie, sondern um den Klang. Diese jahrtausendealten Instrumente sind so gebaut, dass sie das verstärken, was man bereits im Herzen trägt. Wenn man albern ist, macht der Dudelsack einen alberner. Wenn man wütend ist, bringt er das Blut noch rasender in Wallung. Und wenn man trauert, selbst wenn man zwölf Jahre alt ist und einem nicht bewusst ist, dass man trauert, vielleicht gerade dann, wenn man es nicht weiß, kann einen ein Dudelsack in den Wahnsinn treiben.

4

Es war Sonntag. Also gingen wir wie immer in die Kirche.

Crathie Kirk. Granitmauern, Buntglasfenster, die vor etlichen Jahrzehnten von Victoria gestiftet worden waren, vielleicht als Wiedergutmachung für all den Ärger, den ihre Besuche hier verursachten. Es hatte wohl etwas damit zu tun, dass das Oberhaupt der Church of England in der Church of Scotland beten ging – eine Aufregung, die ich nie verstanden habe.

Ich habe Fotos von uns gesehen, wie wir an dem Tag in die Kirche gingen, aber sie wecken in mir keine Erinnerungen. Hat der Pfarrer etwas darüber gesagt? Hat er alles nur noch schlimmer gemacht? Habe ich ihm überhaupt zugehört oder nur auf den Rücken der Vorderbank gestarrt und an Mummy gedacht?

Auf dem Rückweg nach Balmoral, der nur zwei Minuten dauerte, riet man uns anzuhalten. Die Leute waren seit dem frühen Morgen zum Eingangstor geströmt, manche hatten etwas dagelassen. Stofftiere, Blumen, Karten. Ein Zeichen der Wertschätzung sei geboten.

Wir fuhren heran, stiegen aus. Ich sah nichts als ein Raster bunter Punkte. Blumen. Und noch mehr Blumen. Hörte nichts außer einem rhythmischen Klicken auf der anderen Straßenseite. Die Presse. Ich griff nach der Hand meines Vaters, suchte Halt, verfluchte mich sofort dafür, denn diese Geste löste ein Gewitter weiterer Klicks aus.

Ich hatte ihnen genau das geliefert, was sie wollten. Emotionen. Drama. Schmerz.

Und sie drückten ab, wieder und wieder und wieder.

5

Einige Stunden später brach Pa nach Paris auf, begleitet von Mummys Schwestern, Tante Sarah und Tante Jane. Jemand sagte, dass sie mehr über den Unfall erfahren müssten. Und sie müssten sich um die Heimkehr von Mummys Leichnam kümmern.

Leichnam. Jetzt blieben die Leute bei diesem Wort. Es verschlug einem den Atem, so eine verdammte Lüge, denn Mummy war nicht tot!

Plötzlich hatte ich das begriffen. Während ich weiterhin nichts zu tun hatte, als das Schloss zu durchstreifen und Selbstgespräche zu führen, verdichtete sich ein Verdacht und wurde schließlich zur festen Überzeugung. Das Ganze war nur ein Trick. Und der wurde ausnahmsweise mal nicht von den Leuten um mich herum oder von der Presse ausgeheckt, sondern von Mummy. Sie hat sich sehr unglücklich gefühlt, ist gejagt worden, drangsaliert, man hat Lügen über sie erzählt und ihr welche aufgetischt. Also hat sie einen Unfall vorgetäuscht und sich aus dem Staub gemacht.

Die Erkenntnis raubte mir den Atem und ließ mich dann vor Erleichterung aufkeuchen.

Natürlich! Alles nur eine Finte, damit sie noch mal neu anfangen kann! In diesem Augenblick mietet sie gerade ohne Zweifel eine Wohnung in Paris oder arrangiert Schnittblumen in ihrer heimlich gekauften Blockhütte irgendwo hoch droben in den Schweizer Alpen. Bald, ganz bald wird sie mich und Willy zu sich holen lassen. Liegt doch glasklar auf der Hand! Wieso hab ich das nicht eher durchschaut? Mummy ist gar nicht tot! Sie versteckt sich! Jetzt ging es mir viel, viel besser.

Dann beschlichen mich Zweifel.

Moment mal! Das würde uns Mummy niemals antun. Dieser unsagbare Schmerz, den hätte sie niemals zugelassen oder gar selbst ausgelöst.

Dann erneut Erleichterung: Sie hatte keine andere Wahl. Es war ihre einzige Hoffnung auf Freiheit.

Dann wieder Zweifel: Mummy würde sich nicht verstecken, dazu ist sie zu sehr Kämpferin.

Dann Erleichterung: Das ist ihre Art zu kämpfen. Sie wird zurückkommen. Sie muss ja. In zwei Wochen ist mein Geburtstag.

Doch Pa und meine Tanten kehrten zuerst zurück. Ihre Ankunft wurde von allen Fernsehsendern übertragen. Die ganze Welt sah zu, wie sie den Asphalt auf dem Luftwaffenstützpunkt Northolt betraten. Ein Sender unterlegte ihr Eintreffen sogar mit Musik: eine schwermütige Stimme, die einen Psalm sang. Willy und ich ließ man nicht zum Fernseher vor, aber gehört haben müssen wir das wohl.

Die nächsten paar Tage verstrichen wie in einem Vakuum; niemand sagte irgendetwas. Wir zogen uns gemeinsam hinter die Schlossmauern zurück. Es war wie im Inneren einer Gruft, nur trugen alle in dieser Gruft enge Hosen mit Schottenmuster und hielten sich weiter an das normale Tagesgeschäft, die üblichen Abläufe. Falls irgendwer von irgendwas sprach, hörte ich es nicht. Ich hörte einzig die Stimme, die in meinem Kopf raunte und gegen sich selbst anredete.

Sie ist fort für immer.

Nein, sie versteckt sich.

Sie ist tot.

Nein, sie stellt sich tot.

Dann eines Morgens war die Zeit gekommen. Es ging zurück nach London. An die Reise kann ich mich nicht mehr erinnern. Sind wir gefahren? Sind wir mit der königlichen Maschine geflogen? Ich habe das Wiedersehen mit Pa und mit den Tanten vor Augen, auch die entscheidende Begegnung mit Tante Sarah, wobei sie hinter Nebelschleiern liegt und ihr Verlauf etwas durcheinandergeraten sein mag. Zuweilen verlegt mein Gedächtnis sie kurzerhand gleich in jene schrecklichen Tage Anfang September. Mitunter jedoch rückt sie in meiner Erinnerung viele Jahre weit vor.

Wann auch immer sie sich zutrug, sie trug sich so zu:

William? Harry? Tante Sarah hat hier etwas für euch, Jungs.

Sie trat vor, hielt zwei kleine blaue Schachteln in Händen. Was ist das?

Mach sie auf.

Ich hob den Deckel meiner blauen Schachtel ab. Darin lag … eine Motte?

Nein.

Ein Schnurrbart?

Nein.

Was …

Ihr Haar, Harry.

Tante Sarah erläuterte, dass sie drüben in Paris zwei Locken von Mummys Kopf abgeschnitten hatte.

Da war er nun. Der Beweis. Sie ist wirklich von uns gegangen.

Aber dann kam sogleich der beschwichtigende Zweifel, die lebensrettende Ungewissheit auf: Nein, das Haar könnte von sonst wem sein. Mummy war mit ihrem unversehrten wunderschönen blonden Haar irgendwo da draußen.

Ich wüsste es, wäre sie’s nicht. Mein Körper wüsste es. Mein Herz wüsste es. Und beide wissen nichts dergleichen.

Beide waren genauso voll von Liebe zu ihr wie bisher.

6

Willy und ich gingen an der Menschenmenge draußen vor dem Kensington Palace auf und ab, lächelten, schüttelten Hände. Als würden wir uns um ein öffentliches Amt bewerben. Aberhunderte Hände wurden unablässig in unsere Gesichter gehalten, oft mit feuchten Fingern.

Feucht wovon?, rätselte ich.

Von Tränen, wurde mir klar.

Mir missfiel, wie sich diese Hände anfühlten. Mehr noch verabscheute ich, wie ich mich ihretwegen fühlte. Schuldig. Warum weinten alle diese Leute, während ich es nicht tat und auch nicht getan hatte?

Ich wollte ja und hatte versucht zu weinen, weil Mummys Leben dermaßen traurig gewesen war, dass sie geglaubt hatte, verschwinden und dazu dieses ungeheure Theater inszenieren zu müssen. Doch ich bekam nicht eine Träne heraus. Vielleicht hatte ich zu gut gelernt, zu tief verinnerlicht, was zum Familienethos gehörte: dass Weinen nicht zur Wahl stand – nie.

Ich erinnere mich an die Berge von Blumen rings um uns. Ich erinnere mich, welch unsäglichen Kummer ich empfand und wie unfehlbar höflich ich mich dennoch verhielt. Ich erinnere mich, dass alte Damen sagten: Wie ist er doch höflich, der arme Junge! Ich erinnere mich daran, immer wieder Danke zu murmeln, Danke für Ihr Kommen, Danke für Ihre Worte, Danke dafür, mehrere Tage lang hier draußen zu kampieren. Ich erinnere mich daran, Einzelnen Trost zuzusprechen, die von Trauer überwältigt waren, ganz als hätten sie Mummy gekannt, und doch bei mir zu denken: Hast du aber nicht. Du tust so, als ob … aber du kanntest sie nicht.

Soll heißen … du kennst sie nicht. Präsens.

Nachdem wir uns tapfer der Menge gestellt hatten, gingen wir in den Kensington Palace. Durch zwei große schwarze Türen traten wir in Mummys Wohnung ein, gingen einen langen Flur hinunter und betraten ein Zimmer zur Linken. Dort stand ein großer Sarg. Dunkelbraun, Sommereiche. Erinnere ich mich daran, oder bilde ich mir ein, dass er in einen … Union Jack gehüllt war?

Wie gebannt starrte ich auf diese Flagge. Vielleicht wegen meiner Kriegsspiele früher. Vielleicht lag es an meinem inzwischen entstandenen altklugen Patriotismus. Oder es kam vielleicht daher, dass es seit Tagen für mich vernehmlich gebrodelt hatte wegen der Flagge, der Flagge, der Flagge. Alle redeten nur noch darüber. Die Leute waren in Rage, weil die Flagge über dem Buckingham Palace nicht auf halbmast gesetzt worden war. Es scherte sie nicht, dass dort der Royal Standard niemals halbmast geflaggt wurde, unter keinen Umständen. Die Flagge wurde aufgezogen, wenn Granny sich im Palast aufhielt, und andernfalls eben nicht, Punktum. Sie scherten sich bloß darum, irgendeine offizielle Trauerbezeugung zu sehen zu bekommen, und empörten sich über deren Ausbleiben. Besser gesagt, sie wurden von den britischen Zeitungen aufgewiegelt, die so von ihrer Rolle bei Mummys Verschwinden abzulenken versuchten. Mir fällt da eine Schlagzeile ein, die sich direkt an Granny richtete: ZEIGENSIEUNSIHRMITGEFÜHL. Starkes Stück, das, kam es doch von denselben Unmenschen, die genau so viel »Mitgefühl« mit Mummy hatten, dass sie sie in einen Tunnel jagten, aus dem sie nie mehr auftauchte.

Mittlerweile hatte ich diese »amtliche« Version der Geschehnisse aufgeschnappt: Paparazzi jagten Mummy durch die Straßen von Paris hinein in einen Tunnel, wo ihr Mercedes gegen eine Wand oder einen Betonpfeiler krachte, sodass Mummy, ihr Freund und ihr Fahrer dabei zu Tode kamen.

Wie ich so vor dem fahnengeschmückten Sarg stand, fragte ich mich: Ist Mummy eine Patriotin? Wie denkt Mummy wirklich über Großbritannien? Hat sich irgendwer die Mühe gemacht, sie danach zu fragen?

Wann werde ich sie selber danach fragen können?

Ich kann mich an nichts erinnern, was die Familie in jenem Moment sprach, ob zueinander oder zu dem Sarg. Mir fällt kein Wort mehr ein, das zwischen mir und Willy gewechselt wurde, ich entsinne mich aber noch gut, dass Leute um uns sagten, »die Jungs« sähen »völlig geschockt« aus. Niemand dachte daran, zu flüstern, so als wären wir vor lauter Schock taub geworden.

Der Beisetzung am folgenden Tag ging einiger Wortwechsel voraus. Der jüngste Plan sah vor, dass Pferde der King’s Troop den Sarg auf einer Lafette durch die Straßen ziehen würden, gefolgt von Willy und mir zu Fuß. Das schien ziemlich viel verlangt von zwei Jungen. Mehrere Erwachsene waren entsetzt. Mummys Bruder, Onkel Charles, schlug einen Mordskrach. Ihr könnt doch diese Jungs nicht dem Sarg ihrer Mutter hinterherlaufen lassen! Das ist barbarisch!

Ein alternativer Plan wurde aufgestellt. Willy würde allein gehen. Immerhin war er schon fünfzehn. Nehmt den Jüngeren davon aus. Schont den Nachrücker. Spare the Spare. Dieser Alternativplan wurde nach oben durchgereicht.

Dann kam die Antwort. Es müssen beide Prinzen sein. Wahrscheinlich, um Mitgefühl zu wecken.

Onkel Charles war wütend. Ich aber nicht. Ich wollte nicht, dass Willy ohne mich eine solche Tortur durchmachte. Wären die Rollen vertauscht worden, hätte er mir nie zugemutet – richtiger, nie erlaubt –, die Sache im Alleingang zu machen.

Und so zogen wir früh im nächsten Morgenlicht alle zusammen los. Onkel Charles rechts von mir, Willy rechts von ihm, Grandpa hinterdrein. Und zu meiner Linken ging Pa. Gleich zu Anfang fiel mir auf, wie gefasst Grandpa wirkte, als handelte es sich bloß um irgendeinen royalen Anlass unter vielen. Ich konnte gut seine Augen sehen, denn sein Blick ging geradeaus. Wie bei allen anderen. Meiner blieb auf die Straße gerichtet. Willys auch.

Ich weiß noch, dass ich mich taub fühlte. Ich weiß noch, dass ich die Fäuste ballte. Ich weiß noch, dass ich stets einen Zipfel von Willy im Augenwinkel behielt und jede Menge Kraft daraus zog. Allem voran erinnere ich mich an die Geräusche: das klirrende Zaumzeug und die klappernden Hufe der sechs schwitzigen braunen Pferde, die quietschenden Räder der von ihnen gezogenen Lafette. (Ein Relikt aus dem Ersten Weltkrieg, meinte jemand, und es schien stimmig, da Mummy, so friedliebend sie war, oft wie ein Soldat wirkte, ob sie nun Krieg gegen die Paparazzi führte oder gegen Pa.) Ich glaube, an diese paar Geräusche werde ich mich für den Rest meines Lebens erinnern, weil sie in solch scharfem Gegensatz zur ansonsten allumfassenden Stille standen. Nicht eine Lokomotive, ein Lastwagen, ein Vogel wurde laut. Keine einzige menschliche Stimme, was unmöglich war, denn zwei Millionen säumten die Straßen. Einzig gelegentliches Wehklagen ließ erahnen, dass wir durch eine Schlucht aus Menschheit marschierten.

Nach zwanzig Minuten erreichten wir Westminster Abbey. Wir reihten uns vor einer langen Kirchenbank auf. Die Trauerfeier begann mit einer Abfolge von Bibelstellen und Totenreden und gipfelte mit Elton John. Er erhob sich langsam und steif, als wäre einer der großen, seit Jahrhunderten unter der Abtei begrabenen Könige jäh wieder zum Leben erweckt worden. Dann ging er nach vorn, setzte sich an einen Flügel. Ob wohl irgendwer nicht weiß, dass er »Candle in the Wind« sang in einer Version, die er für Mummy umgeschrieben hatte? Ich kann nicht sicher sagen, ob die Töne in meinem Kopf von diesem Moment rühren oder von Musikclips, die ich seither gesehen habe. Womöglich sind es Überbleibsel wiederkehrender Albträume. Doch eine reine, unanfechtbare Erinnerung habe ich daran, wie meine Augen zum Höhepunkt des Songs zu brennen anfingen und beinahe Tränen fielen.

Beinahe.

Gegen Ende des Gottesdienstes trat Onkel Charles vor uns hin, der die ihm zugebilligte Zeit dazu nutzte, mit allen – Familie, Nation, Presse – scharf ins Gericht zu gehen dafür, dass sie Mummy nachgestellt hatten bis in den Tod. Man fühlte förmlich, wie alles in der Abtei und draußen im ganzen Land vor dem Schlag zurückzuckte. Die Wahrheit tut weh. Dann begaben sich acht Mitglieder der Welsh Guards nach vorn und hoben den gewaltigen Sarg mit Bleieinlage an, der nun mit dem Royal Standard statt des Union Jack drapiert war. Irgendwer hatte den Austausch vorgenommen, ein außerordentlicher Bruch des Protokolls. (Sie hatten sich auch darauf eingelassen, die Flagge auf halbmast zu setzen. Nicht den Royal Standard, nur den Union Jack, doch selbst das war ein nie dagewesener Kompromiss.) Der Royal Standard war stets der königlichen Familie vorbehalten, welcher Mummy, so hatte man mir erklärt, nicht mehr angehörte. Bedeutete dies, ihr war verziehen worden? Von Granny? Offenbar. Das waren jedoch Fragen, die ich nicht recht in Worte fassen, geschweige denn einem Erwachsenen stellen konnte, während der Sarg langsam nach draußen getragen und ins Heck eines schwarzen Leichenwagens geladen wurde. Nach langer Wartezeit fuhr der Leichenwagen los, rollte in stetigem Tempo durch ein London, in dem zu allen Seiten des Weges die größte Menschenansammlung wogte, die diese alterslose Stadt je gesehen hatte – doppelt so groß wie seinerzeit die Menge, die das Ende des Zweiten Weltkriegs feierte. Er fuhr am Buckingham Palace vorbei, die Park Lane hinauf und durch die Außenbezirke, dann die Finchley Road entlang, dann den Hendon Way, dann über den Verkehrsknotenpunkt Brent Cross, dann den nördlichen Ring der A406, dann die M1 bis zur Ausfahrt 15a und Richtung Norden bis Harlestone, ehe er durch das eiserne Eingangstor zu Onkel Charles’ Landsitz glitt.

Althorp.

Willy und ich sahen uns den längsten Teil der Autofahrt im Fernsehen an. Wir waren schon in Althorp. Wir waren schnell vorgeschickt worden, wobei sich herausstellte, dass es keinen Grund zur Eile gab. Nicht nur hatte der Leichenwagen einen großen Umweg genommen, sondern er war zudem mehrmals aufgehalten worden, weil so viele Leute ihn mit Blumen überhäuften, dass die Lüftungsschlitze blockiert wurden und der Motor überhitzte. Immer wieder hatte der Fahrer den Straßenrand ansteuern müssen, damit der Leibwächter aussteigen und die Windschutzscheibe von Blumen freiräumen konnte. Unser Leibwächter war Graham. Willy und ich mochten ihn sehr. Wir nannten ihn immer Crackers, so wie in »Graham Crackers«. Fanden wir irrsinnig komisch.