"Rote Banditen" - Wilhelmine Goldmann - E-Book

"Rote Banditen" E-Book

Wilhelmine Goldmann

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Beschreibung

Wilhelmine Goldmann gehört zu den VertreterInnen jener Generation, die erst sehr spät angefangen hat, Fragen zu stellen. Die Geschichte ihrer Familie, vor allem die folgenschweren Auswirkungen des österreichischen Bürgerkriegsjahres 1934, blieb ihr lange verborgen. Es bedurfte mühsamer Recherchearbeit, um sie an die Oberfläche zu holen. Das Ergebnis ist eine über das Private hinausgehende Erzählung einer österreichischen Arbeitergeschichte. Am Beispiel ihrer Eltern macht Wilhelmine Goldmann die Entwicklung der Arbeiterklasse aus tiefem Elend zu Bildung und Wohlstand sichtbar. Ausgangspunkt ist der Industrieort Traisen im südlichen Niederösterreich. Den Eltern der Autorin war trotz Schulerfolgen eine höhere Bildung verschlossen. Immerhin konnte der Vater eine Lehre als Schriftsetzer abschließen, die Mutter erkämpfte sich einen Platz in der Handelsschule. Schon in ihrer Jugend begannen beide, sich politisch zu engagieren. Als überzeugte SozialdemokratInnen kämpften sie für Gerechtigkeit und Bildung und verteidigten im Schicksalsjahr 1934 die demokratische Republik gegen die Dollfuß-Diktatur. Nach 1945 nahm Goldmanns Vater seine politische Tätigkeit in Traisen wieder auf, engagierte sich am Wiederaufbau der Republik und wurde 1961 zum Bürgermeister von Traisen gewählt. Die schmerzliche Erfahrung des Jahres 1934 hat nicht nur das Leben seiner Generation geprägt, sie ist bis heute Konfliktstoff in der österreichischen Innenpolitik. Den Hass der "Bürgerlichen" auf die "Sozis" hat die Autorin auch in ihrem Berufsleben verspürt und sich immer gefragt: Wo kommt er her? Ihre Familiengeschichte ist der eindringliche Versuch einer historischen Klärung, der bis heute in beiden politischen Lagern ausgewichen wird, weshalb das Trauma des Bürgerkrieges immer wieder wie eine klaffende Wunde aufbricht.

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Seitenzahl: 355

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Inhaltsverzeichnis
ERSTER TEIL: Meine Eltern – Herkunft, Illusionen und das Jahr 1934
1. »Rote Banditen« oder Falltür in die Vergangenheit
2. Mein Vater, der Schutzbündler
3. Der 12. Februar 1934: Kampf und Niederlage
4. Der Metallarbeiterstreik in Traisen
5. Vom Bauern- zum Proletarierkind
6. Der Kaiser und das proletarische Elend
7. Sozialdemokrat und Schriftsetzer
8. »Arbeitergsindl«
9. Meine Mutter, die Rebellin
10. Das evangelische Ziehkind
11. Kennenlernen auf dem Friedhof von Lilienfeld
12. Gemona
13. Mein Vater im Krieg
14. Das Ende der Monarchie
15. Die Gründung der Republik
16. Ein beispielloses Reformwerk
17. Die Verfassung
18. In Traisen gehen die Uhren anders
19. Lernen, lernen!
20. Wie hältst du’s mit der Religion?
21. Liebe und Politik
22. Arbeitslose und »Tippler«
23. Das langsame Sterben der Republik
24. Der Bürgerkrieg
25. Das Trauma der Hinrichtungen
26. Was wäre gewesen, wenn …
27. Der Schock
28. Die Krankenakte
29. Der Hochverratsprozess
30. Nichts war danach wie vorher
31. Politik im Untergrund
32. Meine Mutter in England
33. Unter den Nazis: Die neue »Normalität«
34. Der Zweite Weltkrieg
35. Entnazifizierung
ZWEITER TEIL: Die Zweite Republik – Last der Vergangenheit und Befreiung
1. Was von der alten Politik übrig blieb
2. Meine Eltern im Wohlstand
3. Franz Bruckner
4. Wiederbegegnung und Enttäuschung (Traisen 2015)
5. Schatten der Vergangenheit: Gymnasium und Internat in Wien
6. Mein Studium und die unbewältigte Vergangenheit
7. Die Arbeiterkammer
8. Sozialpartnerschaft – eine österreichische Besonderheit
9. VÖEST-Krise und Entpolitisierung der Verstaatlichten Industrie
10. Privatisierung der Verstaatlichten Industrie
11. Wenige Frauen unter lauter Männern
12. Meine Familie: Proletarisierung und Entproletarisierung
13. Sozialdemokratie einst und Probleme von heute
14. Woher, warum der Hass?
15. Die Bedeutung der Geschichte
16. Tabu Bürgerkrieg
17. Vergessene Geschichte in Traisen
Ferdinand Lacina: Nachwort
Dank

Wilhelmine Goldmann"Rote Banditen"

  

Geschichte einer sozialdemokratischen Familie

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-913-8(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-523-9)

Coverfoto : Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Über die Autorin

Wilhelmine Goldmann, geboren 1948 in Traisen/Niederösterreich, Studium an der Hochschule für Welthandel, Ausbildung zur Diplomkauffrau. Nach 20 Jahren Tätigkeit in der Arbeiterkammer Wien wirkte sie 16 Jahre lang als Managerin in Führungspositionen der Österreichischen Industrieholding Aktiengesellschaft (ÖIAG), beim Postbus und in der ÖBB Personenverkehr AG. Danach war sie Aufsichtsrätin in verschiedenen Unternehmen, Kuratoriumsvorsitzende der Salzburger Festspiele und Universitätsrätin an der Kunstuniversität Graz. Sie lebt in Wien.

 

 

Für Agnes, Bruno, Lilly, Hannah, Laura und Fabio

ERSTER TEIL:Meine Eltern – Herkunft, Illusionen und das Jahr 1934

1. »Rote Banditen« oder Falltür in die Vergangenheit

Es war Ende der 1980er-Jahre in Israel. Ich war damals Vizepräsidentin des Forschungsförderungsfonds für die gewerbliche Wirtschaft und Teil einer Delegation, die die erfolgreiche Forschungspolitik des Landes studierte. Untertags besichtigten wir israelische Forschungseinrichtungen und diskutierten anschließend unsere Eindrücke. Nach einem Abendessen im Hotel in der Jerusalemer Altstadt unterhielten wir uns in entspannter Atmosphäre auch über andere Themen. Wir sprachen über Politik und bestimmte Bücher. Die Stimmung war freundlich, »sozialpartnerschaftlich«, bis die Rede auf Norbert Lesers Buch »Zwischen Reformismus und Bolschewismus« kam, das 1968 erschienen war. An Lesers Einschätzung der Rolle der Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit und an der Rolle Otto Bauers entzündete sich eine immer emotionaler werdende Diskussion.

»Rote Banditen!«, entfuhr es plötzlich einem älteren Herrn, den ich bis dahin als freundlichen Mitreisenden wahrgenommen hatte. Es war der Präsident meines Fonds, ein Funktionär der Industriellenvereinigung. Ich glaubte zunächst, mich verhört zu haben. Hatte er wirklich »rote Banditen« gesagt? Ich war fassungslos. Ich dachte sofort an meine sozialdemokratischen Eltern, aufrechte, überzeugte Demokraten – die sollen also Banditen, Verbrecher gewesen sein? Das war ein Schlag in die Magengrube. Was erlaubte sich dieser Kerl?! Einen Augenblick rang ich nach Luft, wäre gern auf den kleinen, alten Mann losgegangen. Aber ich war wie gelähmt und brachte kein Wort heraus. Ich stand auf und ging auf mein Zimmer. Dort heulte ich hemmungslos und schlug mit der Faust in blinder Wut auf mein Bett.

Die Wucht der Emotionen, die da plötzlich über mich hereinbrachen, überraschte, ja erschreckte mich, ich hatte dafür keine Erklärung. Was war los mit mir? Wieso regte mich der alte Herr so auf? Warum zitterte ich vor Wut? Und gegen wen richtete sich diese Wut eigentlich? Auf die Feinde meines Vaters und meiner Mutter? Was haben ihre Gefühle und ihre Geschichte mit mir zu tun? Und warum ging mir das so nahe, dass ich mich an diesem Abend so hilflos, fast ohnmächtig fühlte?

Heute frage ich mich, ob es die gleiche Wut war, die meine Eltern damals gegenüber der Heimwehr und den Christlichsozialen empfunden haben müssen. Sie hatten 1934 für die Demokratie gekämpft und dabei alles verloren: Die christlichsoziale Diktatur ermordete ihre Freunde und nahm ihnen Freiheit, Wohnung und Arbeit.

Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie sehr ich mich mit meinen Eltern und deren politischer Geschichte identifizierte. Die war fünfzig Jahre lang eher verdrängt worden, aber nun hatte sich eine Falltür in die Vergangenheit geöffnet. Ja, die Dreißigerjahre hatten offenbar auch etwas mit mir zu tun, aber mir war noch nicht klar, was genau.

Damals lebte mein Vater noch. Er hatte nie über seine persönlichen Erlebnisse in der Bürgerkriegszeit gesprochen. Und ich hatte ihn nie gefragt. Nun, als ich anfing, über all das nachzudenken, tauchte ein wenige Jahre zurückliegendes Ereignis in meiner Erinnerung auf, das ich scheinbar schon vergessen hatte, weil es mir unbedeutend, vielleicht sogar ein wenig peinlich erschienen war – dabei hatte sich mein Vater darauf wie auf kaum etwas anderes vorbereitet: Es war die Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Februarereignisse in Traisen.

2. Mein Vater, der Schutzbündler

Der 12. Februar 1984 war ein Sonntag, ein kalter, grauer Tag. Es war genau eine Woche nach dem Begräbnis meiner Mutter. Ich kam nun öfter an den Wochenenden mit meiner Familie nach Traisen. In dem kleinen Industrieort südlich von St. Pölten hatte ich meine Kindheit verbracht. Bis heute ist der Ort nicht nur mit wichtigen Erinnerungen verbunden, die Bedeutung meiner sozialen Herkunft, meiner späteren Entwicklung – und indirekt auch die meiner Kinder – ist untrennbar mit ihm verknüpft. Das wurde mir vielleicht erst damals, an diesem Februarsonntag, so richtig bewusst.

Nach dem Mittagessen begann mein Vater nervös im Haus herumzulaufen. Er zog Anzug und Krawatte an und suchte einige Zettel auf seinem Schreibtisch zusammen. Auf meine Frage nach seinem Vorhaben antwortete er knapp wie immer: »Ich muss ins Volksheim, zur 12.-Februar-Veranstaltung.« Da kam mir der Gedanke, ihn zu begleiten. »Ich würde gern mitkommen«, sagte ich. Er zuckte mit den Schultern und nickte. Er war verwundert und vielleicht auch ein wenig erfreut über mein plötzliches Interesse.

Ich wusste, dass er 1934 Parteiobmann der SDAP1-Ortsorganisation Traisen gewesen war, dass er den örtlichen Schutzbund mitbegründet hatte, und wie viele seiner Genossen war er damals bereit, Freiheit und Demokratie gegen die austrofaschistische Diktatur zu verteidigen. Es war selbstverständlich, dass er bei der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Fe­bruarkämpfe das Wort ergreifen würde. Schließlich war er einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen. Fast jeder im Ort kannte ihn, er war hier jahrelang Bürgermeister gewesen, und er hatte Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Traisental geschrieben.

Ich begleitete meinen Vater mit zwiespältigen Gefühlen: Einerseits war ich stolz, die Tochter eines Februarkämpfers zu sein, und freute mich auf die Veranstaltung, andererseits bangte ich um die Konstitution meines Vaters. Er war sechsundachtzig und nicht mehr gut auf den Beinen, und er hatte eben erst seine Frau verloren, die er über alles geliebt hatte.

Ich hängte mich bei ihm ein und spürte seine Aufregung. Wir gingen schweigend und vorsichtig durch matschige Straßen, wichen mehr oder weniger geschickt den Pfützen aus, die der schmelzende Schnee hinterlassen hatte. Viel zu früh kamen wir beim Volksheim an, wie immer, wenn mein Vater einen Termin wahrnahm. Aber wir waren nicht die Ersten. Der nunmehrige Bürgermeister, sein politischer Ziehsohn, Honoratioren der Partei und einige ältere Weggefährten meines Vaters waren auch schon da. Sie empfingen uns geradezu ehrerbietig, und ich war in diesem Augenblick sehr stolz auf meinen Vater, der sichtlich bewegt das Volksheim betrat.

Sein Volksheim! Wie sehr hatte er darum gekämpft, dass es 1961 endlich errichtet werden konnte. Als Parteiobmann und Bürgermeister war ihm für seine Gemeinde nicht nur ein großer Veranstaltungs- und Versammlungsraum wichtig, auch eine Bibliothek und einen Lesesaal musste das Volksheim beherbergen. Immer schon war ihm die Bildung der Parteigenossen und -genossinnen ein großes Anliegen gewesen. Schon in den Zwanziger- und Dreißigerjahren hatte er Spenden für die Errichtung eines Arbeiterbildungsheimes gesammelt und dann diese damals beträchtliche Summe von 5000 Schilling im Jahr 1938 an die Nazis abliefern müssen. Bis er seinen Traum von einem Volks- und Bildungsheim für die Traisener Arbeiterschaft verwirklichen konnte, musste er noch lange warten, und eigentlich war es dafür 1961 schon zu spät, denn die Bibliothek im Volksheim, in der man die wichtigsten Tageszeitungen lesen konnte, wurde mangels Nachfrage bald wieder geschlossen – das Fernsehen hatte die »Bildung« der Arbeiterklasse übernommen. Vom Bildungsanspruch meines Vaters blieb in Traisen nur ein großer, bis heute vielseitig verwendbarer Veranstaltungsraum.

Vater nahm mit seinen Genossen in der ersten Reihe Platz, ich setzte mich in eine der hinteren Reihen und folgte den üblichen Begrüßungsansprachen. Dann wurde mein Vater aufs Podium begleitet und begann zu sprechen.

Er war nervös. Seine Stimme war anfangs leise, seine Aussprache undeutlich. Mein Vater Franz Lettner, der bei seinen Auftritten immer Souveränität und Routine ausgestrahlt hatte, stand verloren auf dem Podium. Jetzt erst fiel mir auf, wie klein seine Gestalt wirkte, wie der zu groß gewordene Anzug an ihm herunterhing. Dieser Anzug war mir seit meiner Jugend vertraut: aus grün-braun-kariertem Stoff und mit einem Schnitt, der längst aus der Mode war. Mein Vater hatte nie Wert auf seine äußere Erscheinung gelegt, sehr zum Leidwesen meiner stets elegant gekleideten Mutter.

Nach einigen Sätzen schien er sich zu fangen. Er sprach über das Elend der Arbeitslosen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Traisen und im Bezirk Lilienfeld. Über die Provokationen der Heimwehr und des austrofaschistischen Staates, der die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit immer weiter eingeschränkt und die Sozialdemokraten verfolgt hatte. Deshalb seien er und seine Genossen entschlossen gewesen, gegen die Diktatur zu kämpfen und die Republik zu verteidigen. Notfalls mit Waffengewalt. Aber die Sache ging nicht gut aus. Zwar war es in Traisen zu keinen Kampfhandlungen gekommen, dennoch wurden alle Schutzbündler und viele Vertrauensleute verhaftet.

Vater erzählte von der Schießerei in Rohrbach an der Gölsen. Dort hatte die Heimwehr die Wohnung des sozialdemokratischen Parteiobmanns Hois gestürmt. Es war zum Schusswechsel gekommen, dem der Heimwehrobmann Lintner zum Opfer fiel, der Schutzbündler Rauchenberger hatte ihn, möglicherweise in Notwehr, erschossen. Daraufhin ergaben sich die Schutzbündler. Sie wurden von der Heimwehr und den Sturmscharen mit Ochsenziemern und Gewehrkolben traktiert und arg zugerichtet. Hois und Rauchenberger wurden schließlich vom Standgericht in St. Pölten zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Bis dahin war Vaters Stimme einigermaßen fest und sachlich geblieben. Dann erzählte er vom Gefängnis und jener Nacht des 15. Februar 1934, die er in derselben Zelle wie der zum Tod verurteilte Viktor Rauchenberger verbracht hatte, und seine Stimme wurde immer zittriger. Er schilderte die letzten Stunden im Leben Rauchenbergers. Die ganze Nacht lang hatte sich mein Vater flüsternd mit ihm unterhalten, und obwohl das nun fünfzig Jahre her war, schien die Situation meinem Vater wieder ganz nah. Er stockte, und dann versagte ihm seine Stimme langsam den Dienst. Als er die Worte des 26-jährigen Rauchenberger zitierte – »Vergesst uns nicht, damit wir nicht umsonst gestorben sind« –, liefen ihm die Tränen über sein Gesicht. Er brachte gerade noch den Satz »Und wir haben euch nicht vergessen« hervor, als ihn die Rührung endgültig am Weitersprechen hinderte. Rasch war der Bürgermeister aufgesprungen und geleitete ihn vom Podium zu seinem Sitz in der ersten Reihe. Im Saal herrschte betretene Stille.

Wie hätte ich wohl reagiert, wenn ich neben meinem Vater gesessen hätte? Ich war unangenehm berührt, ja, einigermaßen verwirrt. Ich hatte meinen Vater noch nie so emotional erlebt. Es war nicht bloß die Schwäche eines alten Mannes, der gerade Witwer geworden war, ich spürte, da ging es um mehr. Natürlich kannte ich die Geschichte von der Hinrichtung Hois’ und Rauchenbergers. Vater hatte darüber in einem seiner Bücher geschrieben. Aber dort war es ein sachlicher Bericht. Auch über sich selbst hatte er völlig distanziert, in der dritten Person, fast unnahbar geschrieben. Nie hatte er zu Hause über diese Geschehnisse gesprochen. Und jetzt dieser starke Gefühlsausbruch, der mich unvorbereitet traf.

Er hätte nicht kommen sollen, dachte ich. Sentimentalität war hier fehl am Platz. Aus dem tapferen Februarkämpfer und reformbewegten Bürgermeister von einst war ein alter Mann geworden, den die Rührung übermannte, wenn er an seine ermordeten Kameraden dachte, und natürlich auch an seine erst kürzlich verstorbene Frau. Nein, er hätte nicht reden sollen, nicht so kurz nach dem Begräbnis meiner Mutter, das hatte alles wieder aufgewühlt. Hätte ich ihn warnen, hätte ich ihn nicht besser zurückhalten sollen? In diesem Augenblick schämte ich mich für ihn.

Aber es geschah noch etwas anderes. Ich blickte in die Gesichter der anwesenden sozialdemokratischen Funktionäre. Ihnen waren die dramatischen Ereignisse des Februar 1934 fern. Für sie war diese Gedenkfeier nicht mehr als eine parteipolitische Pflichtübung, und einige schienen sich zu fragen: Was geht mich der Februar 1934 an? So wie ich waren sie in einer völlig anderen Zeit sozialisiert worden. Niemand verfolgte uns, die Sozialdemokratische Partei war weder verboten noch unterdrückt, sondern trug als gleichwertige Partnerin Regierungsverantwortung, stellte Minister und Staatssekretäre (in unserer Jugend tatsächlich nur Männer!). Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war in vieler Hinsicht nicht vergleichbar mit der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Staatsform der Republik war nach 1945 unumstritten, niemand hatte Zweifel an der Lebensfähigkeit Österreichs, kein tiefer Graben ging durch die Gesellschaft, der jederzeit zu einem offenen Konflikt werden konnte. In den Jahrzehnten nach 1945 waren wir sogar eine Wohlstandsgesellschaft geworden. Warum saßen wir eigentlich hier?

Dieser Gedanke war natürlich dumm, so wie es unpassend von mir war, mich für meinen Vater zu schämen. Was wusste ich schon über den 12. Februar 1934? Wie konnte ich überhaupt beurteilen, was die damaligen Sozialdemokraten gedacht und ertragen haben? Ich konnte an diesem Gedenktag nur eines erahnen: Die Hinrichtungen der Genossen aus Rohrbach, die mein Vater aus nächster Nähe mitbekommen hatte, waren für ihn ein traumatisches Erlebnis. Er hatte das nie überwunden.

Vielleicht hätten wir zu Hause darüber reden, vielleicht hätte ich ihn fragen sollen, viel früher schon. Ich brauchte jedenfalls viele Jahre, um das alles zu verstehen.

1 SDAP steht für Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Vorläuferin der SPÖ.

3. Der 12. Februar 1934: Kampf und Niederlage

Den ganzen Tag über waren Gerüchte nach Traisen gelangt. In Wien und Linz würde gekämpft. Niemand wusste etwas Genaues. Alle Versuche, über die Schutzbundorganisation Näheres zu erfahren, das einen Hinweis geben konnte, wie man sich im Ernstfall verhalten solle, schlugen fehl. Die Kommunikationskette war nicht mehr intakt, nachdem die Behörden in den vorangegangenen Wochen viele Schutzbundkommandanten verhaftet hatten. Es war ihnen gelungen, die bereits ohnehin schwache Organisation mehr oder weniger außer Gefecht zu setzen.

So waren die Traisener Genossen am 12. Februar auf sich gestellt. Im Vorfeld hatte es zwar immer wieder Kontakt zu einzelnen Wiener Genossen, insbesondere zu Rosa Jochmann und Franz Rauscher, gegeben, aber es gab keine Pläne für ein koordiniertes Vorgehen. Rauscher hatte den Traisener Genossen eingebläut, unbedingt zu kämpfen und die Wiener nicht im Stich zu lassen. Das Schicksal des Roten Wien hinge auch von ihrem Kampfesmut ab. Aber wie sollte das ablaufen und was wäre der Preis des Kampfes? Die Drohungen Rauschers machten meiner Mutter Angst, wie sie wenig später einem Arzt anvertraute.2

Am Abend des 12. Februar berief mein Vater einen Krisenrat ein. Als Parteiobmann bat er die Schutzbundkommandanten und seine engsten Vertrauten zu sich in die Wohnung. Hier, im ersten Gemeindebau Traisens, um 1930 im Stil der Wiener Gemeindebauten errichtet, hatten schon viele Treffen der sozialdemokratischen Freunde meiner Eltern stattgefunden, fröhliche und ernste: Es wurde gelacht und gesungen, man traf sich zum Kartenspielen, und natürlich wurde, mitunter heftig, politisch diskutiert.

An jenem Abend war die Stimmung überaus angespannt. Auf der Küchenbank drängten sich die Genossen. Jedem war der Ernst der politischen Lage klar, wobei man kaum brauchbare Informationen hatte. Am wenigsten machte man sich darüber Sorgen, dass hier ein »illegales« Treffen stattfand: Der Schutzbund war im März des Vorjahres von der Regierung verboten worden,3 aber das war nun zweitrangig. Es war zu Hausdurchsuchungen gekommen, Waffen wurden beschlagnahmt. Männer wie mein Vater standen unter ständiger Beobachtung der Behörden. Pistolen oder Gewehre hätten sich freilich in der kleinen Wohnung im Gemeindebau nicht finden lassen.

Der wichtigste Mann an diesem Abend, Kommandant Schönleitner, fehlte. Von den Schutzbundobmännern waren lediglich zwei Stellvertreter erschienen. Die wichtigste Frage, die alle bewegte: Würde der Generalstreik stattfinden oder nicht? Von ihm hing ab, ob es zum Kampf kommen würde. Entscheidend war das Verhalten der Eisenbahner. Wenn sie streikten, dann würde der Frühzug am nächsten Morgen nicht fahren. Das wäre das Signal für die Traisener Genossen, sich zu bewaffnen und Rathaus und Kinderfreundeheim gegen allfällige Angriffe zu verteidigen. Als sozialdemokratische Hochburg musste die Gemeinde befürchten, dass Einheiten der Heimwehr und der militanten niederösterreichischen Sturmscharen den Konflikt suchen würden. Aber wie genau sollte man sich wehren, wie weit dabei gehen? Es war schon 22 Uhr, und der Schutzbundkommandant war noch immer nicht erschienen, obwohl er von dem geheimen Treffen wusste.

Meine Mutter machte sich erbötig, Schönleitner zu holen. Er wohnte genau gegenüber. Allerdings musste sie einen großen, leeren Platz überqueren und durfte dabei nicht den Gendarmen in die Hände laufen. Sie meinte, eine Frau würde weniger Verdacht erregen, hatte sie doch schon früher in ihrer Einkaufstasche Handgranaten für die Schutzbündler transportiert und war nie entdeckt worden. Sie ging also zur Wohnung des Schutzbundkommandanten und klopfte ihn heraus. Er war schon zu Bett gegangen, versprach jedoch, gleich zu kommen. Die Genossen warteten, aber Schönleitner tauchte nicht auf. Meine Mutter machte später in ihren Erzählungen kein Hehl aus ihrer Verachtung für ihn. Für Feigheit hatte sie nichts übrig.4

Es musste also ohne den Kommandanten eine Entscheidung getroffen werden. Die Genossen waren sich einig, noch in der Nacht daranzugehen, die Waffen zu verteilen und sich längs der Straße zu postieren. Willert, einer der beiden Schutzbund-Stellvertreter, erklärte sich bereit, Schönleitner zu vertreten und das Kommando zu übernehmen. Alles Weitere machte man davon abhängig, ob der Frühzug fahren würde oder nicht. Es sollte nur im Angriffsfall gekämpft, unnötiges Blutvergießen auf alle Fälle vermieden werden.

Um etwa drei Uhr früh lief Franz Bruckner, der beste Freund meines Vaters, von Wohnung zu Wohnung, weckte die Genossen und beorderte sie zum vereinbarten Sammelplatz. An die achtzig Mann kamen zum alten Walzwerk der Lenz’schen Fabrik, wo die Waffen versteckt waren. Sie stammten noch von den abgerüsteten Soldaten der Volkswehr, bei der auch mein Vater ein Jahr Dienst getan hatte. Jahrelang waren sie von den Uskowicz-Brüdern instand gehalten worden. Einer der beiden Brüder verteilte die Waffen, der junge Franz Sattler gab die Patronen aus.

Nun ging es um die Organisation der Aktivitäten. Mein Vater und Willert teilten die Männer in Gruppen ein und schickten sie an verschiedene strategisch wichtige Stellen. Manche sollten auch als Kuriere zwischen den Gruppen fungieren. Da man im Traisental einen Angriff der steirischen Heimwehr von Süden her befürchtete, standen sie in ständiger Verbindung mit den Schutzbündlern in St. Ägyd, einer, wie es hieß, starken Gruppe.5 Die größte Abordnung – mit Willert und meinem Vater – kletterte den Abhang zum Reisenberg, gegenüber der Fabrik, hinauf. Dort bezogen die Männer mit ihren Waffen Stellung.

Es war eisig kalt, der Schnee lag kniehoch. Franz Sattler, ein enger Freund meines Vaters, hat mir später als alter Mann anschaulich die Szene geschildert, wie sie damals auf dem Reisenberg auf das Zeichen warteten: Es war vereinbart, dass Hubert Traxler (er wechselte später die Seiten und ging zu den Nazis) die Bahnstrecke überwachen und sofort melden sollte, ob der Frühzug fährt. Als Traxler um 6 Uhr 15 durchgab, der Frühzug habe soeben die Station passiert, war die Sache entschieden: Kein Eisenbahnerstreik. Sie wussten, es wäre sinnlos zu kämpfen. Die Enttäuschung über die Eisenbahner, die die Arbeiterschaft im Stich gelassen hatten, war groß. Willert und mein Vater gaben den Befehl, die Waffen sofort wegzuwerfen und nach Hause zu gehen. Der Aufstand war schon im Vorfeld gescheitert.

Franz Sattler erzählte mir später, dass sich unter den Schutzbündlern auch ein Wilderer namens Toni Bloder befunden hatte, der es nicht übers Herz brachte, sein mit Einlegearbeiten verziertes Gewehr im Schnee zu vergraben. Er kletterte auf einen Baum und hängte den Stutzen an einen Ast. Doch bei der Suche nach Waffen in den nächsten Tagen entdeckte ein Gendarm das Gewehr, das er stolz seinen Freunden zeigte. Das Gewehr eines Wilderers und Schutzbündlers wurde als Trophäe präsentiert.6

Wenige Stunden später, noch am Vormittag, rückte das Bundesheer in Traisen ein, und die Gendarmerie verhaftete alle Schutzbündler, derer sie habhaft werden konnte. Auch etliche »Heimwehrler« waren bereits im Ort und unterstützten die Exekutive. Mein Vater und Fritz Tauber wurden am Nachmittag auf der Straße festgenommen und auf den Gendarmerieposten gebracht. Anschließend kamen sie nach Lilienfeld in den Gemeindekotter, wo bereits »Sturmschärler« auf sie warteten. Die Ostmärkischen Sturmscharen waren 1930 unter führender Mitwirkung Kurt Schuschniggs gegründet worden. Sie waren katholisch ausgerichtet, nicht so radikal wie die Heimwehren, aber in Niederösterreich unterschieden sie sich in ihrer Skrupellosigkeit wenig von den Heimwehrmännern.7 Die Gefängniszellen befanden sich im Keller, und auf beiden Seiten des Abgangs dorthin hatten sie sich postiert. Sie begannen nun, die beiden Gefangenen mit Fausthieben und Fußtritten zu traktieren. Das war ihr Begrüßungsritual. Erst als der Bezirkshauptmann erschien, wurden die Misshandlungen eingestellt.

Mein Vater und Tauber wurden in getrennten Zellen untergebracht. Sie mussten auf dem nackten Boden schlafen. In der Nacht kamen zwei Gendarmen in die Zelle meines Vaters, einer beschimpfte und ohrfeigte ihn. Am nächsten Morgen um acht Uhr früh wurden sie gefesselt und von zwei Gendarmen in einem Auto ins Kreisgericht nach St. Pölten gebracht. Insgesamt wurden am 14., 15. und 16. Februar 24 Schutzbündler aus Traisen verhaftet und ins Kreisgericht eingeliefert,8 unter ihnen auch Bruckner, Kettler und die Sattler-Brüder Gustl, Sepp und Franz. »Besonders brutal gingen sie gegen Franz Lettner vor«, berichtete Konrad Kettler nach dem Krieg.9

Ein großer Teil der aufgebotenen Schutzbündler konnte jedoch nicht gefasst werden. Die Behörden verkündeten eine allgemeine Amnestie und sicherten Straffreiheit zu, wenn die Waffen abgeliefert würden. Dies wurde auch befolgt: Die eingemauerten Handgranaten und das Maschinengewehr samt Munition, das der Schutzbund Traisen besaß, wurden der Gendarmerie übergeben.10

Die Heimwehr beschlagnahmte das Vermögen der sozialdemokratischen Partei und der ihr nahestehenden Organisationen (Kinderfreunde, Radfahrerorganisation, Gesangsverein und Naturfreunde). Protokolle, Sparbücher, sogar Musiknoten und Bücher wurden mitgenommen. Die Partei und die Kinderfreunde hatten eine für die damalige Zeit reichhaltige Bibliothek, denn Franz Lettner war, wie schon erwähnt, um Bildung sehr bemüht. Viele Bücher wurden gestohlen, ein großer Teil vor dem Kinderheim verbrannt.11 »Bücherverbrennungen sind ein typisches Kennzeichen für jeden Faschismus«, schrieb mein Vater später.12

Die verhafteten Schutzbündler wurden im Kreisgericht eingehend verhört. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren die meisten bemüht, Lettner und Willert nicht zu belasten. Trotzdem wurde gegen beide Anklage wegen Hochverrats erhoben. Die übrigen Schutzbündler wurden nach einigen Monaten entlassen. Sie verloren ihren Arbeitsplatz. Einige mussten ihre Gemeindewohnungen räumen, darunter auch meine Mutter Wilhelmine Lettner, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte. Wo sollte sie nun unterkommen? Und vor allem: Würde sie ihren Mann noch einmal wiedersehen?

Einer der Verhafteten, August Sattler, beschrieb später in seinen Erinnerungen, wie er in der entscheidenden Nacht, nachdem sie die Waffen entsorgt hatten, nach Hause gegangen war, verzweifelt und desillusioniert. In der Nacht habe er begriffen, »dass jetzt irgendwas zerbrochen war, im persönlichen Leben sowie im Staate«.13

Für meine Mutter war es der schmerzlichste Einschnitt in ihrem damaligen Leben. Sie war seit 1931 mit meinem Vater verheiratet, und sie hatte bisher alles mit ihm geteilt, auch die politische Arbeit. Beide waren, unabhängig voneinander, schon früh überzeugt gewesen, dass die Sozialdemokratie der einzig richtige Weg sei. Daran hielten sie in den bittersten Stunden erst recht fest. Ihr Leben hatte sich in diese Richtung entwickelt, hatte ihr Denken, ihren Alltag und auch meine Geschichte bestimmt.

2 Krankenakte Wilhelmine Lettner: Niederösterreichisches Landesarchiv, Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling, Patientenakten, Aktenzahl 00/1934.

3 Der Republikanische Schutzbund wurde am 31. 3. 1933 von der Regierung Dollfuß aufgelöst, bestand jedoch im Untergrund weiter.

4 Schönleitner versteckte sich am nächsten Tag bei seinem Schwager und wurde erst am 14. Februar verhaftet. Am 18. April bat er »inständigst« mit »besonderer Hochachtung« um Haftentlassung. (Niederösterreichisches Landesarchiv, Kreisgericht St. Pölten, Vr 266/34.)

5 Interview mit Franz Sattler am 23. 3. 2008.

6 Ebenda. Mein Vater Franz Lettner teilte später einige Zeit eine Gefängniszelle mit eben diesem Wilderer. Eine der wenigen Geschichten, die ich ihn hatte erzählen hören, war die, dass der Wilderer wie ein gereizter Tiger in der Zelle hin und her lief, während mein Vater ruhig auf seiner Pritsche saß. »Wie hältst du das aus, so ruhig dazusitzen?«, herrschte ihn der Wilderer an. »Na ja, ich bin halt kein Wilderer«, antwortete mein Vater lakonisch. Diese Episode kennzeichnet gut seinen gänzlich undramatischen Charakter. Nichts konnte ihn so leicht aus der Ruhe bringen, und das war eine wichtige Eigenschaft, um all das, was nach dem 12. Februar auf ihn zukam, durchzustehen.

7 In Niederösterreich standen die Sturmscharen, angeführt vom Bauernbunddirektor Leopold Figl, dem späteren Bundeskanzler der 2. Republik, nicht im Gegensatz zur Heimwehr wie im übrigen Österreich, im Gegenteil, hier hatte die katholisch-politische Wehrformation sogar die Niederösterreichische Heimwehr aufgenommen.

8 Franz Lettner: Aus der Arbeiterbewegung im Traisental. Traisen 1970, S. 94.

9 Luis Lew: 1934−1945. Vom Widerstand gegen Faschismus und Krieg in Traisen und Umgebung, hg. von der KPÖ-Bezirksleitung Traisen. Traisen o. J. [1985], S. 8.

10 Lettner, Aus der Arbeiterbewegung im Traisental, S. 94f.

11 Ebenda.

12 Ebenda.

13 Erinnerungen von August Sattler, zur Verfügung gestellt von Frau Mag. Brigitte Knapp-Sattler. August Sattler bewirtschaftete damals die Naturfreundehütte auf der Hinteralm.

4. Der Metallarbeiterstreik in Traisen

Als mein Vater siebzig war, legte er sein Bürgermeisteramt zurück und begann ein Buch über die Arbeiterbewegung im Traisental zu schreiben. Das war 1968. Seit den Februarereignissen waren über drei Jahrzehnte vergangen. Mit der Arbeiterbewegung war mein Vater von früh an eng verbunden gewesen, und es war ihm ein Anliegen, die Geschichte der Arbeiterschaft und ihren Kampf um gerechte Behandlung schriftlich festzuhalten. Als Autodidakt tat er sich beim Formulieren etwas schwer und zog von Zeit zu Zeit meine Schwester, die Germanistik studiert hatte, zu Rate. Ihm war wichtig, die Dinge nüchtern und geradlinig darzustellen, besonders jene Ereignisse, die er selbst erlebt und die ihn persönlich berührt hatten.

Eines Tages alarmierte er aufgeregt meine Mutter und meine Schwester: Bei seinen Recherchen über den Metallarbeiterstreik bei der Firma Lenz im Jahr 1905 war er auf eine Notiz in einer lokalen Zeitung gestoßen, die über die gewaltsame Sprengung einer Streikversammlung durch einen gewissen Karl Reiter berichtete. Karl Reiter war der Vater meiner Mutter. Mein Vater war schockiert – er, der sozialistische Vollblutpolitiker, war also mit der Tochter eines Streikbrechers verheiratet! Halb belustigt, halb vorwurfsvoll konfrontierte er seine Frau mit dieser Tatsache. In Bezug auf ihre Familie verstand meine Mutter aber keinen Spaß. »Erstens war das lange vor meiner Geburt«, erwiderte sie patzig, »außerdem ist er mein Vater, und zu ihm halte ich, basta!«14

Mein Großvater Karl Reiter war – nach den Worten meiner Mutter – »groß und stark, ein Kasten von einem Mann und blond«.15 Er arbeitete als Gießer in der Metallfabrik Lenz in Traisen. Noch bis weit in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts waren die Arbeitsbedingungen für Gießer äußerst hart: In einer stickigen, rauchigen Halle gossen sie bei größter Hitze und unvorstellbarem Lärm glühend heißes, brodelndes Eisen in einen riesigen Topf, und das ohne Schutzvorrichtung unter gefährlichem Funkensprühen. Sie arbeiteten im Schichtbetrieb rund um die Uhr, kein Tageslicht drang je in die finstere Halle.

So war es auch in der Metallgießerei in Traisen gewesen. Die Weicheisen- und Stahlgießerei von Berthold Fischer, dem Erfinder des Temperguss-Verfahrens, hatte 1894 einen neuen Besitzer bekommen. Der Wiener Munitionsfabrikant Alfred von Lenz – er war zugleich Politiker und saß als Vertreter der Deutschliberalen jahrelang im niederösterreichischen Landtag und im Reichsrat – hatte das Werk mit seinen Söhnen Alfred, Guido und Edgar erworben. Nach seinem Tod bauten Alfred und Guido das Werk aus und stellten die Produktion auf Patronenhülsen um.16

Es war Schwerarbeit, die in den Werkshallen verrichtet wurde, und sie wurde schlecht entlohnt. Ein Arbeitstag dauerte damals elf Stunden. Der einzige freie Tag war der Sonntag, doch häufig wurden in den Fabriken die gesetzlichen Regelungen missachtet. Seit der 1.-Mai-Feier 1890 forderten die Sozialdemokraten eine Acht-Stunden-Woche, immer wieder demonstrierten sie für Erleichterungen, die die Arbeitgeber aber nicht zugestehen wollten. Kann man das überhaupt aushalten, habe ich mich später oft gefragt, jeden Tag, auch samstags, elf Stunden lang mit glühendem Eisen zu hantieren?

Mein Großvater muss wirklich sehr stark gewesen sein, wenn er tatsächlich einen vollen Wirtshaussaal allein räumen konnte. In ihren Erinnerungen schreibt meine Mutter, dass er »Krowodn« (kroatische Arbeiter) aus dem Werksgasthaus, der »Trakterie«, vertrieben haben soll. Die Kroaten wurden damals von der Firmenleitung als Streikbrecher eingesetzt. Wenn Karl Reiter jedoch das Gasthaus von Kroaten gesäubert hatte, dann hat er Streikbrecher hinausgeworfen und nicht eine Streikversammlung gesprengt. Ob es tatsächlich so war, lässt sich nicht bestätigen. Sicher ist nur, dass er nach Ende des Arbeitskampfes nicht wie alle Streikenden gekündigt wurde, sondern weiterhin beschäftigt blieb.

Über den mehrere Wochen dauernden Metallarbeiterstreik in Traisen berichtete regelmäßig die Volkstribüne, das offizielle Organ der Sozialdemokraten in Niederösterreich und Wien.17 In den Berichten ist nur einmal von einer Streikversammlung im Gasthaus Brem die Rede, die gewaltsam gesprengt wurde. Mein Großvater wird dabei mit keinem Wort erwähnt. Eine andere Quelle konnte ich nicht finden.

Bei dem elterlichen Zwist war ich zwanzig Jahre alt und interessierte mich wenig für das Buchprojekt meines Vaters. Gefühlsmäßig war ich eher auf der Seite meiner Mutter und ihres starken Vaters, der mich beeindruckte und dem ich mich immer schon sehr zugehörig fühlte, obwohl ich ihn nur aus Mutters Erzählungen kannte. Ich fühlte mich ihm ähnlich, war ich doch schon als Kind sehr stark und auch kampflustig und in meiner Wildheit eher wie ein Bub.

Der erbitterte Arbeitskampf in der Fabrik von Alfred Lenz dauerte fast den ganzen Sommer des Jahres 1905. Vom 30. Juni bis 22. August streikten fast 400 Schlosser, Dreher, Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen. Sie forderten eine wöchentliche Lohnauszahlung, statt monatlich ihr Geld zu bekommen, verlangten Mindestlöhne und die Anerkennung der gewerkschaftlichen Organisation. Unterstützt wurden sie dabei von der Metallarbeitergewerkschaft unter der Führung von Franz Domes und durch den sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten und Arbeiterführer Franz Schuhmeier.18

Alfred von Lenz, der gemeinsam mit seinem Bruder Guido die Fabrik leitete, reagierte mit beispielloser Härte und Brutalität: Nicht nur, dass er die »Krowodn« mit der Eisenbahn nach Traisen kommen ließ, um sie als Streikbrecher einzusetzen, ließ er sie auch bewaffnen und die Streikenden »niederknütteln«. Zudem sorgte er auch noch dafür, dass seine um bessere Arbeitsbedingungen und Löhne kämpfenden Arbeiter von der Gendarmerie schikaniert wurden.19 Lenz wurde drei Jahre später zum Bürgermeister von Traisen gewählt und nach seinem Ausscheiden aus dem Amt im Jahr 1917 sogar mit der Ehrenbürgerwürde der Gemeinde bedacht.20

Der Metallerstreik von Traisen und die unerbittliche Haltung des Fabrikbesitzers gingen sogar in die Literatur ein: »So ein Fall ist mir bekannt. Beim Lenz in Traisen«, heißt es in einer Szene der Letzten Tage der Menschheit. Dort lässt Karl Kraus einen nicht minder arbeiterfeindlichen Fabrikanten sagen: »wenn diese Gewerkschaftshunde mit ihren Hetzereien nicht aufhören […]«.21

Die Metallergewerkschaft blieb aber beharrlich. Eine Delegation mit Domes und Schuhmeier intervenierte beim Bezirkshauptmann in Lilienfeld, der die Streikbrecher schließlich entwaffnen ließ. Danach trugen sie statt der Waffen gelbe Mascherln mit der Geschäftsstampiglie der Lenz-Fabrik. Am 22. August 1905 wurde der Streik schließlich für beendet erklärt, nahezu alle Forderungen konnten durchgesetzt werden. Die Früchte des Kampfes ernteten allerdings nicht die Streikenden, denn Lenz entließ alle 389 Arbeiter, die sich dem Streik angeschlossen hatten. Sie fanden in Traisen keine Arbeit mehr und verloren mit der Entlassung auch ihre Heimat.

Diese Tatsache bestimmte meine Familiengeschichte. Nicht nur, weil mein Großvater mütterlicherseits, Karl Reiter, in das Geschehen involviert war; der Ausgang des Arbeitskampfes hatte zur Folge, dass auch die Eltern meines Vaters nach Traisen kamen. Denn nach der Entlassung des Großteils ihrer Arbeiter brauchte die Firma Lenz dringend neue Kräfte und warb an verschiedenen Industriestandorten Arbeiter an. Meine Großeltern väterlicherseits stammten ursprünglich aus Baumgartenberg im oberösterreichischen Mühlviertel und waren um 1900 nach Steyr gegangen, um sich dort als Fabriksarbeiter zu verdingen. Nun, 1905, wechselten sie aufgrund der besseren Arbeitsbedingungen in die Metallgießerei nach Traisen, vermutlich weil ihnen dort auch eine Wohnung angeboten wurde. Eine richtige Wohnung! So kamen meine Großeltern Josef und Josefa Lettner als neu angestellte Hilfsarbeiter schließlich in den Genuss der von den Streikenden erkämpften Rechte.

In den folgenden Jahren herrschte in der Fabrik Hochbetrieb. Bei der Firma Lenz wurden ab 1905 Patronenmagazine für Mannlicher-Gewehre fabriziert. Der Ausbau der Munitionserzeugung führte zu einer gänzlichen Umstellung auf Rüstungsproduktion, sodass die Fabrik bald mehr Arbeiter als Traisen Einwohner hatte. Im Ersten Weltkrieg beschäftigte das Werk 6000 Arbeiter – das Doppelte der Einwohnerzahl. In Tag- und Nachtschichten wurde nun für den Krieg produziert. Auch das ist die Geschichte der Arbeiterschaft von Traisen.

14 Lebenserinnerungen meiner Mutter, mitgeteilt in einem Brief an Josef Podlipnig, 18. 8. 1981.

15 Ebenda.

16 Die Familie von Lenz war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs sowohl wirtschaftlich wie politisch tonangebend in Traisen: der Industrielle und Reichsratsabgeordnete Alfred von Lenz (1832−1907), die Söhne Dipl.-Ing. Alfred von Lenz (geb. 1861), Guido (1863−1916), Dr. Arthur und Edgar von Lenz, die maßgeblich die Geschicke der Gemeinde bestimmten.

17 Die Volkstribüne erschien als »Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes« zwischen 1891 und 1917 halbmonatlich im sozialistischen Vorwärts-Verlag in Wien. 1905 war Franz Schuhmeier der verantwortliche Herausgeber und Ludwig August Bret­schneider der leitende Redakteur.

18 Franz Schuhmeier (1864−1913), legendärer Arbeiterführer, wegen seines oft agitatorischen Auftretens als »Volkstribun von Ottakring« und mitreißender Redner bekannt, wenngleich seine demagogische Redeweise und sein Vorstadtdialekt auch innerhalb der Sozialdemokratie als derb empfunden wurden. 1900 war er neben Jakob Reumann der erste sozialdemokratische Gemeinderat in Wien, ein Jahr später wurde er auch in den Reichsrat gewählt. Schuhmeier war in der Redaktion der Arbeiter-Zeitung tätig und gründete 1891 die Volkstribüne. 1913 wurde er von Paul Kunschak, dem Bruder des christlichsozialen Politikers Leopold Kunschak, erschossen. Der Täter, offenbar geistig verwirrt, hatte Schuhmeier für seine Arbeitslosigkeit und soziale Not verantwortlich gemacht.

19Volkstribüne, Nr. 27, 6. 7. 1905, S. 7.

20 Dipl.-Ing. Alfred von Lenz (geb. 1861). Nachdem schon sein Vater von 1894 bis 1900 Bürgermeister in Traisen gewesen war, bekleidete auch er das Amt des Bürgermeisters von 1908 bis 1917. Auch seine Brüder Edgar und Dr. Arthur von Lenz waren in der Gemeindepolitik tätig. Alle vier Brüder wurden mit der Ehrenbürgerschaft von Traisen ausgezeichnet.

21 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, München 1974, S. 307−309.

5. Vom Bauern- zum Proletarierkind

Mein Vater Franz Lettner kam 1898 in Baumgartenberg als Sohn einer Bauerntochter und eines Bäckers zur Welt. Die Bäckerei des Josef Lettner, in der er aufwuchs, lag in Sichtweite der mächtigen Stiftskirche, die den kleinen Ort im südlichen Mühlviertel nicht nur optisch dominierte. Folgt man den von der Donau ansteigenden Hügeln bis zur Burg Clam, kommt man am Geburtshaus der Mutter meines Vaters, Josefa Kaindl, in Amesbach vorbei. In einem damals ebenerdigen und noch mit Stroh gedeckten Bauernhaus wurde sie 1877 als eines von sechzehn Kindern geboren. Daneben gab es noch sechs Halbgeschwister: Ihr Vater, Franz Kaindl, rühmte sich gerne damit, mit zwei Frauen insgesamt 22 Kinder gezeugt zu haben. Der kleine Bauernhof gehörte seiner zweiten Frau, er hatte also, wie man sagt, »auf das Haus geheiratet«.

Es waren ärmliche Verhältnisse, in die meine Großmutter hineingeboren wurde. Die Wirtschaft bestand aus einem kleinen Acker und Wiesen mit Obstbäumen, im Stall hatten sie gerade einmal drei Kühe, ein paar Schweine und Hühner. Zu wenig, um davon eine Großfamilie ernähren zu können. Auch sonst war es keine glückliche Kindheit. Ihr Vater war ein großer, starker Mann mit einer lauten Stimme, die ihr Angst machte. Er trank viel und wurde dabei oft gewalttätig. Die kleine Josefine, Josefa genannt, stieß er einmal im Zorn so heftig gegen einen Fensterrahmen, dass sie eine böse Kopfverletzung davontrug. Als sie mit siebzehn aus dem Elternhaus kam, war es für sie wie eine Befreiung. Aber war es das wirklich?

Wie damals in vielen Familien auf dem Land üblich, wurden die Kinder schon früh zum Arbeiten fortgegeben. Sie kamen als Mägde und Knechte zu größeren Bauern oder wurden in die Stadt geschickt, nach Linz oder Wien, wo die Mädchen meist in einem bürgerlichen Haushalt als Dienstbotinnen arbeiten mussten. Aus den jungen Burschen wurden Handwerker oder Fabriksarbeiter. Meine Großmutter Josefa wurde, obwohl sie noch viel zu jung dafür war, von einem ortsbekannten Kuppler an den um zwölf Jahre älteren Bäcker Josef Lettner im nahen Baumgartenberg vermittelt. Sie war ein fröhliches, pausbäckiges Mädchen mit langen, braunen Zöpfen und völlig unaufgeklärt. Wie sie ihrer Cousine Annerl einmal anvertraute, hatte sie keine Ahnung gehabt, was Männer von Frauen begehrten und umgekehrt diese von ihren Männern zu erwarten hätten.

Josef Lettner war ihr völlig fremd. Hatte sie eine Idee davon, was auf sie zukommen würde? Hatte sie Angst vor einem Leben mit ihm? Was muss man da machen, als Ehefrau, und wie wird das werden? Vermutlich hatte sie gar keine Fragen gestellt, so wie sie auch keine rechte Vorstellung von ihrem künftigen Ehemann hatte, als sie vor dem Traualter der Kirche von Baumgartenberg einer ungewissen Zukunft ihr Jawort gab. Auf diese Weise verheiratet zu werden, war für jemanden, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, nicht ungewöhnlich. Zumindest damals, kurz vor der Jahrhundertwende, aber auch noch lange danach wurden auf diese Weise Ehen geschlossen und Familien gegründet. Vielleicht hatte man ihr gesagt: Ein Bäcker, das ist was, da bist du versorgt. Vielleicht war sie sogar insgeheim froh, denn zu Hause in Amesbach war das Leben durch den Alkoholmissbrauch des Vaters alles andere als einfach gewesen. Dem würde sie nun entkommen, sie würde nicht mehr geschlagen werden und sie bräuchte nicht mehr zu hungern, sie war nun versorgt. Auf jeden Fall war die Heirat ein sozialer Aufstieg für sie, eine Chance, die man so oft nicht bekommt.

Doch Josefa Kaindl, nun Josefa Lettner, war nicht vom Glück verfolgt, sie kam sprichwörtlich vom Regen in die Traufe, denn der Mann, den sie geheiratet hatte und mit dem sie von nun an ihr Leben teilen sollte, war ebenfalls Alkoholiker. Das sollte nicht nur die Ehe der beiden empfindlich stören, es hatte auch gravierende wirtschaftliche Auswirkungen. Josef Lettner führte die kleine Bäckerei, die er von seinem Vater geerbt hatte und die eine gesicherte Existenz für die Familie gewesen wäre, bald in den Ruin. Er musste die Bäckerei schließlich verkaufen, um die Schulden, die ihm über den Kopf wuchsen, bezahlen zu können.

Die Familie stand vor dem Nichts. Meine Großmutter, die auf Gedeih und Verderb mit ihrem Mann verbunden war, konnte von niemandem Hilfe erwarten. Ihre Vorstellungen von einem besseren Leben als Bäckersfrau wurden bitter enttäuscht. In den ersten sieben Jahren ihrer Ehe hatte sie fünf Kinder geboren, von denen nur zwei überlebten: mein Vater Franz, 1898 geboren, und seine um zwei Jahre jüngere Schwester Anna. Nach der Pleite der Bäckerei mussten sie ihr Zuhause verlassen und nach Steyr übersiedeln.

Es muss für meine Großmutter eine gewaltige Umstellung gewesen sein, als sie zuerst vom Bauernhof auf dem Land in den kleinen Ort Baumgartenberg und Jahre später in die Industriestadt Steyr zog. Aus ihr und ihrem Mann waren Proletarier geworden. Die Arbeit in einer Fabrik und die Unterkunft in finsteren Mietskasernen oder noch elenderen Behausungen bestimmten ihr weiteres Leben. Diese Tatsachen trennten sie von nun an nicht nur räumlich, sondern auch sozial von ihrer Herkunft. Wenn sie aus dem Fenster blickten, sahen die beiden nicht mehr die mächtige Klosterkirche von Baumgartenberg, von nun an hatten sie die riesige Waffenfabrik im Wehrgraben von Steyr vor Augen.

Eine tiefe Kluft war in der damaligen Gesellschaft entstanden, die sich in der Folge durch unterschiedliche politische und religiöse Ansichten noch vergrößerte: auf der einen Seite katholische Bauern, von denen später viele Nazis wurden, und auf der anderen Seite kirchenfeindliche Proletarier, die noch dazu gern aufrührerische Reden schwangen. Ich wüsste gerne, wie sich meine Großeltern in diesem für sie völlig neuen Milieu zurechtfanden. Steyr war nur die erste Station in diesem neuen Leben.

Im Herbst 1905 wurden die Eltern meines Vaters von der streikgeschwächten Firma Lenz angeworben und übersiedelten nach Traisen. Mein Vater war damals sechs Jahre alt. Er staunte nicht schlecht über den neuen Wohnort. Im Vergleich zur Stadt Steyr war Traisen ein kleiner Ort in ländlicher Umgebung, umschlossen von Wiesen und bewaldeten Hügeln. Die Straßen waren nicht gepflastert und damals auch noch kaum befahren. Gegenüber der Fabrikshalle, direkt an der Hauptstraße, standen (und stehen noch immer) wie Zwillinge zwei dreistöckige Häuser, die »Kretzer-Häuser« genannt, erbaut 1902. In einem der beiden wurde der Familie Lettner eine Zimmer-Küche-Wohnung im zweiten Stock zugewiesen. So schön hatten sie in Steyr nicht gewohnt. Dort war eine ebenerdige, zugige Baracke ihr Zuhause gewesen.

Zwar hatte die Wohnung kein fließendes Wasser, aber in jedem Stockwerk gab es eine Bassena, und man musste nicht wie in Steyr zum Wasserholen aus dem Haus gehen. Hinter den Häusern standen Schuppen, in denen Holz und Kohle gelagert wurden, und noch weiter hinten befanden sich Gartenstreifen, für jede Familie einer. Hier konnte Gemüse angebaut werden, was für die Selbstversorgung überaus wichtig war. Für die Kinder waren die Klopfstangen im Hof interessant, weil man auf ihnen turnen konnte. Es gab also auch Platz zum Spielen. Das kam den Kindern, die vorher ganz anderes gewohnt waren, paradiesisch vor. Vor allem die Landschaft mochte meinen Vater an seine allerersten Jahre im Mühlviertel erinnern. Er und seine Schwester schliefen in der Küche auf Matratzen, die untertags unter das Bett der Eltern geschoben wurden. Im Winter war es zwar kalt, weil es von der einfach verglasten Pawlatschen-Veranda hereinzog, aber wenn man sich angezogen ins Bett legte, war es auszuhalten.

Allerdings dachte Franz mit etwas gemischten Gefühlen an die neue Schule, die er seit Jänner besuchte. Er war im September 1905 noch in Steyr eingeschult worden, nun musste er in die Volksschule in Traisen gehen, wo er niemanden kannte. Er war klein und schmächtig, weil er nur mangelhaft ernährt war. Dazu die ärmliche Kleidung, wie sie die Arbeiterkinder damals trugen: aus Resten von Erwachsenenkleidern zusammengenäht, meist aus grobem Stoff und vielfach geflickt. Dass er die erste Volksschulklasse wiederholen musste, war wohl der Unterbrechung des Schulbesuchs durch die Übersiedlung geschuldet. Den fehlenden Unterricht hatten seine Eltern nicht ausgleichen können. Vielleicht hatten auch sein schüchternes, verschlossenes Wesen und sein breiter Mühlviertler Dialekt dazu beigetragen, dass er sich anfangs in der neuen Schule schwertat.