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Sonja Heiss

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Beschreibung

»Eine bitterböse Familiengeschichte, witzig, unterhaltsam geschrieben. Und ungemein klug beobachtet.« Christine Westermann Sonja Heiss' Romandebüt wird einiges mit Ihnen anstellen: Sie werden laut lachen, Sie werden sich selbst und Ihre Familie wiedererkennen und Sie werden mehr lesen wollen. Versprochen! Hans ist Anwalt, reich und erfolgreich. Doch auf einmal kehrt diese irrationale Wut in ihm zurück. Seine Ehe funktioniert nicht mehr und statt mit seiner neuen Psychoanalytikerin Frau Doktor Mandel-Minkic an seinen Problemen zu arbeiten, verliebt sich Hans in sie. Seine Schwester Masha ist 39 Jahre alt, als sie beschließt, ein Kind mit ihrem Freund zu bekommen. Doch plötzlich geht er ihr schrecklich auf die Nerven. Masha begibt sich auf die panische Suche nach einem neuen Mann, doch ihre Idee, im Bett den zukünftigen Vater ihres Kindes zu finden, ist zum Scheitern verurteilt. Alexander und Barbara, die Eltern der ungleichen Geschwister, sind seit über vierzig Jahren leidlich glücklich verheiratet und müssen sich jetzt im Alltag eines Rentnerpaars einrichten. Während Alexander sich schon einsam fühlt, wenn seine Frau in ein anderes Zimmer geht, bleibt für sie nur die Flucht. Sie ahnt nicht, was sie damit in Gang setzt. Sonja Heiss entwirft ihre Charaktere mit enormer psychologischer Raffinesse. Ihr Blick auf den menschlichen Alltag zoomt Details heran, die mit bloßem Auge kaum sichtbar sind. Dabei entsteht ein meisterhafter und höchst unterhaltsamer Roman, der seinen Humor aus den Abgründen des Lebens schöpft.

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Seitenzahl: 414

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Sonja Heiss

Rimini

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Sonja Heiss

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMotto40 Jahre, 3 Monate und 8 TageLieber Papa …39 Jahre, 1 Monat und 2 Tage1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel39 Jahre, 4 Monate und 18 Tage18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel39 Jahre, 6 Monate und 2 Tage27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel39 Jahre, 7 Monate und 3 Tage34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel39 Jahre, 8 Monate und 3 Tage38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel39 Jahre, 9 Monate und 25 Tage48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel41 Jahre, 3 Monate und 7 Tage55. Kapitel56. Kapitel57. KapitelDanksagung
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Für June

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Wenn jemand zu uns kommt und uns erzählt, auf dem Mond wachsen Erdbeeren, beginnen wir sofort, ihn davon zu überzeugen, dass dies doch nicht möglich sei, anstatt uns zu fragen, warum ihm solch Absonderliches einfiele, unsere Aufmerksamkeit zu erlangen.

Sigmund Freud

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40 Jahre, 3 Monate und 8 Tage

 

 

 

Lieber Papa,

 

ich vermisse dich. Es gibt so viele Dinge, die ich gerne machen würde, wenn du noch hier wärst.

1.

Dich zurückrufen.

2.

Dich fragen, wie es dir geht.

3.

Mit dir Schach spielen, weil du das so gerne gemacht hast, es aber irgendwann niemanden mehr gab, der mit dir spielen wollte.

4.

Dir Fragen stellen, weil du so viel wusstest, wonach dich nie jemand gefragt hat.

5.

Dir einen Witz erzählen.

6.

Dir zuhören.

7.

Mit dir spazieren gehen.

8.

Mit dir verreisen, weil du über jedes Land der Welt ein Buch gelesen hast, aber fast nichts von der Welt gesehen hast.

9.

Dir über den Kopf streichen.

In Liebe

Deine Tochter Masha

 

PS: Ich schicke dir diesen Brief als E-Mail, weil er dich dann vielleicht erreicht. Weißt du noch, du hast doch immer auf meiner Mailbox nach mir gerufen und ich habe dir erklärt, dass ich dich in dem Moment nicht hören kann, dass deine Stimme irgendwo in Utah oder Skandinavien in Form von Millionen von Zahlen in irgendwelchen Salzhöhlen gelagert wird.

Ich stelle mir vor, dass E-Mails hingegen in der Hemisphäre herumschwirren, die Luft sozusagen voll ist mit Worten, und so ist die Chance, dass dich meine Nachricht erreicht, höher, als wenn es ein Stück Papier wäre.

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du auf die Erde heruntergucken kannst, auch wenn es tröstlich wäre. Aber du bist kein Engel und ich glaube ja auch nicht an Engel. Du fändest das auch abwegig, wo du mir doch immer erklärt hast, dass die Existenz von Jesus zwar wissenschaftlich erwiesen, er allerdings nur ein charismatischer Guru gewesen sei. Es gibt also keine Engel, aber dich gibt es noch. In irgendeiner Form. Sicher hast du keinen Körper mehr. Aber deine Brille hast du wahrscheinlich noch. Ich hoffe, du lachst jetzt darüber. Auch wenn meine Witze schon mal besser waren.

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39 Jahre, 1 Monat und 2 Tage

1

Der saure Lufthansa-Kaffee attackierte immer noch seine Magenschleimhaut, der Wunsch nach einer Zigarette seine Gehirnzellen, das grelle Starren der Neonröhren an der Decke des kargen Verhandlungsraumes brannte in seinen müden Augen, und Hans hatte das Gefühl, sein rosa Van Laack-Hemdkragen schnüre ihm den Hals zu.

Seine Hände unter dem Tisch legten sich auf die Enden des Scholting, von Giersberg, Grüben, Schulz und Altmann-Bleistiftes, die Daumen in die Mitte gerichtet. Es knackte schön, der Stift war durch, das tat gut und half ihm, für ein paar Minuten so zu tun, als wäre er noch anwesend.

Hans’ Augen wanderten wieder über den Resopaltisch, er hätte schwören können, einen zweiten Stift mitgenommen zu haben, aber da war keiner. Er wühlte in seiner Aktentasche. Er musste schnell noch etwas zerbrechen. Da musste doch noch irgendwo ein verdammter Scholting, von Giersberg, Grüben, Schulz und Altmann-Scheiß-Bleistift sein. Wenn er den fände, dann würde alles gut. Er würde sich damit versöhnen, wie miserabel die Verhandlung lief, und er würde nicht ausflippen, nein, er musste nur den zweiten Stift finden.

Endlich ertasteten seine Finger etwas Langes, Rundes. Aber das konnte doch nicht wahr sein, es war ein Metallkugelschreiber.

Plastik hätte er durchbekommen, Plastik war kein Problem. »Herr Dr. Armin, haben Sie denn zu dem eben geschilderten Sachverhalt nichts anzumerken?«, unterbrach der Richter seine Überlegungen.

»Was?«

Der Richter wirkte irritiert.

»Ich suche einen Stift«, sagte Hans. Seinen Mandanten hatte er vergessen und er bemerkte auch jetzt nicht, dass dieser ihn irritiert ansah.

»Hat einer der Anwesenden vielleicht einen Stift für Herrn Dr. Armin, damit er wieder an der Verhandlung teilnehmen kann?«, fragte der Richter, und einer der gegnerischen Anwälte reichte Hans einen Plastikkugelschreiber.

Hans befühlte den Stift in seiner Hand. Er musste zerbrochen werden. Er wollte zerbrochen werden, er wollte es unbedingt. Er war ja in seiner Hand. Hans konnte nichts dagegen tun. Immer wieder sagte er sich, dass es völlig blödsinnig war, einen Stift zerbrechen zu wollen. Als Erwachsener insbesondere. Dass er so etwas als Kind hatte tun müssen, war verzeihlich, Kinder folgten manchmal nicht angemessenen Trieben. Erwachsen werden aber bedeutete doch gerade, unangemessene Wünsche unter Kontrolle zu bekommen. Auf der anderen Seite wusste er genau, dass es ihm besser gehen würde, wenn er es tun würde.

Er knackte lauter als der Bleistift, Hans ruckelte mit dem Stuhl, um davon abzulenken. Er war überrascht, als der Richter kurz darauf den Verkündungstermin festlegte und die Verhandlung schloss, er hatte ja noch gar nicht zu allen Argumenten der Gegenseite Stellung bezogen. Aber das hätte ja ohnehin nichts geändert, sagte er sich. Außerdem war er froh, dass diese Farce hier jetzt mal ein Ende fand.

Er packte seine Unterlagen in die Aktentasche und murmelte seinem Start-up-Millionär zu, dass sie noch zwei weitere Instanzen hätten, als ihn der gegnerische Anwalt um seinen Stift bat.

»Ähm, ja, haben Sie vielleicht noch einen zweiten? Ich müsste nämlich auf der Rückreise was notieren.«

»Der ist ein Andenken.«

»Oh, ach so«, Hans starrte auf die überwältigend hohe Stirn über randloser Brille und dachte nach. Er beschloss, so zu tun, als suche er ihn in seiner Tasche, schüttelte ratlos den Kopf.

»Aber der kann doch nicht weg sein, Sie sind doch nirgendwohin gegangen.«

»Ja, komisch.«

Hans kramte noch einmal, nein, nichts zu machen.

»Komisch. Einfach weg.«

»In der Jacketttasche vielleicht?«, schlug der Anwalt vor.

Hans schüttelte den Kopf. »Ganz komisch«, sagte er wieder.

»Möchten Sie meinen Mont Blanc dafür?«

»Nein, danke. Aber vielleicht leeren Sie die Tasche einfach mal aus?«

»Wollen Sie mich jetzt durchsuchen? Wegen Ihres billigen Kugelschreibers?«

»Sagen Sie mal. Es spielt überhaupt keine Rolle, was hier genau fehlt. Eine Rolle spielt nur, dass es mir gehört.«

Hans nahm die Aktentasche und drehte sie um. Der Inhalt flog auf den Boden.

»Der ist ja kaputt!«, kreischte der Anwalt eine Oktave zu weiblich. Seinem Ausdruck tiefen Bedauerns nach zu urteilen musste es sich bei dem Kugelschreiber um ein stark emotional besetztes Andenken handeln.

Hans reichte ihm die beiden Teile des zerbrochenen Stiftes, packte seine Sachen zurück in die Tasche und ging auf die Toilette. Er nahm die Dokumente aus dem Heftordner, legte sie auf die Aktentasche und nahm sich den Büroartikel vor. Das unnachgiebige Zerfetzen der festen Pappe war eine Wohltat, da kam keine Sportart ran. Auch schön war es reinzubeißen, bis die Zähne schmerzten, schon als Kind hatte er seine Wut gerne weggebissen. Er biss das Adrenalin aus seinem Körper.

Stille und eine angenehme Müdigkeit legten sich über ihn wie eine warme, weiche Decke. Sein Atem verlangsamte sich zu einem ruhigen Fluss. Er entsorgte die Ordnerstücke, steckte die Blätter zurück in die Tasche, richtete seine Haare im Spiegel und verließ die Toilette in Gedanken an seinen Mandanten, den er hatte stehen lassen und der nun unauffindbar war. Der auch noch. Scheiße, dachte Hans.

 

Hans sah aus dem Flugzeugfenster in die Dunkelheit und stellte sich vor, sie wäre lila. Gestern hatte ihn seine Tochter gefragt, warum der Himmel blau sei, und sie hatten sich vorgestellt, dass er, ohne Ozon in der Atmosphäre, vielleicht rot wäre und nachts dann violett. Lou meinte, ein Leben mit rotem Himmel wäre sicher schön. Er hingegen dachte, dass die Menschen in dem Fall schon vor langer Zeit ausgestorben wären. Sie hätten alle Selbstmord begangen.

Wie optimistisch Kinder doch waren. Wobei er sich zu erinnern meinte, schon als Sechsjähriger eher skeptisch in die Zukunft geblickt zu haben. Wie sein Vater.

Er bestellte ein weiteres Fläschchen Wein bei der intensiv lächelnden Businessclass-Stewardess und fragte sich, warum die Flugbegleiterinnen nicht mehr so aussahen wie früher. Es war natürlich verständlich, dass die Lufthansa ihre Mitarbeiterinnen nicht feuerte, wenn sie die vierzig überschritten, andererseits war es schade.

Ihm fiel auf, dass er zwei Minuten lang nicht an Zigaretten gedacht hatte. Ein Gedanke, der dazu führte, dass er den Rest des Fluges ausschließlich ans Rauchen dachte.

 

Als er in die klirrende Luft vor Terminal 2 des Münchner Flughafens trat, sah er seinen Puls wieder. In Form eines stecknadelkopfgroßen Knötchens stürmte er durch die Arterien auf seinem Unterarm. Hektisch nestelte er ein Stück Selleriestaude aus seiner Tupperbox und steckte es sich zwischen die Zähne. Es seien nur ein paar Sekunden, in denen man ans Rauchen denke, hatte die Alternativmedizinerin gesagt, und die müsse man überwinden, indem man in ein Stück Rohkost beiße. Hans hatte allerdings festgestellt, dass es nur ein paar Sekunden waren, in denen er nicht ans Rauchen dachte, und nun fiel ihm auf, dass er an dem Selleriestreifen saugte. Schnell biss er hinein, kaute, spuckte den Brei zurück in die Box und kaufte sich eine Packung Gauloises. Er inhalierte einmal tief, warf die Zigarette mitsamt der Schachtel auf den Boden und sah sie vorwurfsvoll an.

 

Er trank noch schnell ein Glas Pomerol in der Küche und machte sich, bereits sein Hemd öffnend, auf den Weg ins Schlafzimmer.

Ellen lag entspannt und irgendwie erhaben in dem hohen Bett. Sie trug ihr schlammfarbenes, tief ausgeschnittenes Seidennachthemd, das gut zu ihren kieferngrünen Katzenaugen, ihren puderblonden Haaren und ihrem hellen Teint passte, und las ein Buch.

Als er sich auszog, hob sie ihren Blick und lächelte ihn an. Endlich, dachte Hans, nahm sie wieder wahr, was für einen attraktiven Mann sie hatte.

Hans legte sich zügig unter die Doppelbettdecke aus isländischen Eiderdaunen, sah sie an und strich über ihren Oberarm hin zu ihrer Brust. Das Buch rutschte ihr aus der Hand, sie pflückte es aus der schwerelosen Decke.

»Hans, ich lese.«

»Mhm.«

Diese Reaktion hatte er zwar nicht erwartet, aber wahrscheinlich war sie taktisch begründet. Immerhin hatten sie am Morgen einen Disput gehabt.

Er wartete einen Moment und begann von Neuem, diesmal zielgerichteter, direkt Richtung der Brust, die sich durch den dünnen Stoff des Nachthemdes abzeichnete und seine Hand magnetisch anzog.

Ellen aber wandte sich energisch von ihm ab.

»Kann ich bitte weiterlesen?«

»Warum lächelst du mich dann an, wenn ich mich ausziehe?«

»Weil ich dich mag und du hübsch aussahst.«

»Und du denkst nicht, dass man das als Einladung verstehen könnte?«

»Muss ich jetzt jedes Mal sofort losrammeln, wenn ich dich anlächle?«

»Ellen, was soll das denn?«

»Ja, ist doch so. Ich darf dich noch nicht mal anlächeln, wenn ich dann nicht sofort mit dir schlafe. Ich halte diesen Druck nicht mehr aus. Würdest du das mal lassen, würde ich wahrscheinlich ständig mit dir schlafen wollen.«

»Aber die Frage ist doch, wann du mich anlächelst.«

»Du meinst, ich darf dich im Schlafzimmer nicht anlächeln, wenn ich nicht sofort gebumst werden will?«

»Du hast mich angelächelt, als ich mir die Shorts ausgezogen habe.«

»Das hab ich gar nicht gesehen. Ich habe in dein Gesicht geguckt. Im Gegensatz zu dir gucke ich nicht nur auf die primären Geschlechtsmerkmale meines Ehepartners.«

»Ich sehe dir auch ins Gesicht.«

»Nein, das tust du nur, wenn wir streiten, ansonsten starrst du mir auf meinen Po und meine Brüste. Du unterhältst dich sogar mit denen anstatt mit mir.«

Das war natürlich nicht sehr nett, dennoch musste Hans grinsen. Sie hatte diesen ausgeprägten Sinn für Ironie schon immer gehabt, früher hatte sie ihn damit ständig zum Lachen gebracht. Und das tat sie auch jetzt noch ab und an. Manchmal sogar, wenn sie diskutierten, so wie jetzt.

Er sah sie dann an und dachte, dass er nicht verstand, was mit ihrer Beziehung geschehen war. Ellen war immer noch schön, auf ihre kühle, beinahe aristokratische Art, die ihn sofort angezogen hatte. Schon ihre Augenfarbe hatte ihm das Gefühl gegeben, mit ihr vor einem Leben in der Mittelschicht sicher zu sein, und damit vor einem Leben wie dem seiner Eltern.

Gleichzeitig aber war sie wild und offen gewesen und hatte nichts von der Strenge gehabt, die sie sich, seit die Kinder auf der Welt waren, angeeignet hatte.

Eine Strenge, gegen die er nicht ankam. Vielleicht aber war es auch ihr Beruf, der ihr, wie sie sagte, eine Art von Performance abverlangte. Sie war der Meinung, sie dürfte niemals Unsicherheit aufblitzen lassen, und ihm schien, dass sie dies, ohne sich dessen bewusst zu sein, in ihr Privatleben mitgenommen hatte. Was die Erziehung der Kinder betraf, war sie sich beispielsweise in jedem Moment sicher, was richtig und was falsch war. Doch auch über ihn wusste sie mehr als er über sich selbst. Und immer, wenn sie ihm sagte, was er gerade oder auch prinzipiell für ein Problem hatte, war er in einem Maße verletzt, das sie niemals erahnt hätte, da er Emotionen solcher Art nicht offenbarte.

Aber vielleicht, dachte er, war es auch nur die Aneinanderreihung von Zahnbürsten, Zurechtweisungen, Vollkornprodukten, Blockflöten, kleinen Verletzungen, Autoreparaturen, Kinderhockeyturnieren, Süßigkeiten-Verboten, Unaufmerksamkeiten, allzu offensichtlich gespieltem Interesse und fatalen Uhrzeiten, die sie beide ein wenig zermürbte. Vielleicht war es auch Ellens Hingabe an die Kinder, die keinen Raum mehr für ihren Mann ließ. Eine perfekte Mutter zu sein war ihre vorrangige Aufgabe im Leben, und das nahm sie natürlich gänzlich in Beschlag und bestimmte somit ihrer aller Leben. Die Stimmung der Tage war von der Stimmung und dem Verhalten der Kinder abhängig, die Themen, über die sie sprachen, hatten sich minimiert und änderten sich nur dank der Entwicklung der Kinder. Die Schnullerentwöhnung wurde durch Rechtschreibfehler ersetzt, der frühkindliche Bewegungskurs durch Musikinstrumente.

Ellen hatte es aufgegeben, ein Mensch zu sein, sie war eine Mutter und eine Wirtschaftsjournalistin. Daneben existierte sie nicht mehr. Ebenso wenig wie er, der zum Erziehungsberechtigten reduziert war, sie in dieser Eigenschaft aber selten überzeugte.

Damals, als sie noch zusammen bekiffte Abende vor dem Fernseher verbracht hatten, stundenlang in die Betrachtung von Home-Shopping-Sendungen und alten Krimis versunken waren und sich gegenseitig mit ihren Kommentaren in Lachkrämpfe versetzt hatten, als sie in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung wilde Partys gefeiert hatten, hätten sie sich niemals vorstellen können, dass ihr Leben irgendwann so aussehen würde. Andererseits war genau dieses Leben doch das, was er immer vor Augen gehabt hatte.

»Du reduzierst mich zum Sexobjekt«, sagte Ellen, was nun wirklich nicht mehr lustig war.

»Ich begehre dich, das hat nichts mit Sexobjekt zu tun. Du könntest dich darüber freuen, anstatt dich aufzuregen. Welche Ehefrau mit zwei Kindern wird denn heute noch von ihrem Mann begehrt? Das ist ein Zeichen von Liebe.«

»Ich liebe dich auch, ohne dauernd auf deinen Penis zu starren.«

»Ellen, das ist unverschämt. Außerdem sind deine Brüste sehr klein. Das ist gar nicht so eine Sexbomben- … Erotik, ach egal.« Ellen sah ihn interessiert an.

Hans ließ sich in sein Kissen fallen und fuhr sich mit den Handflächen übers Gesicht.

»Jetzt atme nicht so betroffen.«

»Ach, jetzt atme ich falsch? Entschuldigung!«

Hans stand auf und verließ den Raum, er spürte, wie sie sich wieder ihrem Roman zuwandte, und fragte sich, ob sie sich überhaupt noch für seine Gefühle interessierte.

 

Er ging in die Küche, goss sich ein weiteres großes Glas Rotwein ein und dachte nun wieder an Zigaretten statt an Beischlaf. Er durchsuchte seine Sakkos, Jacken und Taschen und fand schließlich noch eine halbe Packung ausgetrockneter Kippen in einer lange nicht mehr benutzten Sporttasche. Er sagte sich, dass man ja auch mal eine Zigarette rauchen konnte, wenn man unter Stress stand, das war jetzt ein Ausnahmefall. Zudem ergab das Leben ohne Sex und Zigaretten keinen Sinn, weshalb auch eine zweite erlaubt war. Morgen würde er wieder aufhören.

Er drückte die Zigarette aus und überlegte, ob er sich vor dem Schlafengehen einen runterholen sollte.

Eigentlich war er es satt. Er hatte es zwar lange Zeit gerne gemacht, weil er es im Gegensatz zu richtigem Sex als zeitsparend und weniger kompliziert empfunden hatte. Aber in letzter Zeit fand er richtigen Sex doch wieder besser.

Leider hatte Ellen sich nun aber daran gewöhnt, nicht mehr mit ihm zu schlafen, und sie war sogar damit zufrieden.

 

Er trank noch einen letzten Schluck, und endlich war er bereit, den Tag zu beenden. Seine Gedanken verschwammen angenehm, in seiner Körpermitte spürte er so etwas wie Zufriedenheit. Er ließ sich in die Tiefen der viskoelastischen Nasa-Schaummatratze fallen und versank in Sekundenschnelle in einen sanft rauschenden Schlaf.

 

Ein bedrohliches Brummen ließ ihn aus dem dünnen Alkoholschlummer erwachen. Er weckte Ellen und machte sie auf das unheimliche Geräusch aufmerksam, doch sie interessierte sich nicht dafür. Hans aber hatte sich schon aus dem Bett geschleppt und mäanderte leicht benommen durch den Raum. Er spürte, wie seine Gehirnmasse an die Schädeldecke prallte, er hätte sich gerne wieder hingelegt, aber das war jetzt ein Notfall. Er suchte den Raum nach einer Waffe ab und griff schließlich nach dem Tennisschläger, mit dem er aus dem Schlafzimmer wankte.

Das Brummen konnte von einem geräuschgedämpften Bohrer stammen, mit dem ein Einbrecher das Türschloss bearbeitete. Es war aber auch möglich, dass ein elektrisches Gerät heiß lief und das Haus in Brand setzte, vielleicht schon in Brand gesetzt hatte. Ein ebenso erschreckendes Szenario, zumal sein Vater früher sehr oft darüber gesprochen hatte, wie leicht so etwas passieren konnte.

Beinahe lautlos rollte er von der Ferse auf den Fußballen über den beheizten Kunstharzboden, zu allem bereit und doch stark verlangsamt durch den Pomerol. Er arbeitete sich zum Wohnzimmer vor, es war ihm, als käme das Brummen von der Terrassentür.

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Das Wichtigste war jetzt, überraschend zu agieren. So zu tun, als nähme er den Verfolger nicht wahr, um dann unerwartet zuzuschlagen. Er zählte innerlich bis drei und holte mit einem perfekt halbkreisförmigen Schwung aus, um in der Drehung durchzuziehen. Aber der Schläger prallte bereits beim Ausholen gegen ein weiches, gleichzeitig jedoch starkes Hindernis. Das Geräusch des Aufpralls war leise und dumpf, ein hoher Schrei folgte. Es dauerte einen Moment, bis Hans begriff, dass er seine Frau niedergeschlagen hatte.

»Ellen, o Gott! Scheiße, o Gott!«

»Du Idiot«, sagte sie leise, das Blut floss in einem dicken Strang aus der großen, klaffenden Wunde auf ihrer Stirn. Dennoch war Hans ein wenig erleichtert, dass sie »Idiot« sagen konnte, war ein gutes Zeichen. Es ging ihr also halbwegs gut. Keine Ohnmacht, offensichtlich auch kein Wirbelsäulenschaden. Hans zog sein T-Shirt aus und drückte es auf die Platzwunde.

»Es tut mir leid, Ellen.«

»Du bist so ein Spinner. Das tut so weh, ahhh.«

»Kannst du deine Arme und Beine bewegen?«

»Ja«, stöhnte Ellen.

»Gut, sehr gut. So, hier, drück mal meine Hand.«

Ellen drückte fest zu.

»Super, okay, also ich muss jetzt kurz weiter, aber danach guck ich es mir noch mal an.«

»Wohin weiter?«

»Ich muss sie finden.«

»Wie? Wen?«

»Die Einbrecher, wen denn sonst?«

»Einbrecher summen nicht«, erwiderte Ellen erschöpft.

»Es summt nicht, es brummt.«

»Einbrecher brummen auch nicht. Da könnten die ja gleich klingeln oder vorher anrufen.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Logik. O Hans, das tut so weh.«

»Entschuldige, aber das ist nur deine Logik.«

»Du hast eine Fahne.«

»Also jetzt bitte nicht das Thema.«

»Hans, das tut so weh.« Sie atmete stoßweise durch ihre zum O geformten Lippen.

»Aber wenn du mich auch von hinten, also …«

»Wie, jetzt bin ich daran schuld?«

»Ich habe jetzt keine Zeit zu diskutieren, ich muss herausfinden, was in unserem Haus vor sich geht.«

Hans drückte Ellen die noch nicht blutgetränkte Seite des T-Shirts auf die Stirn und setzte seinen Weg zur Terrassentür fort, stellte jedoch fest, dass er sich vom Geräusch entfernte. Langsam schlich er sich aus dem Wohnzimmer. Den Tennisschläger hielt er in beiden Händen, als warte er auf den gegnerischen Aufschlag. Er pausierte und hielt den Atem an, die Stille führte ihn zum Ursprung des Dröhnens.

Je näher er dem Bad kam, desto lauter wurde es. Aber wer war da in seinem wunderschönen Bad mit dem Doppelwaschbecken aus Naturstein?

Er fühlte sich an den südafrikanischen Paralympics-Athleten erinnert, der seine Freundin durch die Badezimmertür erschossen hatte. Vielleicht hatte der wirklich gedacht, dass da ein Einbrecher drin war. Und bei ihm war ja jetzt tatsächlich einer im Bad. Und Hans hatte im Gegensatz zu dem Südafrikaner keine Pistole, sondern nur einen neongrünen Tennisschläger. Intuitiv hielt er diesen wieder in einer Hand, den Arm leicht nach oben geknickt. Er stürmte das Bad, blickte sich um und entdeckte schließlich die Quelle des Geräusches. Die elektrische Zahnbürste brummte. Es schien nicht logisch, dass ein Einbrecher sich ins Bad geschlichen und die Zahnbürste angestellt hatte. Also war die Zahnbürste schuld. Er warf sie auf den Boden, trat drauf und machte sich auf den Weg zu Ellen, die immer noch im Wohnzimmer lag und das nun komplett blutgetränkte T-Shirt gegen ihre Stirn drückte.

»Und, hast du ihn außer Gefecht gesetzt?«, murmelte sie.

»Komm, ich bring dich ins Krankenhaus, das muss genäht werden.«

 

Leo schlief. Lou hatte die Augen aufgerissen, war jedoch schockstill, als sie sie auf den Rücksitz legten. Ellen erklärte ihr, dass es viel schlimmer aussähe, als es sei, das müsse man jetzt einfach nur nähen wie ein Loch in einem Socken und dann höre das auch auf. Die Kleine nickte.

Hans fiel erst während der Fahrt durch die stumpfe Nacht auf, dass er in seinem Zustand nicht Auto fahren durfte, eine Feststellung, für die es nun allerdings zu spät war.

 

Die noch viel gravierendere Erkenntnis kam erst auf der Rückfahrt.

»Was erzählen wir deinen Eltern eigentlich? Also mal ganz abgesehen davon, dass wir beide uns überlegen müssen, was das hier für Konsequenzen hat?«, fragte Ellen.

»Scheiße, meine Eltern.«

»Hans!«

»Was denn?«

»Du hast versprochen, dieses Wort vor den Kindern nicht mehr zu benutzen.«

»Die schlafen.«

»Na ja, aber du könntest ja trotzdem üben, es weniger einzusetzen.«

»Ist aber wirklich scheiße, dass meine Eltern kommen.«

»Ja, das ist immer anstrengend. Aber dass die an Weihnachten kommen, ist ja jetzt leider auch nicht neu. Aber so richtig scheiße, wie ich finde, ist ja vielmehr, dass du mich umgehauen hast und ich jetzt eine Naht auf der Stirn habe. Und nicht, dass die kommen.«

»Ja, Ellen, ich weiß.«

»Ist ja auch unübersehbar.«

»Was sagen wir denen? Dass du gestürzt bist?«

Ellen wollte ihm nicht versprechen, seine Eltern zu belügen, was wohl eine Art Erziehungsmaßnahme darstellen sollte, nahm er an.

2

Eisiger Wind zog über den noch düsteren Bahnsteig. Masha hauchte warme Luft in ihre frierenden Hände, während sie, noch nicht wirklich wach, von einem Bein auf das andere trat. »Irgendwas posten«, dachte sie. Sich darüber lustig machen, über dieses »An Weihnachten nach Hause fahren«. Sie nahm ihr mit Tesafilm geklebtes Handy aus der Tasche und machte ein Selfie, auf dem sie bewusst müde in die Kamera guckte. Aber da war nicht nur dieser extraschläfrige Blick. Ihre Haut war müde. Schockiert zog sie das Bild größer. Da waren viel mehr Falten als im Spiegel. In die ohnehin schon entsetzlichen Krähenfüße hatten sich vertikale Verästelungen gegraben. Neben dem Mund waren neue Linien, wie sie es auf den Cremetuben nannten. Sie empfand sie jedoch eher als Risse. Und tatsächlich war da im Halbprofil, das ihr eigentlich so gut stand, ein leichter Ansatz zum Doppelkinn. Es ist nur das Licht und weil es so früh ist, sagte sie sich. Sie würde einfach noch eins machen und auf dem sähe sie aus wie immer. Aber das war nicht der Fall, ihre Haut zeigte auch auf dem vierten Foto noch die gleichen Alterserscheinungen. Sie steckte das Telefon weg und starrte auf die Gleise, abwechselnd schob sie sich ihre kleinen, zur Faust geformten Hände in den wunderbar warmen Mund. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie ihre Hand im Mund hatte, und dann sah sie diese Masha von außen. Eine 39-jährige Frau mit Krähenfüßen unter einer kindischen Wollmütze, die nicht an ihre Handschuhe gedacht und deshalb die Hand im Mund stecken hatte.

Dieses alte Mädchen, das auf den Zug zu ihrem großen Bruder und Mama und Papa wartete. Das selbst nicht in der Lage war, die Verantwortung für einen kleinen Menschen zu übernehmen, sich stattdessen eine faule, glubschäugige Perserkatze gekauft hatte, deren langes weißes Fell an ihrem dunkelblauen Wollmantel klebte.

 

Daran, dass man an Weihnachten einen Platz reservieren sollte, hatte sie ebenso wenig gedacht, und so sah sie jetzt auch noch die kleine Masha mit angezogenen Knien auf dem Boden vor den Einzelabteilen sitzen. Sie hatte das Gefühl, jeder in diesem Zug bemitleide sie dafür, dass sie ein altes Kleinkind war. Sie sollte so eines haben, anstatt eines zu sein. Aber sie hatte sich ja nie bereit gefühlt, hatte Angst gehabt, aus dem Leim zu gehen und keine Rollen mehr zu bekommen, sie hatte gedacht, genau dann, wenn sie schwanger würde, käme der Film ihres Lebens, der konnte immer kommen. Außerdem hatte sie sich davor gescheut, eine Entscheidung zu treffen, die für immer etwas verändert hätte. Für-immer-Entscheidungen hatte sie schon immer vermieden.

Die einzige Rettung vor der Weihnachtstraurigkeit aber war doch ein Kind. Dann müssten ihre Eltern zu ihr kommen oder sie würden Weihnachten gar nicht mehr zusammen verbringen. Nie wieder würde es einen Weihnachtsstreit geben, nie wieder würden sie sich betrunken Zettel auf die Stirn kleben und erraten, dass sie Adolf Hitler oder Jesus waren. Obwohl das Spaß gemacht hatte, wenn sie ehrlich war. Ihre Eltern waren lustig, vor allem, wenn sie getrunken hatten. Aber dann war sie morgens im Gästebett ihres Bruders oder in ihrem Kinderzimmer aufgewacht und hatte weinen müssen. Sie konnte sich so gut an das Gefühl des späten Morgens der vergangenen zehn ersten Weihnachtsfeiertage erinnern, dass sie es in diesem Moment wirklich empfand. Und sie dachte, sie wollte nie wieder dieses Kind sein, keine Sekunde lang. Es war jetzt vorbei. Schluss mit Kindheit. Sie hatte lange genug gedauert.

 

Der Zug hielt in Jena Paradies, Masha stieg aus. Sie würde den nächsten Zug zurück nach Berlin nehmen, Georg auf Station besuchen und ihm sagen, sie müssten ihr Leben ändern. Er würde das gut finden, dachte sie.

Sie holte sich ein Bier im Bahnhofskiosk und sah nach, wann der nächste Zug fahren würde, als ein heftiger, eisiger Wind aufkam. Zwei Minuten später stürzten schwere Tropfen vom Himmel und verwandelten sich im Moment des Aufpralls auf der Erde in Eis.

3

»Wir haben den Baum früher nie mit ausgesucht«, sagte Hans zu seinen Kindern, die den größten kaufen wollten, den es hier, auf einem Stück Brachland am Stadtrand, auf dem manchmal auch ein verwahrloster Zirkus mit betrübten Tieren stand, noch gab.

»Oma und Opa haben immer einen ganz kleinen gekauft und ihn auf einen Tisch gestellt.«

»Find ich doof«, sagte Leo mit seiner klaren Aussprache, die so überhaupt nicht zu seinem für sein Alter winzig kleinen Körper passte und deshalb alle bezauberte. Hans machte sich Sorgen, dass sein Sohn immer klein bleiben würde. Er selbst war mit einem Meter vierundsiebzig zwar nicht groß, aber man kam halbwegs unbeschadet durchs Leben. Sein Sohn aber würde, wenn es so weiterginge, die ein Meter fünfundsechzig nicht überschreiten.

»Ja stimmt. Fand ich auch.« Hans überlegte, ob er nur wegen der traurigen Größe des Baumes keine guten Gefühle mit Weihnachten verband.

»Und sie haben sich immer gestritten, wenn sie ihn aufgestellt haben. Jedes Jahr haben sie genau das Gleiche zur gleichen Zeit zueinander gesagt.« Hans wusste selbst nicht so genau, warum er seinen Kindern davon erzählte. Vielleicht um besser dazustehen als Vater.

»Ihr streitet aber auch immer«, sagte Lou.

»Wir?«

»Ja«, bestätigte Leo.

»Ist das schlimm?«

»Ja.«

»Oh.«

»Aber wir haben uns lieb.«

»Aber warum hat Mama dann gestern so sauer gesagt, sie mag nicht bumsen?«

»Ähhhm, sie mag nicht rummsen, Schatz. Das hat sie gesagt.«

»Was ist das denn?«

»Also, das ist unser Geheimwort für Aufräumen. Wenn man bei Räumen das ä weg macht, ist es Rumsen.« Das s vernachlässigte er.

»Und du kennst das ja. Keiner räumt gerne auf. Du ja auch nicht, oder?«

Lou schüttelte den Kopf.

»Komm, wir nehmen jetzt den ganz großen Baum.«

Er kaufte die 140-Euro-Blautanne.

4

»Georg?«, sprach Masha mit leiser Stimme in den Hörer.

»Ja?«

»Ich möchte ein Kind mit dir bekommen.«

»Okay.«

»Okay, ja?«

»Ja, absolut. Also gerne.«

»Sofort?«

»Okay, sofort. Also so schnell wie biologisch möglich.«

Dass er gleich so wissenschaftlich werden musste, wenn sie ihm eine derart dramatische und wundervolle Mitteilung machte, verstand und mochte sie nicht.

»Ja, natürlich«, sagte sie und lehnte sich an die Wand der Wartehalle.

»Ich komme mit dem nächsten Zug nach Hause, dann fangen wir an.«

»Sehr gerne, mein Schatz.«

 

Masha stand noch lange in der Halle, hoffte, dass der IC um 14:09 Uhr doch noch führe. Irgendwann wäre sie sogar woandershin als nach Hause gefahren, nur weg von hier. Sie war verdammt, in diesem Paradies zu bleiben, bis auf Weiteres, aber mindestens bis zum nächsten Morgen.

5

»Ach du Arme«, sagte Barbara, als sie Ellen sah, »was hast du denn gemacht?«

»Ich habe gar nichts gemacht, das war Hans.«

»Oh.«

»Mit seinem Tennisschläger«, fuhr Ellen fort und schilderte den Unfall sachlich, jedoch keineswegs objektiv, wie Hans fand.

»Aber das hat er ja nicht mit Absicht gemacht. Also …«, sagte Barbara. Ellen hätte wissen müssen, dass seine Mutter ihn in Schutz nehmen würde, egal, was er tat. Selbst wenn er Ellen absichtlich umgehauen hätte, hätte sie dafür eine Erklärung gefunden.

»Nein, er war sich ja sicher, ich wäre ein Einbrecher.«

»Also, da verstehe ich wirklich, dass er das dann macht, da kann er nichts dafür, Ellen. Oder, Alexander?«

Alexander nickte, wirkte aber nicht ganz überzeugt von der Unschuld seines Sohnes, was Hans ebenso wenig überraschte. Für einen Moment beruhigt ob des Verlaufes des Gespräches begab er sich Richtung Weinflasche. Wenn seine Eltern zu Besuch waren, war das Öffnen einer solchen auch schon am frühen Nachmittag erlaubt. »Er hätte allerdings noch eine Sekunde warten können, dann hätte er gesehen, dass ich kein Einbrecher bin«, fügte Ellen noch hinzu. »Aber leider hat er ja mal wieder zu tief ins Glas geguckt.«

Hans hielt auf dem Weg zum Korkenzieher inne.

»Ja, aber wenn man Angst hat, Ellen …«, sagte Barbara.

 

Alexander sprach kein Wort, er war übellaunig, weil Masha noch nicht da war. Außerdem wäre er sowieso viel lieber zu Hause gewesen als hier.

Er verstand nicht, warum moderne Häuser immer so ungemütlich sein mussten. Da konnte ja auch keine Weihnachtsstimmung aufkommen. Er vermutete, dass dieser Minimalismus selbst seinem Sohn nicht gefiel, er sein neues Haus aber so gestaltet hatte, weil man das in seinen Kreisen so tat. Man traute sich ja kaum, sein Glas auf den Tisch zu stellen, und wenn man aufs Klo ging, musste man sich sorgen, ob man nicht einen Knopf drückte, der irgendeine technologische Kettenreaktion in Gang setzte. Wobei drücken das falsche Wort war, fast alles in diesem Haus bediente man mit zartem Streichen oder leichtem Antippen. Wahrscheinlich hatten sie auch Geräte, die losgingen, wenn man sie ansah, dachte Alexander.

 

»Das wird schon gut heilen«, sagte Barbara.

»Ja, hoffentlich bleibt keine große Narbe«, meinte Ellen.

»Sonst lässt du dir einen Pony wachsen«, entgegnete Barbara, woraufhin Ellen ihr mitteilte, dass das zwar eine wahnsinnig gute Idee sei, ihr ein Pony aber nicht stünde.

Ellen konnte einfach nicht nett sein, dachte Barbara. Aus ihrem Mund klang selbst ein Wort wie »Idee« scharf. Ellen könnte einen auch herabsetzen, wenn sie nur »und, damit, für, neu, grün« sagen würde. Barbara verstand nicht, dass ihr Sohn das nicht sah. Der schenkte sich gerade sein zweites Glas Wein ein, um 16 Uhr. Vielleicht war das sein Rezept gegen den nadelspitzen Klang seiner Frau.

 

Barbara zog sich mit Lou ins Kinderzimmer zurück. Sie war eine fantastische Spielgefährtin, sie langweilte sich nicht, wenn ihre Schlümpfe Sätze sagen mussten, die ihre Enkel vorgaben, oder sie stundenlang Puppen mit Luft fütterte und durchs Zimmer schaukelte. Mit ihren eigenen Kindern hatte sie das auch gemacht. Sie war als Mutter immer auch eine Freundin gewesen, und sie erinnerte sich gerne an die Nachmittage, die sie mit Hans und Masha in deren Zimmer verbracht hatte.

 

Hans half Ellen beim Zubereiten der Gans und der Knödel, schnitt jedoch den Knoblauch zu klein und die Zwiebeln zu groß, salzte falsch, knetete schlecht und stand im Weg, weshalb ihn Ellen schließlich der Küche verwies, woraufhin Barbara übernahm, die wiederum untalentiert im Assistieren war. Sie war die eigentliche Köchin, sie besaß Jahrzehnte mehr an Erfahrung, weshalb sie Ellen bei jedem zweiten Handgriff erklärte, wie man ihn optimieren könne. Hans nahm die Stimmung in der offenen Küche vom Sofa aus wahr und lotste seine Mutter schließlich weg. Das wiederum gefiel Ellen auch nicht, jetzt musste sie allein die ganze Arbeit machen.

 

Masha war immer noch nicht eingetroffen und Alexander in Sorge, wie immer, wenn einer von ihnen reiste. Egal wohin.

Überall könne etwas passieren, sogar im Haushalt, meinte er. Man brauche sich ja bloß Ellen anzusehen. Alexander hatte wirklich Humor. Sogar Ellen lachte. Nachdem das Lachen vorbei war, sorgte sich Alexander wieder.

 

Die Kinder quengelten, sie waren zeitlich stark in Verzug und Ellen bestand darauf, die Bescherung erst nach dem Essen zu machen.

»Lass sie doch wenigstens schon mal ein, zwei Sachen aufmachen, Ellen« sagte Barbara.

»Nein, wir essen erst.«

»Ach komm, die Armen.«

»Also so arm sind die ja wohl auch nicht dran, wenn sie erst einen leckeren Braten essen müssen, bevor sie ihre dreihundert Geschenke aufmachen. Wenn die einmal anfangen mit Geschenken, wollen die nicht mehr aufhören. Dann werden wir niemals essen, glaub mir einfach.«

»Ja, gut. Wie du meinst, Ellen. Du wirst es wissen.«

 

Als sie endlich, mit zwei Stunden Verspätung, die elektrischen Kerzen des Baumes anschalteten und die Kinder auf die Geschenkeberge zurannten, legte sich ein Ausdruck der Melancholie auf die Gesichter der Großeltern. Sie erinnerten sich an die Weihnachten mit ihren noch kleinen Kindern, die so viel schöner gewesen waren als dieser Moment, in dem sie noch nicht einmal vollzählig waren, vor diesem immensen Weihnachtsbaum, der in drei aufeinander abgestimmten Farben zurückhaltend geschmückt war.

6

»Jahrhundert-Blitzeis« prangte es auf dem Flatscreen ihres Ibis-Jena-City-Zimmers.

Sobald eine Sache die Norm überschritt, wurde ihr ein »Jahrhundert« vorangestellt. Jahrhundert-Hochwasser, Jahrhundert-Sturm, Jahrhundert-Temperaturen, Jahrhundert-Scheiß-Weihnachten. Nicht dass sie sich so sehr nach dem Fest mit ihrer Familie gesehnt hätte, aber ideal war das hier nicht.

Allerdings hatte es den Vorteil, dass sie sich nicht mehr wie ein Kind fühlte. Kinder buchen keine Hotelzimmer mit Kreditkarten und trinken sich an Heiligabend durch die Minibar.

Eigentlich war es auch schön, ganz in Ruhe so zu tun, als wäre nicht Weihnachten.

Sie fragte an der Rezeption nach einem weiteren Piccolo, legte sich wieder auf die raue Tagesdecke des Kingsize-Bettes und rief noch einmal Georg an, dem gerade ein Alkoholiker mit Varizenblutung weggestorben war. Das war zwar nichts Ungewöhnliches, aber an Weihnachten wirklich unschön. Masha meinte, dass ein Alkoholtod doch gerade an diesem Tag auf der Hand läge. Seine Leber, meinte Georg, hätte schon viele Weihnachten mitgemacht. Es sollte einfach nicht an Heiligabend gestorben werden.

»Es sollte nie gestorben werden«, sagte Masha.

 

Durch die Programme am lautlos gestellten Fernseher zappend, wählte sie Hans’ Nummer, wünschte allen frohe Weihnachten und sprach mit ihrem Vater.

»Ja, der Zug ist einfach stehen geblieben. Tut mir so leid, Papa.« Sie nahm noch mal einen Schluck Rotkäppchen.

»Es ist langweilig ohne dich, Masha«, sagte ihr Vater. Masha aber war mehr auf das Zappen als auf seine Stimme konzentriert, verstand nur jeden zweiten Satz: »Ja, hmh«, antwortete sie.

»Die Gans war trocken«, flüsterte er.

»Echt?«

»Ja, leider muss man das so sagen, aber behalt’s für dich.«

»Hm.«

»Hast du schon was gegessen?«

»Ja, ja. Hm.«

»Was denn?«

»Wie bitte?«

»Was du gegessen hast.«

»Einen Burger.«

»Der war wahrscheinlich saftiger als Ellens Gans.«

»Ja.«

»Es ist wirklich so schade, dass du nicht da bist. Es macht gar keinen Spaß ohne dich. Jetzt wollen sie noch nicht mal was spielen.«

»Ja, hm, verstehe, blöd.«

»Ja, blöd gelaufen.«

»Ich hab dich lieb, Papa.«

»Die haben jetzt einen Induktionsherd, vielleicht ist das deshalb mit der Gans schiefgegangen.«

»Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht da bin, aber was soll man machen, wenn der Zug einfach nicht mehr weiterfährt?«

Masha hatte einmal gelesen, jeder Mensch lüge im Schnitt zweihundertmal am Tag, wobei in dem Artikel auch gestanden hatte, keiner wisse, woher diese Zahl komme, und es sei durchaus möglich, dass sie selbst eine Lüge sei. Masha war sich sicher, dass sie keine zweihundert Lügen am Tag erfand, so viel sprach sie ja nicht mal. Die beruflichen Lügen zählten ihrer Meinung nach nicht, sie gehörten in die Kategorie der Lügen, die selbst in katholischer Hinsicht nicht als unlauter eingestuft werden durften. Und es war ja nun auch nicht so, dass man irgendjemandem damit schadete, wenn man sich ein paar Jahre jünger machte oder einige nicht stattgefundene Theaterengagements in seinen Lebenslauf schleuste, um die ein oder andere Lücke zu füllen. Es war ja auch nicht ihre Schuld, dass es da ein paar Lücken gab. Und jetzt, dachte sie, log sie sich selbst an, aber das zählte nun wirklich nicht. Es war nämlich nicht so, dass es da ein paar Lücken gab. Ihr Lebenslauf war, was die letzten zehn Jahre betraf, eher ein mit ein paar Flecken gesprenkeltes weißes Blatt.

Masha öffnete eine Cola, mischte sie mit einem Mini-Rum und spürte plötzlich, dass sie ihre Familie vermisste. Sie öffnete ihren Koffer und holte das Geschenk für ihre Nichte heraus, das sie so schön verpackt hatte. Sie liebte ihre Nichte. Mehr als ihren Neffen, der sein Temperament von Hans geerbt hatte und ein mit Vorsicht zu genießendes Kind war. Zwar war er ein lustiges Kerlchen, aber er konnte jederzeit hochgehen wie eine Tretmine. Auf Lou hingegen konnte man sich verlassen, schon als Kleinkind war sie liebenswert und neugierig gewesen und hatte sich bereits mit vier Jahren ab und an für die Bedürfnisse anderer Menschen interessiert, was für ein Kind doch sehr ungewöhnlich war. Wie vieles an Lou. Mit fünf hatte sie zum Schrecken ihrer Eltern damit begonnen, sich intensiv für ihre Vagina zu interessieren, und das Masturbieren für sich entdeckt. Es half ihr, sich zu entspannen. Hans und Ellen hatten diverse Ärzte konsultiert und schließlich deren Rat befolgt, das Kind machen zu lassen, sie lediglich davon abzuhalten, es vor anderen zu tun. Masha fühlte sich mit Lou auch deshalb sehr verbunden, denn auch sie hatte früh damit angefangen, ihren Körper zu erkunden. Allerdings hatte es sich in ihrer Kindheit und Jugend immer verboten angefühlt. Da war diese katholische Moral in ihrer Familie, die stets über allem thronte, auch wenn sie nicht oft betont wurde. Wobei ihr Vater weniger katholisch als verklemmt war, dachte sie heute.

Auch jetzt hatte Masha nach dem Sex noch manchmal das Gefühl, etwas Unanständiges getan zu haben. Sie war froh, dass ihrer Nichte dies erspart bliebe, und stolz auf ihren Bruder und Ellen, dass sie damit so umgingen.

 

Masha rauchte aus dem Fenster auf den Parkplatz hinaus, auf dem drei eisüberzogene Autos standen, die so aussahen, als würden sie für immer so bleiben. Vielleicht, dachte sie, würde sie jetzt auch für immer hierbleiben. Sie war einfach eingefroren, weil sie sich ohnehin nicht bewegt hatte in den letzten Jahren. Sie hielt inne, spielte ein Freeze-Frame und entschied, dass das nicht der richtige Ort zum Einfrieren war.

7

Nachdem Lou die Barbiepuppen aus dem Geschenkpapier gewickelt hatte, bat Ellen Barbara, diese in den Laden zurückzubringen.

»Du musst nicht traurig sein, mein Schatz, guck mal, wie viele Geschenke da noch liegen.« Barbara verstand den Seitenhieb, Ellen merkte jedes Jahr an, dass sie den Kindern zu viel schenkte. Was Barbara allerdings überhaupt nicht verstand, war Ellens Problem mit langbeinigen, hübschen Puppen. Sie sah doch selbst so aus.

Barbara hatte schon oft vermutet, Ellen würde Geschenke von ihr verschwinden lassen, zumindest sah sie das meiste, was sie Lou schenkte, beim nächsten Besuch nicht wieder. Und sie hätte es doch an Heiligabend genauso machen können. Sie hätte doch nicht unbedingt etwas sagen müssen.

Und so zeigte Barbara auch keine überschwängliche Freude, als Ellen ihr das Hammam-Seifen-Set überreichte, passend zu ihrem bevorstehenden Wellnesshotel-Urlaub, den Hans und Ellen ihnen als Rentenantritts- und Weihnachtsgeschenk bereits vor Längerem in Form eines Gutscheines geschickt hatten.

 

Der Heiligabend kam trotz einer Menge Champagner und Wein, den Barbara und Alexander in sich schütteten, als könnten sie sich damit eine andere Schwiegertochter ertrinken, nicht in Schwung.

Barbara und Alexander schlugen vor, zur Mitternachtsmette zu gehen, das würde sie in Weihnachtsstimmung bringen. Und Barbara fühlte sich Jesus oder vielleicht auch der Kirche verpflichtet. So genau konnte sie das nicht auseinanderhalten.

Da Hans zu viel getrunken hatte und Ellen eine so überzeugte Atheistin war, dass sie eine Kirche noch nicht einmal betreten hätte, wenn sie dort Schutz vor einem Bombenangriff gefunden hätte, wie sie sagte, boten sie den beiden an, ein Taxi zu rufen.

»Das ist uns zu teuer«, sagte Alexander sofort.

»Das zahlen wir gerne«, erwiderte Ellen.

Aber das wollten Barbara und Alexander wiederum auf gar keinen Fall. Schon aus Protest nicht.

»Na, dann geht doch morgen in die Kirche. Wir setzen euch ab, wenn wir zu Florian und Sophie zum Brunch fahren, oder?«, schlug Ellen vor.

»Nein ist gut, dann gehen wir dieses Jahr halt nicht in die Kirche, oder, Alexander?«

8

Sie sah von Weitem, wie Georg den Bahnsteig entlang auf sie zulief und sie dabei anlächelte. Es war ein »Wir vögeln uns die Birne raus, weil ich dich jetzt schwängern kann«-Lächeln und es fiel ihr schwer, dieses zu erwidern. Sie fühlte sich, als müsste sie bereits gebären, eine Horde Kinder großziehen und Handtücher bügeln, so wie ihre Mutter. Ihr Herz schlug laut und schnell.

Georg drückte sie fest, küsste sie auf den Mund und setzte zu einem Zungenkuss an, dem sie auswich. Sie sah ihm in die Augen, senkte dann ihren Blick auf die Höhe seiner Nase und bemerkte, dass seine Haut grobporiger geworden war. Sie verlagerte die Blickrichtung noch einmal. Die Schultern seines dunkelblauen Pullovers waren mit eierschalenfarbenen Schuppen bestäubt. Masha wusste nicht, ob das neu oder ihr nur nie aufgefallen war.

Der ist es also, dachte sie. Der ist mein Mann, wie mein Vater es für meine Mutter ist. Georg ist mein Alexander.

 

Am Abend wollte sie sich in seine Achselhöhle legen, den besten und sichersten Ort der Welt. Für Sex, sagte sie ihm, war sie zu erschöpft und ihr Rotkäppchen-Kopf zu penetrant. Außerdem war sie am Anfang des Zyklus, sie würden also nichts verpassen.

Georg hatte diese perfekten, leicht fleischigen Achselhöhlen, und sie hatte sich schon manches Mal gefragt, ob sie sich vor allem deretwegen in ihn verliebt hatte. Der Sex war mit den Jahren weniger geworden, aber sie hatte ja noch seine Achselhöhlen.

An diesem 25. Dezember aber fand sie nicht die richtige Position. Sie drehte ihren Kopf hin und her, doch irgendetwas stimmte nicht. Entweder es war hart am Hinterkopf, ihr Nacken spannte, oder es drückte auf der Wange. Zehn Jahre lang hatte ihr Kopf in diese Achselhöhle hineingepasst und auf einmal ging es nicht mehr.

Sie drehte sich auf den Bauch und kroch mit ihrem Gesicht hinein, gab den weichen Haaren einen Kuss und bemerkte einen unangenehmen Geruch. Er war nicht ganz neu, aber da war eine scharfe Note, die ihr nicht bekam. Körper ändern sich, dachte sie. Alte Menschen riechen alt, auch wenn sie genauso viel duschen wie junge Menschen. Sie dachte an ihre Großmütter, an deren Geruch nach schlabbriger Haut, Oil of Olaz und Brühwürfel, den sie sofort wieder in der Nase hatte.

»Hast du ein neues Deo?«, fragte sie.

Georg verneinte.

Sie änderte die Position ihres Kopfes mehrfach, probierte die andere Achselhöhle, aber es blieb falsch.

»Masha, das nervt langsam. Kannst du mal aufhören, so rumzuturnen.«

Sie tauchte auf, sah ihn an und legte sich neben ihn.

»Alles klar?«, fragte er.

»Ja, alles klar. Bei dir?«

»Ja.«

Aber da war nichts mehr klar. Sie hatte soeben ihre Höhle verloren und fragte sich, was als Nächstes kommen würde.

9

Barbara sah auf Ellens Stirn und dachte, dass es ihr recht geschähe. Ellen dachte, sie könnte sich ja auch scheiden lassen, weil ihr Mann nicht nur bisweilen ein Idiot war, sondern auch noch diese Eltern hatte. Alexander dachte, dass alle außer ihm emotional instabil waren, an Weihnachten immer ganz besonders, und Hans grübelte, warum er seine Mutter zwar liebte, es aber dennoch nicht mochte, wenn sie zu Besuch kam.

 

Unter dem Vorwand, den Tennisschlägervorfall aufarbeiten zu müssen, lotste Hans seine Frau aus dem Haus, in dem er es nicht mehr aushielt, weil alles klang, als hätte man Filz daraufgelegt. Das Brausen hatte wieder begonnen, er musste ihm davonlaufen. Er hätte nicht gedacht, dass Ellen ihr Dinner für ein Beziehungsgespräch nutzen würde.

»Ich liebe dich, Hans«, sagte sie.

»Schön.« Hans lächelte.

»Aber das geht so nicht mehr.«

»Was geht so nicht mehr?«

»Muss ich dir das jetzt wirklich erklären?«

»Ja, also … ja bitte.«

»Ach komm, Hans.«

»Doch, erklär es mir bitte.«

»Du trinkst zu viel, du hast diesen Fahrradfahrer umgehauen, weil er auf deine Motorhaube geklopft hat, du …«

»Er hat drauf geschlagen. Mehrfach.«

»Du machst Stifte kaputt …«

»Wieso mache ich Stifte kaputt?«

Woher wusste sie das?

»Weiter?«, fragte sie.

Er nickte. Sie schien ja unbedingt fortfahren zu wollen.

»Du haust mich mit Sportgeräten krankenhausreif.«

»Singular, das war EIN Tennisschläger.«

»Ja, mit EINEM Tennisschläger. Und du bist dauernervös. Ich kann dich manchmal gar nicht mehr ansehen, weil ich dann selbst ganz verrückt werde.«

Hans nickte und dachte über sich nach.

»Okay …«

Ellen sah ihn herausfordernd an, verstand offensichtlich nicht, dass er sich so kurz fasste, aber was wollte sie von ihm?

»Hans, du musst dich ändern.«

»Du hast doch immer gesagt, Menschen ändern sich nicht.«

»Ich meine auch nicht als Mensch an sich. Diese Aggressionen, das Trinken dauernd, das bist doch gar nicht du. Diesen Typen hab ich doch nicht geheiratet.«

»Ich mag ihn auch nicht.«

Die beiden lächelten sich wehmütig an.

»Tu bitte was«, sagte Ellen in einem liebevollen Ton, wie er ihn schon lange nicht mehr gehört hatte.

»Warum ist das so?«, fragte sie.

»Ich habe keine Ahnung. Wegen der Arbeit vielleicht oder des Rauchens.«

»Dann rauch doch wieder.«

»Mach ich doch immer wieder, aber es nutzt auch nicht mehr wirklich was.«

Sie sahen sich lange in die Augen. Hans meinte, darin seit einer Ewigkeit mal wieder so etwas wie Mitgefühl zu sehen. Doch blitzartig, als hätte jemand einen Knopf an Ellen gedrückt, änderte sich ihr Ausdruck: »Entweder du machst eine Therapie oder ich lasse mich scheiden und nehme die Kinder mit.«

 

Als sie zurückkamen, fanden sie ihre schlafenden Kinder zwischen den Großeltern vor dem brüllenden Fernseher vor, wo sie, laut Barbara, seit höchstens drei oder vier Stunden verweilten.

»Aber Lou wollte das unbedingt, und du weißt doch, wie sie ist, wenn sie was will. Wir konnten nichts machen, sie hat sofort geschrien, wenn wir den Fernseher ausmachen wollten. Das ist nicht unsere Schuld. Eure Tochter ist einfach süchtig nach Fernsehen.«

»Barbara, das ist ein Kind! Kinder wollen immer fernsehen!«, entfuhr es Ellen. »Und sie darf das nicht und Leo schon gar nicht, er ist fünf. Fünfjährige sollen überhaupt nicht fernsehen, das ist wissenschaftlich erwiesen!«

»Aber Lou ist fernsehsüchtig, das ist nicht normal. Die brüllt mich an, wenn ich sage, ich schalte aus. Und ich kann ja nicht sie gucken lassen und den Kleinen nicht!«

»Jedes Kind ist süchtig nach Fernsehen. Du bist die Erwachsene!«

»Aber die dreht doch dann durch. Ich bekomme richtiggehend Angst vor ihr.«

»Mama, Lou ist sieben!«, sagte Hans, der zum ersten Mal an diesen Weihnachtstagen auf Ellens Seite war.

»Ja, ich weiß. Warum sagst du das?«

»Sie ist ein Kind!«

»Ja, aber sie ist sehr stur und kann sehr böse werden, und das ist nicht meine Schuld.«

Hans schüttelte den Kopf. Ellen und er sahen sich mit einem kurzen Blick des Einverständnisses an.

Alexander empfand die Situation in erster Linie als störend, er hätte gerne weiter in Ruhe ferngesehen.

»Diese Frau hat mir den Sohn genommen«, dachte hingegen Barbara. Sie wäre jetzt gerne bei ihrer Tochter, auch wenn Masha manchmal eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer Schwiegertochter aufwies.

 

Im Morgengrauen schlich Alexander durch den noch stillen Bungalow, sah sich um, entdeckte ein Glas voller Kleingeld und steckte die 50-Cent-Stücke ein. Weil es so einfach und erfreulich war, sammelte er noch diverse andere Kleinigkeiten wie Feuerzeuge, Fotos und Lebensmittel ein, deren Abwesenheit niemandem auffallen würde.

Er ging noch einmal zum Kleingeldglas zurück und nahm eine Hand voll 20-Cent-Stücke heraus, verstaute schließlich alles in seinem Koffer, setzte sich auf die Couch, nahm die Zeitung vom dreiundzwanzigsten Dezember und wartete, bis sie endlich abreisen konnten aus diesem komischen Haus.

10