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Jürgen Seibold

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Beschreibung

Die Kripo Kempten ist in hellem Aufruhr. Nach spektakulär gescheiterten Mordermittlungen soll ein neuer Hauptkommissar übernehmen – ein Niedersachse. Ein Skandal im traditionsbewussten Allgäu und denkbar schlechte Voraussetzungen für Eike Hansen. Sein erster Fall: Ein Mann soll von der Lechbrücke gestürzt sein. Doch als die Beamten am vermeintlichen Tatort eintreffen, fehlt von der Leiche jede Spur ...

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-95913-1

© 2013 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung und Artwork: Cornelia Niere, München

Umschlagmotiv: Laurence Dutton, Davies + Starr/Getty Images (Pferd und Wimpel), shutterstock (Stall)

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Sonntag, 2. Juni

Bei schönem Wetter ließ Horst Pröbstl seine Sonntage am liebsten auf dem Pferdehof ausklingen. Bis zur Mittagszeit schnorrte er am Stammtisch im Lechstüberl vier Halbe, danach steckte er sich daheim eine Flasche Doppelkorn und zwei Scheiben Schwarzbrot in die Jackentaschen und trottete hinaus zum südwestlichen Ortsrand von Lechbruck.

Seit Thomas Ruff, ein ehrgeiziger Pferdezüchter aus dem knapp zehn Kilometer entfernten Burggen, die mürrische Marlene Hachberger geheiratet und den Bauernhof ihrer Eltern übernommen hatte, war aus dem etwas heruntergekommenen Allerweltshof ein schmuckes Anwesen geworden. Ruff hatte noch ein paar angrenzende Wiesen dazugekauft und komplett auf Pferdezucht umgestellt. »Ruffs Rossparadies« prangte in kitschig geschwungener Schrift auf dem Holzschild über dem Einfahrtstor. Zwischen den beiden Worten befand sich eine Schnitzerei, die ein steigendes Pferd darstellte, das Gelände dahinter gehörte, so weit das Auge reichte, zum Ruff’schen Hof.

Pröbstl schlurfte durch das Tor, umrundete die Stallungen und ließ sich auf seinem üblichen Platz nieder. Von hier aus hatte er einen herrlichen Blick über den Pferdehof und über die von idyllischen Reitwegen durchschnittenen Waldstücke, vor allem aber auf Salvatores Stall mit dem großen Fenster, dessen Klappladen meistens offen stand.

Salvatore war Ruffs wichtigster Deckhengst und wurde von seinem Besitzer wie ein rohes Ei behandelt. Sein Stall war der schönste, und wann immer die Sonne schien und er nicht draußen herumtollen durfte, streckte er seinen langen Hals zum Fenster heraus und ließ sich die frische Luft um die Schnauze wehen.

Auch heute schaute das Tier mit seinen dunklen Augen aufmerksam nach draußen. Die Ohren waren aufgestellt, und die Sonne brachte sein helles Fell zum Leuchten. Pröbstl versuchte ein Wiehern, und Salvatore schnaubte gutmütig zurück. Eine halbe Flasche Korn später brachte Pröbstl nur noch ein undeutliches »Wihihi« zustande, woraufhin Salvatore leise wieherte, als würde er sich über den Betrunkenen lustig machen; dann zog er den Kopf ein und erklärte die Audienz damit für beendet.

Als Pröbstl wieder aufwachte, begann die Sonne schon unterzugehen. Er rappelte sich fluchend auf, weil ihm die offene Schnapsflasche fast ganz ausgelaufen war, und schraubte sie wieder zu. Hätte Salvatore nicht mit den Hufen gegen seinen Holzverschlag getrommelt, wäre Pröbstl verärgert heimgetorkelt, ohne etwas von den Eindringlingen zu bemerken.

So aber schob er schnell die Flasche in seine Jacke und wankte auf den Stall zu. Der Fensterladen stand noch immer offen, und obwohl das Gebäude schon im Halbdunkel lag, konnte Pröbstl erkennen, dass sich drinnen zwei Gestalten damit abmühten, Salvatore gegen dessen wütenden Widerstand Zaumzeug überzustreifen.

»He, lasst das!«, rief er und beschleunigte seinen Schritt, doch er strauchelte, fiel der Länge nach hin, und dann wurde es schwarz um ihn.

»Pröbstl?«

Thomas Ruff kniete über dem leblos daliegenden Alten und schüttelte ihn, aber es dauerte eine Weile, bis dieser reagierte. Eine intensive Schnapsfahne stieg von ihm auf, und als er sich schließlich mühsam aufrichtete, übergab er sich gleich an Ort und Stelle, bevor er es mit Ruffs Hilfe zumindest auf die Knie schaffte.

»Mensch, Pröbstl, du saufst dir noch den Kragen ab!«

»Sch… scho recht, ich …« Der Alte schüttelte den Kopf, massierte sich die Schläfen, sah sich um.

»Salvatore!«, rief er plötzlich und versuchte aufzustehen. »Thomas, wie geht’s deinem Gaul?«

»Wie soll’s ihm gehen?«

»Da waren gerade zwei Männer …« Pröbstl verstummte und zeigte auf den Stall. »Wie spät ist es eigentlich?«

»Kurz nach acht. Liegst du hier schon länger?«

»Ja, ich …« Pröbstl zog die Flasche aus der Jacke und hantierte am Schraubverschluss.

Ruff nahm sie ihm aus der Hand. »Lass das mal. Was wolltest du mir sagen?«

»Da sind zwei Männer bei Salvatore im Stall gewesen. Die haben … die haben versucht, deinem Hengst Zaumzeug überzustreifen. Was weiß ich … vielleicht wollten sie ihn klauen. Ist Salvatore noch da?«

»Ja, ja, der steht in seinem Stall, alles in Ordnung.«

Pröbstl sah zwischen dem Züchter und der Stalltür hin und her.

»Was genau hast du denn gesehen?«, hakte Ruff nach.

»Eigentlich nur Schatten. Zwei Männer. Ich bin hingerannt, wollte sie verscheuchen, dann bin ich gestolpert …«

»Hast du die beiden erkannt? Oder einen von ihnen?«

»Nein.«

»Und woher weißt du, dass es Männer waren?«

»Ach … na ja … das hab ich mir halt so gedacht.«

»So, so, das hast du dir halt so gedacht.« Ruff sah den Alten forschend an. »Weißt du was, Pröbstl?«

»Hm?«

»Du solltest das Saufen sein lassen. In Salvatores Stall war niemand, das hast du dir nur eingebildet, glaub mir. Erzähl so einen Schmarrn bloß nicht rum, die halten dich sonst noch alle für deppert.«

»Tun sie eh«, brummte Pröbstl, wuchtete sich mit Ruffs Hilfe hoch und blieb leicht schwankend stehen.

»Glaub mir, bei uns ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Sorge, Salvatore geht’s gut.«

Pröbstl stierte zur Stalltür hinüber, doch das Pferd war nicht zu sehen. Wahrscheinlich hatte es sich für die Nacht tiefer in seinen Verschlag zurückgezogen.

»Magst noch einen Kaffee, bevor du heimgehst?«

Ruff hatte einen fürsorglichen Tonfall angeschlagen, aber es war schon klar, dass er den alten Mann damit heimschickte: Noch niemand hatte jemals Pröbstl einen Kaffee trinken sehen.

»Um Gottes willen«, wehrte der dann auch prompt ab, »bloß keinen Kaffee, aber wenn du mir einen Obstler …?«

»Jetzt mach schon, dass du heimkommst!«

Ruff versetzte dem Alten einen freundschaftlichen Klaps, fingerte noch einen Zwanziger aus der Hosentasche und steckte ihn Pröbstl zu. Er sah ihm nach, wie er sich schwankend auf den Heimweg machte.

Dann ging er zu Salvatore in den Stall. Das Pferd stand unruhig in seinem Verschlag und blickte immer wieder ängstlich um sich. Ruff tätschelte ihm besänftigend die Flanken, dann ließ er sich langsam nach unten sinken, blieb auf dem strohbedeckten Boden sitzen und musterte die Schürfwunden, die seine Knöchel von der Rauferei davongetragen hatten.

Hoffentlich hatte er den alten Trunkenbold davon überzeugen können, dass er sich das alles nur eingebildet hätte.

Es war knapp gewesen. Und er hatte keine Ahnung, ob die beiden in einer der folgenden Nächte wiederkommen würden.

Worauf hatte er sich da nur eingelassen?

Montag, 3. Juni

»Und reißts euch fei zamm!«

Damit knallte Kriminaldirektor Benedikt Huthmacher die Tür zum Besprechungsraum hinter sich zu und tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn trocken. Er atmete ein paarmal tief durch, hob den Blick und wollte gerade losmarschieren, um den neuen Leiter des Kommissariats 1 im Foyer zu empfangen – da sah er schon, dass er sich den Weg sparen konnte.

Keine drei Meter entfernt lehnte ein Mann an der Wand, der Mühe hatte, sich ein Grinsen zu verkneifen: Erster Kriminalhauptkommissar Eike Hansen, seit heute neuer Chef des K1 der Kripo Kempten.

»Ah, Herr Hansen … Sie sind schon …?«

Huthmacher räusperte sich, ging auf seinen neuen Mitarbeiter zu, schüttelte ihm die Hand und lächelte ihn entschuldigend an. »Ich hatte gerade noch …«

Dass der Leiter der Kemptener Kripo Sätze gern unvollendet ließ, wenn er sich in einer Situation nicht sicher fühlte, hatte Hansen schon während des Bewerbungsgesprächs bemerkt, doch diesmal war Huthmacher die Verlegenheit deutlich ins Gesicht geschrieben. Offenbar würde der Start hier im Allgäu noch etwas schwieriger werden, als er es ohnehin schon befürchtet hatte.

»Grüß Gott, Herr Huthmacher«, sagte Hansen. Die Begrüßung klang in seinem dialektfreien Hochdeutsch unfreiwillig komisch. »Kann ich mich den Kollegen gleich mal vorstellen? Wenn wir sie schon beisammenhaben.«

»Sie … nun ja … wissen Sie was? Die sollen noch etwas warten. Ich zeig Ihnen erst einmal Ihr Büro, dort trinken wir in Ruhe einen Kaffee, und danach haben Sie immer noch Zeit, die Kollegen …« Er senkte die Stimme. »Dann kann ich Ihnen auch gleich erzählen, warum ich gerade die Tür hinter mir zugedonnert habe.«

Ein Lächeln huschte über sein feistes Gesicht. Überhaupt sah der Kripochef mit seiner fülligen Figur, der hohen Stirn und dem bequem fallenden Anzug recht gemütlich aus – doch das harmlose, fast etwas tapsige Äußere täuschte, wie Hansen aus Gesprächen mit einem Bekannten im bayrischen Innenministerium wusste: Huthmacher war einst selbst Leiter des K1 gewesen, ein begnadeter Ermittler, der seinen Kopf durchsetzte und zugleich seinen Mitarbeitern ein einfühlsamer Vorgesetzter war.

In Hansens Büro roch es frisch gestrichen, der Raum war hell und übersichtlich möbliert: Ledersessel, Schreibtisch, halbhohe Schränke, eine Besprechungsecke.

Eine Frau mittleren Alters kam mit einem Tablett herein, stellte Tassen, Milch, Zucker, Kekse und eine Kanne auf den Besprechungstisch.

»Das ist Rosemarie Schwegelin, meine engste Mitarbeiterin«, sagte Huthmacher. »Sie macht mir sozusagen das Vorzimmer.«

Die Frau hob eine Augenbraue, während sie ihnen Kaffee einschenkte.

»Aber natürlich …«, fügte er rasch hinzu, »… natürlich ist sie keine Sekretärin, sondern hat viele andere Aufgaben. Sie werden häufig mit ihr zu tun haben, Hansen, und wenn Sie irgendetwas brauchen, wenden Sie sich einfach an die Rosie, ich meine, an Frau Schwegelin, ja?«

Sie gab Hansen die Hand, wirkte aber etwas reserviert. Mit einer gemurmelten Entschuldigung zog sie sich zurück und schloss die Tür hinter sich.

Dass die Stimmung in der Kriminalpolizeiinspektion Kempten nicht die beste war, überraschte Hansen nicht. Bei Nesselwang war kürzlich ein junges Paar am Waldrand regelrecht hingemetzelt worden, und obwohl die »Soko Nesselwang« sofort ihre Arbeit aufgenommen hatte, obwohl der erfahrene Kommissar Rolf Hamann und sein Team Tag und Nacht ermittelten, obwohl sie mehreren vielversprechenden Spuren folgten, konnten sie nicht verhindern, dass zwei weitere Pärchen dem Mörder zum Opfer fielen. Als der Täter sich schließlich selbst richtete, kam heraus, dass ihm die Soko gleich nach dem ersten Doppelmord kurzzeitig auf den Fersen gewesen war – doch diese Spur war eine von Hunderten gewesen, eine sehr unplausibel wirkende obendrein, und hatte es nicht in die Vorauswahl jener Hinweise geschafft, die von der Soko vorrangig untersucht wurden.

Hansen kannte so etwas nur zu gut. Das war weder zu vermeiden, noch stellte es einen wirklichen Fehler der Ermittler dar. Eine Leiche in der Nachbarschaft verleitete viele Menschen dazu, der Polizei Hinweise aller Art zu geben – von denen viele völlig nutzlos waren und manche sogar erfunden von einsamen Menschen, die sich endlich auch einmal wichtig fühlen wollten.

Doch die Presse machte Druck, einige Boulevardblätter schoben die Verantwortung für den zweiten und dritten Doppelmord mit knalligen Schlagzeilen allein der Kemptener Kripo zu – und irgendwann kam aus München der entscheidende Anruf. Polizeipräsident Stiller verteidigte seine Leute nach Kräften, konnte aber letztlich nicht verhindern, dass Rolf Hamann, bis dahin Leiter des Kommissariats 1, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde.

Seine neue Stelle verdankte Hansen im Grunde der Tatsache, dass nach der Aufregung über die Doppelmorde als Nachfolger ein externer Bewerber gesucht wurde, der nicht in der Soko Nesselwang mitgearbeitet hatte. Und viel externer als mit einem Niedersachsen ging es kaum.

Das alles wusste Hansen bereits, trotzdem erzählte Huthmacher es ihm noch einmal, und er erzählte sehr ausführlich, um Hansen halbwegs schonend auf die Atmosphäre in seinem neuen Team vorzubereiten.

»Deshalb, Herr Hansen, schaun S’ bitte, dass Sie die Leut zu nehmen wissen.«

Zum Abschied drückte er ihm noch einmal die Hand, dann war Eike Hansen allein in seinem Büro. Eine Weile stand er am Fenster und genoss den Ausblick. Dann setzte er sich wieder, besah sich die Ausrüstung seines Schreibtischs, machte ein paar Notizen, was er in den nächsten Tagen unbedingt noch besorgen musste, und sah schließlich auf die Uhr: Mehr als eine halbe Stunde war vergangen.

Hansen seufzte, stand auf und machte sich auf den Weg zum Besprechungszimmer.

Dienstag, 4. Juni

»Tut mir leid, Pröbstl, aber heut kann ich dir keinen spendieren. Meine Susanne hat mir selbst kaum was mitgegeben.«

Polizeihauptmeister Freddy Kerricht lachte so dröhnend, dass sich zwei Gäste zu ihm umdrehten. Entschuldigend hob er die Hand und lehnte sich grinsend zurück.

»Arschloch«, brummte Pröbstl und schob sich neben Kerricht auf die Eckbank. Außer den beiden saß so früh am Abend noch niemand am Stammtisch des Lechstüberls.

Pröbstl sah sich kurz um, bevor er seine Stimme senkte und dem Polizisten zuraunte: »Am Sonntag hab ich beobachtet, wie zwei Männer beim Ruff in den Pferdestall eingebrochen sind.«

Kerricht nahm einen tiefen Schluck, stellte den Humpen wieder ab, wischte sich den Mund ab und starrte Pröbstl nachdenklich an.

»Aha. Und das erzählst du mir heute, zwei Tage später?«

»Ich … ich war mir nicht sicher, ob ich es mir vielleicht nur … eingebildet hab.«

»Genau das kann ich mir auch gut vorstellen, Pröbstl.«

Kerricht machte eine Bewegung, als würde er aus einer Flasche trinken. Pröbstl wollte aufbrausen, doch der Polizist legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

»Ich weiß ja, dass du sonntags gern oben beim Thomas auf der Wiese rumliegst. Also: Wann am Sonntag willst du den Einbruch denn beobachtet haben?«

»Die Sonne ging grad unter, und ich wollt heim, da seh ich durchs offene Fenster zwei Männer, die dem Salvatore das Zaumzeug überzwingen wollen. Ich bin hingerannt und ins Stolpern gekommen, und dann hat’s mich auf die Wiese gehauen. Anschließend bin ich bewusstlos geworden. Der Thomas hat mich gefunden.«

»Und was sagt er zum Einbruch?«

»Thomas meint, ich hätt mir das alles nur eingebildet, seinem Gaul gehe es gut, und niemand sei im Stall gewesen.«

»Na, siehst du«, nickte Kerricht und nahm noch einen Schluck. »Hast du’s dir also doch nur eingebildet.«

»Aber ich …«

»Rudi!«, rief der Polizist zum Tresen hinüber. »Mach doch dem Pröbstl ein Bier und schreib’s auf meinen Deckel, ja?«

Der Wirt nickte, zapfte und stellte kurz darauf einen vollen Humpen auf den Tisch.

»Prost, Pröbstl«, sagte Kerricht und hob seinen Krug, »und danach schleichst di. Wir haben heut Schafkopfabend, da muss ich mich auf meine Karten konzentrieren.«

»Aber …«

»Trink dein Bier und halt’s Maul! Thomas hat dir doch schon am Sonntag gesagt, dass du dir da was zusammenspinnst! Mei, wenn seinem Superstecher auch nur ein Haar gekrümmt wird, rastet der doch aus – glaub mir, da war nix.«

Mittwoch, 5. Juni

Eike Hansen faltete den Umzugskarton zusammen und legte ihn draußen auf den Stapel. Das Dach des alten Bauernhauses stand an dieser Stelle etwas über, und neben einem großen Brennholzstapel, neben Schaufeln, Eimern und anderem Gerät blieb so noch ein geschützter Lagerplatz, den er vor allem jetzt, so kurz nach dem Einzug, gut brauchen konnte.

Es wehte ein sanfter Wind vom Forggensee herüber, und weil er noch Zeit hatte bis zur Fahrt ins Präsidium, nahm er Bogen und Köcher von der Wand und ging gemächlich in den großen Garten.

Die Wiese hinter dem Haus, in dem er sich eingemietet hatte, reichte bis an den See und war ruhig gelegen. Nach links stand bis zum Ferienheim Ehrwang kein anderes Gebäude, und der nächste Nachbar auf der rechten Seite war ein Bauernhof an der Einmündung des Zufahrtswegs in die Bundesstraße 16.

Hansen prüfte die Windrichtung. Nordostwind – die Luft strich vom See her über den Garten hinüber nach Westen, wo in etwa zweihundert Meter Entfernung das Klärwerk und der Wertstoffhof lagen. Er nahm einen Pfeil, legte ihn lose auf den Bogen, drückte den Rücken durch, drehte den Kopf nach links, schloss die Augen und konzentrierte sich ganz darauf, stockgerade auf der Wiese zu stehen. Mit einer langsamen Bewegung zog er dann die Sehne durch, führte sie bis an die Unterseite seines Kieferknochens, visierte die Zielscheibe an, hob den Bogen noch ein wenig – und ließ die Sehne los.

Er mochte das zischende Geräusch, mit dem der Pfeil davonflog. Das satte Einschlagen auf der Zielscheibe hätte er zwar auch gern gehört, aber der Pfeil verfehlte das Gestell mit den weißen, blauen, roten und gelben Kreisen deutlich und schlug dahinter im Gebüsch ein.

Hansen war nur ein bisschen enttäuscht. Er hatte noch nie auf Anhieb eine neue Sportart beherrscht, aber er hatte sich bisher die meisten erfolgreich erarbeitet. Und so, wie er seinen neuen Arbeitsplatz bisher erlebt hatte, konnte er diese Zähigkeit auch dort gut brauchen. Er sah auf die Uhr: Nun war es Zeit loszufahren, den Pfeil im Gebüsch konnte er auch heute Abend noch suchen.

Als er ins Haus ging, schob sich Ignaz langsam aus dem Busch hinter der Zielscheibe. Mit seinem räudigen Fell war er kaum vom Gestrüpp zu unterscheiden. Wütend sah der Kater dem neuen Mieter hinterher, dann wandte er sich um und stupste die Maus ein paarmal mit der Pfote an. Aber da war nichts mehr zu machen: Seine Beute war tot, bevor er sich richtig mit ihr hatte beschäftigen können – und an Spielen war nun ohnehin nicht mehr zu denken. Mit dem langen Pfeil im Leib war die tote Maus viel zu sperrig zum Werfen und Herumkullern.

Hardy Koller, Hannes Rabner, Klaus Frahm und Sabine Altmahr saßen im Besprechungsraum und tranken Kaffee.

»Sind wir uns einig?«

Koller sah in die Runde, alle nickten, nur Sabine Altmahr wirkte nicht ganz überzeugt.

»Ich weiß nicht«, meinte sie. »Immerhin sind wir bei der Kripo und nicht im Kindergarten. Wenn wir den Neuen auflaufen lassen wollen, mach ich natürlich mit, so übel, wie dem Rolf mitgespielt wurde. Aber was ist, wenn plötzlich doch ein Fall reinkommt?«

»Dann stehen wir alle auf der Matte, das ist doch klar! Rosemarie ruft mich an, sobald sich etwas tut, und ich sag euch gleich Bescheid«, versprach Koller. »Aber bis dahin soll er ruhig mal sehen, wie es sich so ganz ohne Team arbeitet, der feine Herr aus dem Norden.«

»Aber er kann doch nichts für Rolfs Pensionierung.«

»Aber wenn Hansen dank unserer Hilfe von Anfang an super dasteht – da ist der Rolf in München ganz schnell vergessen, und die Münchner fühlen sich auch noch bestätigt darin, dass sie ihn so übel abserviert haben. Willst du das etwa?« Koller sah triumphierend in die Runde. »Wollt ihr das? Wo Rolf uns ein so guter Chef war all die Jahre?«

Rabner hustete und grinste dabei. »Mir ist wirklich schon gar nicht mehr so gut – ich glaub, mich hat’s erwischt.«

»Und ich hab viel zu viele Überstunden«, warf Frahm ein. »Da bleib ich für den Rest der Woche einfach mal zu Hause. Im Moment steht eh nichts Dringendes an.«

»Gut«, meinte Koller und nickte. »Und du, Sabine, machst du jetzt mit oder nicht?«

In dem Moment ging die Tür auf: Kriminalmeister Willy Haffmeyer kam ins Zimmer und sah sich fragend um.

»Ist der Neue bei euch?«

»Nein, der ist heute noch nicht da.«

»Aha.«

Haffmeyer verschwand wieder und zog die Tür hinter sich zu.

»Also, Sabine, bist du dabei?«

»Meinetwegen. Aber sobald was reinkommt …«

»… geb ich dir Bescheid, versprochen. Und euch anderen auch. Dann sind wir sofort wieder hier. Dienst ist Dienst, das ist klar.«

»Also gut. Ich nehme meine Überstunden.«

Donnerstag, 6. Juni

So ruhig hatte sich Hansen die Kriminalpolizeiinspektion Kempten nicht vorgestellt, aber seit gestern ging offenbar in seinem Team eine Erkältungswelle um, dazu hatten viele Kollegen freie Tage eingereicht, um aufgelaufene Überstunden abzubummeln – sicher eine Spätfolge der zeitaufwendigen Ermittlungen rund um die Pärchenmorde. Und da im Moment nichts Wichtiges anstand, konnte er die Anträge schlecht ablehnen. Zwar hätte er sich gerne von seinem Stellvertreter Koller einweisen lassen, aber der Kollege hatte sich ihm gegenüber nicht besonders redselig gezeigt – da konnte er sich das nötige Wissen ebenso gut anlesen.

Rosemarie Schwegelin suchte ihm alle Unterlagen heraus, die er anforderte, auch die Akten zu den Pärchenmorden, die seinen Vorgänger den Job gekostet hatten. Jedes Mal, wenn er in Huthmachers Vorzimmer auftauchte, bot sie ihm einen Kaffee an – aber sie hielt mehr Distanz zu ihm, als er das von seinen bisherigen Dienststellen gewohnt war. Vermutlich trauerten alle noch dem alten K1-Chef Hamann nach. Er würde ihnen die notwendige Zeit geben, sich an ihn und seinen Stil zu gewöhnen.

Die aktuellen Pressemeldungen aus den Landkreisen zwischen Neu-Ulm und Memmingen, für die das Polizeipräsidium zuständig war, lasen sich angenehm unspektakulär. Fahrraddiebstähle, abgepumpter Diesel, gestohlene Zeitungsgutscheine, ein betrunkener Fahrer ohne Führerschein und ein Trio, das mit geklauten Leitpfosten in eine Verkehrskontrolle geraten war.

Hansen schmunzelte, dann schenkte er sich Sprudel nach und klappte die dicke Mappe mit den Unterlagen zum Pärchenmord bei Nesselwang auf. Das Gemetzel am Waldrand wirkte in dem emotionslos formulierten Protokoll noch brutaler. Hansen legte einige Fotos vor sich aus, aber das viele Blut, die abgetrennten Gliedmaßen, die beiden obszön angeordneten Leichen der jungen Menschen – all das hatte auch schon der nüchtern formulierte Text vor seinem geistigen Auge erscheinen lassen.

Zwei Stunden lang las er die Berichte, suchte auf der Wandkarte die Tatorte und den Wohnort des Mörders, versetzte sich in die Lage der Ermittler und verschaffte sich einen groben Überblick über die unzähligen Hinweise, die aus der Bevölkerung eingegangen waren. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück, schloss die Augen und dachte nach.

Ein Geräusch ließ ihn die Augen wieder öffnen: Rosemarie Schwegelin stand in der offenen Tür, hielt eine Kaffeekanne in der Hand und sah ihn verwundert an.

»Sie lassen auf Ihren früheren Chef nichts kommen, stimmt’s?«, sagte Hansen nach einer kurzen Pause.

»Ich … natürlich nicht! Wir haben ihn alle gemocht und bewundert. Und wir tun das noch.«

»Das ist gut, Frau Schwegelin. Herr Hamann hat brillant gearbeitet, auch in diesem Fall.« Er deutete auf die Mappe mit der Aufschrift »Soko Nesselwang«. »Und soweit ich das anhand der Akten beurteilen kann, hat keiner im Team einen Fehler gemacht. Und falls doch, dann sicher keinen, der mir nicht auch passiert wäre.«

Das hörte Rosemarie Schwegelin gern, aber zugleich fragte sie sich, ob sich der Neue damit womöglich nur einschmeicheln wollte.

»Ich würde das gerne auch Herrn Koller und den anderen sagen, aber es ist ja gerade keiner da. Außerdem glaube ich nicht, dass die Kollegen das ausgerechnet von mir hören wollen.« Er seufzte und stand auf. »Na ja, wir werden uns schon zusammenraufen, nicht wahr?«

»Ich … äh … wir … ja, sicher.«

Hansen musterte sie kurz, wie sie etwas verlegen vor ihm stand, dann lächelte er. »Früher oder später.«

Ein paar der Schürfwunden hatten sich entzündet, und ein dumpfes Pochen erinnerte Thomas Ruff schon den ganzen Tag lang an die Rauferei vom Sonntag. Doch in Kerstins Bett vergaß er seine Schmerzen schnell. Er genoss es in vollen Zügen, dass seine Freundin sechzehn Jahre jünger, frischer und wilder war als seine Frau.

Irgendwann konnte er nicht mehr. Schwer atmend und verschwitzt lag er auf dem Bett und sah zu der großzügigen Fensterfront hinaus, wo er jenseits des Lech in der Ferne seinen Pferdehof erahnte. Salvatore kam ihm in den Sinn, und sofort waren alle seine Sorgen wieder da.

Kerstin kehrte mit zwei Gläsern Wein zurück ins Zimmer und sah sofort, dass mit Thomas heute nicht mehr viel anzufangen war. Er fing ihren Blick auf und zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Trink, Thommie«, sagte sie und setzte sich mit einem spöttischen Lächeln auf die Bettkante.

Er prostete ihr zu, trank und ließ seinen Blick dabei mit einem Anflug von Besitzerstolz über ihre glatte nackte Haut gleiten, über ihre festen Brüste und den flachen Bauch. Sie fuhr mit dem Zeigefinger seine Mundwinkel nach, und er beugte sich vor und pustete ihr zärtlich übers Schlüsselbein. Auf ihrer Haut stellten sich die Härchen auf.

Sie lachte und gab ihm einen leichten Klaps. »Nein, mein Lieber, heute nicht mehr. Kommst halt morgen wieder, dann schau ich mal, was ich für dich tun kann.«

»Morgen geht nicht, Marlene hat abends Verwandtschaft eingeladen.« Er verdrehte genervt die Augen. »Und dann ist leider auch schon Wochenende.«

»Dann hast du am Montag umso mehr Lust, Thommie.«

Sie gab ihm einen Kuss und warf ihm seine Kleider hin.

»Und jetzt raus mit dir!«

Ihr perlendes Lachen klang noch in ihm nach, als er das Ortsschild Lechbruck passiert und die Lechbrücke erreicht hatte. Selig lächelnd trottete er am Geländer entlang und bemerkte den entgegenkommenden Mann erst, als er fast in ihn hineingelaufen wäre.

Voller Panik hastete Pröbstl nach Hause, so gut es in seinem derzeitigen Zustand ging. Irgendwo unterwegs verlor er seine Weinflasche, doch daran verschwendete er keinen Gedanken. Daheim lehnte er keuchend innen an der Haustür, vor seinem geistigen Auge überschlugen sich die Bilder.

Gerade eben hatte er noch auf einer Landzunge am Lech gelegen und den Pferdezüchter Ruff beobachtet, wie er von seiner Freundin im Nachbardorf zurückkehrte. Doch plötzlich war Ruff auf der Lechbrücke ein Mann entgegengetreten, und dann …

Als sich Pröbstl wieder etwas beruhigt hatte, zog er die oberste Schublade im Flurschränkchen auf und durchwühlte sie nach einem ganz bestimmten Notizzettel. Irgendwann einmal hatte er seinem Nachbarn die Handynummer abgeschwatzt. Freddy Kerricht war Polizist in Füssen und damit für Lechbruck zuständig, ihm musste er unbedingt melden, was er gerade beobachtet hatte.

Als er den Zettel gefunden hatte, begann er die Nummer einzutippen, schreckte dann aber vor dem Telefonat zurück. Was würde Freddy sagen, wenn er ihm schon wieder von einem Verbrechen berichten würde? Dabei hatte er ihm ja schon den Einbruch vom Sonntag nicht geglaubt. Er musste überzeugend wirken. Er musste glaubhaft wirken. Er musste locker und selbstsicher wirken.

Pröbstl legte den Hörer beiseite und holte sich eine Flasche aus dem Küchenschrank. Er setzte sich in die Küche, schüttete die klare Flüssigkeit in ein Wasserglas und trank es aus, schenkte nach, trank wieder. Dann, ein paar Schlucke später, fühlte er sich allem gewachsen, fühlte sich stark und klar … und schlief am Küchentisch ein.

Hansen kam an diesem Abend voller Vorfreude zurück in sein neues Domizil. Er hatte in Kempten einen Feinkostladen gefunden, der frischen holländischen Matjes anpries und ihn auch direkt aus einem kleinen Eichenholzfass heraus verkaufte. Jetzt, Anfang Juni, war die Matjessaison erst gut eine Woche alt, da waren in Norddeutschland und den Niederlanden noch allerlei Matjesfeste zugange – und die Salzheringe hier wirkten nicht weniger frisch als die Exemplare, die er aus Emden und anderen niedersächsischen Städten in Küstennähe kannte.

Also kaufte er, während ihm schon das Wasser im Mund zusammenlief, für sein ganz privates Matjesfest noch Kartoffeln, grüne Bohnen, Zwiebeln und Speck und machte sich auf den Heimweg.

Zu Hause wusch er die Kartoffeln und legte sie in einen Topf mit etwas Wasser, schnitt die Zwiebeln klein, würfelte den Speck und putzte die Bohnen. Nachdem er die Kartoffeln aufgesetzt hatte, machte er sich ein Bier auf und ging nach draußen, um vor dem Kochen noch ein paar Pfeile auf die Zielscheibe zu schießen. Nach vier Pfeilen traf er erstmals die Zielscheibe, und er beschloss, es damit gut sein zu lassen und sein Schützenglück heute nicht allzu sehr zu strapazieren.

Ohnehin musste er nach den Kartoffeln sehen, und außerdem warteten ja die Matjes auf ihn – was allerdings, wie er beim Betreten der Küche feststellte, nicht mehr ganz der Wahrheit entsprach. Der Teller mit den Matjesheringen war leer, und die feuchten Abdrücke von Katzenpfoten führten quer über den Tisch bis zum Hinterausgang der Küche, wo Hansen gerade noch Ignaz, den räudigen Kater seiner Vermieterin, verschwinden sah.

Er ging zum Fenster. Draußen schlich der Kater sichtlich zufrieden ums Haus. Von der Straße her näherte sich ein heiseres »Miez, miez«, und schon stellte der Kater den Schwanz senkrecht in die Höhe und trippelte freudig auf die alte Frau zu, die ihn gerufen hatte.

Walburga Lederer, seine Vermieterin, sah gern täglich nach dem Rechten in dem Haus, das früher einmal ihren Schwiegereltern gehört und das sie nun an Hansen vermietet hatte. Die Lederers waren seinerzeit durch den Verkauf von Bauland so wohlhabend geworden, dass sich die Witwe ein hübsches Häuschen am nördlichen Stadtrand von Füssen hatte leisten können – nicht weit vom Friedhof gelegen, wo sie mindestens einmal am Tag das Grab ihres Mannes besuchte.

Und wenn sie dann schon mal die Jacke anhatte, schwang sie sich gerne noch auf ihr knallrot lackiertes Elektrorad und fuhr zu Hansen hinaus, um nachzusehen, ob der alleinstehende Preuße wohl auch zurechtkam.

Walburga Lederer – sie hatte ihm schon bei ihrer ersten Begegnung angeboten, sie mit »Frau Walburga« anzusprechen, und Hansen vermutete darin eine besondere Ehre – war viel unterwegs und insbesondere, was Essensdinge betraf, stets bereit zu einem spannenden Experiment. In der gesamten Füssener Umgebung gab es inzwischen kein ausländisches Restaurant mehr, das sie nicht kannte. Ihr Mann Alfred hatte sich zu Lebzeiten auf Schweinsbraten, Wild und Haxe konzentriert, und sie holte das jahrzehntelang Versäumte nun eifrig nach.

Eigentlich hatte er heute keine Lust auf einen launigen Plausch mit ihr, aber sie hatte wohl den Speck gerochen, der inzwischen in der Pfanne schmurgelte, und mit einem fröhlichen: »Grüß Gott! Ich stör doch nicht?« war sie auch schon durch die Hintertür in die Küche gehuscht. Den Anblick ihres Mieters, der sich extra seine »Ich liebe die Nordsee«-Schürze umgebunden hatte und gerade etwas Mehl zu dem Speck in die Pfanne schüttete, quittierte sie erst mit einem breiten Grinsen – doch dann siegte die Neugier, und sie trat neben ihn an den Herd.

»Ah, eine Spezialität aus Ihrer Heimat? Was wird das denn?« Sie sah sich um, entdeckte die grünen Bohnen im einen, die Kartoffeln im anderen Topf. »Ich sehe, grüne Bohnen mit Speck und dazu Kartoffeln. Sehr schön, sehr schön – Gemüse ist ja so gesund. Aber mir wär das zu wenig, da fehlt doch ein rechtes Fleisch oder eine deftige Wurst.«

»Oder Matjeshering«, brummte Hansen.

»Stimmt, das wäre noch besser. Gerade für Sie als Nordlicht! Na ja, jetzt hat der Fischladen in der Stadt natürlich schon zu, schade eigentlich.«

Ja, schade, dachte sich Hansen, und als er die Kartoffeln von der Herdplatte zog, sah er aus den Augenwinkeln Ignaz hereinschleichen. Hansen funkelte ihn böse an, und der Kater verzog sein Maul – er wusste ja, dass Katzen nicht lächeln können, aber dieser Gesichtsausdruck kam einem höhnischen Grinsen doch sehr nahe. Ignaz behielt zur Sicherheit den neuen Mieter im Auge und strich dabei schnurrend seinem früheren Frauchen um die Beine.

Seinen vierbeinigen Mitbewohner hatte ihm Walburga Lederer gleich bei seinem ersten Besuch vorgestellt. Seinen Hunger stillte Ignaz mit den Mäusen, die er in dem alten Haus und auf den umliegenden Wiesen in großer Zahl fand, und wenn er Durst hatte, gab es leidlich sauberes Trinkwasser in einer an die Regentonne angeschlossenen Dachrinne. Durch eine Katzenklappe in der Hintertür konnte der Kater raus und rein, wann immer er wollte – und in der Scheune stand ein alter Schrank, aus dem Walburga Lederer bei ihren täglichen Besuchen Trocken- und Dosenfutter für ihren Liebling holte.

»Sie müssen sich gar nicht um ihn kümmern«, hatte sie betont. Seit vorhin wusste er, dass das nicht ganz stimmte.

Sein Arm zuckte im Schlaf und wischte das leere Glas vom Tisch, das mit lautem Klirren auf dem Boden zerschellte. Pröbstl erwachte, musste sich aber erst noch besinnen, bis ihm einfiel, wo er war und was er vorhin hatte machen wollen.

Er schüttelte sich, streckte sich, machte einen großen Schritt über die Glasscherben hinweg und tippte umständlich Freddy Kerrichts Handynummer ein.

»Ja?«, meldete sich Freddy. Im Hintergrund waren Geräusche zu hören, die nicht zur Polizeiinspektion Füssen passten: Gelächter erklang, Gläser klirrten, und irgendjemand erzählte gerade einen Witz zu Ende.

»Ich bin’s, Freddy, der Pröbstl.«

»So spät noch wach? Weißt, ich hab grad so gar keine Zeit, wir sitzen hier noch im Lechstüberl zusammen, aber nicht mehr lang.«

»Tut mir leid, wenn ich dich störe, aber es ist wichtig, Freddy«, setzte Pröbstl an und fügte mit eindringlicher Stimme hinzu: »Und es ist dienstlich!«

»Dienstlich? Jetzt nicht mehr. Ruf mich doch morgen an, ich bin ab acht in der Inspektion zu erreichen, jetzt hab ich Feierabend, und zwar schon lange.«

»Aber der Ruff …«

»Ach, Mensch, Pröbstl, fang doch nicht schon wieder an! Ich hab den Thomas gestern noch getroffen, nichts war mit seinem Gaul – der war richtig sauer auf dich, als er gehört hat, dass du mit mir über den eingebildeten Einbruch gesprochen hast. Da wirst du dir wohl in den nächsten Tagen noch etwas anhören müssen.«

»Ganz sicher nicht«, platzte Pröbstl heraus, und sein Tonfall ließ Freddy nun doch aufhorchen. »Ruff liegt tot unter der Lechbrücke. Ich hab vorhin beobachtet, wie ihn zwei Männer übers Geländer gestoßen haben.«

»Du hast … was?«

»Du musst nur zur Brücke gehen, da siehst du ihn liegen. Direkt am Ufer.«

»Bist du schon wieder besoffen? Den Thomas wirft doch keiner von der Brücke, warum denn auch?«

»Schau halt nach!«

»Jetzt, um halb elf abends? Wann hast du das denn beobachtet, das mit Thomas auf der Lechbrücke?«

»Kurz nach sieben. Kann auch halb acht gewesen sein, ich hab nicht gleich auf die Uhr geschaut.«

»Vor drei Stunden soll das gewesen sein? Behauptest du allen Ernstes, dass der Thomas seit drei Stunden unten am Lechufer liegt, und keiner hat das bemerkt?«

»Ja, ich …«

»Du spinnst doch! Und falls es stimmen würde: Was hast du eigentlich die ganze Zeit gemacht?«

»Ich bin heimgerannt, hatte Panik und wollte dich gleich anrufen.«

»Hast du aber nicht.«

»Ich bin … Ich bin eingeschlafen.«

Am anderen Ende war Gemurmel und Gelächter zu hören, Kerricht aber blieb stumm.

»Freddy? Bist du noch da?«

»Hör mit dem Saufen auf, Pröbstl!«

Dann war die Verbindung beendet.

Maria Waghuberl schlief seit Jahren nicht mehr durch. Erst hatte sie sich darüber geärgert, war nachts schimpfend durch ihr Haus getigert und dabei kein bisschen müde geworden. Schließlich aber hatte sie ihren Frieden mit dem nächtlichen Aufwachen gemacht. Sie hatte nämlich irgendwann begonnen, sich zum Müdewerden ans offene Fenster zu stellen und auf die Lechbrücke hinunterzusehen. Und sie war überrascht gewesen, was zwischen zehn und zwei Uhr alles vor ihrem Haus los war und was man durch aufmerksames Beobachten alles aufschnappen konnte.

Der frühere Wirt vom gegenüberliegenden Restaurant hatte eine Zeit lang immer gegen ein Uhr sein Lokal abgesperrt, war aber im Haus geblieben – und neben seinem alten Lieferwagen stand auf dem Parkplatz oft noch der kleine Flitzer einer seiner Bedienungen. Wenn die beiden nach einer guten Stunde aus dem Gebäude kamen, sahen sie meist recht verstrubbelt aus und verabschiedeten sich in der Regel mit einem langen Kuss.

Inzwischen hatte seine Frau ihn vor die Tür gesetzt und mit einem jungen Koch das Lokal unter neuem Namen wieder eröffnet.

Manchmal torkelten auch noch späte Gäste der Lechbrucker Kneipen herüber, und ab und zu richtete die Polizei auf dem Parkplatz neben dem Lokal eine Alkoholkontrolle ein – fast immer mit Erfolg.

Als Maria Waghuberl diesmal ihr weiches Kissen auf der Fensterbank platzierte und sich erwartungsfroh in die Nacht hinauslehnte, hatte sie das Spannendste wohl schon verpasst. Sehen konnte sie nichts mehr, aber drunten am Lechufer brausten zwei dieser grauslig lauten Mopeds davon. Es klang, als würden die beiden Nachtschwärmer mit ihren Höllenmaschinen über den Lechuferweg im kleinen Wäldchen verschwinden. Was auch immer sie dort um diese Zeit zu schaffen hatten.

Enttäuscht sah sie sich noch ein wenig um, aber die frische Nachtluft machte sie schneller müde als sonst, und so packte sie das Kissen wieder zurück auf die Eckbank, schloss das Fenster und trollte sich wieder ins Schlafzimmer.

Der Anruf hatte Kerricht letztlich doch keine Ruhe gelassen. Nach einer Weile verabschiedete er sich von seinen Freunden am Stammtisch, holte zu Hause eine starke Taschenlampe und ging zur Lechbrücke hinüber. Von der Mitte der Brücke aus sah er in der Dunkelheit die Landzunge vor sich, auf der Pröbstl heute am späten Nachmittag gelegen hatte, und versuchte sich vorzustellen, was sein Bekannter wohl gesehen haben könnte.

Dann ging er zurück in Richtung Lechbruck, bis ihm die Bäume am Ufer die Sicht auf die Landzunge versperrten. Er schaltete die Taschenlampe ein, beugte sich über das Brückengeländer und leuchtete hinunter, aber weder am Lechbrucker noch am gegenüberliegenden Gründler Ufer konnte er etwas Verdächtiges entdecken. Danach schritt er auch die andere Seite der Brücke ab, leuchtete ein wenig umher und ging frustriert nach Hause. Dort überlegte er eine Weile, ehe er die Nummer der Polizeiinspektion Füssen wählte. Semmler, der diensthabende Kollege, war ein alter Freund, der in Urspring wohnte, keine zwei Kilometer von Lechbruck entfernt. Jahrelang hatten die beiden zweimal im Monat miteinander Schafkopf gespielt.

»Und warum rufst mich dann überhaupt an?«, fragte er, nachdem ihm Kerricht vom betrunkenen Pröbstl, von seiner zweifelhaften Aussage und davon berichtet hatte, dass Ruff natürlich nicht tot unter der Lechbrücke lag. »Wenn der Pröbstl b’soffen war und sich das alles bloß zammträumt hat, solltest den Schmarrn am besten für dich b’halten.«

»Ja, ich weiß, aber …«

»Mei, was heißt da ›aber‹? Schau, du weißt es doch selber: Entweder du hast mich nie angrufen, und alles bleibt die Spinnerei vom Pröbstl – oder du meldest mir diese Aussage, und dann fahr ich das volle Programm: Hubschrauber mit Wärmebildkamera, Suchhunde, Feuerwehr, Wasserwacht, alles eben. Oder meinst, ich lass mir das anhängen, dass ich nix unternommen hab – und dann spült’s den Ruff doch noch tot ans Ufer? Da kann i einpacken, nach dem Theater bei der Kripo eh scho glei.«

Kerricht dachte nach. Er wusste ja, dass der Kollege recht hatte, und er hätte es an seiner Stelle nicht anders gemacht.

»Also, was ist«, hakte Semmler nach. »Hast mich jetzt angrufen oder nicht?«

»Ich mach dir einen Vorschlag: Ich hab dich nicht angrufen, aber ganz zufällig schickst mal eine Streife hier vorbei. Hast grad jemanden, der das ohne große Gschicht für mich machen könnt?«

»Mei, Freddy …«

»Ach, komm, jetzt stell dich nicht so an. Die Kollegen müssten eh schon lang mal wieder hier herauskommen.«

Semmler zierte sich noch kurz, dann versprach er, Edgar Rothart und Winfried Abt vorbeizuschicken. Kerricht war erleichtert: Die beiden waren unkompliziert und würden, wenn sich alles, wie erwartet, als Flop herausstellte, die Fahrt nach Lechbruck als das protokollieren, was sie ja auch war: eine normale Streifenfahrt ohne besonderen Anlass.

»Heut Nacht«, sagte Semmler dann noch, »sitzt in Schongau der Paul am Telefon. Den ruf ich auch noch kurz an, vielleicht schickt er ebenfalls einen Wagen – je nachdem, wo der Ruff runtergfalln sein könnt, wärn ja eher die zuständig.«

Kerricht war zufrieden: Paul hatte damals ebenfalls mitgekartelt, wohnte in Bernbeuren, einem Dorf zwischen Lechbruck und Burggen, und auf ihn war ebenfalls Verlass.

»Und während die losfahren, ruf ich noch schnell bei der Marlene Ruff an. Ich denk mir noch einen Vorwand aus und frag sie, ob ihr Thomas daheim ist. Dann weiß ich Bescheid, bis die Kollegen hier sind.«

Das schrille Geräusch des Telefons zerriss die Stille im Haus. Marlene Ruff stand auf und tappte im Dunkeln in den Flur hinaus.

»Hm?«, meldete sie sich leise mit rauer Stimme.

»Freddy hier, Freddy Kerricht. Ich hab dich geweckt, oder?«

»Ja, klar«, brummte sie und sah auf die Wanduhr. »Ist ja auch schon spät.«

»Das tut mir jetzt echt leid. Ist denn der Thomas noch wach?«

»Nein, der schläft natürlich auch schon lang. Was willst du denn von ihm, mitten in der Nacht?«

»Ach, der Pröbstl hatte uns vor ein paar Tagen gemeldet, dass zwei Männer in Salvatores Stall eingedrungen seien, der Thomas hat mir gleich erklärt, dass da nix dran sei – und jetzt wollten wir die Sache halt vollends abschließen, dazu wollt ich noch eine Kleinigkeit von ihm wissen.«

»Jetzt?«

»Tja, Marlene, die Polizei ist rund um die Uhr im Dienst, das weißt du ja.« Kerricht lachte gekünstelt.

»Sehr beruhigend, danke, aber ruhig schlafen kann ich deshalb trotzdem nicht – du hast mich ja geweckt.«

»Ja, hehe, da hast natürlich recht. Aber der Thomas ist schon da, gell?«

»Freilich ist er da, schläft drüben selig. Wo soll er denn auch sein um die Zeit? Aber wecken muss ich ihn jetzt nicht extra, oder?«

»Äh … nein, das … wenn er da ist … äh … soll er sich ruhig ausschlafen. Ich meld mich morgen wieder, ja?«

Damit hatte er auch schon aufgelegt, und Marlene Ruff sah etwas ratlos auf den Hörer. Sie wusste ja, dass Kerricht bei der Polizei Schichtdienst hatte und deshalb auch mal nachts arbeitete – aber deshalb jemanden so spät noch anzurufen?

Kopfschüttelnd legte sie auf und schlurfte zurück zum Gästezimmer, in dem sie sich schon vor Jahren ihren Schlafplatz eingerichtet hatte, doch dann besann sie sich anders, ging den Flur entlang und drückte leise die Tür zum eigentlichen Schlafzimmer auf. Die linke Bettseite, wo sie früher geschlafen hatte, war leer und ohne Bettzeug. Auf der rechten Seite war die Decke sauber umgeschlagen und das Kissen aufgeschüttelt.

In diesem Bett hatte heute Abend noch niemand gelegen. War er über Nacht bei ihr geblieben? Das erste Mal? War es so weit? Und würde er sich jetzt endlich mal trauen, ihr alles zu erzählen?

Ein bitterer Zug spielte um ihren Mund, sie presste die Lippen zusammen und ging zurück in ihr Bett. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie auf dem nassgeheulten Kissen einschlafen konnte.

Der zweite Streifenwagen fuhr auf der Lechbrücke langsam an zwei Uniformierten und einem Mann in Zivil vorbei, die angestrengt über das Geländer hinunterblickten, und parkte dann vor dem Restaurant. Zwei Polizisten stiegen aus, gingen ebenfalls auf die Brücke und begrüßten ihre Kollegen.

»Na?«, fragte Polizeiobermeisterin Sophie Müller von der Inspektion Schongau. »Gibt’s was zu sehen?«

»Nein, natürlich nicht«, brummte Freddy Kerricht, der in Jeans und Windjacke herübergekommen war, nachdem er Marlene Ruff angerufen hatte. Der Lech stellte die Grenze der Polizeizuständigkeit zwischen Füssen und Schongau dar.

Sophie Müllers Beifahrer Roland Wöhr leuchtete mit der Taschenlampe hinunter und ließ den Lichtkegel am Ufer des Lech entlangwandern.

»Haben wir auch schon gemacht«, sagte Polizeihauptmeister Edgar Rothart von der Inspektion Füssen, und sein Kollege Winfried Abt hielt seine Mütze fest, während er sich noch einmal weit über das Geländer beugte.

»War einer von euch schon drunten?«

»Ja, leider.« Rothart hob das Bein hoch und ließ seinen schlammverschmierten Schuh sehen.

»Und: nix?«

»Gar nix. Unser lieber Kollege hier«, er nickte etwas mürrisch in Richtung Kerricht, »ist erst gekommen, als ich schon unten im Baaz stand. Der Ruff, der hier angeblich tot liegen soll, schläft selig daheim. Und auch sonst liegt dort drunten keiner.«

»Tja«, sagte Kerricht schließlich, »war wohl tatsächlich der Fehlalarm, den ich schon befürchtet hatte. Ich werde ein ernstes Wort mit Pröbstl reden müssen.«

»Ach, der will das gesehen haben?« Rothart schnaubte. »Und weil der sich den Kragen absäuft, stehen wir alle mitten in der Nacht hier rum? Na, super!«

»Macht doch nichts, Edgar«, meinte Roland Wöhr grinsend. »Dann haben wir euch wenigstens mal wieder gesehen. Und ich finde, man kann schon mal nachts zum ›Hin + Mit‹ fahren, oder nicht?«

Alle lachten, nur Sophie Müller, die noch nicht lange in Schongau Dienst tat, fragte: »Wieso ›Hin + Mit‹?«

»Weil man abends als Streife hierhin fährt – und meistens gleich einen betrunkenen Autofahrer mitnehmen kann«, brummte Kerricht. »Aber bleibt bitte mal schön auf eurer Schongauer Seite, ja? Ich hatte heute Stammtisch im Lechstüberl, da müsst ihr nicht unbedingt meine Kumpels kontrollieren.«

»Ach, dann blas doch du gleich mal«, rief Wöhr von der anderen Straßenseite herüber und lachte. »Du bist ja jetzt auf der Schongauer Seite!«

Mit gespieltem Schreck machte Kerricht einen Satz zurück neben das Lechbrucker Ortsschild.

»Glaubst du, ich setz mich heut noch ans Steuer?«

Er tippte sich an die Stirn, drehte sich um und ging über die Brücke davon.

Freitag, 7. Juni

Als Kerricht völlig übermüdet die Frühschicht antrat, rief er die Berichte der vorigen Nacht auf: Semmler hatte seinen Anruf tatsächlich nicht vermerkt, und auch der Bericht von der Streifenfahrt enthielt nichts, was auf die nächtliche Suche an der Lechbrücke hingedeutet hätte. Abt und Rothart hatten auf ihrer Weiterfahrt direkt nach dem Ortsausgang Lechbruck einen Wagen im Straßengraben bemerkt – mit offener Fahrertür und noch warmem Motor. Der Fahrer war einfach zu Fuß weitergegangen, und keine hundert Meter vom Wagen entfernt hatten sie ihn eingeholt und gleich zur Blutprobe mitgenommen.

Gegen halb acht wählte er die Handynummer von Hardy Koller, dem stellvertretenden Kripochef, mit dem er seit der Zusammenarbeit in einem vertrackten Fall recht vertraut war. Ihm erzählte er noch einmal die Geschichte vom betrunkenen Pröbstl und dem Mord, den er beobachtet haben wollte, zu dem es aber keine Spuren und vor allem keine Leiche gab. Er erzählte ihm auch von der inoffiziellen Suche in der vergangenen Nacht – und wie er selbst per Telefon von Ruffs Frau erfahren hatte, dass ihr Mann während der ganzen Aufregung seelenruhig daheim lag und schlief.

Hinterher war Kerricht beruhigt. Nun wusste es die Kripo auch, und er hatte sich einem Kollegen anvertrauen können, der ihm notfalls Ärger vom Hals halten konnte. Nur eines wunderte ihn im Nachhinein: Koller hatte sehr erfreut geklungen, als Kerricht mit der Geschichte fertig gewesen war, und hatte ihn fast fröhlich verabschiedet – dabei konnte er sich nicht recht vorstellen, was an dieser etwas heiklen Geschichte so amüsant sein sollte. Doch dann wurde ein schwerer Verkehrsunfall bei Hopfen gemeldet, und Kerricht machte sich, so schnell er konnte, mit einem Kollegen auf den Weg.

Knapp zehn Minuten später hatte Koller mit allen telefoniert, und bis auf Sabine Altmahr, die sich noch immer zierte, aber schließlich einwilligte, ebenfalls mitzuspielen, waren die Kollegen sofort mit der nötigen Schadenfreude bei der Sache.

Koller versprach, sie alle auf dem Laufenden zu halten, weil sie ja sonst von zu Hause nichts mitbekommen hätten.

Dann wählte er eine Durchwahlnummer in der Kripoinspektion Kempten.

»Guten Morgen, Frau Schwegelin.«

Hansen hatte kurz angeklopft und gleich danach die Tür zu Huthmachers Vorzimmer aufgedrückt. Rosemarie Schwegelin saß am Computer, eine dampfende Kaffeetasse auf der einen und einen Block mit handschriftlichen Notizen auf der anderen Seite der Tastatur.

»Sagen Sie mal: Ist denn heute überhaupt jemand gekommen?«

Er hielt die Mappe mit den Krank- und Freimeldungen hoch, die sie ihm gleich zu Dienstbeginn ins Büro gebracht hatte, und ließ sie auf den Schreibtisch klatschen.

»Na ja«, meinte Rosemarie Schwegelin, »die Kollegen müssen halt irgendwann mal ihre Überstunden nehmen. Und wenn einen die Erkältung erwischt … was will man machen.« Sie fischte ein paar Unterlagen aus ihrem Eingangskorb.

»Wenigstens haben wir gerade keinen Mordfall auf dem Tisch.«

»Das stimmt leider nicht ganz, Herr Hansen.«

Erst jetzt bemerkte er die schmale Akte, die sie in der Hand hielt. »Was ist das?«

»Kam heute Nacht rein, ein Mann soll in Lechbruck von der Brücke gestoßen worden sein.«

»Was heißt das: soll gestoßen worden sein?«

Er ließ sich den Aktendeckel geben und nahm das einzige Blatt heraus, das sich darin befand. Die Meldung sah nicht sehr offiziell aus, vor allem hätte er sie eher im Intranet erwartet, und als Absender wäre die zuständige Polizeiinspektion Füssen üblich gewesen.

»Wo kommt das her?«, fragte er.

»Das hab ich vorhin getippt, ich wollt’s Ihnen gleich rüberbringen.«

»Aha?«

»Na ja«, druckste sie herum und war sich im Moment nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, sich von Koller zum Mitmachen bewegen zu lassen. »Das ist etwas kompliziert. Und eigentlich ist das auch keine richtige Akte, weil …«

Hansen sah sie schweigend an.

Ende der Leseprobe