Scary Harry (Band 1) - Von allen guten Geistern verlassen - Sonja Kaiblinger - E-Book

Scary Harry (Band 1) - Von allen guten Geistern verlassen E-Book

Sonja Kaiblinger

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Beschreibung

Der elfjährige Otto wohnt ein einem waschechten Spukhaus und ist einiges gewohnt. Dass ihm ein Geist sein Sandwich aus dem Kühlschrank klaut und ein anderer ständig Socken in den Tiefen der Waschmaschine verschwinden lässt, ist keine Seltenheit. Außerdem hat er eine sprechende Fledermaus als Haustier, die ihn schon in so manch peinliche Situation gebracht hat. Trotzdem staunt Otto nicht schlecht, als er im Nachbargarten einen Sensenmann entdeckt. Harold, genannt "Scary Harry", ist zum Glück gar nicht so gruselig, wie er auf den ersten Blick aussieht. 

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Eine nächtliche Gurkenlieferung

Alles begann, als MrOlsen starb.

Dass MrOlsen das Zeitliche segnete, war für keinen der Bewohner des Radieschenweges eine besonders große Überraschung – immerhin hatte er bereits seinen hundertzweiten Geburtstag gefeiert. MrOlsen war vergesslich, litt an Blasenschwäche und verpasste keine Gelegenheit, seine Leiden in allen Einzelheiten zu schildern. Auch, wenn man gar nicht danach fragte.

Abgesehen von seinen Krankheiten hatte MrOlsen noch ein anderes Hobby: seinen Radieschengarten. Als wollte er dem Namen der Straße, in der er wohnte, gerecht werden, ackerte er jeden Tag den Garten um, pflanzte Samen oder erntete reife Radieschen. Nach Sonnenuntergang griff er noch zur Gießkanne und wässerte seine Pflänzchen. Erst dann verriegelte er die Tür, machte das Licht aus und ging zu Bett.

Das war MrOlsens Ritual. Otto konnte ihn jeden Tag von seiner Fensterbank am Dachgiebel aus dabei beobachten. Abends machte er es sich dort meist mit einem Kissen gemütlich und vertrieb sich die Zeit mit einem dicken Buch.

Während andere Elfjährige fernsahen oder Computer spielten, las Otto am liebsten Gruselgeschichten. Und wenn er danach nicht einschlafen konnte, holte er sein Fernglas und spähte in MrOlsens Garten.

Die meisten Bewohner des Radieschenwegs hielten MrOlsen für einen seltsamen Kauz, aber Otto mochte ihn. Der alte Mann und seine Radieschen halfen ihm dabei, richtig müde zu werden.

Doch an diesem Abend fiel Otto auf, dass etwas anders war. MrOlsens Ritual verlief nicht wie sonst. Nachdem die Pflänzchen gewässert waren, setzte er die Gießkanne ab und richtete den Blick geradewegs in den nächtlichen Himmel. Eine Weile hielt er inne, dann, so schnell, dass Otto es kaum mitbekam, kippte MrOlsen rücklings ins Radieschenbeet. Dort blieb er reglos liegen, den Blick immer noch gen Himmel gerichtet, während ein schmales Lächeln auf seinen Lippen lag. Beinahe so, als hätte er sich sein Ableben genau so vorgestellt.

Otto hatte noch nie zuvor einen Menschen sterben sehen. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er liebend gern darauf verzichtet. Er fand sein Leben im Radieschenweg schon schräg genug.

Otto dachte kurz nach. Vielleicht irrte er sich ja und MrOlsen war gar nicht wirklich tot? Aus Büchern wusste er nur ungefähr, wie Leichen aussahen. Er hatte noch nicht mal eine im Fernsehen gesehen, weil Tante Sharon ihm nicht erlaubte, Krimiserien anzuschauen. Er brauchte also unbedingt eine zweite Meinung.

»Vincent?«, rief Otto, ließ sich vom Fensterbrett gleiten und klopfte an die Tür des Eichenschranks, der in der Ecke seines Zimmers stand. »Komm raus. Das musst du dir ansehen! Ich glaube, mit MrOlsen stimmt was nicht.«

In Ottos Schrank polterte es. Mit einem Knarren öffnete sich die linke Flügeltür und eine dunkelgraue Fledermaus schlüpfte durch den Spalt.

Selbst im Dämmerlicht konnte Otto sehen, wie ihre Augen golden funkelten. Abgesehen davon sah Vincent eigentlich aus wie jede andere Fledermaus. Gut, er wirkte vielleicht ein wenig mitgenommen. Sein Fell war an ein paar Stellen löchrig und seine zerschlissenen Flügelhäute blähten sich beim Fliegen wie die Segel eines alten Piratenschiffs.

»Mit MrOlsen stimmt was nicht«, näselte Vincent und klang, als wollte er sich über Otto lustig machen. Schlaftrunken hob sich das Tier in die Luft und landete auf Ottos Bettpfosten. »Als ob das Neuigkeiten wären! Was ist es diesmal? Hat er die Radieschen wieder zu oft gegossen?« Er überlegte. »Oder geht’s um seine Blasenschwäche? Hat er sich angepieselt? Nein, ich hab’s! Er hat in die Radieschen gepieselt.«

Otto schüttelte ernst den Kopf. »Nichts davon.«

»Hmpf«, brummte Vincent enttäuscht. Träge ließ er den pelzigen Kopf hängen. »Und weshalb weckst du mich dann? Ich hatte einen abgefahrenen Traum.«

»Du hast geschlafen?« Otto nahm seinen Blick von dem starren MrOlsen und studierte sein Haustier. »Sind Fledermäuse nicht nachtaktiv?«

Vincent hob das Kinn. »Die in deiner Welt vielleicht, Klugscheißer.«

Otto seufzte. Manchmal fragte er sich wirklich, warum er Vincent immer noch in seinem Schrank wohnen ließ. Er war die reinste Nervensäge und außerdem keine normale Fledermaus. Vincent war noch nicht mal ein normales Tier. Er stammte nicht aus England, nicht von diesem Kontinent, und auch nicht von diesem Planeten. Vincent kam aus einer Welt, von deren Existenz Otto zwar wusste, die er aber noch nie betreten hatte. Und dort galten für Fledermäuse nun mal andere Gesetze.

»Wenn du schon mal wach bist, kannst du mir genauso gut sagen, was mit MrOlsen los ist«, konterte Otto und deutete zum Fenster. »Ich glaube nämlich, er hat …«

Noch bevor er den Satz ganz ausgesprochen hatte, spannte Vincent die Flügel und glitt ans Fensterbrett. »… das Zeitliche gesegnet«, beendete er Ottos Satz. »Der alte Rübezahl ist tot. Mausetot. Scheint, als würde er sich sein Gemüse in Zukunft von unten ansehen.«

Otto schluckte. Also hatte er mit seiner ersten Vermutung doch recht gehabt. Tot. Mausetot, hallte es in Ottos Kopf und er spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Heute Nacht würde er garantiert kein Auge zutun. Schlaflos, ausgerechnet am Abend vor dem Biologietest. MrWalker würde kein gutes Haar an ihm lassen, wenn er während der Prüfung einschlief. Von der Note ganz zu schweigen. Und dabei war Biologie sein Lieblingsfach.

»Jetzt guck doch nicht so, Otto. Du hast einen Teint wie Tante Sharons gepelltes Frühstücksei.« Vincent schüttelte den Kopf. »Mann, Mann, du solltest schon etwas härter im Nehmen sein. Ich dachte, du hast dich inzwischen an das Haus und die Bewohner gewöhnt.«

Otto antwortete nicht. Er wusste, dass er mit dem Jenseits und allem, was damit zu tun hatte, vertraut sein sollte. Kurz nachdem er in Tante Sharons Villa gezogen war, hatte er Bekanntschaft mit den drei Hausgeistern gemacht, und mittlerweile konnte er sie sogar richtig gut leiden. Tante Sharon ahnte allerdings nichts von ihrer Existenz. Niemand wusste von ihnen. Abgesehen von Ottos bester Freundin Emily. Die sah Tante Sharons Geister zwar nicht, aber übernatürliche Phänomene zählten zu ihren Hobbys, und deshalb glaubte sie Otto jedes Wort.

»Geister hin oder her. Das hier ist etwas anderes. MrOlsen ist tot«, wisperte Otto beunruhigt. »Oder er wird es bald sein, wenn ihm niemand hilft.« Er rieb sich die Stirn und versuchte sich daran zu erinnern, was sie in der Schule über das Verhalten in Notsituationen gelernt hatten.

»Wo willst du hin?«, krächzte Vincent ihm hinterher, aber Otto hastete bereits aus dem Zimmer. Er lief durch den stockdunklen Flur und die Treppe hinunter in den ersten Stock, wo sich Tante Sharons altmodisches Telefon befand. Wie so oft hatte sich das Kabel verwickelt und Otto musste ein paarmal kräftig daran ziehen, bis er den Hörer an sein Ohr heben konnte. Eilig wählte er die Notrufnummer und wartete atemlos, bis sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete.

»Wir haben einen Notfall.« Otto sprach so schnell, dass er sich beinahe verhaspelte. »Radieschenweg Nummer zehn. Unser Nachbar MrOlsen liegt im Gemüsebeet. Und er hat sich nicht bewegt seit –« Otto spähte zu der Wanduhr am Ende des Flurs. »Seit ungefähr fünf Minuten.«

Er wartete die Antwort ab. Die Frau am Telefon versprach, sofort einen Rettungswagen in den Radieschenweg zu schicken. Otto warf den Hörer auf die Gabel, rannte die Treppe hinauf und bezog wieder seinen Posten am Fenster.

Es verging keine Minute, bis ein stotterndes Brummen und Quietschen bis hinauf in Ottos Zimmer zu hören war. Ein Auto näherte sich mit enormer Geschwindigkeit.

»Der Rettungsdienst«, vermutete Otto und war ein wenig stolz darauf, dass er so geistesgegenwärtig gehandelt hatte. Das knatternde Röhren kam näher und um die Ecke bog ein klappriger weißer Transporter. Als er mit quietschenden Reifen vor MrOlsens Gartenzaun hielt, stob eine dreckige Abgaswolke aus dem Auspuff. Es sah aus, als schaffte dieses Gefährt keinen weiteren Meter und sehnte sich nach der ewigen Ruhe auf dem Schrottplatz.

Vincent drückte seine Nase an der Fensterscheibe platt. »Spinne ich oder fahren diese Typen nicht normalerweise Wagen mit Blaulicht? Und mit vier Rädern?«

Otto sah genauer hin. Vincent hatte recht. Das schrottreife Auto vor MrOlsens Haus fuhr auf nur drei Rädern, außerdem war die Fahrerkabine so winzig, dass kaum ein erwachsener Mensch darin Platz fand. Dafür besaß das Gefährt eine große Ladefläche, über die eine Abdeckplane gespannt war.

»Und guck dir mal den schrägen Typen an, der die Kiste fährt. Ich dachte immer, Ärzte in eurer Welt tragen weiße Kittel«, fuhr Vincent fort und deutete auf den Fahrer, der sich mühevoll aus dem Auto schälte. Er trug einen schwarzen Umhang mit Kapuze und wirkte im spärlichen Licht beinahe wie ein Schatten. »Vielleicht ist das Darth Vader? Oder ein Einbrecher?«, überlegte Vincent, als die Gestalt mit großen Schritten MrOlsens Rasen überquerte. »War ja klar! Jetzt, wo der alte Kauz den Löffel abgegeben hat, wird er ausgeraubt. Hat sicher massig Kohle gebunkert. Das ist doch bei alten schrulligen Leuten immer so. Die haben Geldscheine unter der Matratze, Goldbarren im Kleiderschrank, …«

Otto hörte Vincents Geplapper nicht. Über MrOlsens leblosem Körper war ihm etwas aufgefallen, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Ein roter Ball aus gleißendem Licht schwebte über dem Kopf des Alten und erinnerte Otto an die Lebensanzeige in den Computerspielen, von denen seine Klassenkameraden ständig redeten.

»… Antiquitäten aus dem Krieg in der Vitrine, chinesisches Porzellan im Schrank …«

»Schhh«, machte Otto und versetzte seinem Haustier einen Stups mit dem Ellenbogen. »Guck doch, was da über MrOlsens Kopf schwebt. Dieses kleine leuchtende Etwas. Ich finde, es sieht aus wie …«

»Ein Feuerball? Ein Ufo? Ein Zwergkomet?«, riet Vincent.

»Möglich«, murmelte Otto nachdenklich und bemerkte, dass auch der dunkle Gast von der gleißenden Lichtkugel angezogen zu sein schien. In Zeitlupe schlich er durchs taunasse Gras und näherte sich MrOlsens Körper und dem Feuerball. Dabei griff er unter seinen Umhang, als wollte er eine Waffe ziehen.

Otto schluckte. Was ging hier vor sich? Inzwischen war er ziemlich sicher, dass es sich nicht um den städtischen Rettungsdienst handelte. Sanitäter liefen bestimmt nicht in altmodischen Kutten herum. Und schon gar nicht trugen sie unter ihrer Kleidung …

»Ein Schmetterlingsnetz?«, rief Otto.

»Hä?« Vincent hatte offenbar nicht aufgepasst.

»Dieser Kerl hat ein Schmetterlingsnetz dabei«, staunte Otto.

»Du hast recht«, stimmte Vincent verwundert zu. »Und sieh nur – unser Kleingartenganove hat es auf den glühenden Tennisball abgesehen.«

Der gruselige Typ im Umhang hatte keine Waffe gezückt, sondern tatsächlich nach einem gewöhnlichen Schmetterlingsnetz gegriffen. Damit fuchtelte er nun durch MrOlsens Vorgarten, auf der Jagd nach dem leuchtenden Feuerball, der plötzlich wild zu zucken begonnen hatte. Immer wieder entglitt dem Fremden das rote Etwas, indem es sich in die Lüfte hob und wieder nach unten sank, als wollte es den unheimlichen Besucher ärgern.

Wider Willen musste Otto kichern. Es sah einfach zu komisch aus, wie dieser Spinner durch MrOlsens Vorgarten hüpfte. Dabei landeten seine großen Füße einige Male im Radieschenbeet. Hätte MrOlsen noch gelebt, hätte ihn der Anblick der zertrampelten Radieschen sicher umgebracht.

»Jetzt ist das Ding im Netz«, jubelte Vincent und klang wie Ottos Klassenkamerad Stan, wenn sein Fußballclub ein Tor geschossen hatte. »Er hat es geschafft! Der Irre hat den Feuerball gefangen!«

Otto stutzte. »Und was hat er jetzt damit vor?«

»Er bringt das Ding zu seinem Auto«, antwortete Vincent. Otto griff wieder nach dem Fernglas und beobachtete, wie der Fremde zu seinem Wagen schritt, seinen Ärmel über dem Netz, um den Feuerball nicht entkommen zu lassen. Im nächsten Moment zog er ruckartig die schwarze Abdeckung von der Ladefläche und bot Otto und Vincent freie Sicht auf sein Ladegut.

Otto stellte das Fernglas schärfer. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, sein Verstand spiele ihm einen Streich. In seiner Fantasie hatte er eine ganze Menge gruseliges Zeug unter dieser Plane vermutet. Ein geheimes Waffenlager. Vielleicht eine Leiche. Aber doch nicht …

»Gurkengläser?« Otto blinzelte verdutzt. »Warum in aller Welt transportiert dieser Typ Gurkengläser?«

»Vielleicht ist er Gurkenverkäufer«, blaffte Vincent, als wäre das die einzig logische Antwort.

»Ohne Gurken?«, meinte Otto stirnrunzelnd. »Die Gläser sind leer.« Er sah genauer hin. »Obwohl … nicht ganz. Darin sind noch mehr dieser Feuerbälle.«

Otto und Vincent sahen zu, wie der nächtliche Besucher sein Schmetterlingsnetz über ein leeres Gurkenglas stülpte und MrOlsens rot glühenden Feuerball hineinbeförderte. Anschließend schraubte er einen Deckel darauf.

»Abgefahren«, murmelte Otto. Er hörte gar nicht, dass das Geräusch eines Martinshorns näher kam. Sekunden später hielt ein Rettungswagen in MrOlsens Auffahrt. Mehrere Sanitäter hüpften aus dem Wagen, schoben eine Trage aus dem Laderaum und rannten damit auf den leblosen MrOlsen zu.

Der falsche Gurkenverkäufer ließ sich davon nicht stören. Als hätte er alle Zeit der Welt, stellte er den soeben gefangenen Feuerball ganz oben auf einen wackeligen Turm von Gurkengläsern und spannte die Plane darüber.

In der Zwischenzeit beugte sich ein Notarzt über MrOlsens Körper. Ein paar Sekunden vergingen, dann wandte sich der Arzt betreten zu seinem Team um und schüttelte den Kopf.

»Tot«, bestätigte Vincent.

»Hm«, machte Otto geistesabwesend. Ihm war plötzlich ein neuer Gedanke gekommen, der ihn schaudern ließ. »Vincent?«, flüsterte er, ohne dabei den Blick von dem Transporter und der merkwürdigen, schwarz gekleideten Gestalt zu nehmen. »Der Gurkenglaswagen steht immer noch da.«

»Na und?«

»Sieh mal genau hin. Der Kerl mit der Kutte hat gerade sein Handy in eine Pfütze fallen lassen. Und jetzt regt er sich auf und versucht, das Wasser an seinem Umhang abzuwischen. Aber das Komische ist, dass niemand ihn beachtet. Beinahe so, als wäre er gar nicht da!«

Vincent überlegte eine Weile, bevor er sprach. »Denkst du, nur wir können ihn sehen? Bedeutet das, der Typ ist ein Geist?«

Otto schüttelte den Kopf. »Geister sehen anders aus. Sie schweben. Und latschen nicht in MrOlsens Radieschenbeet. Er muss irgendetwas anderes sein. Irgendetwas dazwischen.«

Otto hatte ganze zwei Jahre gebraucht, um sich mit der Tatsache abzufinden, dass es Geister gab. Und nun tauchte plötzlich etwas Neues auf – weder Geist noch Mensch. Jemand, der womöglich gefährlich war. Jemand, der vielleicht sogar MrOlsen auf dem Gewissen hatte.

Otto lief es kalt den Rücken hinunter. Das Blut pochte in seinen Ohren, während er zusah, wie der Fremde in sein Auto stieg und davonfuhr.

Selbst eine Stunde später, als auch der Rettungswagen verschwunden und wieder Ruhe eingekehrt war, kreisten Ottos Gedanken noch immer um den nächtlichen Besucher. Mit klopfendem Herzen lag er im Bett, während aus dem Schrank Vincents gleichmäßiges Schnarchen drang.

Krisensitzung

Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen«, beschwerte sich Emily und schulterte ihren Rucksack. »Erzähl mir mehr über diesen Gurkenglastypen, der gestern Nacht bei MrOlsen war!«

»Ich sagte doch schon: Ich habe keine Ahnung, wer das war. Und außerdem keine Lust, darüber zu reden«, brummte Otto und kickte einen Stein vor sich her, der dieselbe grässlich graue Farbe hatte wie das Schulgebäude hinter ihnen. Ottos Laune war im Keller. Der Tag war eine einzige Katastrophe gewesen. In Bio hatte er nicht mal die Hälfte der Fragen beantworten können, außerdem hatte er letzte Nacht kaum ein Auge zugetan. Immer wieder war die Szene mit dem dunklen Besucher in MrOlsens Garten vor seinem inneren Auge abgelaufen. Als Otto in den Morgenstunden eingeschlafen war, hatte ihn auch noch ein wilder Albtraum von glühenden Gurkengläsern geplagt.

»Aber mir kannst du es doch erzählen«, forderte Emily ihn auf. »Immerhin bin ich deine beste Freundin!« Ein wenig beleidigt fegte sie sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht.

Otto seufzte. Er wollte nicht, dass sie sauer auf ihn war. Mit ihren verfilzten, ungleich langen Haaren und den altmodischen Klamotten, die sie ständig aus dem Fundus ihrer Großmutter ausgrub, hatte er Emily vom ersten Schultag an ins Herz geschlossen. Was man von den anderen Mitschülern nicht gerade behaupten konnte.

»Ach, ich weiß es nicht, Em. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass dieses Wesen weder lebendig noch tot war. Es war irgendetwas, das ich noch nie gesehen habe.«

Emily blieb stehen. »Weder Mensch noch Geist«, flüsterte sie ehrfürchtig und ihre verschiedenfarbigen Augen funkelten. Die rechte Iris war blau, die linke braun. »Ich habe mir schon gedacht, dass es diesmal keine gewöhnliche Geistererscheinung war. So durcheinander hab ich dich noch nie erlebt! Nicht mal, als du hierhergezogen und Sir Tony zum ersten Mal begegnet bist. Weißt du noch, als er dir im Kleiderschrank aufgelauert hat, weil er dich für einen heimlichen Hausbesetzer hielt?«

Otto nickte ernst. Er wusste, wie sehr das Übernatürliche Emily faszinierte. Schon oft hatte sie versucht, mit wissenschaftlichen Mitteln die Existenz von Geistern zu beweisen. Bisher ohne Erfolg.

»Sagtest du nicht, Vincent hätte diesen Besucher auch gesehen?«, bohrte sie weiter. »Hatte er denn keine Vermutung, was das für ein Wesen gewesen sein könnte?« Sie beschirmte die Augen und sah sich suchend nach Ottos Haustier um. Als die beiden die Schule verlassen hatten, war Vincent aus Ottos Schultasche geschlüpft und flatterte nun von einem Sendemast zum nächsten. Krähen erhoben sich schimpfend von ihren Pfeilern, wenn Vincent im Sturzflug auf sie zuraste.

Otto machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vincent hat doch keine Ahnung von Geistern«, erklärte er. »Zum einen ist er nur zur Hälfte eine Geisterfledermaus, darum können gewöhnliche Menschen ihn wahrnehmen. Obwohl es manchmal besser wäre, sie könnten es nicht.« Otto brummte. »Und zum anderen hat man Vincent schon vor dreihundert Jahren aus dem Jenseits verbannt, deshalb hab ich ihn jetzt an der Backe kleben.«

»Vincent wurde verbannt?«

Otto musste ein wenig grinsen. »Vermutlich gingen den Toten Vincents schlechte Manieren auf den Geist.«

Richtig mieses Verhalten legte Ottos Haustier auch in dieser Welt an den Tag. Erst neulich war er aus Ottos Schulranzen ausgebüxt, weil er am Fenster des Physiksaals seine Leibspeise entdeckt hatte: eine dicke, fette Fleischfliege.

Die Mädchen der 6a gerieten in Panik und Otto mächtig in Erklärungsnot. Dass er für ein Bioprojekt eine Fledermaus in seinem Ranzen hielt, würde der Physiklehrer bestimmt kein zweites Mal schlucken.

Sie waren inzwischen vor dem Radieschenweg Nummer acht angekommen. Otto blieb vor dem spitzen Eisenzaun stehen und starrte auf die Veranda. Die alte Hollywoodschaukel quietschte unter schwerem Gewicht. Und das, obwohl es für jedermann so aussehen musste, als sei sie leer. Für jedermann außer Otto.

»Sir Tony!« Otto öffnete das rostige Gartentor und bahnte sich seinen Weg durch das raschelnde Laub in Richtung Veranda. Das Quietschen ebbte ab und schließlich kam die Schaukel zum Stillstand. »Hast du etwa auf uns gewartet?«

Wenn Otto es nicht besser gewusst hätte, hätte er Tante Sharons Hausgeist für einen normalen, fülligen Herrn mittleren Alters gehalten. Tonys Gesicht war weder blass noch trug er rasselnde Ketten oder ein Loch im Bauch mit sich herum. Das Einzige, was Sir Tony von anderen Menschen unterschied, war die Tatsache, dass ihn außer Otto niemand sehen konnte. Was daran lag, dass er tot war.

»Nicht ganz.« Sir Tony hustete. »Ich musste flüchten. Der Putzfimmel deiner Tante wird von Tag zu Tag schlimmer. Der Lärm ist unerträglich!« Er stöhnte und wischte sich über die Stirn. »Dieser Putzteufel saugt schon zum dritten Mal diese Woche. Ständig wirbelt mir Staub in die Na…ha…hatschi!«

Otto ging der Sauberkeitswahn seiner Tante auch gehörig auf die Nerven, aber Tony bekam ihn regelmäßig am eigenen Leib zu spüren – denn er wohnte in Tante Sharons Staubsauger.

Sir Tony raufte sich die paar Haare, die seitlich von seiner Glatze wuchsen. »Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlen muss, neben einer Autobahn zu wohnen«, jammerte er weiter.

Tante Sharons ältester Hausgeist neigte zu Übertreibungen. Schon zu Lebzeiten war Sir Tony äußerst anspruchsvoll gewesen. Er empfand es als sein gutes Recht, ständig zu meckern. Dass er nach seinem Tod versehentlich in einen Staubsauger eingesaugt worden war, hatte die Sache zuerst nicht unbedingt leichter gemacht.

Doch nach einer Weile hatte Sir Tony begonnen, die Vorzüge eines Staubsaugerbeutels zu schätzen. Der Platz war zwar begrenzt, doch man hatte seine Ruhe und selbst im Winter war es wohlig warm. Leider hatte er zu diesem Zeitpunkt aufgrund des vielen Staubs schon hartnäckiges Asthma entwickelt. Offenbar bekam man Krankheiten auch nach dem Tod.

»Was ist denn mit Tony los?«, unterbrach Emily das Gejammer des Hausgeistes und stupste Otto in die Seite. Oft vergaß Otto, dass Emily Sir Tony weder sehen noch hören konnte und er deshalb Übersetzungsarbeit leisten musste.

»Ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, dass mir niemand hier Beachtung schenkt«, beschwerte sich Tony pikiert. »Und das auf meinem eigenen Grund und Boden!«

Als Sir Tony noch am Leben gewesen war, hatte die Villa ihm gehört. Tony hatte das alte Gemäuer geliebt – das steinerne Mauerwerk, die geheimnisvollen Erker, die Efeuranken und die spitzen Türmchen. Nach seinem Tod war das Haus unter den Hammer gefallen und von Tante Sharon und Ottos verstorbenem Onkel Archibald ersteigert worden. Dass Tante Sharon daraufhin das Porträt über dem Kamin, auf dem Tony genüsslich in eine Fleischkeule biss, einfach abgenommen hatte, hatte er bis heute nicht verkraftet.

»Ich wünschte, deine Tante könnte mich sehen. Dann würde ich mich nachts an ihr Bett schleichen und ganz laut Wuuuaaah schreien«, drohte Tony und schnitt eine Grimasse. Dabei sah er allerdings ganz und gar nicht gruselig aus, sondern eher so, als müsste er dringend auf die Toilette. Als Schreckgespenst war Sir Tony eine absolute Lachnummer.

»Vergiss meine Tante mal für einen Moment«, ermahnte Otto den Hausgeist. »Wir brauchen deine Hilfe. Gestern hat sich ein seltsames Wesen in MrOlsens Garten rumgetrieben. Ich glaube, es war weder tot noch lebendig.«

»Weder tot noch lebendig?«, echote Sir Tony und seine Nasenflügel blähten sich vor Aufregung. Der Spukanschlag auf Tante Sharon war mit einem Mal vergessen.

»Dieser … Mann stand neben MrOlsens Leiche und hat versucht, ein glühendes Ding einzufangen. Mit einem Schmetterlingsnetz«, sagte Emily an das gehäkelte Kätzchenkissen gerichtet. Sie hatte noch immer nicht begriffen, wo genau Sir Tony eigentlich saß.

Tonys Kinnlade klappte herunter. »Ein … ein … Schme…Schmetterlingsnetz?«, stotterte er.

Otto nickte ernst.

»Krisensitzung. Sofort.« Mit einem fast lautlosen Puff löste sich Sir Tonys Geisterkörper in Luft auf und materialisierte sich plötzlich neben der Haustürklingel.

Otto fuhr erschrocken zusammen. Dieses ständige Herumgehüpfe ließ sein Herz mehrmals am Tag in die Hose rutschen. Sir Tony und die anderen Geister hatten die Angewohnheit, aus heiterem Himmel vor seiner Nase aufzutauchen. Vorzugsweise, wenn Otto aus der Dusche stieg. Oder nachts aufs Klo schlich.

»Eine Krisensitzung?« Otto legte die Stirn in Falten. War die Sache wirklich so ernst? Bei allem, was nicht ihn selbst oder seinen Staubsauger betraf, verhielt sich Sir Tony normalerweise wie die Ruhe in Person.

Emily war sofort Feuer und Flamme. »Krisensitzung? Ab in die geheime Bücherkammer!«, befahl sie, packte Otto an der Hand und zog ihn zur Türmatte. Gerade als Otto nach dem Türknauf greifen wollte, verstummte das Brummen des Staubsaugers und die Haustür wurde geöffnet. Tante Sharon trat über die Schwelle und lief dabei prompt durch Sir Tonys Körper.

»Hallo, Otto, hallo, Emily«, begrüßte sie die beiden und strich Otto über seinen dunklen fransigen Haarschopf. »Dachte ich doch, dass ich euch gehört habe.«

In der einen Hand hielt sie den Saugergriff, mit der anderen Hand bändigte sie die grauen Haare, die ihr in die Stirn fielen. Die wenigsten Menschen schätzten Sharon auf fünfundsechzig. Mit ihrer frechen Kurzhaarfrisur, den karierten Hemden und dem drahtigen Körper wirkte sie überhaupt nicht alt. Otto fand seine Tante ziemlich cool – abgesehen von der Tatsache, dass sie ständig putzte. Und das war noch nicht mal ihr merkwürdigstes Hobby.

»Hallo, Tante Sharon«, sagte Otto und küsste sie auf die Wange. Obwohl Sharon gar nicht seine richtige Tante war, gehörte sie zur Familie, seit Otto denken konnte. Sie war früher oft zu Besuch gekommen und er hatte sie schon immer sehr gern gehabt.

Und dann, vor fast zwei Jahren, war Tante Sharon mit einem Schlag zu Ottos einziger Familie geworden.