Satans Kinder - Stanislaw Przybyszewski - E-Book

Satans Kinder E-Book

Stanislaw Przybyszewski

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Beschreibung

Dieses eBook: "Satans Kinder" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Stanisław Przybyszewski (1868-1927) war ein polnischer Schriftsteller, der zu Beginn seiner Laufbahn auf Deutsch schrieb. Przybyszewski entwickelte ein großes Interesse für Satanismus sowie die Philosophie von Friedrich Nietzsche und begann ein Bohème-Leben. Zu seinen Freunden in dieser Zeit gehörten Edvard Munch, Richard Dehmel und August Strindberg. Aus dem Buch: "In jedem Augenblick erwartete man neue Unglücksbotschaften; eine fanatische Untergangsekstase peitschte die Menge in den Wahnsinn. Niemand dachte daran, seine Habseligkeiten zu retten: die Gewißheit, daß die ganze Stadt in Flammen aufgehen werde, hatte alle Besinnung gelähmt. Es wurde ruchbar, daß in einer halben Stunde die Landratur niederbrennen werde. Man erwartete es mit stumpfer Resignation. In einem Fenster flammte ein Licht auf; gleich war man sicher, daß das Haus anfange zu brennen."

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Stanislaw Przybyszewski

Satans Kinder

e-artnow, 2015 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-4299-6

Inhaltsverzeichnis

Der König vom neuen Syon
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Am Vorabend
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
Die Tat
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
Das Vorspiel als Epilog
I.
II.
III.
IV.

Dem MalerEdvard Munch

Der König vom neuen Syon

I.

Inhaltsverzeichnis

Gordon beugte sich weit vor und sah Ostap mit scharfen, unruhigen Augen an.

»Du mußt es tun, Ostap, jetzt darfst du nicht mehr wanken, du hast einmal zugesagt; jetzt ist es zu spät.«

Ostap sah ihn wie verständnislos an, besann sich aber und sagte:

»Nein, ich kann nicht! Verstehst du? ich kann nicht!«

Er wurde sehr bleich und sein Gesicht zuckte.

Gordon lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Du mußt!« sagte er.

»Ich will nicht!« schrie Ostap rasend auf. »Ich will nicht! Bist du denn kein Mensch? Verstehst du nicht, daß es sich auch nebenbei um meinen Vater handelt? Verstehst du nicht: sobald er mir verrät, wie der Schrank geöffnet wird, wird er zum Mitschuldigen!«

Gordon lächelte.

»Wenn nichts weiter im Wege steht als ein Vater ...«

»Was? Was meinst du damit!«

Gordon lächelte wieder.

»Du bist doch ein sonderbarer Mensch. Manchmal bist du scharfsinnig wie eine Lanzette und dann wieder sentimental, weich und lächerlich wie eine Jungfrau. Was heißt das eigentlich, Vater? Willst du mir mit dergleichen Gründen kommen? Du meinst wohl einen Herrn, der dich trotz seines und deines Willens erzeugt hat? Ha ha ha ... Du hast ihn doch nicht darum gebeten, wie? Das Leben ist wohl kein solch übermäßiges Vergnügen – heh? Übrigens hab ich keine Lust zu philosophischen Disputen. Du mußt es tun und wirst es tun! Das ist ja lächerlich, das mit dem Vater! ... Willst du Tee oder Grog haben?«

Ostap setzte sich hin und sah stumpf zu Boden.

Sie schwiegen lange.

Gordon rauchte eine Zigarette und sah Ostap beständig an.

»Nein! ich kann nicht!« Ostap sprang auf und begann hastig auf und ab zu gehen. »Ich kann nicht mich und meinen Vater zu Grunde richten.«

»Das wird kein Mensch erfahren.« Gordon wurde ungeduldig. »Kein Mensch wird erfahren, daß du die Schlüssel in die Hand bekamst, und kein Mensch wird auch nur ahnen können, daß dein Vater dir gesagt hat, wie der Schrank geöffnet wird ... So dumm bin ich nicht, und du bist mir viel zu nötig, als daß ich dich einer solchen Lappalie wegen zu Grunde richten sollte ... Der Schrank wird nachträglich erbrochen werden.«

»Gott, wie du schlau bist!« Ostap stellte sich höhnisch vor ihn hin, aber im selben Nu fing er von neuem an nachdenklich hin und her zu gehen.

»Übrigens wird es niemandem einfallen, nach dem Schrank zu suchen.«

»Wie, wie?« Ostap stutzte. »Was willst du denn mit ihm machen.«

»Laß das nur meine Sorge sein; du weißt, daß ich mit solchen Kleinigkeiten fertig werde.«

Gordon erhob sich ungeduldig, setzte sich aber wieder hin.

Ostap lachte boshaft auf.

»Und wenn ich es doch nicht tue?«

Sie sahen sich gehässig an.

»Du fragst, was dann?«

»Ja!«

»Nun, die Konsequenzen kennst du ebensogut wie ich ... Hier, trink Tee; nein, nimm lieber Rum ... ist dir kalt? Du zitterst.«

»Ja, ich habe mich erkältet. Es regnet ja beständig.«

Ostap trank hastig und rieb sich lange die Stirn.

»Es war mir interessant zu sehen, wie du eifrig wurdest.«

»Vielleicht nur deinetwegen ...« Gordon lächelte.

Ostap sah ihn finster an, sagte aber nichts und verfiel bald in ein stumpfes Grübeln.

»Was soll ich mit dem Hund machen?« fragte er plötzlich.

Gordon sah ihn verwundert an.

»Der Hund? Nun, es freut mich, daß du an die Details denkst ... Der Hund wird natürlich vergiftet werden. Ein bißchen Teig mit Fett gebacken und mit nux vomica vergiftet ... wie?«

»Du scheinst gut Bescheid zu wissen«, lachte Ostap feindselig.

»Hast du das noch nicht gemerkt? Bist du ein einziges Mal bei unsrer Arbeit in Gefahr gekommen? Ich bin übrigens sehr erstaunt über dich. Noch vor zwei Tagen warst du vollkommen einverstanden ...«

»Hast du denn Angst, daß ich den Plan verrate?« fuhr Ostap wütend auf.

»Nein, das nicht. Aber ich glaube, daß du krank bist. Dein Gehirn hat Schäden ... das Weib richtet dich zu Grunde. Du bist ein schwacher Mensch ...«

Gordon sah ihn nachdenklich und sehr ernst an.

»Du bist ein schwacher Mensch«, wiederholte er.

Ostap blieb stehen und sah lange und ungewöhnlich traurig Gordon an.

»Nein, du ... ich bin eigentlich nicht schwach, ich bin nur sehr, sehr müde.«

»Müde?«

»Ja, müde! Und wenn man müde ist, dann hat man Angst vor jeder Tat. Ich habe sie bis jetzt nicht gehabt, aber jetzt bin ich müde. Man sucht unwillkürlich nach Ausflüchten, nur um nicht derangiert zu werden. Ich weiß ja eigentlich, daß du die Sache überdacht hast ... Ja richtig, die Kasse ist mit einem Weckapparat verbunden ...«

»So mußt du natürlich die Leitungsdrähte durchschneiden.«

»Ich?«

»Ja, du!«

»Nun, meinetwegen ... Aber was wollt ich doch sagen? Ja, siehst du, ich bin müde. Ich habe mich gefragt, wozu wir das alles tun. Wozu?«

Er sah mit einem kranken Lächeln auf Gordon.

»Wozu? Erwartest du eine Antwort?«

»Antwort? Hm, nein – eigentlich nicht ... Die Grundbedingungen einer Tat müssen ja vorhanden sein, nicht wahr? Haß oder Liebe. Ja, Haß oder Liebe ... aber zu wem?«

»Meinetwegen zu sich selbst.«

»Aber wenn man dies Selbst verloren hat?«

»Dann tut mans, um es wiederzugewinnen.«

»Aber wenn einem nichts daran liegt, dies Selbst wiederzugewinnen?«

»Man kann ohne dies Selbst nicht leben. Man geht dann zu Grunde. Und wenn man zu Grunde geht, dann ist es ja gleichgültig, ob man noch vorher eine solche Tat begeht. Ich meine, man kann sie begehen aus verschiedenen Motiven ... du weißt.«

»Was weiß ich? Ich weiß nicht, warum ich die Tat begehen soll. Es bleibt ja gleichgültig, wenn ich sie auch nicht begehe.«

»Selbstverständlich!«

»Dann werd ich es eben nicht tun!«

Gordon zuckte mit den Achseln.

»Wie du willst! Wenn es dir gleichgültig ist, ob du in ein paar Tagen oder in ein paar Jahren zu Grunde gehst ...«

Ostap starrte Gordon lange wie abwesend an.

»Du glaubst also wirklich, daß ich beiseite geschafft werde, wenn ich es nicht tue?«

»Ja.«

Ostap hörte nicht auf die Antwort. Ihn fröstelte.

»Du bist wohl ganz durchnäßt«, fragte Gordon.

»Das tut nichts. Mach nur das Wasser recht heiß ...« Er raffte sich zusammen ... »Nun, Gordon, du weißt ja, daß ich alles tun kann, aber seit einiger Zeit steht es schlimm mit mir. Selbstverständlich werd ich alles tun, was ich versprochen habe. Du hast auch nicht einen Augenblick daran gezweifelt ... Ich habe jetzt keinen Glauben, aber ich folge dir, weil du ihn hast ... Ich weiß eigentlich nicht, warum du soviel für mich bedeutest, ich habe auch nicht darüber nachgedacht, aber in demselben Momente, als du damals vor zwölf Jahren in die Klasse eintratst und wir den ersten bösen Blick miteinander wechselten, fühlt ich – ja, ich wußte es genau: der da ist dein Schicksal! Du wurdest das eigentlich nicht ... Ich habe ja dieselben Gedanken gehabt und ganz dieselben verbrecherischen Anlagen ... nur dein Gehirn war stärker ...«

Er schwieg und sah Gordon an. Gordon saß mit unbeweglichem Gesicht und starrte fast gleichgültig vor sich hin.

»Du, Gordon, hast du den Glauben an das, was du tust?«

»Wozu willst du das wissen?«

»Ich will es! Ich will nicht von dir genarrt werden.«

»Schrei doch nicht so! Du bist ein furchtbar exaltierter Herr ... Man untersucht niemals, ob man den Glauben hat oder nicht. Hauptsache ist, daß er da ist. Man verliert den Glauben auch nicht. Daran glaub ich nicht. Entweder ist das ganze Sein, die ganze Seele und alle ihre Instinkte mit gewissen Grundsätzen so durchsättigt, jeder Nerv mit einem Dogma so zusammengewachsen, daß man etwas tun muß, im Schlaf, notgedrungen, unfreiwillig, trotz alles entgegenwirkenden Überlegens, oder es ist nicht der Fall. Im ersten Falle heißt es Glauben, im andern ... nun ja, der andere Fall existiert eben nicht. Millionen von Menschen haben theoretisch den Glauben an das Gute verloren und sie tun es doch, weil sie den Glauben im Instinkte haben, weil das Gute Glaube ist ... Nun ja, ich bin nicht aufgelegt zum Philosophieren. Ich will dich übrigens gar nicht narren. Ich will zerstören, nicht um aufzubauen, sondern nur um zu zerstören. Weil die Zerstörung mein Dogma, mein Glaube, meine Verehrung ist. Vielleicht irre ich mich, vielleicht will ich unbewußt das Gute, vielleicht steckt doch hinter allem der Gedanke an die Menschheit, aber das alles ist mir gleichgültig. Ich will nur die Zerstörung. Übrigens hab ich gar nicht Lust, dir noch einmal zu wiederholen, was ich dir tausendmal gesagt habe ... Du suchst nach Vorbehalt, nach Einwürfen, weil du verliebt bist ... und Liebe ist ja das Positive an sich ... Das ist der Drang nach Glück, nach Leben, nach Genuß, nach alledem, was du noch vor einem halben Jahre so verachtet hast ... He, he, warum solltest du auch nicht glücklich werden? Du darfst nur nicht lügen und die Ursache für deinen Zustand ganz wo anders suchen ... Aber du bist so blaß ... Willst du die Kleider wechseln?«

»Nein, danke, ich gehe gleich ...»

Ostap ließ den Kopf sinken, dann sah er Gordon mit einem blöden Lächeln an.

»Du, nicht wahr? ... Sie liebt mich nicht?«

»Wer?«

»Hela.«

»Nein!«

»Weißt du das so sicher?«

»Ich glaube es zu wissen.«

Ostap lachte heiser auf.

»Ist sie noch immer deine Maitresse?«

Gordon wurde unruhig, seine Augen funkelten.

»Ist sies?«

Gordon antwortete nicht, aber über sein Gesicht glitt ein leises Lächeln.

»Warum lachst du?« schrie Ostap auf.

»Ich lache nicht. Nein, nein ... es ist nur so sonderbar, daß alle Menschen in denselben Augenblicken dieselbe Frage in derselben Form stellen ... Ja, ich kenne diese Wut, die das Weib, das gefallene Weib, mit den brutalsten Gedanken beschmutzen will ...«

»So, so ... kennst du das auch? Ha, ha, ha ... wie du erfahren bist! ...«

»Es gibt wohl keinen Schmerz, den ich nicht erlebt hätte«, sagte Gordon leise und sehr traurig. Er schien es zu sich selbst zu sagen.

Ostap wurde sehr ernst.

»Hör Gordon, ich werde alles tun, was du willst; aber willst du mir ein paar Fragen beantworten?«

»Frag nur!«

»Damals, als sie nach London fuhr, um eine Freundin zu besuchen, wie sie sagte, fuhr sie doch zu dir, obwohl es hieß, daß du nach Amerika gereist warst?«

»Ja, sie war bei mir.«

»Wolltest du sie heiraten?«

»Ja.«

»Warum hast du es nicht getan?«

»Weil sie früher einem Andern gehört hatte.«

»Und du hattest die Kraft, dich von ihr loszureißen?«

»Ja.«

»Woher bekamst du die Macht?«

»Die steckt in mir, in dem Glauben, der nicht diskutiert wird, sondern eine Tatsache ist, – die fremde Macht, die alle Handlungen auslöst, ohne sich um meine Vernunft zu kümmern.«

Ostap trank unaufhörlich, sah von Zeit zu Zeit mit gieriger Neugierde auf Gordon hin und ließ dann den Kopf sinken.

Sie schwiegen lange.

»Du hattest Sehnsucht nach Schönheit«, sagte endlich Ostap grübelnd. »Ich verstehe dich. Ich sehnte mich auch nach diesem Glück, diesem einen Glück, eine Seele mit meiner verschmelzen zu lassen. Aber das kann man nur mit einem Weibe, das rein ist, das noch nie vorher geliebt hat, nie einem Andern angehört hat, nicht wahr? Meintest dus nicht so?«

Gordon nickte.

»Und jede andere Liebe, die Liebe mit einem Weib, das schon früher die Geliebte eines Andern war, ist nur Surrogat?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil dies erste Glück auch gleichzeitig das einzige Mal ist, in dem das Geschlecht schön ist, – schön, verstehst du?«

»Das einzige?«

»Ja. Das Weib gehört bewußt oder unbewußt immer dem Ersten, der Brandfleck der ersten Liebe bleibt in ihrer Seele unauslöschlich, und ein Weib zu nehmen, in dessen Seele der Erste lebt, ist häßlich.«

»Häßlich?« Ostap starrte ihn mit unsagbarem Schmerze an.

»Ja.« Die Stimme Gordons war klanglos und heiser.

»Sie haßt dich!« sagte Ostap unwillkürlich und wie abwesend.

Gordon lächelte.

»Hast du sie überwunden«, fragte Ostap nach einer langen Pause.

Gordon antwortete nicht. Er trank das Glas leer. Sie schwiegen wieder.

»Du wirst doch nicht krank werden, Ostap? Wie? Du bist sehr blaß. Das letzte Jahr hast du es wohl sehr schlimm gehabt?«

Ostap zuckte auf und starrte ihn an.

»Der Tod deines Kindes ist dir wohl sehr nahe gegangen?«

Ostap wurde leichenblaß, seine Hände fingen an zu zittern und seine Augen öffneten sich übermäßig.

Gordon sah ihn erstaunt an.

»Du hast Angst«, sagte er, »ich habe gemerkt, daß du immer vor Etwas Angst hast.«

»Hab ich Angst?«

»Ja.« Gordon lächelte.

»Warum lachst du?«

»Ich lache nicht. Ich liebe die Menschen, die immer vor Etwas Angst haben. Das ist gut, sehr gut.«

»Warum ist das gut?«

»Weil diese Menschen ...« Gordon brach plötzlich ab und lächelte.

Sie sahen sich eine Weile hart in die Augen.

Gordon senkte die Augen.

»Weil diese Menschen mein sind«, sagte er nach einer Pause.

»Dein?«

»Ja. Mein.«

»Ich bin nicht dein! Ich will nicht deine Sache sein. Ich will mich nicht von dir als Werkzeug gebrauchen lassen!«

Um Gordons Mundwinkel zuckte es leise.

»Du hast mich mißverstanden. Ich meinte es nicht so. Ich meine nur, wir alle gehören zusammen. Wir ... ja, die wir etwas zu bereuen haben, blutig bereuen, – vor Etwas Angst haben, gleichgültig, ob es der Gendarm oder das Gewissen ist, unser Instinkt oder das Zuchthaus.«

Ostap stand auf.

»Willst du gehen?«

»Ja.«

»Willst du nicht noch ein Glas Tee trinken?«

»Nein. Ich gehe nach Hause. Ich bin krank. Übrigens tu ich alles, was du willst. Es handelt sich nur um meinen Vater. Du weißt vielleicht, daß die Stellung eines städtischen Kassierers sehr verantwortlich ist.«

»Laß dir nur darüber keine grauen Haare wachsen.«

Gordon blieb nachdenklich stehen.

»Ja richtig, – wenn du Hela triffst, so sag ihr, ich laß sie grüßen.«

»Werd ich besorgen«, grinste Ostap.

II.

Inhaltsverzeichnis

Gordon saß lange in tiefes Brüten verloren.

Hin und wieder stand er auf, ging wie abwesend herum, kühlte sich die Stirn an der Fensterscheibe, dann setzte er sich wieder und – schlief ein.

Plötzlich erhob er sich, nahm seinen Regenmantel und ging hinaus.

Draußen war er sehr erstaunt, wie finster es war. Dabei regnete es. Die Regentropfen schienen ihm zu Eisnadeln auf seinem Gesicht zu gefrieren. Von der Vorstadt her sah er Lichter herüberschimmern; eine Zeit lang interessierte es ihn, sie vor seinen Augen tanzen und verschwimmen zu sehen, aber von neuem vergaß er alles.

Als er die Stadt erreichte, fühlte er sich ganz durchnäßt. Er schüttelte sich. Es fröstelte ihn. Wenn er jetzt nur eine Droschke finden könnte. Er sah sich um und lächelte. Natürlich würde er jetzt keine bekommen. Er fing an schnell zu gehen, ging ein paar Straßen entlang, bog in ein Seitengäßchen ein und erreichte schließlich ein kleines Haus, das abgesondert, fast auf freiem Felde lag.

Er ging hinauf und klopfte an.

Die Tür wurde sehr vorsichtig aufgemacht.

»Guten Abend, Pola!«

»Still! Er schläft ...«

Gordon trat leise ein.

»Wie geht es Stefan?«

Er sah dem Mädchen in die Augen und behielt ihre Hand in der seinen.

»Schlimmer und schlimmer ...«

Im selben Augenblick richtete sich der Kranke im Bett auf.

»Ah! Sie sind es, Gordon! Gott, wie ich Sie erwartet habe ...«

Gordon trat an das Bett.

»Wie geht es Ihnen?«

»Es wird wohl nicht mehr lange dauern ... Pola, bring Tee ... Ich rauche jetzt auch wieder ... es ist ja gleichgültig. Der alte Mizerski kam einmal her und sah mich rauchen. Es machte mir Freude, ihm den Rauch ins Gesicht zu blasen. Er ist doch Arzt, er sollte mir doch helfen können ... He he, wissen Sie, was er sagte? Er setzte eine freundliche Miene auf, klopfte mir auf die Schultern, und meinte, ich sei ein braver, junger Mann aus dem Stamme der Römer, die auch mit Grazie zu sterben verstanden ... Ha ha ... mit Grazie ...«

Er hustete.

»Das Verfluchte an der Sache, daß es nicht so schnell zu Ende gehen will. Es wird wohl noch ein halbes Jahr dauern.«

Er sah Gordon mit großen, ängstlichen Augen an, als ob er Trost bei ihm suchte.

Aber Gordon schwieg, er schien über etwas andres nachzudenken.

»War Mizerski heute bei Ihnen?«

»Nein, er ist verreist.«

»Verreist? Auf lange?«

»Auf ein paar Tage. Pola war dort. Sie wurde von Fräulein Mizerska sehr freundlich nach mir ausgeforscht. He he ... man nimmt Anteil an meinem Leiden ... Ich brauche es zum Teufel nicht. Ich brauche kein Mitleid. Sie sind der Einzige, den ich sehen kann, weil Sie kein so jämmerliches Gesicht aufsetzen wie die Andern. Ich habe sie alle zum Teufel gejagt.«

Das Gesicht des jungen Menschen war verzerrt in ohnmächtiger Wut.

»Regen Sie sich doch nicht so auf, Stefan. Sie sind so verbittert ... Hat Fräulein Mizerska nach Ihnen gefragt?«

»Ja.«

Gordon schien keine Antwort zu erwarten, er sah sich zerstreut um.

»Sie sollten von hier ausziehen, Stefan«, sagte er plötzlich. »Die Wände sind feucht und sind mit Pilzen bewachsen. Das tötet Sie.«

»Jetzt ist es ja gleichgültig. Lassen wir die Pilze nur recht schön weiter wachsen.«

»Aber für Ihre Schwester ist es gefährlich.«

Der Kranke machte eine verächtliche Handbewegung.

»Alles ist gleichgültig. Früher oder später ...«

Er sank wieder in die Kissen zurück und starrte an die Decke.

»Jetzt muß ich wieder liegen«, sagte er nach einer Pause. »Diese Novembertage machen einen ganz verrückt. He he ... es ist eine eigene Sache um dies Liegen auf dem Krankenbett mit der absoluten Sicherheit, daß man bald eine nähere Bekanntschaft mit den Leichenwürmern machen wird.«

Er lachte auf und sah Gordon grinsend an.

Pola kam mit dem Samowar herein.

»Aber Sie sind ja ganz naß, Gordon. Trinken Sie nur schnell heißen Tee ... Geben Sie den Mantel her, ich werde ihn trocknen ...«

Sie wurde sehr erregt.

»Sie können sich ja furchtbar erkälten.«

»O, ich bin daran gewöhnt: Ich schlief einmal auf dem Felde und es hat geregnet wie bei Wolkenbrüchen ...«

Er lächelte, nahm den Mantel ab und gab ihn ihr hin.

»Vielleicht ist es besser, daß man ihn trocknet«, sagte er zerstreut.

Als sie in der Tür war, rief ihr der Kranke nach:

»Bleib auf deinem Zimmer, ich habe mit Gordon wichtige Sachen zu besprechen. Stör uns nicht.«

»Nein, nein!«

»Arbeiten Sie jetzt viel?« fragte Gordon.

»Ja, ich arbeite sehr viel. Ich arbeite auch mit einer sonderbaren Schärfe und Klarheit. Nun, Sie wissen ja ... Sie haben wohl schon von dieser ominösen Klarheit gehört ... He he ... Man wird immer klar, wenn es zur Neige geht ...«

»Haben Sie die Broschüre schon fertig geschrieben?«

»Ich werde sie Ihnen in zwei Tagen geben ... Aber reichen Sie mir den Tee ... So. Danke.«

Er zog eine Flasche unter dem Kopfkissen hervor.

»Wollen Sie Cognac haben?«

»Trinken Sie jetzt wieder?« fragte Gordon erstaunt.

»Ja. Das gibt Mut ... He he ... Es ist nun alles gleichgültig, was ich tue. Jetzt schadet mir nichts mehr, nichts. Oh, es ist ein sonderbares Gefühl, daß einem nichts mehr schaden kann. Nicht wahr? Wenn einer, der zum Tode verurteilt ist, sich an dem Henkersmahl tags zuvor den Magen verdirbt, so tut das nichts, nicht wahr?«

»Nein!« sagte Gordon zerstreut.

Stefan sah ihn eine Weile traurig an.

»Hören Sie, Gordon, ich habe Sie so sehnsüchtig erwartet, ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie gekommen sind, aber Sie sind nicht bei mir.«

»Ja, ich bin bei Ihnen ... Ich habe Sie sehr gerne, Wronski, sehr gerne ...«

Er sagte es fast gleichgültig.

Wronski wurde unruhig.

»Warten Sie, ich muß aufstehen, ich kann nicht denken, wenn ich liege, und ich muß mit Ihnen sprechen.«

Er stieg aus dem Bett und kleidete sich hastig an. Gordon wurde plötzlich lebendig. Er half ihm beim Ankleiden und setzte ihm einen Stuhl zurecht.

»Nein, danke. Ich werde herumgehen.«

Aber er setzte sich bald hin und trank gierig das Glas Tee, das er zur Hälfte mit Cognac gemischt hatte. Seine Wangen brannten, und seine Augen bekamen einen unheimlichen Glanz.

Gordon sah ihn brütend an. Er schien ihn nicht zu sehen.

Der Kranke packte plötzlich seinen Arm.

»Hören Sie, Gordon ... Wissen Sie, was es heißt zu sterben? In meinen Jahren zu sterben? Wenn man zwanzig Jahre alt ist? Wissen Sie überhaupt, was sterben heißt? Ich liege Nacht für Nacht wach und denke; ich suche es zu Ende zu denken. Man kann es nicht denken ... Sehen Sie, ich bin gefaßt. Ich weiß, daß ich sterben muß. Aber was heißt das? Was heißt Sterben? Sagen Sie es mir! Sie sind für mich der größte Mensch. Sie sind mein Gott. Sagen Sie es mir, was heißt das: sterben?!«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht? Sie sollen es wissen! Sie müssen! Sie haben immer meine Fragen beantwortet. Warum können Sie es jetzt nicht? He he ... Man stirbt! Die Seele stirbt früher, hat man gesagt. Herrgott, dieser Wahnsinn! die Seele soll sterben! Daran glauben Kretins! ... He he ... Wozu bin ich überhaupt da? ... Ha ha ... der Zweck soll nur für das menschliche Bewußtsein existieren ... Und Sie wissen es nicht, wozu ich da bin? Ich habe versucht, es zu Ende zu denken! Mein Leib zerfällt! Gut! Meine Seele ... der unsterbliche Astralleib ...«

Er keuchte und würgte am Husten.

Gordon nahm seine Hände und sah ihm starr in die Augen.

Wronski beruhigte sich sofort.

»Glauben Sie an die Hölle?« fragte Gordon.

»Nein!«

»Können Sie sich etwas so Rohes vorstellen?«

»Nein!«

»Glauben Sie überhaupt an eine körperliche Qual nach dem Tode?«

»Nein!«

»Kann es seelische Qualen nach dem Tode geben, die größer wären, als was Sie jetzt erleben?«

»Nein.«

Gordon ließ plötzlich seine Hände los und sah zu Boden.

»Gibt es also noch größere?« fragte Wronski ängstlich.

»Ja. Aber Sie werden sie niemals durchmachen. Sie haben nie ein Weib geliebt?«

»Meine Schwester Pola.«

»Als Weib?«

»Nein!«

Sie schwiegen lange.

Wronski stand auf.

»Die Angst! Diese entsetzliche Angst. Ich dachte heute, mit mir ein Ende zu machen, und – und ... Oh, wie das ist! Das Herz läuft, der ganze Körper zuckt, man ist in kalten Schweiß gebadet, die Haare sträuben sich ... Aber trinken Sie doch! Tun Sie mir den Gefallen! Trinken Sie mit mir, ich trinke ungern allein ...«

»Ja, ich will sehr gerne trinken.«

»Trinken Sie gern? He he ... Sie trinken also gern ... Hm ... Gordon! Glauben Sie an Gott?!«

»Nein, weil Satan älter ist als Gott.«

»Also ist Satan Ihr Gott?«

Gordon schwieg und lächelte.

Wronski sah ihn starr an.

»Hören Sie, Gordon, ich habe von einer Sekte gehört, die den Satan anbetet ...«

Gordon schwieg nachdenklich.

»Nein, ich bin kein Palladist«, sagte er endlich. »Ich kenne übrigens die Sekte sehr gut. Es sind viele dumme Menschen darunter, wie überall.«

»Aber auch große? Große! So wie Sie groß sind?«

»Vielleicht ... Ich bin übrigens kein großer Mensch. Sie halten mich dafür, weil Sie noch jung sind und den Menschen zu wenig kennen ...«

»Ist es wahr, daß die Sekte die unnatürliche Unzucht als eine Art Sakrament feiert?«

»Es ist möglich.«

»Aber Sie sagten doch eben, daß Sie die Sekte gut kennen.«

»Ich kenne nur ihre Grundprinzipien, und sie gefallen mir. Verstehen Sie wohl? Ich spreche rein ästhetisch. Es ist etwas Wahres daran, daß wir alle Satans Kinder sind. Alle, die verzweifelt sind, die Angst haben, deren Gewissen beladen ist ... Und es ist etwas Richtiges daran, daß das Leben Satans Reich ist: die Hölle ... Nach dem Tode bekommen wir vielleicht etwas so Dummes und Banales, wie das Paradies es ist ... Übrigens glaub ich, daß von allem, woran die Menschen glauben, grade das Umgekehrte wahr ist ...«

»Daß also Jedem nach dem Tode das Paradies sicher sei?«

»Jedem, der hier dem Satan verfallen war ...«

»Sie sollen nicht spotten!« schrie Wronski erregt auf. »Sie sollen nicht! Verstehen Sie? Ich habe mich so nach Ihnen gesehnt, und jetzt spotten Sie über meine Qual und meine Angst!«

»Ich spotte nicht! Es ist mein Ernst!«

Gordon sagte es sehr ruhig.

»Das ist alles Mystik, Ästhetik. Ich will keine Ästhetik! Ich soll sterben! Ich will Tatsachen haben! Sie haben mir meinen Glauben zerstört. Sie haben mir alles genommen, was mich jetzt trösten könnte. Ich wurde ein Priester des Atheismus, ich trug ihn in die Schule, ich pflanzte ihn in die Herzen aller meiner Kameraden, ich spie auf das Heiligste, ich ging und verdarb, weil Sie mein Gott waren, weil ich an Sie glaubte, und jetzt, wo ich in Todesangst liege, wollen Sie mich mit Ästhetik abspeisen, Sie ...«

Plötzlich starrte er Gordon an, eine tiefe Scham überkam ihn. Er kam zur Besinnung.

»Nein, Gordon«, sagte er leise, »das ist natürlich nur die Angst, ich bleibe meinen Überzeugungen treu.«

Gordon sah ihn aufmerksam an.

»Legen Sie sich hin, Stefan, Sie haben Fieber. Sie sprechen wirr. Das Bürgertum hat einen Gott! Gott ist nur ein Mittel, um die Begriffe von »Mein und Dein« zu ordnen, um Übergriffe zu verhüten. Ich habe Ihnen nur die Religion des kleinen Bürgers zerstört, der Angst vor Dieben und Mördern hat. Ich habe Ihnen nie den Gott zerstört, den ich habe ...«

»Welchen Gott?«

»Sich selbst.«

»Bin ich Gott?«

»Noch nicht. Solange Sie noch mit dem Gott des kleinen Bürgers und des reichen Juden kämpfen, werden Sie nicht Gott.«

Er schwieg, Wronski sah beschämt zu Boden, aber seine Unruhe schwoll wild an, er trank, seine Hände zitterten, er verschüttete den Tee.

»Oh, Sie sind ein furchtbarer Mensch. Ich habe Angst vor Ihnen. Ich habe immer Angst vor Ihnen gehabt. Sie sagten, wir alle sind Satans Kinder ... Sie selbst sind der Satan, und ich bin Ihr Kind. Und Sie sind die Hölle. Jetzt will ich Ihnen nicht mehr gehorchen. Ich habe selbst die Hölle in mir. Jetzt bin ich selbst Satan ... Ha ha ha ... Nein, nein, nein! Sie sind der Engel, und ich bin nur ein armseliger Jakob, der dem Großen, dem Herrlichen seine schauerlichen Geheimnisse entreißen möchte ... Oh, wie ich Sie hasse und wie ich Sie liebe! Aber Sie haben Haß in mich gesät ... Ich ersticke, ich sterbe an diesem Haß ...«

Er sprang auf.

»Nur das Eine laß mich noch erleben, die große Vernichtung, das große Glück, dies eine Gefühl, daß alles um mich her mit mir zu Grunde geht!«

»Endlich haben Sie mich begriffen!« sagte Gordon sehr leise.

»Ich will kein Glück haben, ich verachte das Glück, aber ich will mich rächen, weil ich so unglücklich bin!«

Er neigte sich über Gordon und flüsterte ihm ganz leise zu:

»Wissen Sie, wissen Sie, was ich ausgedacht habe?«

Er flüsterte noch leiser.

»Ich werde das Rathaus in Brand stecken ...«

Er schnellte triumphierend auf, sank dann aber gleich zurück, er beugte sich weit vor, faßte sich heftig an die Brust, als ob er das Husten ersticken wollte.

»Was wollen Sie damit bezwecken?« fragte Gordon sehr ernst.

Wronski wurde wütend.

»Halten Sie mich denn für einen Narren? Haben Sie nicht über einen solchen Plan gesprochen, haben Sie nicht darüber gesprochen, daß man mit dem vielen Geld da drin im Rathaus die ganze Provinz in Aufruhr bringen könnte? Haben Sie nicht darüber gesprochen, daß man das Rathaus niederbrennen müßte, wenn die Kassen ausgeleert sind? Sie suchten ja nur nach dem Menschen, der es tun könnte, und jetzt, jetzt stehe ich da und will Sie glücklich machen, will Ihnen zeigen, daß ich Ihrer wert bin, und Sie fragen mich nach dem Zweck?!«

Er wurde atemlos und sank keuchend auf das Bett.

Mit einemmal stand er auf, ganz ruhig und kalt.

»Seitdem Sie mit mir darüber gesprochen haben, wurd ich wie ein neuer Mensch. Ich habe nur darüber nachgedacht. Darüber und über den Tod. Ich vergesse den Tod jetzt. Ich liebe Sie, ich will Ihnen gefallen, ich will die Empörung und die Revolte mit der Tat predigen ... Meine Hölle schäumt über ... Ich sterbe, und das ist gleichgültig, ob ich hier oder im Gefängnis sterbe ... He he, mein Herr, mein Meister ...«

Er ergriff hastig Gordons Hand und küßte sie in Verzückung.

Gordon entriß ihm die Hand.

»Aber Sie sind ja wahnsinnig!«

»Ich werde noch mehr tun!« flüsterte Wronski mit irrem Lachen. »Ich werde mich rächen, ich werde mich rächen!«

Ein krampfhafter Husten befiel ihn, aber er achtete nicht darauf, stieß die Worte hervor, die Ekstase ließ ihn die Qual vergessen.