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Ritual E-Book

Douglas Preston

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Beschreibung

»Stellen Sie sich vor, Sie haben sich in einer Höhle verirrt. Es ist dunkel und kalt. Die Taschenlampe haben Sie verloren. Sie müssen raus hier, egal wie, und tasten sich am Boden entlang, als Ihre Hand plötzlich etwas Warmes findet. Vor Schreck weichen Sie zurück – um gleich noch einmal zu fühlen, was es sein könnte ... « In einer Kleinstadt geschehen grausame Morde. Sie erinnern an Indianermythen und ein historisches Massaker. Viele glauben, dass die Geister der Toten zurückgekehrt sind, um Rache zu nehmen. Special Agent Pendergast verfolgt eher irdische Spuren: die Gen-Experimente an Mais, mit deren Hilfe die Stadt zu neuer Blüte kommen soll, scheinen außer Kontrolle geraten zu sein. Oder steckt doch noch etwas ganz anderes dahinter? Ritual von Lincoln Child, Douglas Preston: Spannung pur im eBook!

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Douglas Preston / Lincoln Child

Ritual

Höhle des Schreckens Roman

Aus dem Amerikanischen von Klaus Fröba

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Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. KapitelEpilogDankLeseprobe Demon
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Lincoln Child widmet dieses Buch seiner Tochter Veronica.

 

Douglas Preston widmet es Mario Spezi.

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1

Medicine Creek, Kansas, Anfang August, die Stunde des Sonnenuntergangs.

Von Horizont zu Horizont erstreckt sich das wogende gelbe Meer der Maisfelder, der Himmel sieht aus, als zürne er. Sooft ein Windhauch durch die Stängel streicht, scheinen die Kolben flüsternd und raunend zum Leben zu erwachen, aber sobald dem Wind der Atem ausgeht, verstummt der Spuk. Die Hitzewelle dauert nun schon seit drei Wochen an, die ausgelaugte Luft dümpelt wie ein flirrender Schleier über den Feldern.

Zwei Straßen durchschneiden das gelbe Meer, eine von Nord nach Süd, die andere von West nach Ost. An ihrer Schnittstelle liegt die Stadt: eine Ansammlung grauer, eng aneinander gedrängter Gebäude, die freilich, je weiter das Zentrum zurückbleibt, immer mehr von Einzelhäusern abgelöst wird, danach kommt noch die eine oder andere Farm – und dann nichts mehr. Ein von kümmerlichen Bäumen gesäumter Bach fließt, von Nordwesten kommend, Richtung Stadt, schlängelt sich träge um sie herum und verschwindet dann Richtung Südosten. Das Bemerkenswerteste an ihm sind seine Biegungen und Schleifen, fast ein Phänomen in der eintönigen, wie am Reißbrett entworfenen Landschaft. Nur im Nordosten, wo auf einem Hügel ein paar Bäume stehen, findet das Auge ein wenig Abwechslung.

Südlich der Stadt ragt – wie ein Fremdkörper im schier endlosen Gelb – ein riesiges Schlachthaus in die Höhe, auf dessen Wellblechwänden sich im Laufe der Jahre Staub und Schmutz abgelagert hat. Wenn Wind aufkommt, driftet ein schwacher Geruch von Blut und Desinfektionsmitteln nach Süden, denn dorthin treibt der Wind, wenn er denn weht, alles. Knapp am Horizont ragen drei hohe Maissilos auf – wie eine bizarre Fata Morgana, die unwillkürlich an einen gestrandeten Dreimastschoner denken lässt.

Die Temperatur beträgt exakt fünfundvierzig Grad. Hitzegewitter malen das grandiose Schauspiel lautlos zuckender Blitze an den nördlichen Horizont. Der Mais steht über zwei Meter hoch, prall gefüllte Kolben drängen sich dicht an dicht, bis zur Ernte sind es noch zwei Wochen.

Zwielicht senkt sich über die Landschaft, das Orange des Himmels färbt sich blutrot, in der Stadt gehen die ersten Lichter an. Ein schwarz und weiß lackierter Streifenwagen der Ortspolizei prescht die Hauptstraße hinunter, die Scheinwerfer bohren sich in die beginnende Dunkelheit. Er fährt stadtauswärts, dorthin, wo es nur das wogende Gelb gibt.

Etwa drei Meilen vor dem Fahrzeug schrauben in der Thermik einige Truthahngeier ihre engen Kreise über den Maisfeldern. Sie stoßen hinab, steigen auf, kreisen eine Weile und tauchen wieder in das gelbe Meer ein – ein rastloses, scheinbar sinnloses Spiel.

 

Sheriff Dent Hazen fummelte fluchend an den Knöpfen des Armaturenbretts herum, was aber nichts half: Er konnte die Hand noch so oft vor das Gebläse legen, es verströmte nur lauwarme Luft, und wenn er es stärker aufdrehte, spuckte es Staub. Er kurbelte das Seitenfenster herunter und schnippte seine Zigarettenkippe hinaus. Wenn nur diese verdammte Bullenhitze nicht gewesen wäre!

Und da war noch etwas, was Hazen irritierte: die Truthahngeier, die unaufhörlich auf- und abstiegen, genau vor seiner Nase. Elende Mistviecher!, dachte er und hatte nicht übel Lust, ihnen mit der doppelläufigen Winchester eins überzubrennen.

Er nahm den Fuß vom Gas und bog in einen der holprigen Feldwege ein, die wie ein Gitternetz Tausende Quadratmeilen Mais rings um Medicine Creek durchzogen. Als er mit dem Streifenwagen nicht mehr weiterkam, hielt er an und schaltete – eigentlich nur aus Gewohnheit – die kreisenden Dachlichter ein. Warum, zum Teufel, blieben die gottverdammten Geier nicht auf dem Boden, wenn sie ein Stück Aas entdeckt hatten? Hazen beschloss, die Viecher für alle Fälle im Auge zu behalten.

Jetzt ging’s bloß noch zu Fuß weiter. Er würde sich quer durch die ausgedörrten Maisstängel zwängen müssen, was das Ganze noch beschwerlicher machte; schon beim bloßen Gedanken daran wurde ihm flau im Magen. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, wieder in den Dienstwagen zu steigen und möglichst schnell in die Stadt zurückzukehren. Nur, dafür war es schon zu spät, er hatte den Anruf Wilma Lowrys schon ins Dienstbuch eingetragen. Die Alte hatte den lieben langen Tag nichts Besseres zu tun, als aus dem Fenster zu gaffen und dem Sheriffsbüro jedes verendete Stück Vieh zu melden. Aber es war für heute der letzte Anruf gewesen. Und wenn er’s recht bedachte: Die Überstunden am Freitagabend verhalfen ihm umso sicherer zu einem langen, faulen Angelwochenende im State Park am Hamilton Lake, wo er sich – das wusste Hugo – den Staub der ganzen Woche aus der Kehle spülen würde.

Er zündete sich hustend eine neue Zigarette an. Mal sehen, welche blöde Kuh sich da wieder ins Maisfeld verirrt und an dem süßen Zeug überfressen hatte, worauf sie mit aufgeblähtem Bauch verendet war. Was die Frage aufwarf, seit wann es zu den Aufgaben des Sheriffs gehörte, totes Vieh aufzuspüren? Leider kannte er die Antwort nur zu gut: seit der Amtsveterinär in den Ruhestand gegangen war – ohne Nachfolger, weil Medicine Creek keinen mehr brauchte. Jahr für Jahr gaben mehr Farmerfamilien auf, der Viehbestand schrumpfte und mit ihm die Einwohnerzahl. Die ganze County ging zum Teufel.

Hazen kramte die Stablampe aus dem Handschuhfach, rückte das Koppel zurecht, schulterte das Gewehr und bahnte sich einen Weg durch die sperrigen Maisstängel. Zum Kotzen, heute wollte die schwüle Luft anscheinend überhaupt nicht mehr weichen! Und drin, mitten im Maisfeld, wurde es bestimmt noch unerträglicher.

Das Frühjahr war feucht gewesen, die Hitzewelle hatte erst vor wenigen Wochen eingesetzt. Das Getreide stand dieses Jahr höher, als Hazen es je erlebt hatte, die Stängel überragten ihn um gut dreißig Zentimeter. Als ihm der moderig-süße Maisgeruch in die Nase stieg, fiel ihm ein, wie er als Kind einmal vor seinem großen Bruder ins Maisfeld geflüchtet war und dann geschlagene zwei Stunden gebraucht hatte, um wieder herauszufinden.

Tief zog er den Rauch seiner Zigarette ein und stapfte los. Das Feld gehörte der Buswell Agricon aus Atlanta, daher war es Hazen schnurzegal, wie viele Stängel und Kolben er umknickte. In spätestens zwei Wochen rückten die Männer von Agricon sowieso mit riesigen Maschinen an und ernteten alles ab. Der Mais wurde zu den Silos gekarrt und später mit der Bahn an Abnehmer im ganzen Land geliefert, bis er schließlich – wenn er nicht zu Biosprit verarbeitet wurde – in den Mägen wiederkäuender Rinder verschwand, die ihrerseits, zu saftigen Lendenstücken aufgeteilt, auf den Tellern wohlhabender Feinschmecker in New York oder Tokio landeten. Was für eine Welt!

Hazen kämpfte sich – inzwischen mit laufender Nase – Reihe um Reihe durch das Maisdickicht. Er schnippte die Zigarettenkippe weg; erst hinterher fiel ihm ein, dass er besser daran getan hätte, sie vorher auszutreten. Ach, hol’s der Henker! Die Jungs von der Buswell Agricon würden es nicht mal merken, wenn ihnen ein paar tausend Hektar Mais abbrannten. Eigentlich müssten sich ja die Großbetriebe darum kümmern, verendetes Vieh aus ihren Feldern zu holen. Aber deren Bosse hatten bestimmt noch nie auch nur einen Fuß in ein Maisfeld gesetzt.

Hazen stammte wie fast alle in Medicine Creek aus einer Farmerfamilie, die ihren Boden an Großbetriebe wie Buswell Agricon verkauft hatte. Deshalb war die Bevölkerungszahl seit über einem halben Jahrhundert ständig geschrumpft; die eingeschlagenen Fensterscheiben aufgegebener Farmhäuser, deren Dächer knapp aus dem wogenden Gelb spitzten, gaben beredtes Zeugnis davon. Hazen war geblieben, nicht etwa weil er an Medicine Creek gehangen hätte, nein, er hing allenfalls an seiner Uniform, und es gefiel ihm, dass die Leute ihm mit Respekt begegneten. Er gehörte zu der Stadt, so wie sie zu ihm gehörte. Wenn er sich in Medicine Creek so wohl fühlte, lag das vor allem daran, dass er hier alles kannte: die Leute, jede finstere Ecke und jedes düstere Geheimnis. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, woanders zu leben.

Plötzlich blieb er stehen und ließ den Lichtstrahl der Stablampe über die Maiskolben huschen. Eben noch hatte die Luft nichts als Staub zu ihm getragen, nun aber machte sich ein anderer Geruch bemerkbar: der Pesthauch der Verwesung, fünfzig Meter vor ihm, schätzte er. Die Geier zogen weiter ihre Kreise, nun in größerer Höhe. Stille hüllte ihn ein, kein Lüftchen regte sich. Er nahm die Winchester von der Schulter und zwängte sich – inzwischen allerdings vorsichtiger geworden – weiter durch den Irrgarten aus Maisstängeln.

Der widerliche Gestank, von süßlichem Maisduft überlagert, wurde stärker. Obwohl der rot glühende Abgesang des Abendhimmels der Dunkelheit gewichen war, konnte Hazen inmitten der Stängel eine kahle Stelle ausmachen, eine Art Lichtung. Nur, die hätte es dort nicht geben dürfen. Merkwürdig.

Er fasste die Waffe fester, schob mit dem Daumen die Sicherung nach vorn und legte, soweit die dicht stehenden Stängel das zuließen, einen Schritt zu. Und schließlich blieb er wie fest gewurzelt stehen und starrte mit ungläubigen Augen auf die Lichtung. Es dauerte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, worauf er starrte.

Das doppelläufige Gewehr rutschte ihm aus der Hand, der Abschussknall zweier Patronen gellte ihm in den Ohren wider, aber der Sheriff nahm ihn kaum wahr.

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2

Zwei Stunden später stand Sheriff Dent Hazen wieder an derselben Stelle, aber inzwischen hatte sich das Maisfeld in das geschäftige Szenario eines Tatorts verwandelt. Rings um die Lichtung waren Natriumdampflampen aufgestellt worden, etwas abseits brummte ein Generator. Die Männer von der State Police hatten eine breite Straße ins Feld gewalzt, auf der inzwischen rund ein Dutzend Dienstfahrzeuge parkte – Streifenwagen, Ambulanzen und was nicht alles, und das nur, damit den Troopern lange Fußmärsche erspart blieben. Jemand von der Spurensuche kroch über den Boden und pickte hier und da mit der Pinzette Beweisstücke auf. Die Polizeifotografen waren zu zweit angerückt, sie schossen Fotos, was das Zeug hielt, und blendeten mit ihrem grellen Blitzlicht alle anderen.

Hazen starrte entsetzt und angewidert auf das Opfer. Sein erster Mordfall. In den dreißiger Jahren, während der Prohibition, hatte es in Medicine Creek schon mal einen gegeben; da war Rocker Manning, als er schwarz gebrannten Whisky kaufen wollte, an einen Gauner geraten, und der hatte ihn kurzerhand umgelegt. Damals hatte Hazens Großvater den Fall bearbeitet. Und den Mörder geschnappt, versteht sich. Aber das war natürlich nicht mit diesem Fall zu vergleichen. Hier hatten sie es eindeutig mit einem Irren zu tun.

Hazen wandte sich ab und blickte stirnrunzelnd auf die frisch geschlagene breite Fahrspur. Da hatten etliche Maiskolben dran glauben müssen. Ganz davon zu schweigen, wie viele Beweise die Trooper möglicherweise dabei vernichtet hatten. Die Jungs gingen offenbar immer so rigoros vor. Unkoordiniert und überhastet, als hätte der Anblick des Opfers sie so schockiert, dass sie’s kaum abwarten konnten, endlich fertig zu sein und abhauen zu können.

Hazen hielt nicht allzu viel von den Troopern. Genau genommen reduzierte sich bei denen alles auf grimmige Mienen und blank geputzte Stiefel. Andererseits, er konnte es ihnen nachfühlen, dass sie’s so eilig hatten. Bei einem solchen Mord bekamen selbst abgebrühte alte Hasen weiche Knie.

Hazen zündete sich am Stummel seiner Camel die nächste Zigarette an und versuchte sich an den Gedanken zu klammern, dass das überhaupt nicht sein erster Mordfall war. Er hatte gar nichts damit zu tun. Gut, er hatte die Leiche gefunden, aber eindeutig außerhalb der Stadtgrenzen. Also fiel das Ganze, dem Himmel sei Dank, in die Zuständigkeit der Staatspolizei.

»Sheriff Hazen?« Der baumlange Captain der Kansas State Trooper kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, wobei er mit schwerem Schritt noch ein paar ohnehin schon abgeknickte Stängel zermalmte. Die leicht verzerrte Mundpartie sollte wohl ein Lächeln andeuten.

Hazen schüttelte ihm die Hand, obwohl sie das schon zweimal getan hatten. Vielleicht war der Mann vergesslich, oder er wollte durch das Händeschütteln seine Nervosität abbauen. Oder Hazens Aversion lag schlicht und einfach daran, dass der Captain größer war als er.

»Der Gerichtsmediziner aus Garden City wird in zehn Minuten da sein«, informierte ihn der Captain.

Hazen hätte sich nachträglich sonst wohin beißen können, dass er nicht seinen Stellvertreter Tad hierher geschickt hatte. Dafür hätte er mit Freuden auf das lange freie Wochenende verzichtet und wäre notfalls sogar trocken geblieben, wenn ihm dafür der Schlamassel hier draußen erspart geblieben wäre. Andererseits, die Sache hätte Tad vermutlich überfordert, schließlich war der Junge, um es positiv zu formulieren, gerade mal trocken hinter den Ohren.

»Sieht aus, als hätten wir’s mit einem richtigen Aktionskünstler zu tun«, sagte der Captain kopfschüttelnd. »Meinen Sie, der Kansas City Star bringt die Story?«

Hazen verkniff sich eine Antwort. Die Aussicht, sein Foto in der Zeitung wiederzufinden, behagte ihm gar nicht. Jemand mit einem Fluoroskop rempelte ihn von hinten an. Gott im Himmel, an diesem Tatort herrschte allmählich ein schlimmeres Gedränge als bei einer Baptistenhochzeit!

Hazen pumpte sich die Lunge mit Nikotin voll, dann zwang er sich, doch noch mal einen Blick auf die Mordszene zu werfen, ehe alles in Plastikbeutel gestopft und weggebracht wurde. Ein kurzer Rundblick genügte, er konnte sich auf sein Gedächtnis verlassen. Was er einmal gesehen hatte, war automatisch in ihm abgespeichert.

Das Ganze erinnerte an eine Szene aus einem Horrorfilm. Jemand hatte eine kreisrunde Lichtung in das Feld geschnitten und dann auf einer Seite die gekappten Stängel im Halbkreis von ungefähr fünfunddreißig Metern Durchmesser in den Boden gerammt. Obwohl der Täter mit unvorstellbarer Grausamkeit vorgegangen war, konnte Hazen nicht leugnen, dass ihn die präzise geometrische Ausgestaltung beeindruckte. Auf der anderen Seite der Kahlstelle ragte ein kleiner Wald aus etwa ein bis anderthalb Meter hohen, oben zugespitzten Stöcken auf. Genau in der Mitte der Lichtung stand eine ähnliche halbkreisförmige Palisade, nur dass dort auf den Stöcken Krähen aufgespießt waren: mindestens zwei Dutzend, mit leeren Augenhöhlen und nach innen gekrümmten Schnäbeln. Und was auf den ersten Blick nach Stöcken aussah, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Arrangement aus zugespitzten Indianerpfeilen.

Und mitten in dieser halbkreisförmigen, mit toten Krähen drapierten Palisade lag der Leichnam einer Frau. Zumindest vermutete Sheriff Hazen, dass es sich um eine Frau handelte; absolut sicher konnte er nicht sein, die Lippen, die Nase und die Ohren fehlten.

Das Mordopfer lag auf dem Rücken, den Mund so weit aufgerissen, dass man meinen konnte, auf den Eingang einer rosaroten Höhle zu starren. Das Haar der Toten war blond gefärbt, ein Büschel war ihr ausgerissen worden. Die Kleidung hatte der Mörder zerfetzt, aber nicht willkürlich, sondern durch zahlreiche, immer im gleichen Abstand beigebrachte Schnitte. Sie hatten es offenbar mit einem Pedanten zu tun, dem jegliche Unordnung zuwider war. Bei dem Abstand zwischen Kopf und Schultern stimmte etwas nicht, die Proportionen waren verrutscht. Vermutlich hatte der Mörder der Frau das Genick gebrochen, und zwar mit einem einzigen harten Schlag. Denn wenn er sein Opfer erwürgt hätte, wäre das an den unvermeidlichen blutunterlaufenen Stellen zu erkennen gewesen.

Vom Rand der Lichtung führten Schleifspuren zum Fundort, und wenn man die Linie tiefer ins Maisfeld verlängerte, konnte man deutlich die Stellen ausmachen, an denen Stängel abgeknickt waren. Hazen schloss daraus, dass der Mord nicht hier, sondern anderswo verübt worden war. Den Troopern schien das nicht aufgefallen zu sein. Außerdem hatten sie mit ihrem ständigen hektischen Hin und Her neue Spuren im Maisfeld gelegt und die alten verwischt. Er wollte sich schon zu dem Captain umwenden, um ihn darauf aufmerksam zu machen, besann sich aber rechtzeitig eines Besseren. Es war nicht sein Fall, er hatte hier keine Ermittlungen anzustellen. Und wenn er dem Captain von den verwischten Spuren erzählt und ein cleverer Strafverteidiger davon Wind bekommen hätte, würde er – jede Wette – in spätestens zwei Monaten als Zeuge zu der Verhandlung gegen den Mörder vorgeladen werden, um dort seine Behauptung zu wiederholen. Solche spektakulären Mordfälle wurden immer rasch aufgeklärt, und Hazen hatte nicht die geringste Lust, einen irren Mörder durch seine Aussage zu entlasten.

Er zog sich den nächsten Nikotinstoß in die Lunge. Immer schön den Mund halten. Sollten die Troopies ruhig ihre Fehler machen. Sein Fall war’s ja nicht.

Als er gerade dabei war, seine Zigarettenkippe mit der Stiefelspitze in den Boden zu drücken, kam wieder ein Wagen die holperige Fahrspur herauf, wild schaukelnd und mit auf und ab tanzenden Scheinwerfern. Auf dem behelfsmäßigen Parkplatz stieg ein Mann im weißen Kittel und mit einem schwarzen Handköfferchen aus: McHyde, der Gerichtsmediziner.

Er sprach kurz mit dem Captain, dann gingen die beiden Männer zu der Leiche hinüber. McHyde sah sich den Tatort aus verschiedenen Blickwinkeln an, ging auf die Knie, zog der Toten Plastikbeutel über die Hände und die Füße, kramte etwas aus dem schwarzen Köfferchen, offenbar ein Thermometer, und schob es der Toten in den Anus. Hazen wusste, dass die Körpertemperatur bei Leichen üblicherweise anal gemessen wird, dennoch kam ihm die Prozedur wie eine Verletzung der Intimsphäre vor. Oh Mann, es gab schon komische Jobs!

Der Gerichtsmediziner begann, unterstützt von zwei, drei Sanitätern, den Leichnam für den Abtransport vorzubereiten. Ein Trooper sammelte die Pfeile mit den aufgespießten Krähen ein, versah jeden Pfeil mit einem Schildchen und verstaute das Ganze in Kühlkisten. Genau in dem Moment spürte der Sheriff einen Druck auf seine Blase – und welchen! So ging’s ihm immer nach zu viel Kaffee. Und das war leider noch nicht alles, auch die überschüssige Magensäure machte ihm zu schaffen. Geb’s der Himmel, dass das nicht wieder das Vorzeichen für ein Magengeschwür war!

Er sah sich um, niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Also ab ins Maisfeld! Vorsichtshalber verschwand er etwas tiefer darin, als es unbedingt nötig gewesen wäre, aber er wollte nicht riskieren, dass ein Trooper die Urinpfütze entdeckte und eine Probe nahm, die dann womöglich auch noch als Beweismaterial analysiert wurde.

Der Lichtkegel der Natriumdampflampen reichte nicht bis zu ihm, das Stimmengewirr war zu Gemurmel geschrumpft, das Brummen des Generators hörte sich fast beruhigend an, die bizarre Brutalität der Mordszene war in weite Ferne entrückt. Eine leichte Brise kam auf, fast nur ein Hauch, der Sekunden später schon wieder verebbt war, aber der Sheriff nutzte dankbar die Gelegenheit, endlich mal wieder tief durchzuatmen. So, Reißverschluss auf! Er grunzte und urinierte laut auf den trockenen Boden.

Als er sich Erleichterung verschafft und das Koppel wieder zurechtgerückt hatte, sah er verblüfft, dass zwei Reihen von ihm entfernt ein Stofffetzen an einem dürren Maisstängel hing. Er richtete die Stablampe darauf. Dem Muster und Material nach offenbar ein Stück von der Kleidung der Toten. Er leuchtete mit der Stablampe die nächsten Maisreihen aus, aber da gab’s nichts zu sehen.

Er drückte die Schultern durch. Verdammt, er war schon wieder drauf und dran, sich einzumischen, obwohl das nicht sein Fall war! Mal sehen, vielleicht erzählte er den Troopern, was er beim Pinkeln entdeckt hatte, vielleicht ließ er sie’s aber auch selber herausfinden. Zumal ja gar nicht sicher war, ob der Stofffetzen irgendetwas zu bedeuten hatte.

Auf der Lichtung wartete bereits der Captain auf ihn. »Sheriff Hazen, zu Ihnen wollte ich gerade.« Er hielt eine topografische Karte von Kansas und einen Entfernungsmesser in der Hand – eins von den Dingern, mit denen man kreuz und quer auf Karten herumradeln und dabei die Entfernung ablesen kann. »Ich möchte Ihnen gratulieren.«

»Aha. Und wozu?«

Der Captain breitete die Karte aus und fing zu radeln an. »Wie ich festgestellt habe, befinden wir uns auf dem Gebiet von Medicine Creek, und zwar exakt drei Meter fünfzig vor der Grenzlinie.« Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd und streckte Hazen die Hand hin. Zum vierten Mal. »Daraus ergibt sich, dass es Ihr Fall ist. Wir werden Sie natürlich, wenn nötig, nach Kräften unterstützen. Aber vor allem wollte ich Sie als Erster beglückwünschen.«

Sheriff Dent Hazen übersah die ausgestreckte Hand, fischte die Schachtel mit den Zigaretten aus der Brusttasche, zündete sich eine an, paffte hektisch und wiederholte fragend: »Drei Meter fünfzig, haben Sie gesagt? Grundgütiger Himmel!«

Der Captain nickte mit geheucheltem Bedauern.

Und da gab sich Hazen einen Ruck und legte los. »Das Opfer wurde woanders ermordet und hierher verbracht. Der Mörder ist von da drüben gekommen und hat die Tote die letzten sechs, sieben Meter über den Boden geschleift. Wenn Sie ein Stück weit in den Mais gehen, finden Sie etwa dort« – er zeigte dem Captain die Richtung – »an einem verdorrten Maisstängel einen von der Kleidung der Ermordeten stammenden Stofffetzen. Er kann nicht zufällig bei einem Spaziergang hängen geblieben sein, denn so groß war die Frau nicht. Das bedeutet, dass der Mörder sein Opfer ein Stück weit auf dem Rücken durchs Maisfeld geschleppt hat. Falls Sie übrigens in der Nähe des Stofffetzens eine Pfütze auf dem Boden sehen: Ich habe dort gepinkelt. Und noch etwas, Captain, tun Sie mir den Gefallen und schicken Sie bis auf den Gerichtsmediziner, die Fotografen und die Jungs von der Spurensicherung alle anderen weg! Wir sind hier an einem Tatort und nicht auf einem Wal-Mart-Parkplatz.«

»Tja, Sheriff, Sie wissen ja: Wir müssen uns alle an unsere Anweisungen halten …«

»Ab jetzt bekommen Sie Ihre Anweisungen von mir.«

Der Captain schluckte.

»Ich brauche möglichst schnell zwei gut ausgebildete Spürhunde, die den Weg des Mörders zurückverfolgen können«, fuhr Hazen fort. »Und ich möchte ein gerichtsmedizinisches Team aus Dodge City hier haben.«

»Okay, Sheriff.«

»Und noch was. Falls Pressefritzen hier auftauchen, ziehen Sie sie vorübergehend aus dem Verkehr! Legen Sie sie an die Kette, bis wir mit unserer Arbeit fertig sind.«

»Wie sollen wir die denn aus dem Verkehr ziehen?«

»Verpassen Sie ihnen einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, das könnt ihr doch besonders gut!«

Der Captain verschanzte sich hinter einer in langen Jahren eingeübten Eisenfressermiene. »Und wenn keiner die Geschwindigkeit überschreitet?«

Sheriff Dent Hazen grinste breit. »Die werden die Geschwindigkeit überschreiten, darauf können Sie getrost Ihren Hintern verwetten, Ihre Jungs werden das schon hindrehen.«

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3

Deputy Sheriff Tad Franklin saß tief nach vorn gebeugt an seinem Schreibtisch, erledigte Papierkram und tat so, als gebe es die ungewohnte Ansammlung von Pressereportern und Fernsehleuten vor dem Fenster überhaupt nicht. Bis jetzt hatte er es für eine glückliche Fügung gehalten, dass das Büro des Sheriffs in einem früheren Billigladen untergebracht war, weil ihm das ehemalige Schaufenster ermöglichte, alles zu verfolgen, was sich in Medicine Creek tat, Freunden zuzuwinken und bei vorbeigehenden hübschen Mädchen unauffällig anatomische Studien anzustellen. Aber nun kamen ihm doch Zweifel, ob das wirklich ein so günstiger Arbeitsplatz war.

Wieder kündigte sich ein heißer Augusttag an, der Himmel übergoss die Stadt bereits mit hellem Licht, die draußen parkenden Medientrucks warfen tiefe Schatten, die mürrischen Mienen der Reporter passten dazu. Die armen Kerle hatten sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, und das dürftige Frühstück in Maisie’s Diner hatte, wie sich an ihrem übellaunigen Gesichtsausdruck ablesen ließ, auch nicht zu ihrer Aufheiterung beigetragen.

Tad versuchte, sich auf seine dienstlichen Aufgaben zu konzentrieren, aber das war gar nicht so einfach, wenn alle naslang jemand an die Scheibe klopfte oder ihn mit rüden Fragen traktierte. Die Typen konnten einem ganz schön auf den Wecker gehen. Gut, dass Sheriff Hazen hinten in der leeren Arrestzelle eine Mütze Schlaf nahm, er reagierte auf Nervensägen mitunter ziemlich kiebig. Tad ging ans Fenster, riss es auf und setzte eine Amtsmiene auf – oder zumindest das, was er sich darunter vorstellte.

»Würden Sie bitte ein paar Schritte Abstand halten?«

Die Reaktion bestand aus halblauten, despektierlichen Bemerkungen und einem Schwall von Fragen. Tad hatte an den Telefonnummern auf den Trucks abgelesen, dass es sich nicht um eine Armada von Kleinstadtreportern handelte, die Jungs kamen aus Topeka, Kansas City, Tulsa, Amarillo und Denver. Aber woher sie auch kamen, hier war für sie kein Blumentopf zu gewinnen. Am besten, sie packten zusammen und fuhren heim.

In dem Moment hörte Tad eine Tür klappen, danach Sheriff Hazens Raucherhusten, und dann tauchte sein Chef persönlich auf: gähnend, mit Bartstoppeln am Kinn und verwuscheltem Haar.

Tad schloss das Fenster. »Tut mir Leid, Sheriff, die Burschen geben einfach keine Ruhe.«

Hazen nickte gelassen und geriet nicht mal in Rage, als ein wütender Reporter seinem Herzen mit einer unflätigen Schimpfkanonade Luft machte, in der unter anderem ein »kleinkariertes Arschloch« erwähnt wurde. Er schenkte sich aus der Bürokanne einen Kaffee ein, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und spuckte alles in den Becher zurück.

»Soll ich Ihnen frischen machen, Sheriff?«

»Danke, Tad, ist schon gut.« Hazen drehte sich zu den draußen lauernden Reportern um. »Ich nehme an, die Jungs brauchen was für die Sechs-Uhr-Nachrichten. Wird Zeit, dass wir eine Pressekonferenz abhalten.«

Tad, bar jeder Erfahrung mit Pressekonferenzen, starrte ihn erschrocken an. »Und wie läuft so was ab?«

Hazen lachte, wobei er zwangsläufig seine gelben Raucherzähne entblößen musste. »Wir gehen raus und beantworten ihre Fragen.« Er zog die ehemalige Ladentür auf, gerade so weit, dass er den Kopf rausstrecken konnte.

»Alles in Butter bei euch, Leute?«

Ein Schwall Fragen prasselte auf ihn ein, der allerdings, weil alle durcheinander schrien, unverständlich blieb.

Der Sheriff reckte den Arm hoch, die Hand besänftigend den Presseleuten zugekehrt. Er trug noch das kurzärmelige Hemd, in dem er gestern losgefahren war, samt der bis zum Nabel reichenden, halbmondförmigen Schweißspur. Dent Hazen war zwar etwas kurz geraten, aber sein Körperbau erinnerte an eine Bulldogge. Tad war zweimal Zeuge gewesen, wie ein widerspenstiger Verdächtiger bei einer Rangelei mit Hazen ein paar Zähne verloren hatte. Seit dieser Erfahrung hielt er sich an die Regel: Leg dich mit keinem unter einssiebzig an.

Die Fragen verstummten, Hazen ließ den Arm sinken. »Mein Deputy Tad Franklin und ich werden Sie über den Stand der Dinge informieren und danach Fragen beantworten. Wir sollten uns also alle wie zivilisierte Leute benehmen, einverstanden?«

Die Reporter formierten sich zu einer Art geordnetem Durcheinander. Scheinwerfer flammten auf, Mikrofone wurden nach vorn gereckt, die Startknöpfe von Rekordern und Kameraverschlüssen klickten.

»Tad, kümmern Sie sich bitte darum, dass unsere Gäste einen Becher frischen Kaffee bekommen!«

Tad sah ihn groß an, aber als der Sheriff verstohlen zwinkerte, griff er zur Kanne, schüttelte sie, verteilte Papierbecher und schenkte reihum ein.

Hazen nickte zufrieden. »Soll uns keiner nachsagen, dass wir in Medicine Creek nichts von Gastfreundschaft verstehen. Langt zu, solange der Vorrat reicht!«

Der eine oder andere Reporter warf zwar einen misstrauischen Blick in seinen Becher, trank ihn aber dann unerschrocken aus und suchte anschließend vergeblich nach irgendeiner Ablage für das leere Gefäß – was angesichts des vor dem Sheriffsbüro hängenden Schildes »Keine Abfälle! 100 $ Strafe!« ein gewisses Risiko barg.

Hazen rückte seinen Hut zurecht, baute sich auf dem Bürgersteig auf, drückte, als er die Kameras summen hörte, das Kreuz durch und schilderte mit trockenen Worten, wie, wo und in welchem Zustand er die Leiche gefunden hatte, beschrieb die Lichtung im Maisfeld und erwähnte auch die aufgespießten Krähen. Bei ihm hörte sich das nicht nach einer Horrorstory, sondern, obwohl er hier und da eine griffige Bemerkung einflocht, nach einem nüchternen, sachlichen Bericht an. Tad Franklin konnte ihn nur bewundern, er hatte gar nicht gewusst, dass sich sein Chef so locker und umgänglich geben konnte.

Nach zwei Minuten war Hazen fertig. Und sofort hagelte es wieder Fragen.

»Einer nach dem anderen!«, sagte der Sheriff. »Wie in der Schule: Wer dazwischenredet, kommt als Letzter dran.« Er deutete auf einen ausnehmend dicken Reporter. »Sie fangen an.«

»Gibt es schon Hinweise auf einen Verdächtigen?«

»Wir verfolgen ein paar sehr interessante Spuren, mehr kann ich vorläufig noch nicht sagen.«

Tad schielte verdutzt auf seinen Chef. Was denn für Spuren? Sie tappten doch völlig im Dunkel.

»Sie!«, rief Hazen den Nächsten auf.

»Stammt das Mordopfer aus der hiesigen Gegend?«

»Nein. Wir sind noch dabei, die Tote zu identifizieren, aber da ich in unserer Gegend jeden kenne, kann ich mit Sicherheit ausschließen, dass sie von hier stammt.«

»Wissen Sie, wie die Frau ermordet wurde?«

»Ich hoffe, der Gerichtsmediziner wird uns das bald sagen können. Sobald wir den Bericht aus Garden City haben, erfahren Sie mehr.«

Zu Tads Verblüffung hielt der Greyhound-Bus aus Amarillo heute vor Maisie’s Diner, was er gewöhnlich nicht tat, weil in Medicine Creek sowieso niemand aus- oder zustieg. Na ja, vielleicht war’s ein verspäteter Reporter.

»Die Lady – ja, Sie. Bitte Ihre Frage, Ma’am?«

Ein energisch aussehender Rotschopf reckte Hazen das Mikro hin. »Welche Dienststellen sind sonst noch mit den Ermittlungen befasst?«

»Die State Police hat uns dankenswerterweise unterstützt, aber da der Leichnam auf dem Gebiet von Medicine Creek gefunden wurde, sind im Prinzip nur wir zuständig.«

»Und das FBI?«

»Es handelt sich um einen lokalen Mordfall, da mischt das FBI gewöhnlich nicht mit. Wir verfügen hier über alle notwendigen Kräfte, einschließlich eines auf Gewaltverbrechen spezialisierten Labors in Dodge City und der dortigen Mordkommission, die übrigens die ganze Nacht am Tatort war. Machen Sie sich keine Sorgen, dass Tad und ich versuchen könnten, den Fall allein zu bearbeiten! Wenn nötig, fordern wir Unterstützung an, und zwar so laut und energisch, dass wir sie auch bekommen. Wir werden den Fall also schnell aufklären.«

Das röhrende Motorgeräusch, mit dem der Bus die Weiterfahrt antrat, legte der Pressekonferenz eine kurze Zwangspause auf, und nachdem sich die Dieselwolke verzogen hatte, stand ein von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleideter schlanker, groß gewachsener Mann auf der anderen Straßenseite und schaute zu ihnen herüber. Die elegante lederne Reisetasche sah nicht nach Reporter aus.

Tad und der Sheriff tauschten kurz einen Blick, dann rief Hazen die nächste Frage auf. »Smitty?« Er nickte Smit Ludwig zu, der beim lokalen Cry County Courier in Personalunion als Herausgeber, Reporter und Mädchen für alles fungierte.

»Gibt’s eine Erklärung für das seltsame Szenario am Fundort der Leiche? Ich meine, hast du irgendeine Theorie, was die … nennen wir’s mal: die rituelle Aufbahrung der Leiche und das ganze Drumherum bedeuten könnten?«

»Drumherum?«, fragte Hazen.

»Du weißt schon, der makabre Zinnober.«

»Nein, hab ich noch nicht.«

»Könnte es sich um eine Art Satanskult handeln?«

Tad schielte unauffällig zur anderen Straßenseite hinüber. Der in Schwarz gekleidete Fremde hielt die Reisetasche in der Hand, machte aber keine Anstalten, sich von der Bushaltestelle fortzubewegen.

»Das ist durchaus möglich«, beantwortete der Sheriff Smittys Frage. »Wir schließen das jedenfalls bei unseren Ermittlungen keineswegs aus.«

Der Mann in Schwarz kam langsam zu ihnen herüber. Hazen hatte ihn ebenfalls bemerkt, selbst ein paar Reporter drehten sich neugierig zu ihm um. Hazen fischte einen Glimmstängel aus der Packung in seiner Brusttasche, ging aber, statt ihn anzuzünden, noch einmal auf Smittys Bemerkung ein.

»Ob kultischer Mord, Wahnsinnstat oder was auch immer, ich will von vornherein klarstellen – und das dürfte deine Leser interessieren, Smitty –, dass der Täter mit Sicherheit nicht aus Medicine Creek und vermutlich nicht mal aus dem Bundesstaat Kansas stammt.«

Der Mann in Schwarz war bei der Reportermeute angekommen. Komischer Vogel, fand Tad. Wer läuft denn heute noch an einem gewöhnlichen Wochentag im schwarzen Anzug, mit gestärktem weißen Hemd und Seidenkrawatte herum? Trotzdem, irgendetwas an ihm beeindruckte den Deputy. Vielleicht waren es die Gesichtszüge, die eine Art unbeugsame Entschlossenheit signalisierten.

Das allgemeine Raunen verstummte, und in die plötzliche Stille hinein sagte der Fremde mit leiser, geschmeidiger Stimme: »Eine durch nichts gerechtfertigte Feststellung, Sheriff.«

Alle schienen die Luft anzuhalten. Hazen nahm sich beim Anzünden der Zigarette ungewöhnlich viel Zeit.

Tad musterte den Fremden neugierig. Der Mann war nicht etwa nur schlank, er war so mager, dass man meinen konnte, durch seine Haut hindurchzusehen. Bei den hellen blaugrauen Augen ging es Tad ähnlich. Irgendwie gruselig. Etwa so stellte der Deputy sich die Begegnung mit einem Vampir oder einem auferstandenen Leichnam vor. Nüchtern betrachtet konnte der Mann natürlich auch Beerdigungsunternehmer sein. Jedenfalls hatte er etwas Beunruhigendes an sich.

Nach zwei, drei Zügen an der Zigarette nahm Hazen den Fremden mit strengem Blick aufs Korn und sagte mürrisch: »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Sie nach Ihrer Meinung gefragt habe, Mister.«

Der Fremde zwängte sich durch die Reihen der Reporter, die ihn bereitwillig durchließen, und blieb schließlich zwei Armlängen vor dem Sheriff stehen. »Der Mörder hat sein grausiges Werk in stockdunkler Nacht vollbracht, Sheriff Hazen.« Unverkennbar die einschmeichelnde Sprachmelodie des tiefen Südens. »Er ist gekommen und gegangen, ohne Spuren zu hinterlassen. Was macht Sie da so sicher, Sheriff, dass er nicht in Medicine Creek zu Hause ist?«

Hazen nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch scheinbar zufällig in Richtung des Fremden und konterte: »Und was macht Sie so sicher, dass Sie solche Dinge beurteilen können?«

»Das ist eine Frage, die ich Ihnen lieber in Ihrem Büro beantworten möchte«, antwortete der Fremde. Seine höfliche Handbewegung schien anzudeuten, dass er nur darauf wartete, dem Sheriff und seinem Stellvertreter dorthin zu folgen.

Hazens Geduld war allmählich erschöpft. »Wer, zum Teufel, sind Sie, dass Sie sich anmaßen, mir zu sagen, wann ich in mein Büro gehen soll?«

Der Mann in Schwarz sah ihn nachsichtig an und sagte in seinem tiefen, gewinnenden Ton: »Darf ich vorschlagen, Sheriff Hazen, dass wir auch diese durchaus berechtigte Frage unter vier Augen erörtern? Und zwar in Ihrem Interesse.«

Ehe sich Hazen eine angemessene Antwort überlegen konnte, wandte sich der Fremde zu den Reportern um. »Ich bedaure, Sie davon in Kenntnis setzen zu müssen, dass die Pressekonferenz hiermit beendet ist.« Ruhig und freundlich, in honigsüßem Singsang.

Tad konnte es nicht fassen: Der Sheriff drehte sich tatsächlich wortlos um und stiefelte in sein Büro.

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4

Der Sheriff ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und warf einen missmutigen Blick auf die verkratzte Kunststoffplatte. Tad Franklin belegte den Drehsessel mit Beschlag. Und so blieb für den Fremden nur der harte, unbequeme Holzstuhl übrig, auf den Hazen gewöhnlich Zeugen platzierte, die partout nicht mit der Sprache rausrücken wollten. Der Mann in Schwarz verzog keine Miene, schlug ein Bein übers andere und sah den Sheriff erwartungsvoll an.

»Schenken Sie unserem Gast einen Becher Kaffee ein!«, wies Hazen den Deputy grinsend an. Viel konnte nicht mehr in der Bürokanne sein, aber eine halbe Tasse würde es schon noch werden.

»Sehr freundlich von Ihnen«, konterkarierte der Fremde Hazens hinterhältige Attacke, »aber ich trinke nur Tee. Vorzugsweise grünen.«

Tad wurde aus dem Mann nicht schlau. Ein Sonderling. Oder vielleicht ein Schwuler?

Hazen runzelte die Stirn, verlagerte das Körpergewicht und murmelte: »Jeder, wie er’s mag.«

Der Fremde zog mit einer geschmeidigen Bewegung ein Ledermäppchen aus der Brusttasche des schwarzen Anzugs, klappte es auf und hielt es Hazen unter die Nase.

Der Sheriff sah sich den Dienstausweis lange an, dann lehnte er sich seufzend zurück. »FBI. Scheiße. Hätt ich mir fast denken können.« Er warf dem Deputy einen warnenden Blick zu. »Ab jetzt haben die Oberverdachtschöpfer das Sagen, Tad.«

»Ja, Sir.« Aber ganz schien es der Deputy noch nicht zu glauben. Der Mann in Schwarz sah seiner Meinung nach nicht wie ein FBI-Agent aus. Was freilich nicht viel heißen wollte, weil ihm noch nie einer begegnet war.

»Also gut, Mister …« Hazen ließ den Satz in der Luft hängen, aber das Fragezeichen war unüberhörbar.

»Special Agent Pendergast.«

»Pendergast? Hm. Ich hab leider ein schlechtes Namensgedächtnis.« Hazen zündete sich eine Zigarette an und begann, hektisch zu paffen. »Sie sind wegen des Krähenmords hier?«

»Ja.«

»In offiziellem Auftrag?«

»Nein.«

»Also aus Eigeninitiative?«

»Einstweilen, ja.«

»Zu welcher Dienststelle gehören Sie?«

»Nach dem Stellenplan zum FBI-Büro in New Orleans. Aber ich habe mit meiner Dienststelle ein – sagen wir: spezielles Arrangement getroffen.« Sein Lächeln wirkte so unschuldig wie das eines Babys.

»Und wie lange gedenken Sie, hier zu bleiben?«, erkundigte sich der Sheriff.

»Bis zum Ende meines Urlaubs.«

Hazen richtete sich steil auf. »Sie sind im Urlaub? Pendergast, das entspricht nicht den Regelungen für die Zusammenarbeit von Polizeibehörden. Da muss ich vorher das Einverständnis der örtlich zuständigen Agency einholen. Wir sind doch kein Club Méditerranée für Abenteuerurlauber!«

Pendergast ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann fragte er: »Hätten Sie mich denn lieber in offizieller Mission hier, Sheriff Hazen?«

Als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: »Ich werde mich nicht in Ihre Ermittlungen einmischen, sondern unabhängig operieren. Selbstredend werde ich Sie regelmäßig konsultieren und über gewonnene Erkenntnisse ordnungsgemäß informieren. Etwaiger Lorbeer gehört von vornherein Ihnen, ich mache mir nichts aus Lobhudeleien. Alles, worum ich Sie bitte, ist der übliche höfliche Umgang unter Kollegen.«

Sheriff Hazen runzelte die Stirn. Dass er sich dabei den Buckel kratzte, tat dem Stirnrunzeln keinen Abbruch. »Was den Lorbeer angeht, auf den bin ich nicht scharf. Mir geht’s nur darum, den Mistkerl zu schnappen.«

Pendergast nickte zustimmend.

Hazen dachte zwei tiefe Züge lang nach. »Also gut, es ist Ihre Sache, wo Sie Ihren Urlaub verbringen. Aber ich bitte mir aus, dass Sie sich bedeckt halten und den Presseleuten gegenüber nicht zu redselig sind.«

»Natürlich nicht.«

»Wo wollen Sie wohnen?«

»Was würden Sie mir denn empfehlen?«

Der Sheriff lachte schallend. »Viel Auswahl haben Sie da nicht. Die alte Winifred Kraus ist die Einzige, die hier Zimmer vermietet. Sie sind mit dem Bus daran vorbeigekommen: Kraus’ Kavernen, das alte Haus in den Maisfeldern, etwa eine Meile westlich von hier. Sie wird bestimmt keine Ruhe geben, bevor sie Sie in ihre Höhlen geschleppt hat. Womit Sie dann dieses Jahr sicher der erste Besucher wären.«

»Danke«, sagte Pendergast, stand auf und griff nach der Reisetasche.

Hazen zögerte. »Ich werd Sie hinfahren. Sie haben ja kein Auto dabei.«

»Oh, ich gehe gern zu Fuß.«

»Ach, wirklich?« Hazen grinste. »Wir haben schon wieder über vierzig Grad draußen, und Sie tragen, ehrlich gesagt, nicht gerade die optimale Wanderkleidung.«

»Ich habe gar nicht gemerkt, dass es so heiß ist.« Pendergast drehte sich um und wollte zur Tür gehen, aber Hazen hatte noch eine Frage.

»Wieso haben Sie so schnell von dem Mord erfahren?«

»Ich habe bei uns im Büro jemanden, der für mich Tickermeldungen und E-Mails über eine bestimmte Art von Verbrechen herausfischt und mich sofort informiert. Aber ich bin, wie schon gesagt, aus eigenem Antrieb hier, sozusagen aus persönlichem Interesse. Es gibt Fälle, die mich neugierig machen. Ich habe gerade drüben im Osten so einen abgeschlossen.«

»Und um welche ›bestimmte Art von Verbrechen‹ handelt es sich Ihrer Meinung nach in unserem Fall?« Hazens Stimme triefte vor Hohn.

»Serienmorde.«

»Sehr spaßig. Mir ist bisher nur ein Mord bekannt.«

Pendergast, endgültig auf dem Weg zur Tür, drehte sich halb zu Hazen um, musterte ihn kühl mit seinen hellgrauen Augen und sagte so leise, dass der Sheriff Mühe hatte, ihn zu verstehen: »Bisher.«

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5

Winifred Kraus unterbrach ihre Stickarbeit und starrte auf den seltsamen Anblick, der sich ihr vom Wohnzimmerfenster aus bot und bei dem sie ein ungutes Gefühl beschlich, fast ein Anflug von Angst. Ein merkwürdiges Individuum näherte sich ihrem Anwesen, mitten auf der Straße, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, mit einer Reisetasche in der Hand. Der Mann war noch gut hundert Meter weit weg, aber Winifred hatte scharfe Augen, und so wurde ihr sofort klar, dass dem groß gewachsenen, hageren Fremden etwas anhaftete, was sie an Gruselgeschichten ihrer Kindertage erinnerte. Ihr Vater hatte ihr mal erzählt, auf solche Art komme der Tod, und zwar immer ganz unverhofft, wenn man am wenigsten mit ihm rechne. Er trage keine Schuhe, weil er keine Füße habe, sondern Hufe. Man könne ihn am Schwefelgeruch und der schwarzen Kleidung erkennen. Kein Wunder, dass es ihr eiskalt über den Rücken lief.

Der Mann kam mit langen, stetigen Schritten näher, sein Schatten eilte ihm voraus und schien dabei jeweils das Stück Straße zu verschlingen, das vor ihm lag. Winifred Kraus versuchte sich klar zu machen, dass solche Geschichten nur Ammenmärchen waren, und im Übrigen kam der Tod bestimmt nicht mit einer Reisetasche daher. Trotzdem, wieso lief jemand zu dieser Jahreszeit in Schwarz herum?

Ob es vielleicht ein Handlungsreisender war? Aber warum kam er dann zu Fuß, ohne Auto? In der Cry County war niemand zu Fuß unterwegs, schon lange nicht mehr. Die letzten Fußgänger hatte sie in den Kindertagen gesehen, in der Zeit vor dem Krieg, als jedes Frühjahr Wanderarbeiter auf dem Weg zu den kalifornischen Feldern durchgekommen waren.

Da, wo ihre Zufahrt von der Straße abzweigte, machte der Fremde kurz Halt, den Blick auf ihr Haus gerichtet. Sie hätte schwören können: direkt auf ihr Wohnzimmerfenster. Und das war für Winifred Kraus Anlass genug, ihre Kreuzsticharbeit endgültig wegzulegen.

Oh Gott, er wollte zu ihr! Und sein Haar war so weiß, die Haut so bleich, und er trug schwarze Kleidung!

Als sie den Türklopfer hörte, schlug sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. Sollte sie sich ruhig verhalten und warten, bis er wieder ging? Nur, was machte sie, wenn er nicht wieder ging? Sie lauschte atemlos.

Es klopfte noch einmal, diesmal energischer.

Winifred runzelte die Stirn. Sie benahm sich wie eine alte Zimperliese. Atme tief durch und gib dir einen Ruck! Sie ging in die Diele, hakte die Kette auf und öffnete die Tür einen Spalt weit.

»Miss Kraus?«

»Ja?« Nanu, der Mann machte einen richtigen altmodischen Diener!

»Habe ich das Vergnügen mit Miss Winifred Kraus, bei der Reisende Zimmer mieten können? Und die, wie ich höre, die besten Mahlzeiten in der ganzen Cry County zubereitet?«

»Na ja …«, sagte Winifred geschmeichelt und öffnete, von der Höflichkeit des Fremden beeindruckt, die Tür ein Stück weiter. Das konnte nicht der Tod sein, der hätte keine langen Fisimatenten gemacht.

»Mein Name ist Pendergast«, stellte der Mann sich vor und hielt ihr die Hand hin. Winifred zögerte, aber als sie die angebotene Rechte nahm und spürte, dass sie sich angenehm kühl und trocken anfühlte, waren all ihre Ängste verflogen.

»Sie haben mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt, einfach so anspaziert zu kommen. Ich meine, wer geht denn heute noch zu Fuß?«

»Ich bin mit dem Bus gekommen.«

Winifred erinnerte sich ihrer Kinderstube, zog die Tür vollends auf und trat beiseite. »Bitte kommen Sie doch rein! Möchten Sie einen geeisten Tee? Sie müssen in dem schwarzen Anzug schrecklich gelitten haben … Ach Gott, was plappere ich denn da einfältig vor mich hin! Womöglich hat es einen Todesfall in der Familie gegeben?«

»Eistee wäre wundervoll«, sagte der Fremde nur.

Weil sie fürchtete, sich noch mehr zu verhaspeln, eilte Winifred in die Küche, warf Eiswürfel in ein Glas, füllte es mit Tee auf, gab frische Minze dazu, stellte alles auf ein kleines Silbertablett und kam zurück.

»So, hier haben wir Ihren Tee, Mr. Pendergast. Nehmen Sie doch bitte Platz!«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen.«

Sie saßen sich im Wohnzimmer gegenüber. Aus der Nähe betrachtet, sah der Fremde jünger aus, als sie gedacht hatte, und das Haar war nicht weiß, sondern hellblond. Alles in allem sah er sehr gut aus, trotz der hellen Augen und des bleichen Teints. Eine elegante Erscheinung.

»Ich habe tatsächlich drei Zimmer, die ich vermiete«, kam sie auf seine Frage zurück, »alle im Obergeschoss. Das Bad müssen Sie sich allerdings mit den anderen Gästen teilen, aber im Augenblick …«

»Ich nehme alle drei Räume. Würden Sie fünfhundert Dollar pro Woche als angemessen akzeptieren? Für die Beköstigung zahle ich natürlich extra. Ich brauche nicht viel, ein leichtes Frühstück, hin und wieder nachmittags einen Tee und abends eine warme Mahlzeit.«

»Also, gewöhnlich verlange ich nicht so viel«, stammelte Winifred verlegen.

Pendergast lächelte. »Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass ich ein schwieriger Untermieter bin.«

»Nun ja, wenn Sie meinen …«

Er nahm einen Schluck Tee. »Ich möchte Sie einerseits nicht erschrecken, andererseits halte ich es für geboten, Ihnen zu sagen, wer ich bin und was mich hierher führt. Sie fragten, ob es einen Todesfall gegeben habe. Nun, das ist, wie Sie vielleicht schon wissen, tatsächlich der Fall. Ich bin Special Agent beim FBI und ermittle in diesem Mordfall in Medicine Creek.« Er zeigte ihr seine Dienstplakette.

»Ein Mord?«

»Wissen Sie nichts davon? Auf der anderen Seite der Stadt, er wurde letzte Nacht entdeckt. Sie werden zweifellos in der Zeitung davon lesen.«

»Oh Gott, wie schrecklich!« Winifreds Gedanken schlugen Purzelbäume. Ein Mord in Medicine Creek?

»Nun habe ich Sie doch erschreckt, entschuldigen Sie bitte! Ich hoffe, Sie werden mich trotzdem als Logisgast aufnehmen.«

»Natürlich, Mr. Pendergast. Ich fühle mich sogar sicherer, wenn ich Sie im Haus habe. Ein Mord – wie entsetzlich!« Sie schauderte. »Wer, um alles in der Welt, kann denn …«

»Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, wenn Sie nähere Einzelheiten von mir erwarten. Und wenn Sie gestatten, würde ich mir jetzt gern die Räume ansehen. Sie müssen sich nicht unbedingt mit nach oben bemühen.«

Winifred Kraus nickte und sah dem Agent nach, als er die Stufen hochstieg. Wirklich ein liebenswürdiger, höflicher Mensch! Doch dann eilte sie schnurstracks zum Telefon in der Diele. Mal hören, ob Jenny Parker schon mehr wusste. Sie griff zum Hörer und wählte die Nummer ihrer Freundin.

 

Nach einem kurzen Rundgang entschied sich Pendergast für den kleinsten, nach hinten gelegenen Raum. Die Kommode hatte einen drehbaren Spiegel, davor standen die Waschschüssel und der Wasserkrug. Er zog die oberste Schublade auf, sie roch nach Rosenöl und altem Eichenholz. Die Wände waren in einem viktorianischen Blumenmuster tapeziert, bei der Tagesdecke handelte es sich offenbar um eine Stickarbeit von Miss Kraus, ein Arrangement aus roten Edel- und weißen Pfingstrosen. Alles sehr liebevoll hergerichtet, sogar der Nachttopf fehlte nicht, die Dame des Hauses hatte ihn aus Gründen der Schicklichkeit in eine etwas versteckte Ecke geschoben.

Und die Dielenbretter knarrten, stellte Pendergast auf dem Weg zum Fenster fest. Hinter dem Haus, seitlich versetzt, fiel der Blick auf das schäbige Blechdach eines Andenkenladens. Dahinter führte ein zementierter, recht rissiger Weg zu einer Erdspalte. Man ahnte förmlich rabenschwarzes Dunkel und bodenlose Tiefe. Auf einem Schild stand:

KRAUS’ KAVERNENDIE GRÖSSTE HÖHLE IN DER CRY COUNTYWünschen Sie sich etwas am »Teich der Unendlichkeit«!Lauschen Sie dem Kristall-Glockenspiel!Werfen Sie einen Blick in den »Abgrund des Bösen«!Führungen täglich um 10.00 und 14.00 UhrReisegruppen willkommen, großer Busparkplatz

Das Fenster ließ sich leichter öffnen, als Pendergast in einem so alten Haus vermutet hatte. Stickige, nach Staub und Maiskörnern riechende Luft drang ins Zimmer, das gelbe Meer erntereifer Kolben erstreckte sich bis zum Horizont. Eine Schar Krähen stieg aus den Feldern auf, tauchte aber gleich wieder in sie ein. Im Westen ballten sich Gewitterwolken am Himmel. Die Stille war so öde und bedrückend wie die Landschaft.

 

Winifred Kraus legte den Hörer auf. Jenny Parker meldete sich nicht. Vielleicht war sie in der Stadt, Neuigkeiten zogen sie immer magnetisch an, egal ob gute oder schlechte. Winifred beschloss, es nach dem Lunch noch mal zu versuchen.

Ob sie Mr. Pendergast ein zweites Glas Eistee aufs Zimmer bringen sollte? Er war so ein angenehmer, höflicher Mann. Die Südstaatler sogen das offenbar mit der Muttermilch in sich auf. Und was den Tee anging, sie meinte sich zu erinnern, irgendwo gehört zu haben, dass sie den Nachmittag immer auf ihrer schattigen Veranda verbrachten und geeisten Tee tranken. Außerdem war es heute besonders heiß, und Mr. Pendergast hatte den weiten Weg von der Stadt bis hierher zu Fuß zurückgelegt.

Sie ging in die Küche, schenkte frischen Tee ein und hatte die ersten Treppenstufen schon erklommen, als ihr Bedenken kamen. Lass den Mann in Ruhe auspacken, stör ihn nicht! Also wirklich, seit sie von dem Mord gehört hatte, war sie ganz durcheinander. Sie benahm sich wie ein aufgescheuchtes Huhn.

Als sie schon wieder auf dem Rückweg war, kam es ihr vor, als habe sie eine Stimme gehört. Ja, sie war ganz sicher, ihr neuer Untermieter hatte etwas gesagt. Und das konnte, wenn er keine Selbstgespräche führte, eigentlich nur ihr gegolten haben. Ob er nach ihr gerufen hatte?

Sie blieb stehen, neigte den Kopf zur Seite und lauschte. Aber wie das in solchen Fällen meistens ist, auf einmal rührte sich nichts mehr, im ganzen Haus herrschte lautlose Stille. Tja, da musste sie sich wohl geirrt haben.

Doch dann hörte sie noch einmal Pendergasts Stimme. Jeder Irrtum war ausgeschlossen, es war der schmeichelnde, melodische Singsang des Südens. Und diesmal verstand sie sogar, was der Agent sagte.

»Exzellent! Geradezu superb!«

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6

Die Straße verlief so schnurgerade, wie sie der Landmesser im neunzehnten Jahrhundert anvisiert hatte. Links und rechts ragten Mauern aus Maisstängeln in die Höhe. Die flirrende Hitze heizte den Straßenbelag derart auf, dass Pendergasts auf Hochglanz polierte Oxfords (feinste Maßarbeit aus John Lobbs Werkstatt in Londons St. James’s Street) Spuren im Asphalt hinterließen.

Vor ihm lag die bei dem nächtlichen Einsatz in das Feld gewalzte Schneise. Die tief eingegrabenen Reifenspuren der Polizeifahrzeuge und die Schmutzklumpen, die sie bei der Ausfahrt auf die Straße geschleudert hatten, waren zuverlässige Wegweiser. Die Stelle, die die State Police in der Nacht als Parkplatz benutzt hatte, war mit gelbem Markierband abgesperrt, in dem davor postierten Streifenwagen saß ein gelangweilter Trooper. Da er wegen der Klimaanlage den Motor laufen ließ und sich zudem in einen Schmöker vertieft hatte, bemerkte er den Ankömmling erst, als Pendergast ans Seitenfenster klopfte.

Der Mann fuhr erschrocken hoch, legte das Taschenbuch eilends weg, stieg aus, hakte die Daumen ins Koppelzeug, beäugte den ungebetenen Besucher misstrauisch und fragte: »Wer, zum Teufel, sind Sie?«

Aus der offenen Wagentür schlug Pendergast ein Schwall eiskalter Luft entgegen. Er zückte seinen Dienstausweis.

»Oh, FBI, tut mir Leid, ich hab Sie gar nicht bemerkt.« Der Trooper sah sich suchend um. »Wo steht Ihr Wagen?«

Pendergast überhörte die Frage. »Ich würde mich gern am Fundort der Leiche umsehen.«

Der Trooper zuckte die Achseln. »Tun Sie sich keinen Zwang an! Viel zu sehen gibt’s allerdings nicht mehr. Ist schon alles abtransportiert worden.«

»Macht nichts. Bitte, lassen Sie sich durch meine Anwesenheit gar nicht weiter stören!«

»Wie Sie wünschen, Sir.« Der Trooper stieg sichtlich erleichtert in seinen Dienstwagen und zog die Tür zu.

Der Agent tauchte geschmeidig unter dem Absperrband durch und ging zu der knapp zwanzig Meter entfernten Lichtung hinüber, auf der Sheriff Hazen die Tote gefunden hatte. Der Trooper hatte Recht, außer Staub, geknickten Maisstängeln und unzähligen verwischten Fußspuren gab es nicht mehr viel zu sehen. Das heißt, abgesehen von der Stelle in der Mitte der Lichtung, an der sich auf dem trockenen Boden ein nicht sonderlich großer rötlicher Fleck abzeichnete.

Trotz der unbarmherzigen Sonne harrte Pendergast eine Viertelstunde reglos auf der Lichtung aus. Nur seine Augen bewegten sich, während sie all das aufsogen, was die Lichtung – zumindest ihm – noch an Anhaltspunkten preisgab. Dann versenkte er die Hand in den unergründlichen Tiefen seines Jacketts und förderte ein Foto der Leiche zutage, so wie sie aufgefunden worden war, aus nächster Nähe aufgenommen. Ein zweites Foto zeigte die ganze Lichtung einschließlich der auf Indianerpfeile gespießten Krähen und der Palisade aus Stöcken.

Pendergast blendete das Bild aus, das er tatsächlich sah, und ersetzte es in seiner Vorstellung durch die Szene, die sich Sheriff Hazen in der Nacht der großen Polizeiaktion geboten haben musste. Allein und ungestört konnte er sich so lange in das fiktive Szenario versenken, bis er sich sämtliche Details minutiös eingeprägt hatte.

Er ließ die Fotos wieder in der Jacke verschwinden, ging ein paar Schritte und inspizierte dabei den trockenen Boden. Die herumliegenden kräftigen Rispenstängel waren abgebrochen worden, nicht abgeschnitten. Er ging am Rand der künstlichen Lichtung, da, wo der Mais noch unversehrt hochragte, auf die Knie, packte einen der dicken Rispenstängel und versuchte, ihn möglichst dicht über dem Boden abzubrechen. Aber wie sehr er sich auch abmühte, er schaffte es nicht.

Pendergast kehrte auf die Lichtung zurück. Es gab keine Spuren mehr zu verwischen, er brauchte also keine Rücksicht zu nehmen, sondern konnte sich frei bewegen. Hin und wieder pickte er mit der Pinzette etwas vom Boden auf oder zupfte einen vermeintlichen Fremdkörper von einem Maisstängel ab, aber es stellte sich jedes Mal heraus, dass er den Zufallsfund gleich wieder wegwerfen konnte. Fast eine Stunde nahm er sich für die Spurensuche Zeit. Und das bei gnadenloser Hitze und in seinem nicht eben praktischen schwarzen Anzug – und am Schluss war das Ergebnis gleich null.

Am hinteren Rand der Lichtung angekommen, beschloss er, in die weitgehend unversehrten Reihen des Maisfeldes einzudringen. Dabei kam er auch an der Stelle vorbei, an der Sheriff Hazen den an den Stängeln hängen gebliebenen Stofffetzen entdeckt hatte; das zur Markierung angebrachte Schildchen war nicht zu übersehen.

Er suchte die Reihe der Maispflanzen sorgfältig ab, aber es gab so viele Stiefel- und Hundespuren, dass er sich die Mühe sparen konnte. Die Trooper hatten zwei Suchhunde auf die erhoffte Spur angesetzt, aber die Tiere hatten sich nach wenigen Minuten einfach hingekauert, um anzuzeigen, dass sie die Fährte verloren hatten.

Pendergast blieb stehen und zog aus dem Jackett eine Luftaufnahme vom Fundort der Leiche und der Umgebung, aufgenommen vor dem Mord. Immerhin war auf dem Hochglanzfoto zu erkennen, dass die Reihen des Maisfeldes – entgegen dem Eindruck, den man hatte, wenn man mittendrin stand – nicht schnurgerade, sondern eher willkürlich und der Landschaft angepasst gezogen waren. Und so konnte Pendergast anhand der eigenwillig geschwungenen Krümmung ziemlich genau den Punkt bestimmen, an dem er sich befand.

Er zwängte sich mit einiger Mühe durch die angrenzenden Reihen, wobei ihm rasch klar wurde, dass die Luftaufnahme doch eine gute Hilfe war. Sie zeigte nämlich deutlich, dass die Maisreihen, deren Verlauf er folgte, zur Ebene am Rande von Medicine Creek abfielen und schließlich am Bachufer endeten, und zwar da, wo der Bach, nachdem er zuvor eine weite Schleife beschrieben hatte, wieder in Richtung der Stadt floss.

Da sich kein Lufthauch regte, glich das Innere des Maisfeldes einem wahren Glutofen, in dem alles Leben gestorben zu sein schien, aber Pendergast spürte die lähmende Hitze anscheinend überhaupt nicht. Der Boden fiel immer deutlicher ab, es konnte nicht mehr weit bis zum Bachufer sein. Die Monotonie der Landschaft wirkte bedrückend, so weit das Auge reichte, gab es nur noch prallvolle, erntereife Maiskolben.

Allmählich lichtete sich die bislang nahezu undurchdringliche Wand aus Maisstängeln, und kurz darauf tauchte vor Pendergast das sandige Bachufer auf. Er blieb stehen und suchte den Boden ab. Und als hätte er’s geahnt: Im festen, feuchten Sand zeichneten sich die tief eingedrückten Spuren nackter Füße ab. Er kauerte sich auf den Boden, legte die Hand in einen Abdruck, versuchte, dessen Tiefe abzuschätzen, und kam zu dem verblüffenden Ergebnis, dass der nackte Fuß stellenweise bis über die Knöchel in den Sand eingesunken war. Was den Agent zu der Schlussfolgerung führte, dass der Mörder eine schwere Last getragen hatte – zum Beispiel eine Leiche.

Pendergast stand auf und folgte den Spuren bis zu der Stelle, an der sie sich im Wasser verloren. Dann suchte er das gegenüberliegende Ufer ab, um die Einstiegsstelle zu finden. Vergeblich, obwohl er ein weites Stück am Ufer entlangwanderte, mit der Strömung und in Gegenrichtung. Was zu einer zweiten Schlussfolgerung führte: Der Mörder musste eine weite Strecke im Bachbett zurückgelegt haben.

Pendergast gab die Suche auf, tauchte wieder in das Meer aus Maispflanzen ein und ging zu der künstlich in das Maisfeld geschlagenen Lichtung zurück. Die kleine Stadt Medicine Creek lag wie eine Insel in dem gelben Meer, ging ihm durch den Kopf. Es war sicher nicht einfach, sich einer Stadt zu nähern, in der jeder jeden kannte und Hunderte von Augenpaaren auf der Lauer lagen, um – sei es von der Veranda oder vom Fenster – jedes fremde Auto zu registrieren. Alte Leute haben viel Zeit, und Medicine Creek war eine Stadt der alten Leute geworden.

Für einen Fremden gab es im Grunde nur eine Möglichkeit, die kleine, zwanzig Meilen von der nächsten Ansiedlung entfernt gelegene Stadt ungesehen zu erreichen: Er hätte sich einen Weg durch das Meer aus Maisstängeln bahnen müssen. Und damit lag die dritte Schlussfolgerung nahe: Der Mörder war in Medicine Creek zu Hause, er lebte mitten unter ihnen.

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7

Harry Hoch, dessen Agentur für landwirtschaftlichen Bedarf als zweitbeste Adresse in der ganzen Cry County galt, nahm eigentlich keine Anhalter mehr mit, aber in diesem Fall gedachte er eine Ausnahme zu machen. Der Gentleman am Straßenrand sah so unsäglich traurig aus, und sicher nicht ohne Grund, er trug Schwarz. Hochs Mutter war vor knapp einem Jahr gestorben, er wusste, wie einem da zumute ist.

Also lenkte er seinen Ford Taurus auf den geschotterten Seitenstreifen, hielt an, winkte dem Fremden einladend zu und kurbelte, als der Mann näher kam, das Seitenfenster herunter. »Wohin wollen Sie, guter Freund?«

»Zum Krankenhaus in Garden City, wenn Ihnen das nicht zu viele Umstände bereitet.«

Harry Hoch nickte mitfühlend. Im Kellergeschoss des Krankenhauses wurden die Leichen aufbewahrt. Der arme Kerl tat ihm Leid. »Kein Problem, steigen Sie ein!«

Er musterte den Mann verstohlen. Mit seinem blassen Teint konnte der sich, wenn er nicht aufpasste, schnell einen bösen Sonnenbrand einfangen. Na ja, er war eben nicht aus der Gegend, das hatte Hoch gleich am Dialekt gemerkt.

»Ich heiße Hoch, Harry Hoch.« Er streckte dem Fremden die Hand hin.

Ein fester Händedruck, der sich kühl und trocken anfühlte. »Es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Pendergast.«

Kein Vorname. Vielleicht war das da, wo der Mann herkam, nicht üblich. Hoch drehte die Klimaanlage weiter auf, legte den Gang ein und preschte los.

»Macht Ihnen die Hitze nichts aus, Pendergast?«

»Um ehrlich zu sein, Mr. Hoch, ich fühle mich bei solchen Temperaturen ausgesprochen wohl.«

»Alles schön und gut, aber fünfundvierzig Grad und dazu hundert Prozent Luftfeuchtigkeit?« Hoch lachte. »Da können Sie auf meiner Motorhaube glatt Spiegeleier braten.«

Keine Reaktion, nur ein höfliches Nicken.

Ein komischer Kauz. Na gut, wenn sein Fahrgast nicht auf einen Plausch aus war, hielt er eben auch den Mund. Er trat das Gaspedal noch mehr durch. Zu sehen gab’s hier sowieso nichts, eine Meile sah wie die andere aus, und auf Nebenstrecken wie dieser musste man nicht mit Cops rechnen, die einem ein saftiges Bußgeld wegen Überschreitung der Geschwindigkeitsbegrenzung aufbrummten.

Hoch war prächtig gelaunt. Er hatte gerade eine Erntemaschine (Schnittbreite sechs Reihen!) mit integriertem Häcksler verkauft, alles in allem ein Hundertzwanzigtausend-Dollar-Deal – und bereits der dritte in dieser Saison. Dafür hatte er sich ein Wochenende in San Diego verdient, ordentlich einen zur Brust nehmen und im Del Mar Blu ein paar schnuckelige Miezen aufreißen.

Die Straße wurde breiter, links und rechts tauchte eine Ruinenlandschaft auf: halb verfallene Häuser, bei einem zweistöckigen Gebäude – früher der Supermarkt des Ortes – fehlte das Dach, die Zufahrt zum Getreidesilo war völlig verwahrlost …

»Was ist das?«, fragte Pendergast.

»Das ist Crater. Oder richtiger gesagt: Das war Crater. Bis vor dreißig Jahren eine propere Kleinstadt. Inzwischen ausgeblutet wie so viele andere. Zuerst macht die Schule zu, danach der Lebensmittelladen, und wenn dann noch der Saloon schließt, ist es höchste Zeit, zu packen und wegzuziehen. Das Städtesterben ist ansteckend wie eine Seuche. Gestern war’s Carter, morgen kann’s DePew erwischen, und übermorgen ist vielleicht Medicine Creek dran.«

Pendergast nickte. »Die Soziologie einer sterbenden Stadt ist ziemlich vielschichtig.«

Da Hoch nicht ganz sicher war, was der Fremde damit gemeint haben könnte, verschanzte er sich vorsichtshalber hinter beredtem Schweigen.

Knapp eine Stunde später tauchten die gewaltigen Türme der Silos von Garden City vor ihnen auf; von der in einer Mulde gelegenen Stadt war noch nichts zu sehen. »Ich setze Sie direkt am Krankenhaus ab, Mr. Pendergast«, versprach Hoch. »Und was ich noch sagen wollte – das mit dem Todesfall tut mir Leid, wer immer es war. Ich kann nur hoffen, dass es Sie nicht allzu schwer getroffen hat.«

Erst als sie auf die in Bonbonrot gehaltenen, von großen Parkflächen eingerahmten Backsteingebäude des Krankenhauses zufuhren, sagte Pendergast: »Die Zeit ist ein Sturm, der uns alle vor sich hertreibt, Mr. Hoch.«

Harry Hoch brauchte gut eine halbe Stunde, bis er das unheimliche Kribbeln im Nacken, das Pendergast mit seiner rätselhaften Bemerkung ausgelöst hatte, nicht mehr spürte.

 

Sheriff Hazen kam sich in dem zwei Nummern zu großen Chirurgenkittel und mit dem Papierhäubchen auf dem Kopf wie ein Hanswurst vor. Er starrte verbissen auf den Rollwagen mit der Toten. Am rechten Zeh hing ein Pappschild, aber er wusste auch so, dass es sich um Mrs. Sheila Swegg handelte, zweimal geschieden, kinderlos, wohnhaft im Trailer Park, Wohnwagen 40A, Whispering Meadows bei Bromide in Oklahoma.

Weißer Pöbel, sonst gar nichts.