Ricco - Christine Feehan - E-Book

Ricco E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Der Milliardär und Playboy Ricco Ferraro kennt kein anderes Leben als das eines Schatten: Als mächtiges Mitglied des Ferraro-Clans kann er Licht und Dunkelheit seinem Willen unterwerfen. Doch als sein ungestümes Temperament und Geheimnisse aus der Vergangenheit nicht nur ihn, sondern seine Familie in Gefahr bringen, muss er handeln. Und die Frau finden, die ihn retten kann – sein Gegenstück. Die Suche scheint aussichtslos, bis eine mysteriöse Fremde in Chicago auftaucht. Nach Monaten in Furcht sehnt sie sich nach Schutz. Und findet ihn in Riccos Armen. Doch die Dunkelheit, die all die Jahre sein ergebener Diener war, droht plötzlich sein größter Feind zu werden ...

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Seitenzahl: 758

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DAS BUCH

Auf den ersten Blick hat Ricco Ferraro alles, was sich ein Mann nur wünschen kann: Er sieht unverschämt gut aus, er ist schwerreich, die Frauen liegen ihm zu Füßen und er gehört der mächtigsten Schattengleiter-Familie Chicagos an. Doch der schöne Schein trügt, denn Ricco wird von einem traumatischen Erlebnis aus seiner Jugend verfolgt, das ihm seine Lebensfreude genommen hat. Weder das viele Geld, noch die schönen Frauen bedeuten ihm etwas – einzig im Shibari, der japanischen Kunst des erotischen Fesselns, findet Ricco sein inneres Gleichgewicht. Als er eines Tages auf der Suche nach einem neuen Fesselmodel der betörend schönen Mariko begegnet, schließt sich mit einem Mal die große Lücke in seinem Herzen. Sie ist die Eine, die Richtige, dessen ist er sich sicher. Mariko beginnt für Ricco Modell zu stehen, und zwischen den beiden entwickelt sich eine ebenso innige wie erotische Beziehung. Ricco ahnt jedoch nicht, dass Mariko in dunkler Mission unterwegs ist …

DIE AUTORIN

Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als sechzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Auch in Deutschland ist sie mit ihrer Schattengänger-Serie, der Leopardenmenschen-Saga, den Drake-Schwestern und der Sea-Haven-Saga äußerst erfolgreich. Nach Stefano ist Ricco der zweite Band einer aufregenden neuen Paranormal-Romance-Reihe.

Mehr über Christine Feehan und ihre Romane finden Sie auf:

www.christinefeehan.com

CHRISTINE FEEHAN

SHADOWS

RICCO

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der amerikanischen Originalausgabe SHADOW REAPER Deutsche Übersetzung von Melike Karamustafa
Redaktion: Catherine Beck Copyright © 2017 by Christine Feehan Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-20683-3 V002
www.heyne.de

Für Cindy Hwang, die mich immer unterstützt.

Ich danke dir für deine Geduld und dein Verständnis.

Ich danke dir für deine Bereitschaft, mich auch neue Wege gehen zu lassen. Nicht viele Lektorinnen wären dazu bereit. Und vor allem danke ich dir für deine wundervolle Freundschaft in all den Jahren.

In Liebe.

1

Ricco Ferraro wollte mit den Fäusten auf irgendetwas einprügeln. Heftig. Nein, er musste auf irgendetwas einprügeln. Das Geräusch reißenden Fleisches und brechender Knochen unter seinen Knöcheln hätte in diesem Augenblick etwas sehr Befriedigendes gehabt. Jep, das war genau das, was er brauchte, wenn sein Bruder nicht langsam seine verdammte Klappe hielt. Sie befanden sich in einem Krankenhaus, umgeben von jeder Menge Ärzten und Krankenschwestern. Wenn er jetzt tatsächlich in die Stadt fuhr, um seinen Bedürfnissen nachzugehen, würde Stefano nicht allzu lange leiden müssen.

»Ricco.« Da war sie wieder. Diese tiefe, nervtötende Großer-Bruder-Stimme, mit der Stefano Ricco das Gefühl gab, noch verrückter zu sein, als er sich sowieso schon fühlte. »Hörst du mir überhaupt zu? Das hier muss aufhören. Das nächste Mal kommst du vielleicht nicht durch.«

Stefanos Vortrag dauerte jetzt bereits zehn Minuten; Ricco war sich ziemlich sicher, dass niemand so lange zuhören konnte – schon gar nicht er selbst. Es fehlte ihm ganz einfach an Geduld. Als wüsste er nicht selbst verdammt gut, wie knapp er dem Tod entkommen war. Sie hatten jeden Tropfen Blut in seinem Körper ausgetauscht – und das gleich zweimal. Seit Wochen lag er in diesem bescheuerten Krankenhaus.

Sein Wagen war mit über hundert Meilen pro Stunde gegen die Wand geknallt, doch er wusste, dass er nicht mit Absicht dagegengefahren war. Irgendwas war zerbrochen, und Sekundenbruchteile später hatten sich Dutzende scharfe Metallsplitter wie Schrapnelle in sein Fleisch gebohrt. Er hatte sie gespürt, spürte sie noch immer. Jeder Muskel und jeder Knochen in seinem Körper tat verflucht weh.

»Sobald du aufhörst, Schwachsinn zu reden, höre ich dir zu, Stefano«, fuhr Ricco ihn an, während er sich das Hemd zuknöpfte. Keine einfache Übung, wenn jede noch so kleine Bewegung schreckliche Schmerzen auslöste. Aber heute würde ihn nichts mehr davon abhalten, dieses Krankenhaus zu verlassen – ob der Oberarzt seinen Entlassungsbescheid nun unterschrieb oder nicht. Er hatte genug von alldem hier und von den ganzen Menschen um sich herum. Speziell von seinem älteren Bruder.

Er drehte sich zu ihnen herum. Vier Brüder und eine Schwester starrten ihn mit besorgter, verbissener Miene an. Er versuchte, sich stattdessen auf Stefanos Frau – Francesca – zu konzentrieren und auf das Mitgefühl, das er in ihren Augen las. Sie hatte Stefano in den vergangenen Minuten mehrfach den Ellbogen in die Rippen gestoßen, um ihn dazu zu bringen, die Klappe zu halten. Zweimal hatte es funktioniert, allerdings immer nur für ein paar Sekunden.

»Ich werde es noch ein einziges Mal sagen und dann nie wieder. Ihr müsst mir ja nicht glauben.« Beim Sprechen hatte er Francesca angesehen, denn überraschenderweise war sie die Einzige, die ihm glaubte. Dabei hätten sie es alle tun sollen; immerhin konnten sie hören, wenn jemand log. Beim Gedanken daran hielt er einen Moment inne. Auch er selbst war in der Lage, eine Lüge herauszuhören. Wenn niemand ihm glaubte, musste es daran liegen, dass er sie angelogen hatte. Sie und sich selbst.

Ricco wandte sich ab. Selbst diese kleine Bewegung bereitete ihm Schmerzen. Sein Körper schien gegen alles zu protestieren, was er tat. »Wartet wenigstens ab, bis sie den Wagen untersucht haben, bevor ihr irgendwelche Schlüsse zieht. Ich hatte keine Kontrolle über das Auto. Die Elektronik ist vollkommen zusammengebrochen.« Dessen war er sich ganz sicher. Es war nicht ungewöhnlich, dass er mit über zweihundert Meilen pro Stunde fuhr, und nie hatte es irgendwelche Probleme gegeben. Sehsinn und Körperkoordination griffen nahtlos ineinander, und seine Reflexe hatten ihn noch nie im Stich gelassen. Was ihn im Stich gelassen hatte, war der Wagen. Da war er sich hundertprozentig sicher. Warum wollten seine Geschwister ihm also einfach nicht glauben, dass er nicht versucht hatte, seinem Leben mit Absicht ein Ende zu setzen?

Es kostete ihn alle Kraft, auf einer Stelle zu stehen, ohne zu schwanken, während ihm kalter Schweiß ausbrach und sein Körper von einer Schmerzwelle nach der nächsten heimgesucht wurde. Was hatte er getan, um sich zu retten? Nichts. Er hatte gar nichts getan. Stattdessen hatte er sich in sein Schicksal ergeben, die Augen geschlossen und es dem Universum überlassen, was mit ihm geschah. Als Nächstes war er im Krankenhaus aufgewacht, mit Nadeln in den Armen, die ihm frisches Blut in die Adern pumpten.

Das Zimmer quoll vor Blumensträußen beinahe über. Grußkarten stapelten sich in mehreren Kartons. Genesungswünsche von Leuten aus dem Territorium der Ferraros – dem Gebiet der Stadt, das für Kriminelle tabu war. Dort lebten gute, anständige Leute. Er hatte die Karten nicht gelesen, wollte sie aber behalten. Er verdiente sie genauso wenig wie die Sorge seiner Geschwister oder Francescas Mitgefühl. Trotzdem, er war am Leben, und das bedeutete, dass er weitermachen musste.

»Irgendetwas war mit dem Wagen nicht in Ordnung, Stefano«, wiederholte Ricco und sah seinem Bruder dabei fest in die Augen.

»Wir untersuchen jedes Detail«, versicherte ihm Vittorio. Er war schon immer der Friedensstifter in ihrer Familie gewesen, und Ricco wusste das sehr zu schätzen. »Wir haben den Wagen sofort in eine unserer Werkstätten abschleppen lassen. Er wird die ganze Zeit über bewacht. Jeder Mechaniker, der daran arbeitet, genießt unser volles Vertrauen.«

Ricco warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu, um ihm seine Dankbarkeit zu signalisieren. Mit Stefano im Nacken wollte er seinen Dank nicht laut aussprechen.

»Du wärst fast gestorben«, sagte Stefano. Er klang jetzt nicht mehr wütend, sondern angespannt. Besorgt.

Sein Ton gab Ricco den Rest. Es war schrecklich, den sonst so gelassenen Stefano so aufgewühlt und innerlich zerrissen zu sehen. Er war nicht ohne Grund das anerkannte Oberhaupt der Familie. Ricco hatte das Gefühl, ihre Fürsorge nicht zu verdienen. Es gab zu viele Geheimnisse, zu viele Versäumnisse. Ricco hatte sie alle in Gefahr gebracht, und sie hatten keine Ahnung. Und noch schlimmer, er konnte es ihnen nicht erzählen. Alles, was er tun konnte, war Tag und Nacht über sie zu wachen. Eine Pflicht, die er sehr ernst nahm.

Seufzend schüttelte Ricco den Kopf. »Ich weiß, Stefano, und es tut mir leid. Ich habe die Kontrolle über den Wagen verloren.« Das war die Wahrheit. Er erinnerte sich kaum an etwas, das nach dem Unfall geschehen war, doch in dem Moment, als er begriffen hatte, dass der Wagen nicht mehr seinen Befehlen gehorchte, dass er sich von ihm befreien wollte wie ein wildes Tier, da hatte er eine Art Erleichterung verspürt, dass es endlich vorbei war. Wenn er gestorben wäre, wäre alles vorbei und seine Familie nicht länger in Gefahr.

»Versuchst du, mich oder dich selbst zu überzeugen?«, fragte Stefano leise. »Wir nehmen dich mit nach Hause, aber nur unter der Bedingung, dass du dich zusammenreißt. Mit den Harakiri-Aktionen ist ab sofort Schluss, sonst bleibt mir keine andere Wahl, als dich vorerst von allen Jobs zu suspendieren. Auch wenn du körperlich fit genug bist und der Arzt dir sein Okay zum Arbeiten gibt.«

Seine Brüder und Emmanuelle, seine Schwester, keuchten auf. Francesca stieß ein ungläubiges »Nein« aus und schüttelte den Kopf. Riccos Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er war ein Schattengleiter. Seine Aufgabe definierte sein ganzes Sein. Ein Schattengleiter hatte keine andere Wahl, als das zu tun, wofür er ab seinem zweiten Lebensjahr – eigentlich sogar noch früher – ausgebildet wurde. Es steckte ihm in den Knochen, im Blut. Er konnte nicht ohne leben. Er übte dort Gerechtigkeit, wo der Arm des Gesetzes nicht hinreichte.

Stefano trat so dicht vor ihn, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, und sah ihm fest in die Augen. »Ich werde dich nicht verlieren, Ricco. Ich würde alles tun, um dich zu retten. Alles. Und ich würde alles für dich geben, selbst mein eigenes Leben. Ich würde jede Waffe aus meinem Arsenal nutzen, um dich vor dir selbst zu beschützen und vor jedem Feind, der deinen Weg kreuzt. Du musst etwas tun, um diese Sache in den Griff zu bekommen. Irgendetwas. Selbst wenn es Therapie bedeutet. Aber eins will ich hiermit klarstellen: Es wird keine weiteren Unfälle geben. Hast du mich verstanden, Bruder? Keine weiteren Unfälle.«

Ricco nickte ergeben. Was hätte er auch sonst tun sollen? Wenn Stefano einem Vorschriften machte, blieb einem nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Es kam nicht oft vor, dass ihr älterer Bruder so mit einem von ihnen sprach, aber wenn es mal so weit war, hätte keiner gewagt, ihm zu widersprechen – Ricco eingeschlossen. Er liebte Stefano und seine Familie. Jedem hätte er mit Freude sein Leben geopfert, aber Stefano war mehr als ein Bruder. Er war Mutter, Vater, großer Bruder und Beschützer in einem. Es war Stefano, der immer für ihn da gewesen war. Seine Mom und sein Dad hatten es nicht einmal für nötig befunden, ihn auch nur ein einziges Mal im Krankenhaus zu besuchen. Stefano dagegen war höchstens für ein paar Minuten von seiner Seite gewichen, um etwas zu essen. Er sah abgespannt und erschöpft aus. Jedes Mal, wenn ihn die Schmerzen aus seinem Halbbewusstseinszustand gerissen hatten, waren seine Brüder und Emmanuelle für ihn da gewesen. Und diese Solidarität bekräftigte Ricco nur noch mehr in seinem Willen, für ihre Sicherheit zu sorgen. Seine Geschwister bedeuteten ihm alles.

»Ich hab’s verstanden«, versicherte er Stefano mit leiser Stimme.

»Gut, dann hätten wir das geklärt. Wenn der Arzt sein Okay gibt, kannst du das Training wieder aufnehmen. Aber du wirst nicht länger als die reguläre Stundenzahl trainieren. Und du wirst schlafen, auch wenn du Tabletten dafür nehmen musst. Du hörst auf, so verdammt viel zu trinken. Und du kommst zu mir, wenn du mit irgendwas davon Probleme haben solltest.«

Riccos Herz hatte wie wild angefangen zu klopfen. Er konnte Stefano unmöglich versprechen, dass er keine Extrastunden beim Training einlegte, denn er musste in Topform sein, um keine Fehler zu riskieren. Doch wie sollte er das seinem Bruder erklären, wenn er ihm nicht sagen konnte, warum? Also nickte er nur, damit niemand die Lüge hinter seiner Antwort hörte. Er konnte Tabletten einwerfen, um schlafen zu können, doch davon würde keines der Probleme verschwinden, die ihn um den Schlaf brachten. Trotzdem durfte er nichts weiter zu Stefano sagen. Es war unmöglich, ihn anzulügen, und Ricco wollte nicht, dass er sich noch mehr Sorgen machte als sowieso schon.

Während er die letzten Knöpfe an seinem taubengrauen Hemd schloss, betrachtete er die grausamen Verletzungen und Schwellungen in seinem Gesicht. Es hatte nicht viel gefehlt, und die eine Hälfte seines Kopfes wäre eingedrückt worden wie ein leerer Milchkarton. Unter dem dünnen Stoff seines Hemds konnte er sehen, wie sich seine Muskeln bei jeder noch so kleinen Bewegung streckten und zusammenzogen. Beweis genug für seine unglaubliche Stärke. Es war alleine seiner ausgezeichneten körperlichen Verfassung zu verdanken, dass er noch am Leben war, zumindest hatte es der Chirurg so ausgedrückt – seiner Stärke und einem Wunder. Im Vergleich mit den muskelbepackten Körpern seiner Cousins wirkte Riccos Gestalt beinahe zierlich, doch der Schein trog. Sie waren da, unter der straffen Haut seiner breiten Schultern und Arme.

Ricco griff nach seinem Jackett. Die Mitglieder des Ferraro-Clans der Schattengleiter trugen grundsätzlich Nadelstreifenanzüge. Es war ihr Erkennungsmerkmal. Selbst Emmanuelle trug einen Anzug, der ihr so passgenau auf den Leib geschneidert war, dass sie darin einfach nur umwerfend aussah. Andererseits sah seine Schwester in so ziemlich jedem Outfit wunderschön aus. Er drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, da er befürchtete, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. Er wusste, dass er schlimm aussah. »Es geht mir gut, Emme«, sagte er sanft. Das war gelogen, aber andererseits ging es ihm schon seit Langem nicht gut.

»Natürlich«, beeilte sie sich, ihm zuzustimmen, doch sie klang angespannt. »Für einen Ferraro ist es kein Problem, nach so einem Unfall schnell wieder auf die Beine zu kommen.«

Er war alles andere als schnell wieder auf die Beine gekommen, aber immerhin konnte er sich inzwischen wieder alleine auf ihnen halten. Als er sich das Jackett überzog, unterdrückte er einen Schmerzensschrei. Kaum dass sich der edle Stoff über seinen Schultern und den muskulösen Armen spannte, sah er fast wieder aus wie seine Brüder – ein trainierter Mann, körperlich so beeindruckend, dass er beinahe schon bedrohlich wirkte.

Als es an der Tür klopfte, traten Riccos Brüder Giovanni und Taviano beiseite, um dem Arzt und einer Krankenschwester Platz zu machen.

Der Arzt sah sie einen nach dem anderen streng an, während seine Assistentin den Blick fest auf den Boden gerichtet hatte. Ricco bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Es war offensichtlich, dass sie sich am liebsten irgendwo versteckt hätte, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als schweigend danebenzustehen, während sich der Chirurg an Ricco wandte.

»Sie sollten nicht aufstehen, Mr. Ferraro«, sagte Dr. Townsend ernst.

»Es geht mir gut«, versicherte ihm Ricco. »Und ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben.« Das hatte gesagt werden müssen – ob es nun die Wahrheit war oder nicht. Und Ricco war sich nicht sicher, ob er tatsächlich geschwindelt hatte.

»Ich werde auf keinen Fall Ihre Entlassungspapiere unterschreiben. Sie könnten ein Blutgerinnsel oder ein Aneurysma haben. Wir können nicht ausschließen, dass neue Komplikationen auftreten.«

»Es wird nichts passieren.« Ricco sah ihn mit dem Blick an, den jeder Ferraro bereits vor seinem zehnten Geburtstag perfektioniert hatte. Der Ausdruck in seinen Augen war kalt und hart.

Sowohl der Arzt als auch die Krankenschwester wichen automatisch einen Schritt zurück, wie Ricco zufrieden feststellte. Als er auf sie zutrat, machten sie ihm Platz, sodass der Weg Richtung Tür frei war. Egal, wie fertig er aussah und wie schrecklich er sich fühlte, seine Erscheinung war noch immer beeindruckend.

»Die Kartons mit den Karten nehme ich mit. Die Blumen können Sie an andere Patienten verschenken«, sagte Ricco, ohne sich um Stefanos Stirnrunzeln zu kümmern. Er wusste, was es zu bedeuten hatte. Stefano wollte mit seinem Arzt sprechen. Ein Schattengleiter konnte nicht nur Lügen hören, sondern auch die Wahrheit von jemandem erzwingen – selbst wenn dieser Jemand ein Arzt war. Unbeirrt ging Ricco weiter über den Flur. Er wusste, dass ihn sein Bruder niemals mit den Reportern allein lassen würde, die draußen vor der Tür auf ihn warteten.

»Sie verlassen das Krankenhaus gegen meinen medizinischen Rat«, wiederholte Dr. Townsend eindringlich.

Doch Ricco wurde nicht mal langsamer. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begaben sich seine Brüder und Emmanuelle an seine Seite. Schulter an Schulter. Solidarisch.

Als sie die Lobby erreichten, traten seine Cousins Emilio und Enzo Gallo vor ihn. Tomas und Cosimo Abatangelo – ebenfalls Cousins ersten Grades – hielten sich dicht hinter ihm. Die Cousins der Ferraros agierten stets als Bodyguards für die große Familie, und Ricco wusste, dass er sie brauchte. Selbst wenn er behauptete, bereit zu sein, das Krankenhaus zu verlassen, war er es in Wirklichkeit nicht. Sein Körper sehnte sich nach Ruhe, und er brauchte Zeit, um zu heilen. Doch das war nichts, was er innerhalb dieser Mauern tun konnte.

Die Presse hatte die ganze Zeit über keine Ruhe gegeben und versucht, an so viele Informationen wie möglich über den Unfall zu kommen. Immer wieder hatten Reporter versucht, sich in das Gebäude zu schleichen, um Fotos von ihm in Gips und Verbänden zu schießen. Eine Krankenschwester war entlassen worden, nachdem herausgekommen war, dass sie heimlich Bilder von Ricco gemacht hatte, als er bewusstlos gewesen war. Die Fotos hatte sie hinterher an diverse Zeitungen und Magazine verkauft. Auch einige Pfleger und ein Sanitäter waren dabei erwischt worden, wie sie Ähnliches versucht hatten. Fotos des Playboys Ricco Ferraro, nachdem er mit seinem teuren Sportwagen gegen eine Wand gerast war, wurden für mehrere Hunderttausend Dollar gehandelt.

»Hat Eloisa dich besucht?«, fragte Stefano, der im Gleichschritt neben ihm herging.

Ricco sah ihn mit erhobener Augenbraue an. »Ich bin gegen eine Mauer gefahren, Stefano. Nicht gerade das, was man unter mustergültigem Verhalten verbuchen würde. Warum sollte mich unsere Mutter besuchen, wenn ich der Welt gerade gezeigt habe, dass ich alles andere als perfekt bin?« Stefano war derjenige gewesen, der ihn und seine Geschwister aufgezogen hatte, nicht Eloisa.

»Und ich dachte, sie wollte noch einmal einen ganz neuen Anfang machen.« Stefano warf einen Blick zu Francesca hinüber. »Wie es aussieht, habe ich mich getäuscht.«

Ricco schwieg. Er wusste, dass Francesca alles getan hatte, um Frieden mit Eloisa zu schließen, aber es fehlte ihr ganz einfach an jeglichem mütterlichen Instinkt. Nicht dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Stefano war immer für sie da gewesen, hatte sich um sie gekümmert – so wie er es heute noch tat. Auch wenn sein älterer Bruder die reinste Nervensäge sein konnte, Ricco liebte ihn und seine anderen Geschwister. Über alles. Und er beschützte sie. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er seiner Familie so viele Sorgen bereitete. Er wusste, dass er sich ändern, seinem Leben eine neue Richtung geben musste. Es war Zeit. Doch er hatte noch nicht herausgefunden, wo er und wie er damit anfangen sollte.

»Bereit?«, fragte Stefano, als sie die großen Glasdoppeltüren erreichten, die auf den Parkplatz vor der Klinik hinausführten.

Keiner von ihnen wurde langsamer; aufrecht und selbstbewusst traten sie auf die Tür zu. Der Wagen war bereits vorgefahren worden. Er parkte nur wenige Meter vom Eingang entfernt, doch dazwischen standen Dutzende Paparazzi und hatten ihre Kameras gezückt.

»Ja«, sagte Ricco, auch wenn er sich alles andere als bereit fühlte.

Es fiel ihm schwer, sich aufrecht zu halten. Jeder Schritt schickte glühenden Schmerz durch seinen Körper und erinnerte ihn nur allzu deutlich daran, dass er auch nur ein Mensch war. Er hatte Angst, dass ihn seine Beine nicht bis zum Wagen tragen würden, doch er setzte so selbstsicher wie möglich einen Fuß vor den anderen. Das Wichtigste war, dass er aus diesem Krankenhaus herauskam. Sonst würde er noch den Verstand verlieren. Er hatte einen ganzen Flügel der Klinik für sich gehabt, überall waren Bodyguards postiert gewesen. Doch das hatte die Presse nicht davon abgehalten, ihn bis in sein Zimmer zu verfolgen, und seine Angst, dass sie ihn in seinem verletzlichen Zustand ablichten könnten, war von Tag zu Tag größer geworden.

Stefano und seine anderen Geschwister waren die drei Wochen, in denen er bewusstlos vor sich hin vegetiert hatte, nicht von seiner Seite gewichen, zumindest hatte Francesca ihm das zugeflüstert. Sie hatten ihn nur verlassen, wenn es ein Job zwingend erforderlich gemacht hatte. Nachdem sie ihn aus dem künstlichen Koma aufgeweckt hatten, war es vor allem Stefano gewesen, der an seinem Bett gewacht hatte, während sich die anderen um die Arbeit gekümmert hatten. Es gab keine Sekunde, in der er die Liebe seiner Geschwister nicht gespürt hatte, und jetzt, als sie gemeinsam den Paparazzi entgegentraten, wusste er, dass es jedes Opfer wert gewesen war, sie zu beschützen. Er bereute nichts, und er würde es jederzeit wieder tun.

Während sie auf den Wagen mit den getönten Scheiben zugingen, hielt Ricco den Kopf hocherhoben. Emilio und Enzo bahnten ihnen einen Weg durch die wartenden Reporter. Keiner der Ferraros schenkte ihnen auch nur einen Blick. Unter normalen Umständen pflegten sie einen freundlichen Umgang mit den Paparazzi. Sie waren auf die Journalisten und Fotografen angewiesen, damit sie ihnen Alibis lieferten. Doch heute wollte die Familie nichts weiter, als Ricco sicher nach Hause zu bringen.

Als Stefano neben ihn auf die Rückbank des Wagens glitt, stöhnte Ricco genervt auf und schüttelte den Kopf. Tomas schlug die Tür hinter ihnen zu und sperrte so den Strom an Fragen und das Blitzlichtgewitter aus. Gott, er konnte sich nicht erinnern, jemals so müde gewesen zu sein. Ricco hob die Hand, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

»Stefano, du musst mich nicht nach Hause begleiten.«

»Ich wollte einen Augenblick allein mit dir sprechen.«

Anscheinend spielte es keine Rolle, dass einer seiner Cousins den Wagen steuerte und Emilio auf dem Beifahrersitz saß.

Ricco ließ den Kopf gegen das kühle Leder seines Sitzes sinken. »Ich höre.«

»Seit deiner Rückkehr aus Japan war ich sehr geduldig mit dir.«

Augenblicklich versteifte sich Ricco. Niemals hätte er damit gerechnet, dass Stefano dieses Thema ansprechen würde. Er war gerade einmal vierzehn gewesen, als man ihn nach Japan geschickt hatte, und er war erst kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag zurückgekehrt. Das alles schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Er hatte versucht, seine Erinnerungen für immer zu begraben, aber die Albträume hielten sich hartnäckig, verfolgten ihn, egal, wie viel Alkohol er auch trank.

»Du musst mit jemandem über das reden, was dort passiert ist. Es hat dein Leben beeinflusst. Du bist der beste Schattengleiter, den wir haben, aber gleichzeitig auch der leichtsinnigste. Dein eigenes Leben interessiert dich nicht, aber ich werde nicht länger zulassen, dass du es aufs Spiel setzt. Es wird immer schlimmer statt besser.«

Das konnte Ricco nur schwer abstreiten. »Ich habe keinen einzigen Auftrag versaut, Stefano.« Auf einmal fiel ihm das Atmen schwer. Sein Bruder konnte unmöglich auf das hinauswollen, was er befürchtete.

»Das stimmt, aber es interessiert dich einen Scheißdreck, ob du dabei draufgehst.«

Es war die Wahrheit, und egal, was er darauf sagte, Stefano würde es wissen. Ricco zwang sich, tief Luft zu holen, und starrte aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Gebäude, während sie durch die Straßen von Chicago fuhren. Nach außen wirkte er ruhig. Selbstbewusst. Es gab eine Wahrheit, die er seinem Bruder erzählen konnte. »Wenn ich kein Schattengleiter mehr sein kann, werde ich das nicht überleben. Dann hätte ich nichts mehr.«

Ein verärgerter Ausdruck huschte über Stefanos Gesicht. »Was für ein Bullshit, Ricco. Du hast immer noch uns. Deine Familie. Wie soll ich ohne dich zurechtkommen? Oder Emme? Oder die anderen? Du bist uns wichtig. Interessieren wir dich überhaupt noch?«

Ricco liebte seine Geschwister über alles. Sein Beschützerinstinkt ihnen gegenüber war überwältigend. Doch er hatte sich von ihnen entfremdet. Für sie entfremdet. Auf einmal stieg wieder dieser unglaubliche Zorn in ihm auf, der jedes Mal drohte, ihn zu verschlingen. »Was soll das heißen? Glaubst du wirklich, ich würde das hier tun, wenn ich eine Wahl …« Er beendete den Satz nicht. Es war ein Fehler gewesen, ihn überhaupt zu beginnen, und Schattengleiter machten keine Fehler. Er konnte es sich nicht leisten, dass Stefano eine Untersuchung anordnete. Die Schmerzmittel hatten ihn Dinge sagen lassen, von denen er eigentlich wusste, dass er sie besser für sich behielt.

Stefano verfiel in dumpfes Schweigen, was nie ein gutes Zeichen war. Er war der intelligenteste Mann, den Ricco kannte, und es gab nur wenige Dinge, die ihn aus der Bahn warfen.

Ricco überlegte fieberhaft, was er sagen könnte, um seinen Bruder abzulenken, doch ihm fiel einfach nichts ein. Er war viel zu sehr mit dem Schmerz beschäftigt, der seinen Körper fest im Griff hatte. Jeden Muskel. Jeden Knochen. Die meisten Leute hatten keine Ahnung, welche Herausforderung es für einen Körper bedeutete, einen Wagen ein ganzes Rennen lang zu fahren – ganz abgesehen davon, einen Unfall damit zu bauen. Selbst mit all den Sicherheitsvorkehrungen, die in das Auto eingebaut waren, waren der Aufprall und der Rückstoß enorm. Und wenn man damit gegen eine Wand donnerte, fühlte es sich an, als hätte eine ganze Reihe Bodybuilder mit Baseballschlägern auf einen eingeprügelt oder als wäre man von mindestens zehn Lastwagen hintereinander überrollt worden.

»Ich verstehe, was du mir sagen willst, Stefano, und ich werde etwas dagegen tun. Aber ich muss ein Schattengleiter bleiben. Du darfst mich nicht suspendieren. Sobald ich wiederhergestellt bin, übernehme ich den nächsten Job.« Ricco wusste, dass sein Bruder die Wahrheit und Aufrichtigkeit hinter seinen Worten hören konnte. Doch er wusste auch, dass es nicht reichen würde. Mit einem Seufzen, um noch glaubhafter zu wirken, sagte er: »Ich muss mein Leben ändern.« Nichts hätte weniger gelogen sein können. »Ich kann es nicht erwarten, dass eine Frau durch unser Viertel läuft, die Schatten wirft, wie es Francesca getan hat. Ich muss jemanden finden. Es wäre nicht fair, wenn sich eine normale Frau in mich verliebt und ich sie verlassen muss, um eine Schattengleiterin zu heiraten, damit ich Kinder mit ihr bekommen kann.«

Es wurde von ihnen erwartet, dass sie jemanden heirateten, der in der Lage war, weitere Gleiter zu zeugen, selbst wenn es bedeutete, eine arrangierte Ehe einzugehen. Emme traf es als Frau am schlimmsten. Wenn sie keinen passenden Mann gefunden hatte, bis sie dreißig war, würde sie in jedem Fall verheiratet. Die Männer hatten ein paar Jahre mehr Zeit, aber keinem von ihnen war die Freiheit vergönnt, sich einfach in irgendjemanden zu verlieben. Dies war eines der Opfer, das sie als Gleiter bringen mussten.

Als Stefano den Blick seiner dunklen Augen nicht von ihm abwandte, dabei aber schwieg, fühlte sich Ricco gezwungen weiterzusprechen. »Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich bin ein Künstler. In den letzten Jahren habe ich viel Zeit damit verbracht, die Kunst des Shibari zu studieren, und ich liebe die artistischen Elemente daran. Aber die einzigen Orte, an denen ich mein Können zeigen und weiter daran arbeiten kann, sind die Klubs.« Wenn er den menschlichen Körper als Leinwand benutzte, daran die Kunst des Fesselns übte, fühlte sich Ricco sicher. Geerdet.

Stefanos einzige Reaktion war ein Blinzeln.

Ricco nickte. »Ich weiß, dass man mich in der Art Klubs nicht beschützen kann. Früher oder später würden mich die Paparazzi dort finden, und die Story würde in jedem Magazin von hier bis zur Hölle und wieder zurück abgedruckt. Aber wenn ich ein gutes Fesselmodell finden würde, mit dem ich zu Hause arbeiten kann, könnte ich meine Kunst fotografieren. Das wollte ich schon immer. Die Bilder könnte ich in meiner Dunkelkammer entwickeln. Du weißt, dass ich ein guter Fotograf bin. Vielleicht kann ich die Fotos irgendwann sogar auf große Leinwände aufbringen oder ein Buch daraus machen. Ich muss nur das richtige Modell finden. Und ich hoffe sehr, dass ich eine starke Verbindung zu ihr spüren werde.«

Stefano massierte sich die Nasenwurzel, während der Wagen abbremste, um sich langsam einen Weg durch die wartenden Paparazzi zu bahnen, die vor der Einfahrt zu Riccos Haus den Bürgersteig blockierten. Die beiden Männer ignorierten die Fotografen, während der Fahrer im Schritttempo auf das eiserne Tor zuglitt.

»Es wäre ein Risiko, Ricco. Nicht die Kunst, sondern die Frau.«

Ricco nickte. »Das ist mir klar. Deswegen möchte ich auch jemanden finden, in den ich mich verlieben kann. Eine Frau, die auch mich lieben könnte und vielleicht sogar versteht, wenn ich mit einer anderen zusammen sein muss.«

»Ziemlich unwahrscheinlich.«

»Das weiß ich, glaub mir. Aber ich kann einfach nicht so weiterleben.« Sich die Nächte um die Ohren schlagen, bis zur Besinnungslosigkeit trinken und bis zum Morgengrauen mit mehreren Frauen gleichzeitig zusammen sein. Niemals etwas zu fühlen.

Ricco beobachtete, wie das eiserne Tor aufschwang. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung, und sie glitten hindurch. Erst als er erleichtert die Luft ausstieß, nachdem sich das Gitter hinter ihnen geschlossen hatte, wurde ihm klar, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Sie hatten es geschafft. Die Paparazzi mussten draußen bleiben.

»Jemand bedroht uns, oder?«

Stefano hatte so leise gesprochen, dass Ricco seine Frage beinahe überhört hätte. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte er ihn sogar fragen, was er meinte. Stefano hatte geklungen, als wüsste er längst Bescheid, als ginge es ihm nur um eine kurze Bestätigung. Seit seinen Teenagerjahren war er das Oberhaupt der Familie. Und schon davor hatte er auf sie alle aufgepasst. Natürlich wusste er Bescheid. Vermutlich hatte er schon seit Langem mit der Möglichkeit gerechnet.

»Ich kann nicht darüber sprechen.« Das war gleichzeitig eine Bestätigung und auch wieder keine.

Stefano stieß einen langen Fluch auf Italienisch aus. Seine Stimme war ein tiefes, grausames Knurren, und Ricco hörte das Versprechen auf Vergeltung heraus.

Er schüttelte den Kopf. »Lass es einfach gut sein.«

»Ich soll es gut sein lassen?« Stefano starrte ihn so ungläubig an, als wäre ihm gerade ein zweiter Kopf gewachsen. »Sie bedrohen meinen Bruder, einen meiner Schattengleiter, und du willst, dass ich es gut sein lasse? Dafür gibt es einen Rat, der …«

»Nein, Stefano. Ich meine es ernst. Lass es. Es gibt Gründe …«

»Es gibt keinen einzigen Grund, der es rechtfertigen würde, dass eine Familie von Schattengleitern eine andere bedroht.«

»Es ist lange her. Ich bitte dich, lass es gut sein.« Ricco bemühte sich, den Ton der Verzweiflung in seiner Stimme zu unterdrücken, auch wenn er sie spürte. Stefano würde, ohne zu zögern, für ihn in den Krieg ziehen, doch es war nicht abzusehen, wie viele Familien sich in Japan bereits gegen sie verbündet hatten. Und Ricco war nicht bereit, das Leben seiner Geschwister oder seiner Cousins aufs Spiel zu setzen.

Jahrelang hatte er geschwiegen. Viele lange Jahre, in denen er sich misstrauisch umgesehen und so hart trainiert hatte wie niemals zuvor. Wenn er wieder einmal nicht hatte schlafen können, war er zu einem der Häuser seiner Brüder gefahren, um Wache zu halten, aus Angst, es könnte einem von ihnen etwas zustoßen. Nach all den Jahren war er sich inzwischen allerdings ziemlich sicher, dass ihnen keine Gefahr mehr drohte, und er wollte um jeden Preis verhindern, dass Stefano neuen Ärger heraufbeschwor.

»Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass du eine Partnerin für deine Kunst finden möchtest«, wechselte Stefano wieder das Thema. »Nach einer Frau zu suchen, wenn du weißt, dass du sie später ohnehin wieder verlassen musst, ist etwas ganz anderes.«

Das war Ricco durchaus bewusst, aber er bekam langsam Angst, sich selbst zu verlieren. In den wilden Nächten, in denen er verzweifelt versuchte, etwas zu fühlen. Irgendetwas. Er wusste nicht einmal, ob er sich inzwischen nicht schon zu weit von sich entfernt hatte, um jemanden finden zu können, der ihn wieder zurückbrachte. Er hatte sich mit Absicht von seiner Familie ferngehalten, sich immer seltener mit ihnen in der Öffentlichkeit gezeigt, um seine Rennen zu fahren oder auszugehen in der Hoffnung, dass die anderen glauben würden, dass er sich nicht sonderlich für sie interessierte. Wenn Stefano es für nötig hielt, ihn danach zu fragen, ob ihn seine Familie überhaupt noch interessierte, hatte er seinen Job anscheinend ziemlich gut gemacht.

Ricco legte eine Hand auf den Türgriff. Er hielt es keine Sekunde länger im Auto aus. Als er bemerkte, wie Stefano Anstalten machte, ihm zu folgen, sagte er schnell: »Ich muss mich hinlegen.« Stefano konnte unmöglich die Wahrheit in seinen Worten überhören. Er brauchte ein Bett, und zwar dringend, sonst würde er auf der Stelle zusammenbrechen.

Stefano gab nach. »Angelina Laconi wird später vorbeikommen, um nach dir zu sehen. Und versuch gar nicht erst, aus der Nummer rauszukommen. Sie ist Krankenschwester.«

»Sie flirtet mit mir.« Und jetzt würde sie auch noch jedes Recht dazu haben, ihn anzufassen. Sein Leben war wirklich beschissen. Aber Stefanos Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würde er um ihren Besuch nicht herumkommen.

»Find dich einfach damit ab. Emmanuelle hat übrigens für dich eingekauft, und Francesca hat jede Menge Essen vorgekocht. Steht alles im Gefrierfach. Eine Portion ist im Kühlschrank.«

»Okay. Bitte richte den beiden meinen Dank aus.«

Ricco stieß die Tür auf und zwang seine Beine aus dem Wagen. Keine leichte Aufgabe, aber wie jeder Schattengleiter verfügte er über Disziplin im Überfluss. Als er zur Haustür ging, war er sich Stefanos bohrendem Blick im Rücken nur allzu bewusst.

»Francesca.« Ricco senkte den Kopf, um seiner Schwägerin einen Kuss auf die Wange zu hauchen.

Die Wochen der Ruhe und Physiotherapie hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Inzwischen schoss ihm nicht mehr bei jedem Schritt der Schmerz in die Glieder, und er hatte sein Training wiederaufgenommen, auch wenn ihn Stefano keine Sekunde aus den Augen ließ. Gott sei Dank ahnte sein älterer Bruder noch immer nichts von der Sporthalle, die Ricco vor ein paar Jahren in seinem Haus eingerichtet hatte. Die meisten Treffen der Familie fanden in Stefanos Penthouse im Hotel Ferraro statt.

»Ricco.« Francesca schenkte ihm ein amüsiertes Lächeln, mit dem sie ihn wegen seiner förmlichen Begrüßung aufzog.

Er sagte nur selten »Hallo« oder »Auf Wiedersehen«, sondern benutzte stattdessen lieber Vornamen, und sie hatte seine Geste erwidert, indem sie seinen gesagt hatte. Das war es, was er an Francesca so mochte. Das und alles andere auch, in allererster Linie aber die Tatsache, dass sie seinen Bruder mehr als alles andere auf der Welt liebte.

Ricco hatte niemals gelernt, sich zu entspannen. In der Öffentlichkeit spielte er die ihm zugewiesene Rolle, doch zu Hause, bei seiner Familie, war er schon immer derjenige gewesen, der ruhelos auf und ab lief, Taviano, seinem jüngsten Bruder, in der Küche half oder den Trainingsraum aufsuchte, um ein paar Übungen zu machen, während sich die anderen unterhielten. Doch seit dem Unfall hatte er den ein oder anderen Versuch gestartet, sich zu bessern.

»Riecht gut.«

»Ich hoffe, es schmeckt auch so. Ich habe ein paar neue Rezepte mit der Artischockensoße ausprobiert, von der du gesagt hast, dass du sie magst. Es gibt selbst gemachte Pasta mit Artischockensoße, Zucchinitarte, Perlhuhn und gefüllte, frittierte Zucchiniblüten. Oh, und zum Nachtisch habe ich Tiramisu gemacht.«

»Klingt gut. Bisher hast du noch nie was gekocht, das mir nicht geschmeckt hat.« Und das war die Wahrheit. Ricco verteilte nur selten Komplimente, aber Francesca war eine hervorragende Köchin und die netteste Frau, die er jemals kennengelernt hatte. Sie hatte sie alle von Anfang an akzeptiert und gemocht – inklusive ihres anstrengenden und ziemlich anspruchsvollen Ehemanns.

»Wo ist der Boss?«

Sie lachte. »Er glaubt vielleicht, er sei der Boss. Immerhin habe ich immer noch meinen Job im Deli, oder? Du weißt, dass es ihm gar nicht gefällt, dass ich arbeite.«

»Da habe ich eine Neuigkeit für dich, Schätzchen«, sagte Ricco mit einem Grinsen. »Keinem von uns gefällt es, dass du arbeitest. Wir haben da draußen jede Menge Feinde.«

»Ihr vielleicht, ich nicht.«

Ihren Feind waren sie losgeworden. Dauerhaft.

»Sie könnten versuchen, über dich an uns heranzukommen«, wandte er ein. Ein Argument, dass sie nicht zum ersten Mal hörte. Stefano hatte vermutlich schon tausendmal versucht, sie davon zu überzeugen, ihren Job aufzugeben. Doch auch wenn Francesca einer der nettesten und freundlichsten Menschen war, die Ricco kannte, war sie alles andere als leicht zu überzeugen. Dass sie nach wie vor im Deli arbeitete, überraschte Ricco. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sein älterer Bruder seiner Frau erlaubte, sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Bei seinen Geschwistern hielt sich Stefano mit derlei Anweisungen zumindest nur selten zurück.

Ricco streifte seine Jacke ab und gab sie Francesca, die sie zusammen mit seiner Krawatte in die Garderobe hängte. »Sind wir heute Abend etwa allein?« Er öffnete die obersten drei Knöpfe seines Hemds.

»Ja.« Sie verzog das Gesicht. »Familienangelegenheiten.«

Bei ihrer Antwort entspannte er sich augenblicklich. In Familienangelegenheiten war er gut. Und Francesca hätte ihm sicherlich längst gesagt, wenn sich Eloisa ebenfalls angekündigt hätte. In der Regel nahm seine Mutter an keinem der Familientreffen bei Stefano zu Hause teil.

Taviano hatte ihm vor drei Wochen die Ergebnisse der Untersuchung seines Wagens mitgeteilt. Eine der Ummantelungen am Stoßdämpfer war gerissen. Mit Stefano hatte er noch nicht darüber geredet, deswegen war sich Ricco ziemlich sicher, dass es an diesem Abend um seinen Unfall gehen würde. Eigentlich interessierte es ihn auch gar nicht wirklich, was der Grund für ihre Zusammenkunft war, solange sie endlich mal wieder alle zusammen waren.

»Stefano hat mir erzählt, dass du nach einem Fesselmodell suchst«, sagte Francesca. »Wie kommt’s?«

»Da draußen gibt es eine Menge ziemlich verrückter Frauen.«

Sie lachte. »Und das hast du gerade erst herausgefunden?«

»Nachdem ich dich kennengelernt habe, hatte ich kurzzeitig wieder Hoffnung geschöpft.« Das war nicht gelogen, doch er hatte es vor allem gesagt, um sie aufzuziehen. Etwas, das er sonst nie mit Außenstehenden tat, auch wenn er sie nicht wirklich dazu zählte. Francesca fügte sich perfekt in die Reihe seiner Geschwister ein. Sie gehörte zur Familie, und jeder von ihnen hätte sein Leben für sie gegeben.

Sie schenkte ihm ein weiteres Lächeln, und Ricco stellte wieder einmal fest, was für eine schöne Frau sie war. Stefano konnte sich glücklich schätzen, sie gefunden zu haben. Sie war nicht nur nett, intelligent und wunderschön, sondern hätte auch – wie der Rest seiner Familie – eine Schattengleiterin werden können, wenn sie von Kindesbeinen an darauf vorbereitet und trainiert worden wäre. Jemanden wie sie fand man nur sehr selten. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, hatte sie ihr neues Leben akzeptiert, das sich außerhalb der Gesetze des Landes abspielte und nach ganz eigenen Regeln ablief, über die sie alle Schweigen bewahren mussten.

Ricco seufzte. Im Stillen hoffte er, dass seine Suche nach einem Fesselmodell die Frau seiner Träume direkt vor seine Haustür locken würde. Groß und rothaarig – so wie er es mochte –, schlank wie ein Model und bereit, ihn zum Mittelpunkt ihres Lebens zu machen. Am besten eine untrainierte Schattengleiterin, mit der er Kinder zeugen konnte, damit seine Familie glücklich war. Er hatte bereits mit den unterschiedlichsten Frauenkörpern, Haarfarben und verschiedensten Kurven Bekanntschaft gemacht. Und einige dieser Frauen waren auch für etwas außergewöhnlichere Praktiken und mehr zu haben gewesen, solange die Bezahlung stimmte. Aber er hatte sich zu keiner von ihnen hingezogen gefühlt. Nicht einmal körperlich.

Er hatte die Bewerbungsgespräche nicht persönlich geführt, doch er war immer dabei gewesen und hatte die Parade aus Frauen in den Schatten verborgen beobachtet. Er war fest entschlossen, eine Frau zu finden, die ihm wenigstens in emotionaler Hinsicht berührte, wenn schon nicht in körperlicher. Doch nichts war geschehen. Es war deprimierend.

Er war schon immer ein großer Fan des weiblichen Geschlechts gewesen – vor allem dann, wenn er nach einem Job aus einem Schattentunnel heraustrat. Doch mit keiner von ihnen hatte ihn je mehr verbunden als körperliche Anziehung. Abgesehen von der Zeit, in der sie Sex hatten, wollte er mit keiner von ihnen zusammen sein. In sexueller Hinsicht war er abenteuerlustig, und er umgab sich mit Frauen, denen dieselben Dinge gefielen. Aber er spielte nur mit ihnen, und dann ging er. Das machte er jedes Mal von Anfang an unmissverständlich klar. Er war kein Mann, der blieb. Und in letzter Zeit waren selbst die Abenteuer weniger geworden. Ab und zu spielte er noch mit den Lacey-Zwillingen, aber wenn er ehrlich war, fand er nur noch selten wirklich Gefallen daran.

Ricco beneidete Stefano um seine Fähigkeit, eine richtige Beziehung zu führen. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt dazu in der Lage wäre. Und nach den Interviews mit den vielen verschiedenen Frauen, die sich als Fesselmodell beworben hatten, war er sich noch sicherer, dass er niemals diese Sorte Mann sein würde. Er wollte es, aber alles, was er diesen Frauen gegenüber empfand, war Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Wut. Keine der Kandidatinnen wusste, um wen es sich bei dem Fesselmeister handelte, bei dem sie sich bewarben, aber sie hatten alle versucht, es herauszufinden. Deswegen hatte er darauf bestanden, dass Emilio die Interviews an einem neutralen Ort abhielt – in einem der Konferenzräume des Hotel Ferraro, wo häufig Bewerbungsgespräche für die verschiedensten Jobs abgehalten wurden.

»Du wirst jemanden finden«, versicherte ihm Francesca, während er ihr durch den riesigen, offen gestalteten Wohnbereich Richtung Küche folgte, in der sie normalerweise ihre Familientreffen abhielten. »Ich weiß, dass du nicht daran glaubst, aber ich kann es spüren. Sie ist nicht mehr weit entfernt.«

Ricco musterte Francesca von der Seite. Sie tendierte nicht dazu zu fantasieren. Trotzdem – diesen Traum hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben. »Nach allem, was ich in meinem Leben getan habe, wird sich keine einigermaßen vernünftige Frau auf mich einlassen.«

»Ich bin eine vernünftige Frau, und ich liebe dich«, erwiderte Francesca.

»Ja, aber du bist auch meine Schwester.«

»Und ich liebe dich auch«, sagte Emmanuelle, die ihnen entgegengekommen war und ihm einen Arm um die Taille schlang. »Andererseits bin ich aber auch nur deine Schwester, und keiner weiß besser als du, dass ich ziemlich verrückt bin.«

Ricco konnte nicht anders, als zu lachen. Emmanuelle schaffte es immer, ihn aufzuheitern, ganz egal, wie schlimm seine Nächte auch gerade waren. Sie war der Sonnenschein der Familie.

Emme hob den Kopf, um sein Gesicht zu studieren und Dinge zu sehen, die er lieber vor ihr verborgen hätte. Ihr Lächeln erstarb. »Du schläfst schlecht.«

Er zuckte mit den Schultern, sichtlich bemüht, sich möglichst unbeteiligt zu geben. »Ich habe noch nie gut geschlafen, Süße. Erzähl mir lieber mal, was so in der Nachbarschaft los ist. Ist eine ganze Weile her, dass ich was mitbekommen habe.«

»Francesca ist viel besser informiert als wir anderen. Wenn man bei Masci’s arbeitet, entgeht einem nichts, oder?«

Francesca ging zum Herd hinüber, wo Taviano gerade damit beschäftigt war, das Perlhuhn zuzubereiten. Vorsichtig legte er das Fleisch mit der Hautseite auf den bereits angebratenen Knoblauch und die Schalotten in der tiefen Pfanne, bevor er Salbei darüberstreute. Als er sie in die Küche kommen hörte, drehte er sich um und zwinkerte Ricco zu. »Francesca hätte beinahe die Zwiebeln anbrennen lassen.«

»Sie hat noch nie was anbrennen lassen«, warf Giovanni ein, der gerade die selbst gemachte Pasta mit der Artischockensoße mischte. »Stefano hat wirklich alles richtig gemacht. Jetzt braucht er nur noch ein paar bambinos, die durch die Küche rennen, und Francesca barfuß und schwanger dazwischen, dann ist er offiziell der glücklichste Mann der Welt.«

»Und ich dachte, das wäre er schon«, sagte Francesca mit einem selbstgefälligen Grinsen.

»Na gut, dann so rum: In dem Fall wäre ich der glücklichste Mann der Welt«, erklärte Giovanni. »Ich würde einen großartigen Onkel abgeben.«

Francesca warf ihm eine Kusshand zu und setzte sich dann auf einen der Barhocker zwischen ihren beiden Schwäger. »Lucia und Amo sind mit ihrer Adoptivtochter Nicoletta wahnsinnig glücklich.«

»Geht sie schon auf eine reguläre Schule?«, fragte Stefano, der hinter seiner Frau aufgetaucht war und ihr die Arme um die Taille schlang.

Ricco war schon häufig aufgefallen, dass sein Bruder nicht in einem Raum mit Francesca sein konnte, ohne sie zu berühren. Sofort spürte er einen neidischen Stich. Er wünschte sich nichts mehr, als dasselbe für eine Frau zu empfinden. Überhaupt etwas für jemanden zu empfinden, der nicht Teil seiner Familie war. Eine Verbindung mit jemandem zu spüren.

»Sie ist sehr intelligent«, sagte Vittorio, bevor er seine Gabel in die Nudeln rammte und probierte. Mit einem Grinsen hob er den Daumen. »Aber sie möchte nicht auf eine reguläre Schule gehen. Amo hat mich deswegen schon gebeten, mit ihr zu reden. Ich habe es versucht, aber ich glaube nicht, dass sie sonderlich beeindruckt von dem war, was ich ihr erzählt habe. Sie hat nicht viel gesagt, sondern mich die ganze Zeit nur angestarrt. Ich beneide ihre neuen Eltern wirklich nicht. Das Mädchen ist absolut umwerfend. Wird nicht mehr lange dauern, bis ihnen jeder junge Mann im Umkreis von hundert Meilen die Tür einrennt.«

»Warum denkt ihr alle, dass sie in einer regulären Schule am besten aufgehoben wäre?«, fragte Taviano. »Wenn ihr mich fragt, bedeutet das nur mehr Ärger. Stellt euch doch mal alle diese notgeilen Bastarde vor, die da um sie rumschleichen werden. Ist das wirklich die Art Probleme, die wir uns einhandeln wollen? Einer von uns würde den Jungs einen ordentlichen Schrecken einjagen müssen, und ihr wäre das vermutlich alles furchtbar peinlich, oder sie würde wütend werden und uns die Schuld an allem geben. Lasst das Mädchen zu Hause. Das wäre das Beste für sie.«

»Aber es ist ihr letztes Highschooljahr«, wandte Francesca ein. »Sie verdient es, ein wenig Spaß zu haben.«

Ricco war sich nicht sicher, ob es wirklich das Beste war, das Mädchen auf die lokale Highschool zu schicken. Nicoletta stammte aus New York und kam aus furchtbaren Verhältnissen. Sie war auf die schrecklichste Art missbraucht worden – körperlich, sexuell und emotional. Stefano und Taviano hatten sie gerettet, aber die physischen und psychischen Verletzungen waren nicht ungeschehen zu machen. Nicoletta schlief genauso schlecht wie er selbst. Ricco wusste das, weil er oft den Wachdienst über sie in der Nacht übernahm. Nicoletta war eine der sehr seltenen potenziellen Gleiter. Von ihren Schatten gingen kleine Fühler aus, die mit anderen Schatten in ihrer Umgebung Kontakt aufnahmen. Die Gleiter wechselten sich damit ab, sie im Auge zu behalten. Ricco übernahm für gewöhnlich den Nachtdienst. Oft schlüpfte sie aus ihrem Schlafzimmer, um sich aufs Dach zu setzen und Musik zu hören. Er wachte über sie, ohne sie zu stören. Sie sah so jung und einsam aus, und er wusste, dass er sie nur erschrecken würde, wenn er plötzlich neben ihr auftauchte.

»Sie mag Lucia und Amo«, sagte Stefano. »Jedes Mal, wenn ich mich mit ihr unterhalte, sagt sie, dass sie gern bei ihnen bleiben möchte.«

»Wer würde das nicht wollen?«, fragte Taviano. »Die beiden verwöhnen sie. Und sie tut ihnen umgekehrt genauso gut.«

»Es war eine gerissene Ummantelung, Ricco«, wechselte Stefano völlig unvermittelt das Thema. »Am Stoßdämpfer. Offenbar wurde die falsche Metalllegierung verwendet. Irgendwer hat da Mist gebaut. Ich habe die anderen Rennteams informiert.«

Ricco sah seinen Bruder nicht an. Mehr würde Stefano ihm nicht geben, solange alles andere, das gesagt worden war, nach wie vor zwischen ihnen stand. Er nickte nur mit gesenktem Kopf und ließ sich auf den Stuhl neben Emmanuelle am Tisch sinken. Es waren ohnehin keine wirklichen Neuigkeiten für ihn. Immerhin hatte ihm Taviano vor drei Wochen bereits davon erzählt. Taviano fuhr am liebsten Indie Cars, und er war derjenige, der zusammen mit Vittorio und Emmanuelle ihre Motoren entwarf.

»Wie läuft deine Jagd auf eine geeignete Partnerin?«, fragte Vittorio und ließ sich ebenfalls auf einen Stuhl an dem langen Esstisch fallen.

Ricco zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, ich werde mich bald entscheiden. In einer Woche steht noch eine Runde mit Interviews an, danach muss ich ein Modell auswählen.«

»Oder auch nicht«, warf Francesca ein. »Im Ernst, mach nicht einfach mit irgendwem rum. Das würde auf Dauer sowieso nicht funktionieren.«

Ricco wusste das, doch er war fest entschlossen, es trotz allem zu versuchen.

2

Ricco seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch das dichte dunkle Haar, bis es ihm in wirren Strähnen in die Stirn fiel. »Ich glaube, das war’s Emilio. Es war keine dabei, die mich auf der Stelle umgehauen hat, aber ich gehe die Liste mit den Bewerberinnen noch mal durch, um zu sehen, ob mich nicht doch eine von ihnen besonders anspricht.« Das war eine ziemlich direkte Lüge gewesen, und jeder seiner Geschwister hätte auf der Stelle gewusst, dass er auf keinen Fall vorhatte, sich die Liste noch einmal anzusehen.

»Die Kleine, die sich das T-Shirt runtergerissen hat, war gut«, stellte Emilio mit einem Grinsen fest. »Ich werd mir auf jeden Fall ihren Namen und ihre Nummer aufschreiben.«

»Sie würde erwarten, dass du sie fesselst«, warnte Ricco.

»Kein Problem, das kriege ich hin.« Emilio ließ die Schultern kreisen, um die Spannungen darin zu lockern. »Ich hasse es, den ganzen Tag nur rumzusitzen. Im Ernst, selbst wenn den ganzen Tag Models hier reinspazieren, das hier ist einfach nicht mein Ding, Ricco. Das nächste Mal musst du Enzo fragen, ob er dir hilft.«

Ricco wusste, dass es kein nächstes Mal geben würde. Keine der Kandidatinnen, die sich vorgestellt hatten, kam für ihn infrage. Sobald er zu Hause war, würde er alle Bewerbungen im Kamin entsorgen. Sein letzter Funken Hoffnung war mit der letzten Bewerberin einen grausamen Tod gestorben. Sie hatte Kaugummi kauend und in einem viel zu kleinen Oberteil, bei dem sie die obersten Knöpfe geöffnet hatte, damit ihnen der Inhalt förmlich entgegensprang, neben Emilio gesessen und ihm aufreizend über den Arm gestreichelt.

Jede von ihnen hatte geglaubt, dass sein Cousin der Fesselmeister war. Bei der Suche hatten sie eine ziemlich gute Bezahlung angegeben und angemerkt, dass die Fotos, die gemacht würden, in einem Buch abgedruckt würden, das jedoch allein für den Fesselmeister bestimmt war. Von über dreihundert Bewerberinnen hatten gerade einmal fünfzehn Models eindeutig Erfahrung in Fesselkunst.

Als es zaghaft an der Tür klopfte, fuhren die beiden Männer herum. Eine junge Frau hatte sich halb hindurchgeschoben, in einer Hand hielt sie ein Buch. »Bin ich zu spät?« Sie klang weder zurückhaltend noch ängstlich.

Ricco erstarrte. Ihre melodiöse Stimme war tief und süß zugleich. Der Ton traf ihn mitten in die Brust, drang tief in ihn ein, als wäre er ein Schlüssel, der etwas Hartes, Enges in ihm öffnete. Überrascht presste er eine Hand auf sein Herz, als sich mit aller Macht ein bisher ungekanntes Gefühl darin ausbreitete, es zusammendrückte und gleichzeitig ausdehnte, bis sich das Schloss schließlich öffnete und er seinen Herzschlag in den Ohren klopfen hörte. Wie eine verlorene Trommel, die nach dem richtigen Rhythmus suchte.

Als sich dieses Gefühl, dass er nicht verstand, wie Sonnenstrahlen in seinem ganzen Körper ausbreitete und den ständigen Druck vertrieb, holte er scharf Luft. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, sich zu bewegen. Die Empfindung, die von ihm Besitz ergriffen hatte, war anders als alles, was er bisher erlebt hatte, und sie war so stark, dass sie ihn geradezu überwältigte. Er musste ihre Stimme noch einmal hören. Er musste ihr nahe sein. Es war kein Wunsch, sondern eine Notwendigkeit.

Wie festgefroren saß er auf seinem Stuhl und ließ den Blick über ihren Körper wandern. Begierig nahm er jedes Detail in sich auf. Was er sah, überraschte ihn. Sie war nicht die große, schlanke Frau, von der er sich immer vorgestellt hatte, dass sie seinem Ideal entsprach. Sie war auch nicht klein und zart, sondern irgendetwas dazwischen, und ihre Haare waren nicht rot. Sie hatte Kurven, und ihre Haut war blass. Die großen grün-braunen Augen waren geformt wie die einer Katze. Sie war blond und anmutig, und doch hatte sie auch etwas Zerbrechliches an sich, das ihn an eine exotische Blume erinnerte. Sie schien einen asiatischen Hintergrund zu haben, ein japanisches Elternteil vielleicht. Nach seinem Trauma wäre er normalerweise niemals auf die Idee gekommen, sich ausgerechnet nach einer Frau wie ihr umzusehen, aber jede Faser seines Körpers schien auf sie zu reagieren, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

»Tut mir leid, Süße«, sagte Emilio. »Die Bewerbungsphase ist vorbei.«

Doch die Frau rührte sich nicht von der Stelle. Reglos stand sie auf der Türschwelle, das Buch an ihre Brust gedrückt. Sie war größer als Francesca und Emmanuelle, jedoch sehr viel kleiner als die Supermodels, mit denen Ricco häufig ausging. Und es war unmöglich zu sagen, wie lang ihre Haare waren. Die glänzende blonde Masse war mit langen Haarnadeln zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt, sodass ihr Hals nackt und verletzlich wirkte. Ihre Haut war makellos. Samtig. Wunderschön.

Riccos Hände begannen zu kribbeln, sehnten sich nach einem Seil. Ein rotes, dachte er, als Ergänzung zu den seidigen blonden Haaren und der vollkommenen hellen Haut.

Anstatt sich umzudrehen und zu gehen, trat die Frau ein paar Schritte vor und blieb unter der Reihe heller Lampen stehen, die sie mit Absicht genau an dieser Stelle platziert hatten.

Riccos wild klopfendes Herz blieb beinahe stehen. Die Lichter warfen ihren Schatten in einem scharfen Kontrast an die Wand hinter ihr. Er war dunkel und schmal, warf jedoch starke Tunnel aus, von denen aus sich zarte Fühler nach anderen Schatten ausstreckten. Sie verlängerten sich, drängten die Frau, einen weiteren Schritt zu tun. Ricco hielt den Atem an, als einer der Fühler tastend über den Boden auf ihn zuglitt, bis er sich mit den Schatten verband, wo er saß. Das Gefühl überrollte ihn wie ein Güterzug. Es erschütterte ihn. Zerrte an ihm. Ließ seinen Schwanz vor heißem, drängendem Begehren pulsieren. Das Verlangen traf ihn scharf und ohne Vorwarnung, und es war beinahe nicht zu kontrollieren. Dasselbe harte Wummern, das eben noch sein Herz aus dem Rhythmus gebracht hatte, hatte sich inzwischen seines Schwanzes bemächtigt. Und er wusste, dass sie es ebenso spürte. Die Frau hob den Kopf, als würde sie Gefahr wittern, und blickte sich wachsam um.

»Komm weiter rein«, brachte Ricco heraus, doch er hatte keine Ahnung, wie er seine normale Tonlage wiederfinden sollte. Sein Körper schien nicht mehr zu ihm zu gehören, nicht einmal seine Stimme. Niemals war er dankbarer für sein hartes Training gewesen. Nur dadurch gelang es ihm, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten, während der Rest seines Körpers so heftig auf sie reagierte.

Sie sah von Emilio zu ihm. Da er im Schatten saß, hatte sie ihn vielleicht zuerst gar nicht bemerkt. Als sie zögerte, konnte er es ihr nicht verdenken. Er war einschüchternd, das wusste er. Die Ferraros waren so geboren.

Die Zeit schien stillzustehen, während er darauf wartete, dass sie seinem Befehl gehorchte. Und es war ein Befehl gewesen. Ricco war es gewohnt, dass ihm die Menschen gehorchten. Gehorsam und Verteidigung. Nachdem er gesprochen hatte, erwartete er eine umgehende Reaktion – die er in den meisten Fällen auch sofort erhielt.

Emilio warf ihm einen fragenden Blick zu, bevor er ein resigniertes Seufzen ausstieß und sich ergeben auf seinem Stuhl am Konferenztisch zurücklehnte. Mit einer einladenden Geste bedeutete er der Frau, sich auf den Platz gegenüber zu setzen. »Wie es aussieht, bist du doch nicht zu spät, Süße. Hast du ein Portfolio mitgebracht? Irgendwelche Fotos von dir?« Er streckte die Hand auffordernd nach dem Buch aus, das sie umklammert hielt.

Das Verlangen, das wie heiße, flüssige Lava durch Mariko Majos Adern floss, ließ ihr den Atem stocken. Sie verstand nicht, was hier vorging. Eben noch hatte sie sich ganz normal gefühlt, vielleicht ein wenig nervös vor dem für sie extrem wichtigen Bewerbungsgespräch, und im nächsten Moment hatte sie eine ungeahnte Lust beinahe von den Füßen gerissen. Dieser Hunger – so etwas hatte sie noch nie gespürt. Zum ersten Mal in ihrem Leben rieten ihr alle Instinkte, auf dem Absatz kehrtzumachen und so schnell wie möglich davonzulaufen. Sie erkannte, wenn Gefahr von etwas – oder jemandem – ausging, und Ricco Ferraro bedeutete pure Gefahr.

Die beiden Männer sahen sie abwartend an.

Entschlossen reckte sie das Kinn und zwang ihre Beine, sich zu bewegen. Sie hatte nicht erwartet, Ricco Ferraro hier anzutreffen. Sie wusste, dass das Hotel den Ferraros gehörte, aber keine der anderen Frauen, mit denen sie sich kurz in der Lobby unterhalten hatte, hatte ihn erwähnt. Aber er war es eindeutig, sie erkannte ihn von den Fotos aus der Presse. Jeder hätte ihn erkannt. Es verging kaum ein Tag, an dem kein Bild von ihm in Zeitschriften oder Onlinemagazinen auftauchte. Er hatte einen Ruf als Frauenheld, und es war nicht zu übersehen, woran das lag. Er war umwerfend. Unfassbar attraktiv. Unheimlich.

Sie machte einige Schritte auf den Tisch zu. Ihr Herz begann, wie wild zu klopfen. Sie konnte ihre eigene Angst auf der Zunge schmecken. Vorsichtig warf sie einen Blick über die Schulter auf die geschlossene Tür. Sie war kein Feigling, noch nie gewesen, aber man sagte den Ferraros nach, in das organisierte Verbrechen verwickelt zu sein. Eine gefährliche Familie, von der man sich lieber fernhielt. Allein mit den zwei großen, einschüchternden Männern gefangen in diesem Raum zu sein, gab ihr alles andere als ein gutes Gefühl. Sie konnten Lügen hören und die Wahrheit von anderen erzwingen. Und sie hatte Geheimnisse. Viel zu viele. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein Ferraro, der ihr Fragen stellte, auf die sie keine Antworten liefern konnte.

Keiner der beiden sagte ein Wort. Sie wollten sie weder ermutigen noch davon abhalten, die Initiative zu ergreifen. Es war ihre Entscheidung gewesen, zu diesem Bewerbungsgespräch zu erscheinen, das war aus den abwartenden Mienen der beiden Männer deutlich abzulesen. Sie klammerte sich fester an das Buch vor ihrer Brust, als könnte es ihr helfen, den nötigen Mut zusammenzunehmen. Mariko war keine Frau, die vor vielen Dingen Angst hatte, aber in der Gegenwart von Ricco Ferraro hatte sie augenblicklich zu zittern begonnen. Kein guter Start.

Entschlossen straffte sie die Schultern und ging auf den Konferenztisch zu, der mindestens genauso groß, breit und einschüchternd wirkte wie die beiden Typen dahinter. »Ich habe keine Mappe mitgebracht, da ich selbst nie Model gewesen bin. Meine Mutter war eins, aber sie ist gestorben, bevor ich die Chance hatte, sie richtig kennenzulernen.« Sie hatte eine tiefe, sanfte Stimme, beruhigend und angenehm. Sie wusste nicht, wie sie die Stimme erheben sollte, dabei hätte sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher gewünscht. Das Letzte, was sie sich wünschte, war, die ungebührliche Aufmerksamkeit dieser beiden Männer auf sich zu ziehen – vor allem nicht, wenn sie mit ihnen allein in einem Zimmer war, zumal einer von ihnen ein Ferraro und der andere eindeutig mit ihm verwandt war.

Emilio seufzte noch einmal und sah zu Ricco hinüber. »Ich kann das hier übernehmen und dir dann später erzählen, was du wissen musst.«

Sie hatten abgesprochen, dass keines der Models im Vorhinein erfahren sollte, wer der Fesselmeister war. Wäre klar gewesen, dass es sich um einen Ferraro handelte, wäre die Liste der Bewerberinnen um ein Vielfaches länger gewesen. Jede von ihnen hätte sich Hoffnungen gemacht, ihn verführen zu können. Das Hotel bot die perfekte Tarnung. Es wurde häufig von Geschäftsleuten für verschiedene Arten von Meetings genutzt. Niemand hinterfragte es, wenn jemand Bewerbungsgespräche in einem der Konferenzräume abhielt.

Mariko hielt die Luft an. Sie wünschte, Ricco würde gehen, und gleichzeitig sehnte sie sich nach seiner Gegenwart. Es war verwirrend, wie ihr Körper auf ihn reagierte. Jeder Nerv schien sich seiner Präsenz bewusst zu sein. Seine Augen waren dunkel und lagen im Schatten, sodass sie nichts preisgaben. Es wirkte beinahe so, als sei er gar nicht wirklich da. Unsichtbar. Desinteressiert. Sie fühlte sich wie ein einziges Nervenbündel, während er sich total unter Kontrolle zu haben schien. Am liebsten wäre sie auf der Stelle davongerannt, aber sie musste das hier tun. Sie musste die beiden Männer überzeugen, dass sie die perfekte Besetzung für den Job war.

Draußen hatte sie ein Model nach dem nächsten beobachtet, das den Konferenzraum verlassen hatte. Die meisten waren Amerikanerinnen gewesen, jedoch nicht alle. Es waren auch Frauen aus Brasilien und Mexiko dabei gewesen, einige Spanierinnen und ein paar aus Argentinien. Eine stammte sogar aus Island. Sie hatte umwerfend ausgesehen. Die meisten waren unglaublich schön und groß – Eigenschaften, die Mariko nicht für sich reklamieren konnte. Sofort erhoben sich die vertrauten Stimmen in ihr, um sie zu verspotten. Sie war halb Amerikanerin und halb Japanerin. Ein Nichts. Das kanji in ihrem Nachnamen bedeutete »weiblicher Teufel«. Sie wusste nicht einmal, wie ihr richtiger Nachname lautete, da sie ihre Familie allein durch ihre Geburt entehrt hatte. Sie war nicht schön wie die Frauen, die mit Ricco in den Magazinen abgelichtet waren. Es schien zwei zu geben, die er besonders bevorzugte. Zwillinge. Die Lacey-Schwestern, beide Schauspielerinnen. Mariko hatte alles über sie gelesen, was sie hatte finden können. Dass irgendwelche Paparazzi sie alle zusammen nackt in einem Whirlpool erwischt hatten, war lang und breit in den Klatschspalten ausgebreitet worden.