Schachzug - Rolf von Siebenthal - E-Book

Schachzug E-Book

Rolf von Siebenthal

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Beschreibung

Liestal im Baselland. Ein präziser Schuss aus 600 Metern Entfernung reißt Marcel Laval, einen aufstrebenden Manager, aus dem Leben. Der Journalist Max Bollag, der Schwager des Toten, macht sich auf die Suche nach dem Mörder. Er hofft auf neuen Schwung für seine stockende Karriere und die kriselnde Ehe. Bei seinen Recherchen stößt Bollag auf einen Gegner, der eine Mission zu erfüllen hat - und keine Gnade kennt.

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Rolf von Siebenthal

Schachzug

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jan Schuler – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4194-3

Für Karin

1

Der Jäger saß in der Morgendämmerung und wartete. Nebelfetzen glitten über die Felder und umhüllten das Dorf Seltisberg. Seine Feuerstellung am Waldrand zwischen Sträuchern hatte er mit Blättern gepolstert, mit dem Rücken lehnte er an einem Baum. Er war komplett getarnt durch seinen Anzug, den er mit kleinen Ästen, Blättern und Moos präpariert hatte.

Auf die wenigen sichtbaren Teile seiner Haut hatte er grün-braune Schminke aufgetragen. Zusammen mit dem Anzug machte ihn das praktisch unsichtbar. Selbst der Revierförster war vor einer halben Stunde zwei Meter entfernt vorbeimarschiert und hatte ihn nicht bemerkt.

Gefahr drohte ihm nur, wenn er sich bewegte. Deshalb hatte er sich einen Trinkbeutel auf den Rücken geschnallt, aus dem er über einen Schlauch regelmäßig einen Schluck Isostar nahm. So hielt er es Stunden aus. Ab und zu spürte er, wie kühle Luft ein Hosenbein hinaufkroch und an seiner Haut nagte oder wie eine Ameise über sein Gesicht krabbelte. Dann sammelte er sich, schaltete das Gefühl aus, begab sich in Gedanken an Orte, an denen er sich wohlfühlte. Die Kaserne. Der Schießplatz. Die Werkstatt. Diese Kunst hatte der Jäger in 30 Jahren perfektioniert. Er konnte sich in sein Innerstes zurückziehen und die Körperfunktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren.

Durch die Äste suchte er mit den Augen das Gelände bis zum Dorf ab, es lag etwa 300 Meter entfernt. Ein Weg zog sich wie ein Strich von Seltisberg durch Felder mit jungem Weizen und Mais und verschwand im Wald auf seiner rechten Seite. Es wäre leicht, das Zielobjekt dort unten, kurz vor dem Dorf, abzuknallen. Jeder halbwegs nüchterne Trottel mit einer Knarre vom Flohmarkt würde das schaffen. Doch leichte Ziele gehörten nicht zu seiner Welt. Die bestand aus Herausforderungen, dafür war er ausgebildet worden. Die Distanz zu dem Punkt, wo der Weg im Wald verschwand, betrug etwa 600 Meter. Er wusste, früher oder später würde das Zielobjekt dort auftauchen. Es war nur eine Frage der Geduld. Und davon besaß er eine Menge.

Sein Gewehr ruhte getarnt auf einem Dreibein so dicht an seiner Seite, dass er es spüren konnte. Die Sig Sauer SSG 3000 war robust und zuverlässig, genau die Richtige für einen Schuss unter diesen Bedingungen.

Als die Sonne ihre ersten Strahlen über den Horizont schickte, gestattete er sich ein Lächeln. Er blinzelte, sein Blick folgte der Hochspannungsleitung, die über die Felder gezogen war. Die Masten und Drähte glitzerten im Licht. Plötzlich nahm er eine Bewegung im Wald auf seiner rechten Seite wahr. Er widerstand dem Impuls, hielt den Kopf ruhig, blieb regungslos sitzen, bis das Zielobjekt von allein in seinem Sichtfeld auftauchte. Da. Es kam aus dem Wald und lief in Richtung Dorf.

Er hob die schwere SSG 3000 mit einer fließenden Bewegung an seine Schulter und spähte durch das Zielfernrohr. Mithilfe der zehnfachen Vergrößerung beobachtete er, wie der Wind durch die Blätter eines Kirschbaumes strich. Sechs bis sieben Stundenkilometer. Er überschlug die Abweichung der Flugbahn, bezog die Bewegung des Zielobjektes ein, legte den Sicherungshebel mit dem Daumen um und richtete das Fadenkreuz aus. Er zog den Abzug mit dem Zeigfinger um drei Millimeter nach hinten und spürte den Druckpunkt des Gewehrs, den er auf 2.200 Gramm eingestellt hatte. Er atmete ein, stieß die halbe Luft aus, hielt den Atem an und passte die Sekunde zwischen zwei Herzschlägen ab.

Er zog durch, spürte den Rückstoß an seiner Schulter und wusste sofort: perfekter Schuss.

Durch das Zielfernrohr beobachtete er, wie die Kugel einschlug. Das Zielobjekt sackte in einem Nebel aus Blut zusammen. Er schaute ungerührt zu, wie die Beine ein paar Sekunden lang zuckten, bis sich nichts mehr regte. Er nickte zufrieden.

Langsam richtete er sich aus der Feuerstellung auf, bewegte die steifen Glieder. Er steckte die ausgeworfene Patronenhülse ein, zerlegte die Waffe und packte sie behutsam in den Koffer, bevor er sich auf den Weg zu seinem Motorrad machte.

Der Jäger verschwendete keinen Gedanken mehr an den leblosen Körper. Er plante bereits seinen nächsten Zug.

2

Vor den Waggonfenstern war es dunkel, der Lötschberg sperrte das fahle Tageslicht aus.Doris Lüthi wippte mit ihrem Fuß zum Takt der Musik ihres iPods. »My back is broad but it’s a hurting, all I want is for you to make love to me, I’ll never be your beast of burden.«Ach, Mick, 70 und immer noch der Größte.

Ein Finger berührte sie an der Schulter. Doris fuhr auf dem Plastikstuhl in der kleinen Sitzecke herum, der Ordner mit dem Testprogramm fiel von ihren Knien. Hinter ihr stand der Cheftechniker von Rail Cargo Switzerland, der Typ mit der braunen Hornbrille, dessen Namen sie sich nicht merken konnte. Sie zog einen Stöpsel aus dem Ohr.

»Frau Lüthi, würden Sie mir bitte einen Kaffee bringen. Mit Milch, ohne Zucker.«

Doris legte den Kopf schief. Ach, herrje, ein Muttersöhnchen. »Sie sind doch Ingenieur, oder?«

Hornbrille nickte, sie setzte ihr großmütterliches Lächeln auf. »Sehen Sie die schwarze Maschine dort rechts vom RTU-Controller? Sie müssen bloß den grünen Knopf drücken, schon kommt der Kaffee heraus. Das schaffen Sie bestimmt alleine … Und vergessen Sie die Tasse nicht.« Doris hob den Ordner vom Boden auf und steckte den Stöpsel wieder ins Ohr. »Am I hard enough, am I rough enough.«

Hornbrille stemmte die Hände in die Hüften, blieb ein paar Sekunden stehen und starrte sie mit grimmiger Miene an. Doris schloss die Augen, über Mick hinweg tönte seine beleidigte Stimme.

»Wieso schickt uns Thommen Rail nicht einen Techniker, sondern diese alte Schachtel?«

»Die alte Schachtel, wie Sie Frau Lüthi nennen, weiß mehr über Güterwagen als Sie und ich zusammen. Also hören Sie auf zu jammern und machen Sie sich Ihren Kaffee selbst«, hörte Doris vom Ende anderen des umgerüsteten Eisenbahnwaggons.

Lukas Kohler, die treue Seele, hatte den RCS-Heini zurechtgestutzt. Doris machte sich eine gedankliche Notiz, dem Kollegen ein Bier zu spendieren. Sie schmunzelte und schaute das Neigungsprofil der vor ihnen liegenden Strecke an – wo er recht hatte, hatte er recht. Niemand in der Schweiz hatte in den vergangenen 50 Jahren so viel Wissen über Güterwagen angehäuft wie sie. Doris schaute über ihre Schulter hinweg ans andere Ende des Wagens, wollte Kohler zuzwinkern, doch er hatte sich bereits abgewandt, überprüfte die Kalibrierung der Messgeräte und tippte etwas in seinen Laptop.

Die Kontrolle von Entwicklungen, Produktionsabläufen und Testfahrten gehörten zu ihrem Job. Daran hatte sich auch nicht viel geändert, als sie ins Pensionsalter gekommen war. Was sollte sie allein zu Hause herumsitzen? Mit den Füßen voraus werde man sie aus der Firma tragen müssen, sagte Doris jedem, der es wissen wollte.

Ihr Vater war schuld gewesen. Von ihm hatte sie die Begeisterung für Motoren und Technik geerbt. Klein-Doris hatte ihre freien Nachmittage lieber in seiner Autowerkstatt als beim Puppenspiel mit Freundinnen verbracht. Als Teenager wusste sie mehr über Nockenwellen und Drosselklappen als über Dauerwellen und Petticoats. Trotzdem hatte für ihren Vater eine Lehre als Mechanikerin nicht zur Debatte gestanden. »Zu früh geboren«, seufzte sie und sah aus dem Fenster. Der Zug hatte den Lötschbergtunnel verlassen, im Regen draußen glitt der Bahnhof von Kandersteg vorbei. Bis Spiez ging es nun 550 Meter bergab.

Sie holte sich einen Kaffee, nahm ein paar Schluck und blickte zu Kohler hinüber, der angespannt die Linien auf dem Computermonitor beobachtete und die Stirn runzelte. Rechts neben ihm spuckte der Drucker ein Endlospapier mit Daten aus. Die nächsten Kilometer würden über Leben oder Tod von Thommen Rail entscheiden. Hornbrille ging zwischen den Regalen herum und drückte ein paar Knöpfe.

Mit 16 Jahren hatte Doris eine Lehre als Sekretärin in der Güterwagenfabrik in Pratteln angefangen. Ihre Leidenschaft für Technik und ihr hervorragendes Gedächtnis waren Firmenpatron Paul Thommen schnell aufgefallen, er hatte sie zu seiner rechten Hand befördert. Wenn der Chef einen schlechten Tag hatte, übernahm sie auch die linke.

Hinten im Wagen wedelte Lukas Kohler am Mess-PC mit der Hand. »Doris, kommst du mal?«

Der Wagen schaukelte, sie hielt sich an den Regalen fest. Doris glaubte fast, dass sie die Tonerde in ihrem Rücken spüren könnte. 3.000 Tonnen. Die Testfahrt brachte die neu entwickelten K-Bremssohlen von Thommen Rail an ihre Belastungsgrenzen.

Kohler deutete mit dem Finger auf einige Zahlen. »Das gefällt mir nicht. Auf diesen Sohlen baut sich verdammt viel Hitze auf. Was meinst du?«

Sie schaute sich die Kurven an, die Sensoren an einigen Bremsen schlugen tatsächlich stark aus. Vielleicht waren die Fühler defekt. Oder es haperte an der Datenübertragung. Wenn nicht, hatten sie ein ernsthaftes Problem. Doris wandte sich zum Cheftechniker um, der jetzt auf ihrem Plastikstuhl saß und seinen Kaffee schlürfte. »Sagen Sie dem Lokführer, er soll irgendwo anhalten.«

Hornbrilles Augen weiteten sich. »Mitten auf der Strecke?« Er schüttelte den Kopf. »Der Fahrdienstleiter würde mir den Kopf abreißen.«

Doris blickte auf ihre Uhr, es war kurz nach sechs. Zwei Stunden hatten sie im Bahnhof Brig vertrödelt, weil sich der Stromabnehmer der Lokomotive nicht hatte ausfahren lassen. Jetzt wälzten sich die Menschen aus ihren Betten, machten sich auf den Weg zur Arbeit. Da wollte der Fahrdienst den Testzug so schnell wie möglich von der Strecke haben. Die Kurven auf dem Bildschirm zeigten sich ungerührt, sie schlugen bedenklich nach oben aus. Doris trat vor den Cheftechniker und nahm ihm die Kaffeetasse aus der Hand. »Ich habe jetzt keine Zeit für Diskussionen. Falls diese Daten stimmen, sind die Bremsen bereits überlastet. Halten Sie den Zug sofort an.«

Hornbrille schälte sich aus dem Sessel, nahm ihr die Kaffeetasse wieder weg und wankte durch den Waggon. Hinter Lukas Kohler baute er sich auf und blickte auf den Monitor. »Was ist Ihre Meinung?«

Kohler zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Sie hat recht.«

Hornbrille stöhnte und griff nach dem Funkgerät. »Remo, wir haben hier ein Problem. Kannst du bitte sofort anhalten?«

Das Funkgerät blieb stumm. Kein gutes Zeichen. Doris kaute auf ihrem Daumennagel herum. Hornbrille drückte nochmals die Sprechtaste. »Hallo, Remo, wir haben ein Problem hier. Bitte melden.«

Das Funkgerät knackte. »Die Bremsen ziehen nicht mehr richtig.« Die Stimme des Lokführers klang gepresst. »Macht euch auf eine Notbremsung gefasst.«

Doris griff nach einem Kabelschacht an der Decke, stellte sich breitbeinig hin und wartete auf den Ruck. »Na, dann mal schön festhalten.«

Hornbrille klammerte sich mit beiden Händen an ein Regal, Kohler hielt sich am festgeschraubten Tisch fest.

Doch der Ruck blieb aus.

Der Cheftechniker ließ eine Hand los und zückte das Funkgerät. »Wo bleibt die Notbremsung?«

Die Stimme des Lokführers überschlug sich. »Sie funktioniert nicht … Scheiße.«

Kohlers Gesicht wurde fahl, er schaute Doris ins Ge­sicht. »Mit dieser Ladung haben wir bis Spiez 200 Sachen drauf.«

Der Zug schlingerte heftig in den engen Kehrtunneln. Hornbrille tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Um diese Uhrzeit ist die Stammstrecke voll belegt. Der Fahrdienstleiter wird uns auf ein Nebengleis umleiten.«

Doris schüttelte den Kopf, ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Die Weichen vor uns sind auf maximal 40 Stundenkilometer ausgelegt. Sie werden uns aus den Schienen werfen.«

In das angstvolle Schweigen, das nun den Messwagen beherrschte, drang leise Micks Stimme: »Don’t stop, Baby don’t stop.«

3

Um 6.25 Uhr rumorte es im Magen von Heinz Neuenschwander zum ersten Mal an diesem Montag. Die zweitschlechteste Polizei der Schweiz. Die Schlagzeile traf ihn wie eine Ohrfeige. »Huereverdammisiech.« Neuenschwander hob den Blick vom Tagblatt. Draußen vor dem Café Mühleisen fischte eine alte Frau gerade einen grünen Plastikbeutel aus der Box am Robidog, um den Haufen ihres Pudels einzusammeln.

Neuenschwander strich das Zeitungspapier auf dem Tisch glatt. Die Karikatur unter dem Titel zeigte einen Polizisten, der einen Falschparkierer büßt, während hinter ihm Diebe eine Bank ausräumen. Der Artikel behauptete, dass im Kanton Baselland nur jede fünfte Straftat aufgeklärt werde. Eine miesere Quote habe in der Schweiz nur der Weißwein-Kanton Waadt. Neuenschwander ärgerte sich. Kein Wort verlor der Schreiberling darüber, dass kleine Taschendiebstähle für die miese Quote verantwortlich waren. Und kein Wort darüber, dass die Polizei Basel-Landschaft in den vergangenen 20 Jahren jeden einzelnen Mord aufgeklärt hatte. Jeden einzelnen.

Der Pudel rannte wild herum, seine Leine wickelte sich um den Robidog. Die alte Frau machte einen Knoten in den Beutel und warf ihn in den grünen Abfalleimer. Neuenschwander seufzte. Ein Kübel voll Scheiße, genau wie die Zeitung.

»Schlechte Nachrichten?« Brigitte stellte einen Kaffee auf den Tisch und einen Teller mit einem Gipfeli daneben. Sie beugte sich etwas vor, entdeckte das Tagblatt und verzog das Gesicht. Ihr Parfum duftete verführerisch. »Ach so. Kein Wunder.«

»Was meinen Sie?«

Sie drehte die Handfläche nach oben. »Ist ja klar, dass Sie keine Freude an diesem Artikel haben.«

»Wieso?« So sehr er sich freute, dass sie endlich zwanglos ins Gespräch gekommen waren, mehr fiel ihm einfach nicht ein. Leider.

Ihr erfrischendes Lachen kam tief aus dem Innern. »Na ja, wo Sie doch bei der Polizei arbeiten. Ich habe mich erkundigt. Major Heinz Neuenschwander, Leiter der Abteilung Kriminalität irgendetwas …«

Sein Magen zwickte. Sie hatte sich erkundigt! »… Kriminalitätsbekämpfung.«

»… eben. Man sagt, Sie seien der beste Bulle in der Nordwestschweiz.«

Neuenschwander richtete sich ein wenig auf und lächelte. »Soso … Und was sagt man sonst noch über mich?«

Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und tippte mit dem Kugelschreiber auf ihre Lippen »Mal sehen. Sie wohnen in Lausen, haben noch ein paar Jahre bis zur Pensionierung, sind geschieden, waren Ihr ganzes Leben bei der Polizei und … lassen Sie mich nachdenken …« Der Kugelschreiber machte ein klickendes Geräusch auf ihren Zähnen. »… Und Sie sollen ein ganz harter Kerl sein.«

Neuenschwander zog die Augenbrauen in die Höhe und öffnete den Mund, doch sie war schneller.

»Aber wenn Sie mich fragen, ist das Unsinn.«

Er runzelte die Stirn. Offenbar hatte sie sich einige Gedanken über ihn gemacht. »Wie kommen Sie darauf?«

Ein junger Mann mit Anzug und Krawatte räusperte sich am anderen Ende des Cafés. »Kann ich hier auch mal etwas bestellen?«

Brigitte drehte sich zu ihm um. »Komme gleich.« Sie beugte sich zu Neuenschwander herunter, hob den Zeigfinger und lächelte verschwörerisch. »Vergangene Woche haben Sie hier am Tisch ein Buch gelesen. Sie haben es unter die Serviette gesteckt, als ich den Kaffee brachte. Ich habe den Titel trotzdem gesehen.« Sie wackelte mit dem Finger. »Goethe! Wissen Ihre Kollegen, dass Sie Gedichte lesen? Und Sie trinken Ihren Kaffee mit Rahm und zwei Stück Zucker, das sagt doch alles. Ich wette, Sie weinen bei ›Titanic‹.«

Er schluckte und blickte durch das Fenster hinüber zum Törli von Liestal. Der Pudel konnte sich kaum mehr bewegen und winselte. Die alte Frau versuchte, die verwickelte Leine vom Robidog zu lösen. »Und wieso haben Sie sich nach mir erkundigt, wenn ich fragen darf?«

Brigitte zog den zweiten Stuhl unter dem Tisch hervor, der Anzugträger stöhnte laut. Sie setzte sich Neuenschwander gegenüber und stützte einen Ellenbogen auf den Tisch. Ihre Haut war voller Sommersprossen. »Seit ein paar Wochen trinken Sie hier jeden Morgen Ihren Kaffee und essen ein Gipfeli. Dabei schauen Sie mir aus den Augenwinkeln beim Bedienen zu. Sie haben wohl gedacht, dass ich das nicht merke. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie kein Psycho sind.«

Er sah zu Boden. Ertappt. Vor einem Monat hatte ihn sein junger Assistent Jonas Schaub zum ersten Mal ins Café Mühleisen geschleppt. Neuenschwander hatte bis dahin einen großen Bogen darum gemacht. Gemüseteller und Birchermüesli, das musste nun wirklich nicht sein. Bis er die Bedienung Brigitte gesehen und gehört hatte: die kurzgeschnittenen weißen Haare, ihre kurvenreiche Figur und das umwerfende Lachen. Neuenschwander kratzte einen unsichtbaren Fleck vom Tisch. »Es tut mir leid, wenn ich …«

Sie fuhr mit der Hand durch die Luft. »Ach, hören Sie doch damit auf. Ich bin bald 60 Jahre alt und freue mich über die Aufmerksamkeit. Ich heiße übrigens Brigitte … Brigitte Stampfli.« Sie reichte ihm die Hand.

Er drückte sie sanft, ihre Haut war trocken und warm.

Mit dem Daumen deutete sie nach draußen. »30 Jahre lang habe ich drüben im Frenkeschulhaus unterrichtet. Deutsch, Französisch und Geschichte. Vor drei Jahren habe ich mich pensionieren lassen, kurz danach ist mein Mann gestorben …« Sie seufzte und blickte kurz auf die Tischplatte. Dann kicherte sie wie ein junges Mädchen. »Aber ich nehme an, dass Sie das alles schon wissen. Schließlich sind Sie Polizist.«

Er fühlte Blut in die Wangen steigen. Mann, reiß dich zusammen. Der Anzugträger faltete laut hörbar seine Zeitung zusammen, marschierte durch den Schankraum, riss die Tür auf und murmelte: »Saftladen. So ein mieser Service.«

Brigitte tat es mit einem Schulterzucken ab, ihre Stimme wurde sanft. »Also, Herr Neuenschwander, gibt es noch etwas, das Sie über mich wissen möchten?«

Er kratzte sich am Kopf und schaute ihr in die Augen. »Weshalb haben Sie aufgehört? In der Schule, meine ich. Wieso haben Sie sich so früh pensionieren lassen?«

Sie stützte das Kinn auf ihre Hand. »Ach, die Reformen … Ich hatte die Reformen satt. Alle paar Jahre kam wieder eine neue, jedes Mal versprach man uns großartige Fortschritte. Jetzt läuft schon wieder …«

Bremsen kreischten. Vor dem Café kam ein Auto zum Stillstand. Der Fahrer stieg aus und lief eilig über die Straße. Neuenschwander stöhnte. »Da kommt mein Kollege.« Er bemerkte, dass Jonas seine Krawatte gelockert hatte. Das war kein gutes Zeichen. »Ich … Es tut mir leid … Können wir unser Gespräch ein anderes Mal weiterführen?«

Brigitte stand auf, strich ihre Schürze glatt und lächelte. »Gerne. Jederzeit.«

Jonas betrat das Café und blieb vor seinem Tisch stehen. Er schielte kurz auf Brigitte und ihren vollen Busen, kratzte sich linkisch am Kinn. »Habe ich mir doch gedacht, dass ich dich hier finde. Die Zentrale sucht dich schon seit einer halben Stunde.«

Neuenschwander knurrte, da hatte wohl wieder mal ein Frischling Dienst. »Wozu haben wir einen Notruf?« Er zog das Handy aus der Tasche seines Jacketts. »Das Scheißding ist neu und funktioniert nicht.«

»Lass mal sehen.« Jonas nahm das Handy und drückte drei Sekunden auf den Einschaltknopf, bis das Display aufleuchtete. »Du hast es nicht eingeschaltet.«

Neuenschwander setzte seine Lesebrille auf, betrachtete kurz das Gerät und steckte es kopfschüttelnd zurück ins Jackett. Er wandte sich Brigitte zu, zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Sie ging zum Tresen, kritzelte etwas auf einen Schreibblock und riss das Papier ab. Als sie es ihm in die Hand drückte, kicherte sie. »Ich fühle mich wie ein Teenager. Das hier ist meine Telefonnummer. Rufen Sie mich an.«

Sie hob die Hand zum Abschied, Neuenschwander nickte. »Danke.«

Er legte einen Fünfliber auf den Tisch und folgte Jonas. Kaum saßen sie im Auto, gab der junge Kollege Gas. »Mann, wie hast du das geschafft? Reißt um halb sieben in der Früh eine hübsche Frau auf. Woher kennst du …?«

»Halt die Klappe.«

»Oder war das ein Frühstück nach …«

»Jonas! Was haben wir?«

»Eine männliche Leiche in Seltisberg.«

Seltisberg, das hieß Geld und Einfluss. »Was weißt du?«

»Eine pensionierte Ärztin hat einen Knall gehört, die Leiche auf dem Feldweg gefunden und hat mit ihrem Handy die Einsatzzentrale angerufen um …«, Jonas kramte ein Stück Kaugummipapier aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf, »… 5.50 Uhr. Die Zeugin sagt, der Tote sei ein Nachbar. Marcel Laval.«

Neuenschwander wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. »Gopferdeli.« Laval, das hieß viel Geld und viel Einfluss.

»Kennst du ihn?«

»Nein. Aber ich weiß, wer das ist. Gemeinderat in Seltisberg, FDP Baselland, Sohn einer Bankiersfamilie.«

Er dachte wieder an die Schlagzeile im Tagblatt. »Die Medien werden hinter uns her sein. Und die Lavals werden dafür sorgen, dass uns auch die Regierung die Hölle heißmacht.«

4

Doris Lüthi blickte hinunter in den Werkhof. Lorenzo raste über den Platz mit dem Gabelstapler, dessen Ladung bedrohlich wankte. Er hielt abrupt vor dem Rolltor zum Lager, sprang vom Sitz und drückte den roten Knopf. Als das Tor halb nach oben geglitten war, hechtete er zurück in den Gabelstapler und gab wieder Gas.

»Trottel. Der wird noch einen Unfall bauen. Davon hatten wir heute schon genug.« Ernst Thommen stand mit verschränkten Armen am Fenster neben ihr. Er hatte sie und Messtechniker Lukas Kohler kurz vor Mittag zur Krisensitzung ins Chefbüro gebeten. Er drehte sich um, stützte beide Hände auf der Tischplatte ab und sah auf die Karte vor sich. »Und jetzt erklärt mir mal, wie das abgelaufen ist.«

Lukas deutete mit dem Zeigfinger auf die Karte. »Hier oben in Kandersteg war alles in Ordnung. In den steilen Abschnitten vor Frutigen schlug die Anzeige plötzlich bedrohlich aus. Und dann haben die Bremsen versagt. Auf dem ganzen Weg bis Thun. Erst in der Ebene danach ist der Zug zum Stehen gekommen.« Er setzte den Finger auf die Karte. »Hier.« Mit der anderen Hand wischte er sich über die Stirn. »Dass nichts Schlimmes passiert ist, haben wir dem Fahrdienstleiter in Spiez zu verdanken. Er hat schnell geschaltet.«

Doris trat an den Schreibtisch und fuhr die eingezeichneten Bahnlinien mit dem Finger nach. »Den Regionalzug hat er zurück in den Bahnhof Spiez geholt und auf einem Nebengleis warten lassen. Einen Güterzug hat er in Richtung Simmental geschickt. Den Intercity aus Bern hat er in Gwatt auf ein Industriegleis geleitet. Auf das hier. Und im Bahnhof Thun hat er im letzten Moment auch noch einen Zug der Rollenden Landstraße aus dem Weg geschafft. Deswegen hatten wir freie Fahrt.« Sie richtete sich auf, drückte das schmerzende Kreuz durch. »Du kannst mir glauben, Ernst. Ich dachte schon, unser letztes Stündlein hätte geschlagen. Das hätte schlimm ausgehen können.« Sehr schlimm, dachte sie. Heute hätten viele Menschen sterben können.

Ernst nahm eine Packung Tabletten aus seiner Hosentasche, drückte eine Kapsel durch die Silberfolie und schluckte sie. Nanu, seit wann brauchte er denn so etwas?, wunderte sich Doris.

Er bemerkte ihren Blick und zuckte mit den Schultern. »Vom Arzt verschrieben. Mein Blutdruck ist etwas hoch.« Er legte die Tabletten in eine Schublade. »Dieser Idiot von Lokführer. Ist es denn so schwer, die Bremshähne zu kontrollieren?«

»Und du bist sicher, dass er schuld ist?«, fragte Doris

»Wenn das sogar der Chef von Rail Cargo Switzerland sagt. Ich habe mit Völlmin telefoniert. Die Nachkontrolle lässt keine Zweifel offen. Der Absperrhahn der Hauptluftleitung zwischen dem vierten und dem fünften Wagen war geschlossen.«

Doris schüttelte ungläubig den Kopf. Die Bremskontrolle gehörte zum A und O einer Testfahrt. »Kein Wunder, dass die Bremsen der vorderen Wagen mit der Zeit überhitzten.«

Ernst verwarf die Hände. »Verflucht noch mal, ausgerechnet jetzt. In wenigen Tagen wird RCS entscheiden.«

Lukas’ bleiche Miene zeigte, wie sehr ihm das alles an die Nieren ging. »Zum Glück ist niemandem etwas passiert. Stellt euch vor, sie hätten die Personenzüge nicht von der Strecke gebracht.«

Mein Gott, Doris mochte gar nicht daran denken. Kinder auf dem Schulweg, Väter und Mütter unterwegs ins Büro. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf. Nein, so etwas hätte sie nicht überleben wollen.

»Dann hätten wir die K-Sohlen gleich in den Müll werfen können.« Ernst fuhr mit dem Finger durch die Luft.« Ich hoffe bloß, dass sie uns nichts anhängen.«

Lukas breitete die Arme aus. »Es war nicht unsere Schuld …«

»Wenn sie uns etwas anhängen, werde ich ein Riesentheater machen.« Ernst zog den zerschlissenen Drehstuhl unter dem Pult hervor und setzte sich.

Der Stuhl stammte wie das restliche Mobiliar im Chefbüro von seinem Vater und war etwas aus der Mode gekommen. Er lehnte sich zurück, das Hemd spannte über seinem Bauch. Er hatte zugenommen in den letzten Monaten, die Furchen hatten sich tiefer in sein Gesicht gegraben. Und jetzt auch noch Tabletten. »Ernst, beruhige dich. Wenn RCS selbst festgestellt hat, dass der Lokführer schuld war, werden sie uns das nicht ankreiden. Dieser Vorfall ist zwar ärgerlich, aber er wird bestimmt nicht den Ausschlag geben.«

Ernst stieß eine geballte Faust in die Luft. »120 Arbeitsplätze sind in Gefahr. Wehe, wenn die uns etwas anhängen.«

Die Tür zum Chefzimmer ging auf und die Sekretärin trug ein Tablett mit drei Tassen Kaffee und ein paar Sandwiches herein. Sie stellte es vor Ernst auf den Schreibtisch. »Die Brötchen habe ich in der Kantine geholt. Sonst vergisst du wieder das Mittagessen.«

»Danke, Viola. Du bist die Beste.« Sie verließ das Büro, Ernst goss Rahm und Zucker in eine Tasse. »Bedient euch.« Es wäre ein schwerer Schlag für ihn, müsste er das Lebenswerk seines Vaters und Großvaters zu Grabe tragen. Hinter ihm zeigte eine Bilderreihe an der Wand die gerahmte Erfolgsgeschichte von Thommen Rail. Da war der Haik 5121, ein vierachsiger Güterwagen mit 26 Tonnen Ladegewicht. Oder der Bestseller, der zweiachsige K4 aus den 50er-Jahren. Hunderte dieser Wagen hatten sie verkauft, über 300 Angestellte hatten die Werkhallen in guten Zeiten bevölkert. Aber seit der Wirtschaftskrise war der Güterverkehr in ganz Europa eingebrochen. Die Bahnunternehmen hatten über 100.000 Wagen ausrangiert, die Bestellungen waren um 90 Prozent zurückgegangen. Nur der Großauftrag von Rail Cargo Switzerland, der Nummer zwei im Schienengüterverkehr der Schweiz, konnte die Firma vor dem Ruin retten.

Die beiden Männer klappten die Sandwiches auf, untersuchten den Inhalt, rümpften bei Käse die Nase und nahmen Schinken. Doris war der Appetit vergangen, sie litt mit ihrem Chef. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Ernst mehr als nur ihr Vorgesetzter gewesen war. Es war vor 30 Jahren gewesen, ein paar Monate nach ihrer Scheidung von Martin. Der sich für Gottes Geschenk an die Frauen hielt und alle beglücken wollte. Seinen Nachnamen hatte sie behalten, auch wenn ihre Erinnerungen an ihn alles andere als gut waren. Ernst hingegen war 16 Jahre jünger als sie. Als er frisch von der Uni gekommen war, schüchtern und unbeholfen, musste er in das Geschäft seines Vaters eingeführt werden. Und Doris sollte ihm dabei helfen. Ernst gewann in gleichem Maß an Selbstvertrauen wie er an Gewicht verlor. Sie brachte ihm vieles bei, in der Firma und im Bett. Sechs Jahre lang, bis er neben Doris eine zweite, junge Sekretärin einstellte. Acht Monate später waren die beiden verheiratet. Doris war damals Mitte 40 gewesen und vermisste den Sex, aber Ernst brauchte eine Familie, ein Haus, einen Minivan.

Ernst seufzte, seine Schuhe klopften einen nervösen Takt auf das Parkett. »Es sieht aus, als ob sich alles gegen uns verschworen hat.«

Doris ging um den Schreibtisch herum und setzte sich in den Ledersessel neben Lukas, der nach einem zweiten Sandwich griff. »Wieso? Ist sonst noch etwas?«

»Völlmin hat es mir erzählt. Laval ist tot.«

Lukas stoppte mitten im Kauen, er sprach mit vollem Mund.»Marcel Laval von RCS?»

Ernst nickte: »Jemand hat ihn erschossen.«

Um Gottes willen, der nette Herr Laval, dachte Doris und fragte: »Wieso?«

»Das wusste Völlmin doch nicht. Die Polizei ermittelt erst.«

Doris verschränkte die Arme vor der Brust. Erst das Bremsversagen, jetzt auch noch ein Toter. Was für ein Tag. Ausgerechnet Laval, der die Entwicklung der Bremsen immer unterstützt hatte. Er wäre eine wichtige Stimme bei der Vergabe des Auftrages gewesen. »Und was heißt das für uns?«

Im Werkhof knallte es laut. Die drei sprangen auf, eilten ans Fenster. Der Gabelstapler hatte seine Ladung verloren, die Kiste war aufgebrochen, ein paar Kugellager rollten über den Asphalt. Ernst schlug mit der Faust gegen die Scheibe. »Ich habe es doch geahnt.« Lorenzo versuchte, die zerbrochene Kiste mit der Gabel hochzuheben. Dabei fielen weitere der hochpräzise gefertigten Teile heraus, jedes einzelne über 1.000 Franken wert. »Nein, das gibt es doch nicht.«

Ernst drehte sich um, wollte rausstürmen, doch Doris hielt ihn am Arm fest. »Bitte keine Überreaktion. Lorenzo hat fünf Kinder.«

Er knurrte und verließ das Büro im Eilschritt.

»Die Sitzung ist wohl vertagt.« Lukas seufzte und schlenderte zur Tür. Dort drehte er sich um, atmete tief ein und schüttelte den Kopf »Ich weiß nicht …«

Lukas war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Doris runzelte die Stirn. »Was ist?«

»Hm … Der Lokführer … Der ist doch nicht blind … Ich habe ihm zugeschaut in Brig. Er ist von Wagen zu Wagen gegangen und hat die Bremshähne kontrolliert.«

Irgendetwas war da schrecklich schiefgelaufen, war Doris sich sicher. Sie musste mit dem Lokführer reden. »Kommst du mit in die Kantine? Ich spendiere dir ein Bier.«

5

Max Bollag wühlte sich durch den Stapel Papiere auf seinem Pult: Grafiken mit farbigen Kuchenstücken, Tabellen mit Zahlenreihen, Texte mit dem typischen Fachchinesisch. Daraus musste er einen halbwegs verständlichen Artikel über die Finanzpolitik des Kantons Baselland basteln. Und zwar heute. Als er aufsah, stach ihm die Bildwand an der Stirnseite der weiträumigen Redaktion ins Auge. Liebeskummer im Königshaus stand auf Platz eins der Rangliste. Sie zeigte auf, welcher Artikel in der Online-Ausgabe des Tagblattes am häufigsten von den Lesern angeklickt wurde. Auf Platz zwei folgte ein Bericht über eine Massenkarambolage auf der A 2 vor einem Interview mit einem Modeschöpfer mit dem Titel: Darunter trägt frau nichts. Waren die Leser denn alle bescheuert?

Bollag seufzte und wandte sich wieder dem Stapel auf seinem Schreibtisch zu. Der Lokalchef saß ihm seit Tagen im Nacken, morgen sollte der Artikel ins Blatt. Eigentlich schrieb Bollag solche Texte mit links, doch nun starrte er schon seit einer halben Stunde auf seinen Bildschirm. Auf die Hitliste würden es seine Zeilen über die Finanzpolitik bestimmt nicht schaffen.

Er schaute sich um in der Redaktion, von Hektik war noch keine Spur. Die etwa 20 Kolleginnen und Kollegen lasen Zeitung, hingen am Telefon oder witzelten mit Fotografen. Und er hörte alles. Seit der Renovation, die mit dem Einbau der Bildwand abgeschlossen worden war, fühlte sich Bollag wie im falschen Film. Das lag nicht nur daran, dass die verkratzten, sperrigen Pulte ebenso verschwunden waren wie die quietschenden Bürostühle. Über die weißen Designermöbel unter der indirekten Beleuchtung sah er mit der Zeit hinweg. Aber die kleinen Räume, in denen sie zu dritt gearbeitet hatten, waren in ein Großraumbüro verwandelt worden. ›Newsroom‹ hieß das jetzt. Hier wurde er mit den Redaktoren des Tagblattes, von Tele Nordwest und Radio Edelweiß zusammengepfercht. Das sollte Synergien schaffen. Ha!

Nun saßen zwar alle gemeinsam in einem Raum – man müsste aber schon ein Idiot sein, wenn man seine Geschichten mit den Kollegen teilte. Die meisten von ihnen waren talentiert, eifrig und verdammt jung. Bollag konnte sich an die Zeit erinnern, in der sich 40 wahnsinnig alt anhörte. Jetzt war er 43 und fühlte sich wie ein Dinosaurier.

Er spähte quer durch den Newsroom zur anderen Ecke und entdeckte, dass eine der beiden Gummizellen leer war. Die kleinen Räume waren spartanisch eingerichtet: Tisch, Stuhl, Telefon und Computer. Trotzdem waren sie sehr begehrt, denn nur dort ließ es sich ruhig arbeiten. Er raffte seine Sachen zusammen, als er jemanden hinter sich bemerkte. »Ja, Rieder, du kriegst deinen Artikel, heute noch.«

Keine Antwort? Er drehte sich um. »Nadine …« Seine Frau sah aus wie eine Fließbandarbeiterin nach einer Zwölfstunden-Schicht. Und das in einem Kleid von Gucci oder Fendi. Als Juniorpartnerin einer Privatbank fuhr sie jeden Morgen mit Kostüm und dezentem Make-up zur Arbeit. Vom diskreten Charme der Oberklasse war wenig übrig.

Bollag führte seine Frau an der Hand zur Gummizelle. Es war bald sechs Monate her, dass sie ausgezogen war. Ihre hohen Absätze hinterließen kleine Löcher im grauen Spannteppich. Die neugierigen Blicke der Kollegen folgten ihnen. Er schloss die Glastür hinter ihnen und stellte sich vor Nadine. »Was ist passiert?«

Tränen strömten über das Gesicht, die Wimperntusche verlief in hässlichen Streifen unter ihren schönen blauen Augen. »Er ist tot.«

»Wer?«

»Marcel.«

Jetzt verstand er. Sie hing sehr an ihrem Bruder. »Das tut mir leid.« Er hätte sie gerne in den Arm genommen. Doch Nadine setzte sich auf den Stuhl und drückte ihre Handtasche an die Brust. Sie trug den Ehering nicht mehr. »War es ein Unfall?«

»Die Polizei sagt, er sei erschossen worden. Erschossen!« Sie schluchzte und wischte ihre Tränen mit der Hand weg.

Bollag holte ein Päckchen Taschentücher aus seinem Jackett, fingerte am Verschluss herum und riss die Hülle schließlich auf.

Nadines Schnäuzen widersprach dem Bild der eleganten Managerin, das sie mit großer Hingabe pflegte. Es war laut und ratternd wie ein Motorrad mit defektem Auspuff.

»Was ist?« Sie reckte das Kinn in die Höhe. »Findest du das etwa lustig?«

»Entschuldige. Ich habe nur gerade … Wann ist das mit Marcel passiert?«

»Früh am Morgen. In Seltisberg. Ein Polizist hat mich im Büro angerufen.«

Er ging vor ihr in die Knie, sie war nur eine Armlänge entfernt. »Wie ist es passiert?«

»Der Polizist hat mir bloß gesagt, dass Marcel erschossen wurde, mehr nicht. ›Die Ermittlungen laufen‹, hat er gesagt. Dann hat er noch gefragt, wie er Maman erreichen könne und ob es weitere Angehörige gebe. Was soll ich ihr bloß sagen?« Nadine beugte sich vor und ihr Kleid raschelte.

Es war ein verführerisches Geräusch, das ihn an schöne Zeiten erinnerte. Zeiten, in denen er den raschelnden Stoff mit seinen Händen erforscht hatte. »Wo ist deine Mutter?«

»Auf einer Tagung in Deutschland. Sie kommt am Abend nach Hause.«

Die Chefin der Bank Laval war viel unterwegs. Er zögerte, die Worte kamen ihm schwer über die Lippen. Er mochte seine Schwiegermutter nicht. Sie ihn noch viel weniger. »Möchtest du, dass wir gemeinsam mit ihr sprechen?«

»Nein, nein, das ist nicht nötig.«

Er atmete auf. »Ich kann mal nachschauen, ob wir eine Polizeimeldung mit mehr Informationen bekommen haben. Möchtest du das?«

Nadine nickte.

»Warte hier.« Er ging zu seinem Arbeitsplatz zurück. Wieder spürte Bollag die Blicke der Kollegen auf sich. Es waren die gleichen Blicke, denen er in den vergangenen Monaten oft ausgesetzt gewesen war. Sie hatten nach dem Skandal im Bundeshaus begonnen, als alles den Bach runtergegangen war. Als Medien im ganzen Land sein Leben durchleuchtet und vor aller Augen ausgebreitet hatten. Sie alle hätten ihm damals liebend gerne dieselbe Frage gestellt. Aber niemand hatte es getan.

Er setzte sich an seinen Computer, die Polizeimeldung war vor zwei Stunden eingetroffen.

Tötungsdelikt in Seltisberg

In Seltisberg kam es am frühen Montagmorgen zu einem Tötungsdelikt. Gemäß den bisherigen Erkenntnissen der Polizei Basel-Landschaft und der Staatsanwaltschaft wurde ein 38-jähriger Mann gegen 5.45 Uhr im Gebiet Erlifeld erschossen. Motiv und Hintergrund dieser Tat sind Gegenstand von laufenden Ermittlungen. Die Behörden suchen Zeugen. Wer Beobachtungen gemacht hat, wird gebeten, sich bei der Einsatzleitzentrale der Polizei Basel-Landschaft in Liestal zu melden.

Bollag klickte und wartete darauf, dass der Drucker ansprang. Ein paar Kollegen beobachteten Nadine durch die Glastür, er konnte es ihnen nicht verübeln. Sie band sich ihr dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, einzelne Strähnen hingen ihr ins Gesicht und umrahmten die großen Augen und den breiten Mund. Viele Stunden im Fitnesscenter hielten ihre straffe Figur und die schlanken Beine in Form. Sie schien sich vom ersten Schock zu erholen.

Er brachte ihr den Ausdruck in die Gummizelle. Nadine schüttelte den Kopf, als sie den Text durchlas.

»Erlifeld? Wo soll denn das sein? Und was hat Marcel so früh am Morgen dort gemacht?« Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Du kennst doch viele Leute bei der Polizei. Bitte finde heraus, was da wirklich passiert ist.«

Nadine müsste eigentlich wissen, dass er keine Kontakte hatte. Er schrieb selten über Unfälle oder Verbrechen. Andererseits wäre das ein Grund, sie wieder öfter zu sehen. Und vielleicht … »Ich bin kein Polizeireporter. Aber ich werde ein paar Anrufe für dich machen.«

Es klopfte laut an die Glastür in seinem Rücken. Draußen tippte Lokalchef Rieder energisch mit dem Finger auf seine Armbanduhr. Nadine schnäuzte sich und stand auf. »Danke, dass du das für mich machst. Aber …«, sie senkte den Blick auf das durchweichte Papier in ihrer Hand, »… pass auf dich auf.«

6

Bollag setzte sich an seinen Computer und tippte die Adresse in den Browser: www.marcel.laval.ch. Eine dunkelgrüne Webseite mit Titeln in goldener Schnörkelschrift baute sich auf, die Fotos wurden von gezeichneten Bilderrahmen umrandet. Verschiedene Links führten zu den wichtigsten Stationen im Leben seines Schwagers: Matura am Gymnasium Münchenstein, Hochschule St. Gallen, Kaderposition bei Rail Cargo Switzerland, Hauptmann im Militär, Gemeinderat der Freisinnigen Partei in Seltisberg. Bilder zeigten Marcel mit Freunden beim Skifahren in St. Moritz, am Steuer seines Jaguars, beim Tauchen auf den Malediven. Von den Hobbys fehlten nur das Spielcasino und die Frauen. Bollag konnte sich gut an den Tag erinnern, als Marcel ihm die Webseite mit großem Stolz vorgeführt hatte.

»Hoi, bist du endlich fertig mit deinem Knüller?«

Bollag fuhr zusammen und stieß gegen die Tasse, kalter Kaffee schwappte über die Zahlenreihen. Tanja Schneider stand vor ihm.

Er nahm ein Papiertaschentuch und wischte die Kaffeeflecken weg. »Was machst du denn hier?« Der V-Ausschnitt im engen T-Shirt drohte seinen Blick nach unten zu ziehen, doch Bollag schaute ihr standhaft in die Augen. Er sog den Duft von Moschus ein. »Du hast doch heute frei.«

Sie schüttelte den Kopf. »Eine Story ist geplatzt, jetzt hat Rieder meine Geschichte über die Kirschenernte vorgezogen. Sie soll morgen ins Blatt.«

Tanja war ein Profi. Fünf Jahre lang hatte sie neben dem Studium als freie Journalistin für die Volksstimme aus Sissach gearbeitet, hatte über Kaninchen, Schultheater und Wettpflügen geschrieben. Als sie den Master in Medienwissenschaften in der Tasche hatte, war sie von Rieder vom Fleck weg engagiert worden. Bevor Bollag sie kennengelernt hatte, war er skeptisch gewesen. Denn der Lokalchef schaltete bei hübschen Frauen schnell das Hirn aus. Doch Tanja war hartnäckig, voller Rechercheideen und hatte einen guten Schreibstil.

»Was ist los, Bollag?« Sie trommelte mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf der Tischplatte. »Du siehst aus, als ob du ein Bier brauchen kannst. Ich zahle.«

»Geht leider nicht. Rieder sitzt mir im Nacken wegen der Kantonsfinanzen. Und in den Beizen starren mich die Leute sowieso bloß an.« Ist das nicht der Journalist, der etwas mit der Bundesrätin hatte, konnte er dann in ihren Augen lesen.

»Auch jetzt noch?«

»Nicht mehr so oft.«

Sie strich eine Augenbraue glatt und ihre Armbänder klimperten. »Der Ruhm vergeht schnell.« Sie kam um das Pult herum, deutete auf den Bildschirm. »Was ist denn das? Hat das mit der Finanzgeschichte zu tun?«

Auf dem Monitor schüttelte Marcel die Hand eines Bundesrats. »Das ist mein Schwager. Er wurde heute erschossen.«

»Der Mord in Seltisberg? Das war dein Schwager? Ich habe im Radio davon gehört.« Sie wickelte sich eine Strähne ihrer schulterlangen schwarzen Haare um den Finger und dachte nach. »Hast du eine Ahnung, was dahintersteckt? Ich meine, war er in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Marcel war eine große Nummer im Bahngüterverkehr, hat bei RCS gearbeitet. Aber ich muss zugeben, dass ich ihn nicht sehr gut kannte.« Er hatte die Feiertage gehasst, an denen er sich nicht vor einem Besuch in der Villa Laval in Arlesheim hatte drücken können. Der Weihnachtsbaum war immer reich geschmückt gewesen, die Osterdekoration bis ins Detail durchdacht.

»Wie bitte? Der Mann war doch dein Schwager.«

»Ist das so ungewöhnlich?« Er konnte sich an kein offenes Gespräch mit Marcel, kein herzliches Lachen seiner Schwiegermutter erinnern.

»Ja.« Sie breitete die Arme aus. Dem jüngsten Kind einer eng verbandelten Großfamilie musste das unbegreiflich sein.

»Um ehrlich zu sein: Ich mochte ihn nicht besonders. Er war ein selbstverliebter Angeber. Ein Karrieretyp halt.«

Tanja deutete mit dem Daumen auf die Webseite, er zuckte mit den Schultern.

»Nadine hat mich gebeten, ein wenig …«

Sie stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Achtung, Gefahr im Anzug.«

Bollag blickte über die Schulter. Lokalchef Adrian Rieder hatte seinen Glaskubus in der Ecke des Newsrooms verlassen und schritt mit einem Mir-gehört-die-Welt-Lächeln auf sie zu, die weißen Zähne strahlten im gebräunten Gesicht. Er blieb knapp vor Tanja stehen und legte seine Hand auf ihren Oberarm. »Tanja, schön dich zu sehen. Du schreibst eine Superstory für mich, ja?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn’s weiter nichts ist. Ich brauche zwei Stunden.«

Unmissverständlich blickte sie auf seine Hand, bis er sie wegzog, und marschierte davon. Gut so, lass dir von diesem Idioten nichts gefallen, freute sich Bollag.

Rieder fuhr sich durch die perfekt frisierten Haare und glotzte ihr nach. »Bollag, ich will mit dir sprechen. In meinem Büro. Jetzt.«

Mit großen Schritten stakste er durch das Großraumbüro. Noch bevor er an seinem Platz war, legte er mit lauter Stimme los: »Verdammt noch mal, Bollag! Wann lieferst du endlich die Finanzgeschichte? Die Zeitung kann ihren Tagesplan nicht nach deinen Launen ausrichten.«

Bollag gab der Glastür einen leichten Stoß, sodass sie mit einem Klacken ins Schloss fiel. An der Betonwand hinter Rieder hing ein Poster mit einem Traumstrand in der Südsee. Das Fenster auf der rechten Seite ging auf den Hof hinaus, durch die Glaswand links sah er Rieders Sekretärin tippen. Er ließ sich auf den unbequemen Plastikstuhl vor dem Schreibtisch nieder. »Ich bin bald fertig.«

Rieder setzte sich in seinen Ledersessel, kippte die Lehne nach hinten und legte die Füße auf eine herausgezogene Schublade. Er lockerte seine Seidenkrawatte und krempelte die Ärmel des teuren Hemdes hoch. Bollag sah die goldene Rolex blitzen. In seiner Anfangszeit hatte Rieder ihm einmal erzählt, wie cool er Robert Redford in dem Film ›Die Unbestechlichen‹ über den Watergate-Skandal fand.

»Seit deinem Wechsel in die Lokalredaktion hast du keine einzige Exklusivstory geliefert. Ich hatte in den vergangenen Monaten mehr Leistung erwartet.«

Danke, gleichfalls. Ihr einst gutes Verhältnis hatte sich seit Bollags Rückkehr zusehends gewandelt. Je mehr er sein Wissen und seine Erfahrung in die Redaktion einbrachte, desto feindseliger wurde der Lokalchef. Dabei hatte Bollag den jungen Juristen Rieder vor acht Jahren unter seine Fittiche genommen, als der beim Tagblatt angefangen hatte. Rieder hatte keine Ahnung vom Metier gehabt, und Bollag hatte bald feststellen müssen, dass der Neuling wenig Talent und keine Eigeninitiative besaß. Stattdessen verstand Rieder sich auf Small Talk. Er hatte sich an wichtigen Anlässen gezeigt und Kontakte geknüpft. Lokalchef, Stufe eins auf der Karriereleiter ganz nach oben, verdankte Rieder nur seiner Frau. Bei einem Weihnachtsessen hatte er Beatrice Pfister kennengelernt, die einzige Tochter des Tagblatt-Verlegers Hermann Pfister. Ein Jahr später waren sie verheiratet, drei Jahre später war Tochter Salome zur Welt gekommen.

Bollag atmete tief ein. Durch die Glasscheibe sah er, wie Fränzi, Rieders Sekretärin, ihn besorgt anschaute. Worum ging es hier? »Ich hatte etwas Pech in der vergangenen Zeit. Ein paar Geschichten waren nicht so gut, wie ich mir erhofft hatte.« Und seine Informanten hatten sich verkrochen.

»Pech? Eher Unvermögen. Du hast in deinen guten Jahren ein paar schöne Sachen geschrieben, keine Frage. Aber da war oft Glück im Spiel, du bist über die Geschichten gestolpert. Nach deinem Absturz ist die Blase geplatzt und ich muss feststellen, dass nur heiße Luft drin war.«

Heiße Luft, ja, dafür war Rieder Experte. Wenn er ausnahmsweise mal einen Artikel schrieb, war er oft voller Fehler, schlecht recherchiert. Genau wie die Geschichte über die Baselbieter Polizei im heutigen Tagblatt. Reine Stimmungsmache.

Rieder nahm den goldenen Kugelschreiber vom Tisch und drehte ihn zwischen den Fingern. »Du weißt, dass das Tagblatt durch schwierige Zeiten geht. Ich kann mir keinen Journalisten leisten, der hier einfach seine acht Stunden pro Tag absitzt.« Rieder schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Kugelschreiber theatralisch durch die Fensterscheibe. »Da draußen stehen Dutzende, die hungrig sind und nur auf eine Gelegenheit warten, ihr Talent zu beweisen.« Er seufzte, breitete die Arme aus. Was für eine billige Show, Bollag fand das Gehabe einfach nur lächerlich. »Hast du dir schon einmal überlegt, ob dir ein Wechsel nicht gut täte? Wie wäre es mit der Letzten Seite? Kramer wird bald pensioniert.«

Die Letzte Seite? Busen, Blut und Blech?

Rieder ließ ein Blatt Papier über den Tisch gleiten, das über die Kante rutschte und auf den Boden segelte. »Du musst dich am Riemen reißen, Bollag, sonst kann ich dich nicht länger halten.«

Bollag ballte die Fäuste und wäre gern aufgesprungen. Doch statt sich auf Rieder zu stürzen, hob er das Blatt vom Boden auf. Es war eine Einladung für die Wahl der Miss Nordwestschweiz.

Rieder deutete mit dem Kugelschreiber darauf. »Ich denke, das wäre etwas für dich. Die Leser lieben solche Geschichten.«

Nein, Rieder liebte solche Geschichten. »Du machst Witze.«

Der Lokalchef zog die Augenbrauen in die Höhe. »Sehe ich so aus?«

Bollag zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb neben Rieders Füßen. »Für so einen Mist interessiere ich mich nicht.«

»Komm von deinem hohen Ross runter. Bei mir im Lokalressort gibt es keine geschützten Arbeitsplätze. Entweder du lieferst mir bald eine Exklusivstory, oder ich werde für deine Versetzung zur Letzten Seite sorgen. Hast du verstanden?«

Bollag spürte, wie ihm die Hitze in den Kopf schoss. Er packte die Griffe des Stuhls so fest, dass das Plastik knirschte. So redete ausgerechnet Rieder, der noch nie in seinem Leben eine Exklusivgeschichte produziert hatte. Er betrachtete das Poster mit der Südseeinsel, die Gedanken gingen zu Marcels Webseite. Exklusiv … Oh ja, das waren die Lavals. Und mächtig. Er würde dem kleinen Arschkriecher eine Story präsentieren, die sich gewaschen hatte.

Bollag stand auf und verließ den Kubus ohne ein weiteres Wort. Er warf die Glastür so heftig hinter sich zu, dass sie im Rahmen klirrte.

7

Unter dem Kopf hatte sich eine rote Lache gebildet, die verwässert war vom Regen der letzten Nacht. Eine einzelne Schusswunde im Kopf, keine Austrittswunde, hatte der Arzt gesagt. Vom Gesicht war nicht viel übrig geblieben, das an Marcel Laval erinnerte. Seine Schultern zeigten in die eine Richtung, die Hüfte und die Beine in die andere, als wolle der Körper vor sich selbst davonlaufen. Das Bild wurde verstärkt durch die engen Laufhosen, das rote T-Shirt und die Turnschuhe.

Endlich hievten zwei Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts den Körper in einen grauen Blechkasten und legten den Deckel darüber.

Neuenschwander war über sämtliche Stufen der Polizei nach ganz oben geklettert, über 80 Tote hatte er in seiner Karriere gesehen. Trotzdem war es ihm mit den Jahren nicht gelungen, die Distanz zwischen sich und den Opfern zu vergrößern – im Gegenteil.

Vom Dorf her kamen die 18 Aspiranten wie an einer Perlenschnur aufgereiht über den Feldweg. Ihnen voraus stapfte Jonas, dessen leuchtend orange Krawatte im Wind flatterte. »Wieso, verflucht noch mal, hat das so lange gedauert?« Vor Stunden hatte Heinz Neuenschwander Unterstützung angefordert. Dass er seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen hatte, verstärkte seine miese Laune.

Der Leiter der Polizeischule stand vor ihm stramm. »Entschuldigung. Wir waren an einer Schulung in Laufen. Wir haben …«

»Es ist mir scheißegal, was ihr gemacht habt. Hier geht es um einen Mordfall, das hat Priorität. Ich will, dass Sie mit Ihren Leuten die Gegend durchkämmen.« Er streckte den Arm aus und deutete in einem Halbkreis über die Wiesen. »Sucht vor allem den Waldrand dort drüben ab. Wir gehen von einem Gewehrschützen aus. Der muss irgendwo Spuren hinterlassen haben. Also los.«

Neuenschwander stemmte die Hände in die Hüften und knurrte, als die Aspiranten mucksmäuschenstill losmarschierten. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen. Er fühlte sich erschöpft, musste noch in die Wohnung des Toten, mit den Angehörigen sprechen. Je älter er wurde, desto näher ging ihm jede Leiche. Der Gedanke ließ ihn nicht los, dass mit jedem Menschen eine Welt von einzigartigen Erfahrungen verloren ging. Wer so etwas zerstörte, den verfolgte Neuenschwander mit verbissener Wut. Das hatte ihm zwar den Ruf als hervorragender Ermittler, aber auch ein Magengeschwür und zwei vergraulte Ehefrauen eingebracht.