Risiko & Recht 01/2024 - Alexandra Ott Müller - kostenlos E-Book

Risiko & Recht 01/2024 E-Book

Alexandra Ott Müller

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Beschreibung

Risiko & Recht macht es sich zur Aufgabe, Rechtsfragen der modernen Risikogesellschaft zu analysieren. Berücksichtigung finden Entwicklungen in verschiedensten Gebieten, von denen Sicherheitsrisiken für Private, die öffentliche Ordnung, staatliche Einrichtungen und kritische Infrastrukturen ausgehen. Zu neuartigen Risiken führt zuvorderst der digitale Transformationsprozess und der damit verbundene Einsatz künstlicher Intelligenz; des Weiteren hat die Covid-Pandemie Risikopotentiale im Gesundheitssektor verdeutlicht und auch der Klimawandel zwingt zu umfassenderen Risikoüberlegungen; schliesslich geben gesellschaftliche Entwicklungen, u.a. Subkulturenbildung mit Gewaltpotential, Anlass zu rechtlichen Überlegungen. Risiko und Recht greift das breite und stets im Wandel befindliche Spektrum neuartiger Risikosituationen auf und beleuchtet mit Expertenbeiträgen die rechtlichen Herausforderungen unserer Zeit.

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Risiko & Recht macht es sich zur Aufgabe, Rechtsfragen der modernen Risikogesellschaft zu analysieren. Berücksichtigung finden Entwicklungen in verschiedensten Gebieten, von denen Sicherheitsrisiken für Private, die öffentliche Ordnung, staatliche Einrichtungen und kritische Infrastrukturen ausgehen. Zu neuartigen Risiken führt zuvorderst der digitale Transformationsprozess und der damit verbundene Einsatz künstlicher Intelligenz; des Weiteren hat die Covid-Pandemie Risikopotentiale im Gesundheitssektor verdeutlicht und auch der Klimawandel zwingt zu umfassenderen Risikoüberlegungen; schliesslich geben gesellschaftliche Entwicklungen, u.a. Subkulturenbildung mit Gewaltpotential, Anlass zu rechtlichen Überlegungen. Risiko und Recht greift das breite und stets im Wandel befindliche Spektrum neuartiger Risikosituationen auf und beleuchtet mit Expertenbeiträgen die rechtlichen Herausforderungen unserer Zeit.  

1

Risiko & Recht Ausgabe 01 / 2024

Editorial

Grundlagen

Kinder und Jugendliche im Umfeld von Gewalt – Aufgaben und Möglichkeit der Jugendstrafrechtspflege[Alexandra Ott Müller / Sven Zimmerlin]

Polizei & Militär

Staatshaftung im Rahmen der Erfüllung sicherheitspolizeilicher Aufgaben durch Private[Andrea Selle]

Technik & Infrastruktur

Rechtmässigkeit von Open Source-Ermittlungen durch Strafverfolgungsbehörden[Monika Simmler / Giulia Canova]

Tagungs- bericht

7. Fachtagung Bedrohungsmanagement – Reflexion zum Stand der Entwicklungen beim Bedrohungsmanagement[Amos Haag / Vivian Stein / Jonathan Zeller]

Editorial

Sehr geehrte Leserinnen und Leser

Risiko & Recht beginnt das Jahr 2024 mit einem breiten Spektrum aktueller Themen zu Fragen der Risikogesellschaft. Eröffnet wird die Ausgabe von Alexandra Ott Müller und Sven Zimmerlin mit einer Analyse der Aufgaben und Möglichkeiten der Jugendstrafrechtspflege. Die Ausführungen gehen von statistischen Erkenntnissen zur Jugendkriminalität aus und zeigen die umfangreichen Möglichkeiten der Jugendstrafrechtspflege im Umgang mit Kindern und Jugendlichen im Umfeld von Gewalt auf, und zwar mit Fokus auf den Kanton Zürich. Praxisbeispiele veranschaulichen den stark spezialpräventiven und interdisziplinären Charakter des Jugendstrafrechts sowie das Zusammenwirken der Jugendanwaltschaften mit den Jugenddiensten der Polizeikorps, der Jugendforensik und den Zivilbehörden zur Bewältigung dieses Phänomens.

Andrea Selle befasst sich nachfolgend mit der Erfüllung sicherheitspolizeilicher Aufgaben durch Private. Der Beitrag setzt sich mit dem Vorgang einer solchen Privatisierung auseinander und analysiert die in diesem Zusammenhang vorgesehenen Staatshaftungsmodelle, und zwar mit Blick auf die Rechtsstellung der geschädigten Person und den schadensgeneigten Bereich, in dem private Sicherheitsunternehmen für den Staat tätig werden.

Monika Simmler und Giulia Canova thematisieren in ihrem Aufsatz die Nutzung öffentlich zugänglicher Informationen durch Strafverfolgungsbehörden. Die Bearbeitung von Personendaten im Rahmen von sog. „Open Source Intelligence“ (OSINT) berührt Art. 13 Abs. 2 BV; hierdurch werden strafprozessuale Fragen aufgeworfen. Bei der Beurteilung der Invasivität von OSINT-Massnahmen sind ihr Zweck, die Art der bearbeiteten Daten und zu überwindende technische Hürden zu bedenken. Die Auseinandersetzung mit den strafprozess-, verfassungs- und konventionsrechtlichen Grundlagen zeigt nach Auffassung der Autorinnen, dass das geltende Recht nur minimalinvasive Open Source-Recherchen, nicht jedoch eingriffsintensivere Massnahmen abdeckt. Eine explizite innerstaatliche Regulierung wäre in Anbetracht der Praxisrelevanz dieser Ermittlungsmethode angezeigt.

Die vorliegende Ausgabe schliesst mit einem Bericht über die Fachtagung Bedrohungsmanagement vom 2. November 2023, in deren Rahmen neue Ansätze der Prävention von Gewalt, Best Practices und Erkenntnisse aus der Wissenschaft thematisiert wurden.

Wir wünschen Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre und erlauben uns noch auf die Möglichkeit eines Print-Abonnements hinzuweisen.

Tilmann Altwicker Goran Seferovic Franziska Sprecher Stefan Vogel Sven Zimmerlin

Grundlagen

Kinder und Jugendliche im Umfeld von Gewalt – Aufgaben und Möglichkeit der Jugendstrafrechtspflege

Alexandra Ott Müller und Sven Zimmerlin

Derselbe Beitrag erscheint auch im Tagungsband zur Fachtagung Bedrohungsmanagement – Reflexion zum Stand der Entwicklungen beim Bedrohungsmanagement, Zürich 2024 (erscheint demnächst).
Sven Zimmerlin ist ehem. Oberjugendanwalt des Kantons Zürich, ehem. Hauptabteilungsleiter Ermittlungen und Mitglied der Geschäftsleitung der Stadtpolizei Winterthur und Polizeibeamter BBT. Seit 2015 ist er als Lehrbeauftragter für Strafrecht und Strafprozessrecht an der UZH tätig. Ab Sommer 2024 wird er zudem als Dozent für Strafrecht und Strafprozessrecht an der ZHAW beschäftigt sein. Er hat an der UZH studiert und promoviert sowie einen Executive Master Law & Management an der HSG erworben. Lic. iur. Alexandra Ott Müller ist Leitende Jugendanwältin der Jugendanwaltschaft Winterthur. Seit dem Jahr 2010 ist sie in der Jugendstrafrechtspflege des Kantons Zürich tätig. Zuvor arbeitete Alexandra Ott Müller ab dem Jahr 1995 in der Erwachsenenstrafverfolgung in den Kantonen Schaffhausen und Thurgau als Untersuchungsrichterin. Sie ist ehem. Dozentin Opferhilfegesetz an der Polizeischule Ostschweiz.

Der Beitrag analysiert die Aufgaben und Möglichkeiten der Jugendstrafrechtspflege. Ausgehend von statistischen Ausführungen zur Jugendkriminalität im Allgemeinen und zur Jugendgewalt im Besonderen skizzieren die Autoren die Kernelemente des Jugendstrafrechts und -strafverfahrens, um diese hernach auf die Gewaltdelinquenz und das Bedrohungsmanagement bei jugendlichen Tätern, Opfern und Gefährdern anzuwenden. Nachfolgend werden die umfangreichen Möglichkeiten der Jugendstrafrechtspflege im Umgang mit Kindern und Jugendlichen im Umfeld von Gewalt aufgezeigt, und zwar mit Fokus auf den Kanton Zürich. Zwei Praxisbeispiele veranschaulichen den stark spezialpräventiven und interdisziplinären Charakter des Jugendstrafrechts sowie das Zusammenwirken der Jugendanwaltschaften mit den Jugenddiensten der Polizeikorps, der Jugendforensik und den Zivilbehörden zur Bewältigung dieses Phänomens.

Inhalt
EinleitungStatistiken zur Jugendkriminalität im HellfeldJugendurteile in der Schweiz 2022Erhebungen im Kanton Zürich 2022Daten der JugendstrafrechtspflegePolizeiliche KriminalstatistikUntersuchungen zum DunkelfeldStudie „Entwicklung von Gewalterfahrungen Jugendlicher im Kanton Zürich 1999–2021“Studie „International Self-Report Delinquency“Jugendgewalt im BesonderenGenerelle EntwicklungTäter- und TatmerkmaleReaktion der JugendanwaltschaftenGrundzüge des Jugendstraf- und -prozessrechtsJugendstrafrechtSchutzmassnahmenStrafenZusammentreffen von Schutzmassnahmen und StrafenJugendstrafverfahrenÖrtliche und sachliche ZuständigkeitJugendspezifische Besonderheiten des StrafverfahrensVorsorgliche Anordnung von Schutzmassnahmen, UntersuchungshaftMediationVollzugAnwendung auf die Gewaltdelinquenz und das BedrohungsmanagementGewaltdelinquenzDie Interprofessionalität in der Fallbearbeitung von JugenddeliktenBedrohungsmanagementFallbeispieleSchlussLiteraturverzeichnis

Einleitung

Wenn von Kindern und Jugendlichen im Umfeld von Gewalt die Rede ist, denkt man in erster Linie an minderjährige Opfer von Missbrauch und Gewalt im häuslichen Umfeld. Tatsächlich sind erschreckend viele Kinder von körperlicher, sexueller, psychischer und emotionaler Gewalt betroffen, wie der in Kürze erscheinende Aufsatz von Beyli und Habermeyer aufzeigen wird.[1]

Soll freilich der Beitrag der Jugendstrafrechtspflege bei der Bewältigung von Gewaltphänomenen thematisiert werden, so steht die Rolle von Jugendlichen als beschuldigte Personen im Vordergrund. Auf sie fokussieren die nachfolgenden Ausführungen.

Statistiken zur Jugendkriminalität im Hellfeld

Jugendurteile in der Schweiz 2022

Im Jahre 2022 wurden in der Schweiz 20797 Jugendliche verurteilt; davon betrafen 8171 Urteile Verstösse gegen das StGB (Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, SR 311.0), 4995 solche gegen das SVG (Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958, SR 741.01), während 2891 Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz (Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe, Betäubungsmittelgesetz vom 3. Oktober 1951, SR 812.121) und 5172 Widerhandlungen gegen das Personenbeförderungsgesetz (Bundesgesetz über die Personenbeförderung vom 20. März 2009, SR 745.1) registriert werden mussten.[2] Delikte gegen Leib und Leben zählte man 1473 (am meisten Einfache Körperverletzungen nach Art. 123 StGB und Tätlichkeiten nach Art. 126 StGB); die Anzahl an Raubstraftaten nach Art. 140 StGB betrug 414, während Straftaten gegen die sexuelle Integrität mit einer Anzahl von 986 (grossmehrheitlich Pornografie nach Art. 197 StGB) zu Buche schlugen.[3]

Die Gesamtbevölkerung in der Schweiz belief sich per Ende 2022 auf ca. 8’718’000 Menschen. Im strafbaren Alter von 10 bis 17 Jahren befanden sich ca. 689’000 Personen.[4]

Erhebungen im Kanton Zürich 2022

Was den Kanton Zürich anbelangt, so betrugen die entsprechenden Zahlen per Ende 2022 für die Gesamtbevölkerung ca. 1’577’000 Menschen. Auch hier machten die Jugendlichen im strafbaren Alter deutlich weniger als einen Zehntel der Bevölkerung aus.

Daten der Jugendstrafrechtspflege

Im Kanton Zürich belief sich die Zahl sämtlicher einer Straftat bei den Jugendanwaltschaften beschuldigten Jugendlichen im Jahr 2022 auf 5994. 884 Jugendliche mit gewöhnlichem Aufenthaltsort im Kanton Zürich wurden wegen einer Gewaltstraftat verzeigt, 209 wegen Raubstraftaten und 334 mit Delikten gegen die sexuelle Integrität.[5]

Sowohl die gesamtschweizerischen als auch die Zürcher Zahlen erhellen, dass eine überwiegende Mehrheit der Jugendlichen nie mit der Jugendstrafrechtspflege in Kontakt kommt. Und von jenen, die es doch einmal so weit bringen, gelingt es den Jugendanwaltschaften erfahrungsgemäss in geschätzten vier Fünfteln der Fälle, dass es beim einmaligen Kontakt bleibt; dieser wiederum beschränkt sich häufig auf schriftliche Verfahren, lassen sich doch gerade Bagatelldelikte – namentlich Übertretungen (Art. 103 StGB) – oft direkt mit Strafbefehl erledigen (zum Strafbefehlsverfahren im Jugendstrafprozess: Art. 32 JStPO; Schweizerische Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009, SR 312.1).

Polizeiliche Kriminalstatistik

Die Anzahl der polizeilich beschuldigten Jugendlichen stieg bis 2021 kontinuierlich an; der Tiefststand war 2016, der Höchststand 2021 zu verzeichnen.[6] Die deutliche Zunahme bei den Delikten gegen die sexuelle Integrität bei Minderjährigen ist auffällig; es handelt sich dabei mehrheitlich um verbotene Pornografie, die oft über Messenger-Apps unter Jugendlichen geteilt wird.[7]

Untersuchungen zum Dunkelfeld

Studie „Entwicklung von Gewalterfahrungen Jugendlicher im Kanton Zürich 1999–2021“

Im Rahmen der Studie „Entwicklung von Gewalterfahrungen Jugendlicher im Kanton Zürich 1999–2021“[8] wurde vor zwei Jahren die Zürcher Jugendbefragung zum vierten Mal seit 1999 durchgeführt. Befragt wurden ungefähr 4500 Jugendliche aus der Regelschule im Kanton Zürich im Alter von 13–19 Jahren zu ihren Erfahrungen als Opfer und Täter von Gewalt.[9]

Die Opfererfahrungen der Jugendlichen nahmen zwischen 2014 (16,3% aller Jugendlichen) und 2021 (23,9% aller Jugendlichen) um fast die Hälfte zu, während sich bei den Tätern die Anteile nicht bedeutend veränderten. Bei Raub und Erpressung gab es eine erhebliche Zunahme, von der insbesondere männliche Jugendliche betroffen waren. Bei den weiblichen Jugendlichen zeigte sich ein massiv stärkerer Anstieg der sexuellen Gewalt. Diese Dunkelfeldentwicklungen decken sich seit 2014 mit den Beobachtungen im Hellfeld.

Dass seit 1999 ein stetig wachsender Anteil von delinquenten Kindern, also von Personen jünger als 13 Jahre, festzustellen ist, bereitet Sorge; desgleichen der Umstand, dass sich bei jenen ca. 10% der Jugendlichen, die insgesamt am stärksten risikobelastet sind, die Gewaltbelastung in demselben Zeitraum mehr als verdoppelt hat. Besonders diese kleine Gruppe von stark risikobelasteten Jugendlichen ist es, welche sich für die Zunahme der Jugendgewalt verantwortlich zeichnet. Sie vereinigt etliche Risikofaktoren in sich, darunter allgemeine Gewaltbefürwortung, Legal Cynicism (Rechtszynismus), schulische Demotivation, Konsum harter Drogen und Mitgliedschaft in gewalttätigen Gruppen.

Auf der Seite der Opfer verlagern sich die Gewalterfahrungen zunehmend in den öffentlichen Raum; sie halten solche Vorkommnisse vermehrt für unmotiviert und zufällig und bringen sie mit einer Gruppenzugehörigkeit in Verbindung. Auch bei Schulmobbing und Cybermobbing stellte die erwähnte Studie eine Zunahme fest.[10]

Studie „International Self-Report Delinquency“

Weitere Erkenntnisse zum Dunkelfeld ergeben sich aus der International Self-Report Delinquency Study (ISRD), für die im Jahre 2021 schweizweit rund 11’000 Jugendliche aus der Regelschule im Alter von 14–15 Jahren befragt wurden.[11] Es handelt sich um eine Befragung zu selbstberichteter Jugendkriminalität und Viktimisierung.

Im Vergleich zur Vorgänger-Studie aus dem Jahre 2013 haben vor zwei Jahren mehr Jugendliche angegeben, dass sie schon einmal ein Gewaltdelikt verübt hätten und in eine Gruppenschlägerei verwickelt gewesen seien. Zugenommen haben auch die schweren Gewaltdelikte wie Körperverletzungen und Raub. Dem entspricht, dass auch der Anteil von Jugendlichen, die Opfer der erfragten Delikte wurden, in den acht Jahren vor der Erhebung zugenommen hat. Und auch diese Studie stellte fest, dass die Zahlen aus dem Dunkelfeld mit jenen im Hellfeld gemäss der Polizeilichen Kriminalstatistik in der Tendenz gut übereinstimmen. Ferner bestätigte sich die aus der Jugenddelinquenzforschung bekannte Erkenntnis, dass der der Prozentsatz der jugendlichen Intensiv- und Mehrfachtäterschaft gering ist: 5% der Jugendlichen waren für 76% aller begangenen Delikte verantwortlich.[12]

Als Risikofaktoren für Jugendkriminalität konnten der Umgang mit delinquenten Gleichaltrigen, die Zugehörigkeit zu einer Bande von jugendlichen Straftätern, ein geringes Mass an Selbstkontrolle, mangelnde Kontrolle und Aufsicht der Eltern, elterliche Gewalt gegen Kinder und Wohnen in problembelasteten Quartieren eruiert werden.[13]

Jugendgewalt im Besonderen

Generelle Entwicklung

Die Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich macht seit längerer Zeit eigene Erhebungen zur Jugendgewalt.[14] Nachdem die bei den Jugendanwaltschaften hängig gewordenen Gewaltdelikte von 2009 bis 2015 zurückgingen, stiegen sie von 2016 bis 2021 wieder an, und zwar bei allen Arten von Gewaltstraf‌taten. Die grösste Zunahme an verzeigten Jugendlichen erfolgte von 2018 bis 2019 mit einem Anstieg von 36%.[15]

Täter- und Tatmerkmale

Das Durchschnittsalter der jugendlichen Gewaltstraftäter zum Tatzeitpunkt nimmt kontinuierlich ab; befand sich dieses im Jahre 2017 noch bei 15.6 Jahren, so lag es fünf Jahre später bereits bei 15.3 Jahren. Die Erhebungen bestätigen auch, dass die Zahl der 13- bis 15-jährigen beschuldigten Jugendlichen in der jüngeren Vergangenheit überdurchschnittlich stark angestiegen ist. Der Anteil dieser Alterskategorie bei den Gewaltdelikten betrug 2021 fast die Hälfte.

Jugendgewalt ist vorwiegend ein männliches Phänomen, wobei die Quote inzwischen bei ca. 90% liegt. Zu mehr als der Hälfte besuchten die Täter eine reguläre Schule. Der Anteil an verbeiständeten Jugendlichen ist seit Jahren überdurchschnittlich. Dasselbe trifft auf den Anteil an Jugendlichen in diesem Deliktsbereich zu, die über gar keine oder aber über eine professionelle Tagesstruktur verfügen. Schliesslich ist zu konstatieren, dass sich die Jugendgewalt meist gegen andere Jugendliche richtet, wobei es bei den über 16-Jährigen auf Täter- wie Opferseite vermehrt eine Vermischung mit jungen Erwachsenen gibt.

Das Verhältnis von Einzel- zu Gruppendelikten ist volatil. Bis vor zwei Jahren nahmen Einzeltaten laufend ab. Letztes Jahr (2022) stiegen sie prozentual wieder auf nicht ganz die Hälfte an. 2022 war ohnehin ein besonderes Jahr; hier gingen entgegen dem langjährigen Trend nicht nur die Gewaltstraftaten zurück, was sich 2023 nicht wiederholt hat, vielmehr verschob sich auch der Zeitpunkt der Deliktbegehung 2022 im Vergleich zum Vorjahr prozentual wieder mehr in den Tag hinein (45,2%). Der Anteil an nächtlichen Vorfällen lag bei einem Fünftel. Und wenngleich der öffentliche Raum weiterhin der primäre Tatort (35,2%) ist, stieg im Jahr 2022 der Anteil an Gewalttaten an Schulen mit 12,2% zum ersten Mal seit vier Jahren wieder an.

Zusammenfassend ist als besorgniserregender Trend festzuhalten, dass die Jugendkriminalität im Allgemeinen und die Jugendgewalt im Besonderen seit dem Tiefpunkt im Jahre 2015 mit Ausnahme eines geringfügigen Rückganges im Jahre 2022 wieder zunimmt.[16] Nicht minder zu denken gibt, dass die Täter immer jünger zu werden scheinen.

Reaktion der Jugendanwaltschaften

Grundzüge des Jugendstraf- und -prozessrechts

Jugendstrafrecht

Wegleitend für die Anwendung des Jugendstrafgesetzes (Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 20. Juni 2003, JStG, SR 311.1) sind der Schutz und die Erziehung des Jugendlichen. Den Lebens- und Familienverhältnissen des Jugendlichen sowie der Entwicklung seiner Persönlichkeit ist besondere Beachtung zu schenken (Art. 2 JStG).

Straftaten von Jugendlichen sind vor dem Hintergrund ihres Reifezustandes und ihrer bisherigen Entwicklung zu sehen. Jugendliche sind in ihren Einstellungen und ihrem Verhalten nicht gefestigt und deshalb für pädagogische und therapeutische Massnahmen erreichbar.[17] Das täterorientierte Jugendstrafrecht unterscheidet sich insoweit stark vom Erwachsenenstrafrecht. Bei der Beurteilung von Jugendlichen gelten insbesondere, wie noch zu zeigen ist, andere Massstäbe hinsichtlich der Sanktionen (Schutzmassnahmen und Strafen), während die unter Strafe stehenden Taten sowohl im Kernstrafecht (StGB) als auch im Nebenstrafrecht (z.B. SVG) beide Täterschaftsgruppen die gleichen sind (Art. 1 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. m JStG).

Weder bei den Strafen noch bei den Massnahmen steht ein staatlicher Vergeltungsgedanke im Vordergrund.[18] Vielmehr gilt es, das möglichst Richtige, will heissen: Passgenaue, zu tun, die Jugendlichen also genau dort abzuholen, wo sie aktuell stehen. Jugendliche sind keine „kleinen“ Erwachsenen; sie sind vulnerabel, auch die delinquenten. Die neurobiologische Entwicklung des Menschen dauert bis zur Mitte seiner 20er-Jahre.[19] Nach 25 Altersjahren nimmt die Neigung zu strafbaren Handlungen kontinuierlich ab.[20]

Schutzmassnahmen

Im Jugendstrafrecht gehen (Schutz-)Massnahmen den Strafen vor (vgl. Art. 10 f. JStG). Alle Massnahmen enden spätestens mit Vollendung des 25. Altersjahres von Gesetzes wegen. Zu einem früheren Zeitpunkt werden Schutzmassnahmen aufgehoben, wenn ihr Zweck erreicht ist oder feststeht, dass sie keine erzieherischen oder therapeutischen Wirkungen mehr entfalten. Es ist jährlich zu prüfen, ob und wann die Massnahme aufgehoben werden kann (Art. 19 Abs. 1 und 2 JStG).

Schutzmassnahmen können nach dem Urteil geändert werden. Auch der Jugendliche und sein gesetzlicher Vertreter dürfen eine solche Änderung beantragen (Art. 18 JStG).

Die Eltern beteiligen sich im Rahmen ihrer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht an den Kosten der Schutzmassnahmen (Art. 45 Abs. 5 JStPO). Für den Vollzug von Schutzmassnahmen gibt es staatliche Massnahmezentren, aber auch private Leistungserbringer (Privatpersonen, sozialpädagogische Einrichtungen etc.; vgl. Art. 16 Abs. 4 und Art. 27 Abs. 6 JStG sowie Art. 28 Abs. 3 und Art. 42 Abs. 2 JStPO).[21]

Das Gesetz nennt die Aufsicht, die persönliche Betreuung, die ambulante Behandlung und die Unterbringung sowie das Tätigkeits-, Rayon- und Kontaktverbot als Schutzmassnahmen (Art. 12 ff. JStG). Ihre Anordnung setzt keine schuldhafte Tatbegehung voraus, wohl aber, dass der Jugendliche einer besonderen erzieherischen Betreuung oder therapeutischen Behandlung bedarf (Art. 10 Abs. 1 JStG).

Obwohl das Gesetz die Kombination von Schutzmassnahmen nur punktuell regelt, ist eine solche mit Blick auf Art. 1 Abs. 2 lit. c JStG i.V.m. Art. 56a Abs. 2 StGB generell zulässig.[22] Sie können also auf die individuellen Bedürfnisse des Jugendlichen zugeschnitten werden. Jenny nennt acht mögliche Arten von denkbaren Kombinationen.[23] Zu beachten ist immerhin, dass die gleichzeitige Anordnung von mehreren Schutzmassnahmen dem Verhältnismässigkeitsprinzip zu entsprechen hat.[24]

Die Massnahme der Aufsicht sieht vor, dass eine Person oder Stelle bestimmt wird, der die Eltern Einblick und Auskunft über ihre Vorkehrungen zur Erziehung oder therapeutischen Behandlung der oder des Jugendlichen geben müssen (Art. 12 Abs. 1 JStG). Die Aufsicht richtet sich somit eher an die Eltern, als an die Jugendlichen. Bei der persönlichen Betreuung erhält der Jugendliche eine geeignete Person zugewiesen, welche die Eltern in ihren Erziehungsaufgaben unterstützt und den Jugendlichen persönlich betreut (Art. 13 Abs. 1 JStG). Im Rahmen einer persönlichen Betreuung kann auch eine sozialpädagogische Begleitung oder eine Tagesstruktur angeordnet werden. Leidet der Jugendliche unter psychischen Störungen, ist er in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt oder ist er von Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängig, so kann eine ambulante Behandlung angeordnet werden (Art. 14 Abs. 1 JStG). Kann die notwendige Erziehung und Behandlung des Jugendlichen nicht anders sichergestellt werden, so wird eine Unterbringung verfügt. Diese erfolgt namentlich bei Privatpersonen oder in Erziehungs- oder Behandlungseinrichtungen, die in der Lage sind, die erforderliche erzieherische oder therapeutische Hilfe zu leisten. Geschlossen erfolgt die Unterbringung, wenn eine solche für den persönlichen Schutz oder für die Behandlung der psychischen Störung des Jugendlichen unumgänglich oder für den Schutz Dritter vor schwer wiegender Gefährdung durch den Jugendlichen notwendig ist (Art. 15 Abs. 1 und 2 JStG).

Strafen

Hat der Jugendliche schuldhaft gehandelt, so wird zusätzlich zu einer Schutzmassnahme oder als einzige Rechtsfolge eine Strafe verhängt (Art. 11 Abs. 1 JStG).[25] Kommt kein Fall der Strafbefreiung in Frage (vgl. den umfangreichen Katalog an Gründen hierfür in Art. 21 JStG), ist der Jugendliche mit einem Verweis, einer Persönlichen Leistung, einer Busse oder einem Freiheitsentzug zu bestrafen, wobei die letzteren beiden Strafen nur für im Tatzeitpunkt über 15-jährige Jugendliche in Frage kommen (vgl. Art. 22 ff. JStG).

Soweit eine unbedingte Strafe nicht notwendig erscheint, um den Jugendlichen von der Begehung weiterer Verbrechen oder Vergehen abzuhalten, ist der Vollzug einer Busse, einer persönlichen Leistung oder eines Freiheitsentzuges von höchstens 30 Monaten ganz oder teilweise aufzuschieben (Art. 35 Abs. 1 JStG). Dem Jugendlichen wird eine Probezeit von mindestens sechs Monaten und höchstens zwei Jahren auferlegt, wobei ihm Weisungen erteilt werden dürfen; diese betreffen insbesondere die Teilnahme an Freizeitveranstaltungen, die Wiedergutmachung des Schadens, den Besuch von Lokalen, das Führen eines Motorfahrzeuges oder die Abstinenz von Stoffen, die das Bewusstsein beeinträchtigen. Die Jugendanwaltschaft bestimmt eine geeignete Person, in der Regel eine bei ihr arbeitenden Sozialarbeiterin, die den Jugendlichen während der Probezeit begleitet und ihr Bericht erstattet (Art. 35 Abs. 2 i.V.m. Art. 29 JStG). Bei Nichtbewährung kann der bedingte Vollzug widerrufen werden; ist trotz Nichtbewährung zu erwarten, dass der Jugendliche keine weiteren Straftaten verüben wird, so ist auf den Widerruf zu verzichten, jedoch kann der Jugendliche verwarnt und die Probezeit um höchstens ein Jahr verlängert werden (Art. 35 Abs. 1 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 und 3 JStG).

Das Gesetz erlaubt verschiedene Kombinationen (Art. 33 JStG) und Umwandlungen (Art. 22 Abs. 2, Art. 23 Abs. 6, Art. 24 Abs. 3 und 5 JStG und Art. 26 JStG) von Strafen. Jenny zählt in seiner Abhandlung insgesamt 32 mögliche Arten der Bestrafung auf.[26]

Weil Jugendliche ein anderes Zeitgefühl haben als Erwachsene, diese also Monate und Jahre deutlich länger empfinden als jene, kennt das Gesetz für die Strafen sehr kurze Verjährungsfristen (vgl. Art. 36 f. JStG). Die Verfolgungsverjährung auch für sehr schwere Straftaten dauert fünf Jahre (Art. 36 Abs. 1 lit. a JStG), die Vollstreckungsverjährung auch für die schärfste Sanktion vier Jahre (Art. 37 Abs. 1 lit. a JStG).[27] Der Vollzug jeder nach dem Jugendstrafgesetz ausgesprochenen Strafe endet spätestens, wenn der verurteilte Jugendliche das 25. Altersjahr vollendet (Art. 37 Abs. 2 JStG).

Der Verweis bedeutet eine förmliche Missbilligung der Tat (Art. 22 Abs. 1 JStG) und ist vergleichbar mit einer gelben Karte im Fussballspiel.[28]