Schattengrund - Elisabeth Herrmann - E-Book

Schattengrund E-Book

Elisabeth Herrmann

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Beschreibung

Wie ein Flüstern im Sturm ...

Schattengrund. Als die 17-jährige Nicola das Haus ihrer verstorbenen Tante erbt, ahnt sie nicht, wie bedeutsam dieser Name für sie wird. Es ist ein einsames Haus in einem abgelegenen Dorf, in dem sie als Kind oft zu Gast war. Ein Haus, in dem die Vergangenheit schlummert. Und ein Haus, das Nicos Eltern auf keinen Fall annehmen wollen. Als die Eltern das Erbe stellvertretend für ihre Tochter ausschlagen, reißt Nico heimlich aus, um Schattengrund wiederzufinden. Und kaum hat sie die Schwelle übertreten, da scheint eine lange verdrängte Wahrheit nach ihr zu greifen. Wie konnte sie das alles bloß vergessen? Die knarrenden Treppen, den staubigen Dachboden – und das Mädchen, mit dem sie hier immer gespielt hat? Fili, ihre allerbeste Freundin. Ihre Seelenschwester. Ihre tote Freundin. Ein grauenhaftes Verbrechen hat die Mädchen damals auseinander gerissen. Aber Nico kann ihren eigenen Erinnerungen nicht trauen. Und der Täter von damals ist noch immer im Dorf.

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Seitenzahl: 527

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ELISABETH

HERRMANN

SCHATTEN-

GRUND

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. cbt ist der Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House.  

1. Auflage2012

©2012cbt Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Zeichenpool, München

unter Verwendung eines Motivs von©Shutterstock (dimitris_K,

Robin Keefe, Dudarev Mikhail, da78, Vladimir Cereshak)

SK · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-07971-0V005

www.cbt-jugendbuch.de

Für Shirin,

meine wunderbare Tochter

»Es wird mit Blut kein fester Grund gegeben,

kein sichres Leben schafft uns Andrer Tod …«

KÖNIGJOHANN, WILLIAMSHAKESPEARE

Prolog

Der letzte Klang der Glocke erstarb. Die Abendmesse war vorbei. Ein stürmischer Wind jagte Wolkenfetzen über den bleichen Mond. Er heulte durch Felsschluchten und strich wie mit strafender Hand über die Wipfel der Bäume, die sich bogen und wegduckten. Er rüttelte an Fensterläden, wirbelte den Schnee auf der leeren Kreuzung hoch und trieb ihn wütend vor sich her. Das gelbe Licht der Straßenlampen legte sich wie ein Heiligenschein um die Laternenmasten. Es war so kalt. Es war so leer.

Und es war dunkel in dem kleinen Zimmer unterm Dach. Sie lag im Bett und lauschte auf die Stimmen des alten Hauses. Es sprach mit ihr. Mal knarrend und böse, wenn die Dachsparren sich in der klirrenden Kälte verzogen. Und dann wieder sanft und leise wie ein Seufzen, gehaucht aus den uralten Mauern, sobald jemand zwei Stockwerke weiter unten die Treppe betrat. Sie hörte dem Haus gerne zu. Es konnte so viele Geschichten erzählen. Von Prinzessinnen, die hier Zuflucht vor bösen Häschern gefunden hatten. Von wilden, stolzen Jägern, die mit ihrer Beute zurückkehrten. Von silbernen Kutschen, deren Fenster mit Spinnweben verhängt waren und die von Pferden gezogen wurden, deren Hufe Funken schlugen auf den Gipfeln der Berge …

Die Schultüte stand neben der Tür. Die Puppe lag mit geschlossenen Augen in ihrem Arm.

»Keine Angst«, flüsterte sie. »Ich bin ja bei dir.«

Sie zog die Decke höher und breitete sie sanft über der Puppe aus. Heute würde sie von einem Ritter träumen. Er wohnte draußen im Berg und die Höhlen waren sein schimmernder Palast. Eines Tages würde sie ihn finden. Sie stellte sich den Moment vor, in dem sie barfuß den gewaltigen Thronsaal erreichen würde, und alle Blicke wanderten über das kleine Mädchen, das zerlumpt und mit letzten Kräften das silberne Reich des Ritters gefunden hatte. Und er, der Schönste von allen in einer leuchtenden Rüstung, er lächelte, und er stand auf, und er hielt ihr die Hand entgegen.

Das Haus seufzte.

Dieses Mal klang es nicht sanft. Es war eine Warnung. Der Atem des Mädchens wurde flacher, sein Herz begann zu jagen. Schwere Schritte kamen die Treppe hinauf. Sie hielten nicht an im ersten Stock. Das Mädchen verkroch sich in seinem Kissen und presste die Puppe noch enger an sich. Schlagartig war der Traum vom Ritter vergessen und an seine Stelle trat namenlose Furcht. Das Mädchen sandte eine kleine wimmernde Bitte in den Himmel. Nicht. Bitte nicht.

Doch der Himmel war taub. Vielleicht, weil der Wind so laut und brausend war und Gebete mit sich fortriss und wirbelnd zerstreute wie eine Schaufel Federn.

Die Schritte erreichten den letzten, den dritten Stock. Das Dachgeschoss mit seinen wenigen kleinen Räumen und den schrägen Wänden. Durch den Spalt unter der Tür fiel ein Streifen Licht ins Zimmer. Das Mädchen presste die Lippen zusammen, um sich mit keinem Laut zu verraten. Die alten Dielenbretter knarrten ärgerlich unter dem Gewicht des Störenfrieds. Das Schloss quietschte zornig, als der Schlüssel umgedreht wurde. Die Tür klemmte und wehrte sich, sie wollte den Eindringling nicht durchlassen.

Was kann ein Haus schon tun gegen die Dinge, die sich in seinem Inneren ereignen? Nichts. Es erträgt, was geschieht, in stoischem Gleichmut. Es schweigt. Es schützt den Verfolgten und den Mörder. Denn es unterscheidet nicht, wem es seine Türen öffnet.

Doch etwas in den Mauern wird nicht vergehen. Es wird sich erinnern. Es wartet auf den Tag, an dem die Dinge ans Licht kommen. Es ist nicht zu fassen und nicht zu beschreiben. Es ist nicht zu fühlen und nicht zu sehen. Es ist wie ein Flüstern im Sturm.

Eines Tages wird jemand kommen, der im Dunkeln sehen und das Flüstern im Sturm hören kann. Dann werden die Steine weinen und die Vögel tot vom Himmel fallen und die Tränen, die Tränen aus Eis werden tauen.

Eins

Ein Besen. Eine halbe Postkarte. Ein Stein.

Nico sah nach links zu ihrer Mutter, nach rechts zu ihrem Vater, dann geradeaus zu dem Notar – einem bleichen Mann mit schütterem grauen Haar und randloser Lesebrille, der sich einen Aktenhefter aus dunkelblau marmorierter Pappe vor die Nase hielt und daraus mit leiser, monotoner Stimme vorlas. Sie saßen zu dritt vor einem riesigen Schreibtisch. Wahrscheinlich war er nötig. Bei solchen Erbschaften ging man vermutlich gerne mal auf den Testamentsvollstrecker los.

»Diese drei Dinge vermache ich meiner Großnichte Nicola Wagner zum weisen Gebrauch.«

Der Notar ließ den Aktenhefter sinken und sah Nico zum ersten Mal, seit sie in Begleitung ihrer Eltern den holzgetäfelten Raum im ersten Stock eines noblen Altbaus betreten hatte, genau an. Er wollte sehen, wie sie reagieren würde. Auf einen Besen, eine halbe Postkarte, einen Stein.

»Das ist ein Scherz«, entfuhr es Nico.

Sie spürte, wie ihr Gesicht brannte. Vielleicht war es die Enttäuschung, vielleicht auch die Wärme in diesem überheizten Raum. Sie hatten keinen Parkplatz gefunden und das Auto schließlich weit entfernt abstellen müssen. Um sich nicht zu verspäten, waren sie die ganze Strecke fast gerannt.

Aber Nico hatte weder den Regen noch die Kälte gespürt. Sie war so aufgeregt gewesen, so erfüllt von Vorfreude. Eine Erbschaft! So etwas kam doch sonst nur in viktorianischen Familienromanen vor. Und dann auch noch von einer Verwandten, von der man seit Jahren nichts gehört und gesehen hatte. Kein Fake, kein Witz. Und trotzdem hatte sie erst daran geglaubt, als sie das Messingschild am Eingang des Hauses gelesen und noch immer außer Atem das Büro betreten hatte. Die Dame am Empfang hatte sie freundlich angelächelt und ihr und ihren Eltern Kaffee angeboten, der in hauchdünnen weißen Porzellantassen serviert wurde – mit Keksen aus der Confiserie. Da hatte sie noch gedacht, im Vorzimmer eines neuen Lebens zu sitzen. Hatte nur geflüstert, auf die alten Ölbilder an den Wänden gestarrt und versucht, die Titel der Bücher in einem wuchtigen Bibliotheksregal zu entziffern. Mit den Füßen gescharrt. Auf ihre Armbanduhr gesehen. Nicht verstanden, warum ihre Eltern keine Miene verzogen und so aussahen, als wären sie beim Zahnarzt und hätten eine komplizierte Wurzelbehandlung vor sich.

Und dann das. Eine abgefahrene Nummer, das musste man Tante Kiana schon lassen.

»Das ist doch ein Scherz«, wiederholte Nico vorsichtig. »Oder?«

Der Notar hieß Gustav von Zanner und machte ein Gesicht, als ob Humor in seinem Leben keine große Rolle spielen würde. Wahrscheinlich hatte er schon jede Menge enttäuschte Erben erlebt, die unruhig auf den Ledersesseln vor ihm hin- und hergerutscht waren. Nico hatte für diesen Termin auf Jeans und Pullover verzichtet. Sie trug stattdessen eine schwarze Hose, die durch den weißen Rolli und den etwas zu engen, nicht mehr ganz neuen Blazer auch nicht besser wurde. Ihre langen dunkelbraunen Haare hatte sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Sie trug sie sonst meistens offen, denn ihre Mähne musste kaum je geschnitten werden – wieder Geld gespart. Sie hatte nur einen Hauch von Lipgloss aufgelegt. Er zauberte ein wenig Frische in ihr blasses, rundes Gesicht. Präraffaelitisch, nannte ihr Vater das. Sie und Stefanie, ihre Mutter, würden ihn an Gemälde aus der Renaissance erinnern. Unschuldig, aber dann hatten sie es faustdick hinter den Ohren. Davon war im Moment allerdings wenig zu merken. Ihre Mutter schien genauso geplättet wie sie. Nico sah sich vorsichtig um und rechnete im Stillen damit, dass jeden Moment ein Team der versteckten Kamera in das Büro stürmen würde.

Der Testamentsvollstrecker räusperte sich. »Nein.«

»Das ist alles?«

»Nehmen Sie das Erbe an?«

Von Zanner tat so, als wäre es ihm egal, ob er Immobilien in Schweizer Nobelskiorten oder die übrig gebliebenen Reste einer Dachbodenentrümpelung beurkundete. Wahrscheinlich war es ihm das auch. Mitgefühl für eine Siebzehnjährige, die gottweißwas erwartet und erst auf dem Weg in die Kanzlei erfahren hatte, worum es wirklich ging, kannte er wohl nicht.

»Tante Kiana hat mir ihren Sperrmüll vermacht?« Sie wandte sich an ihre Mutter und die Enttäuschung in ihrer Stimme war abgrundtief. »Das glaube ich nicht.«

»Liebes, sie war schon immer so …« Nicos Mutter holte tief Luft, um dann zu schweigen. Das war ihre Art zu reden, wenn sie erwartete, dass man sich den Rest denken konnte.

»… spinnert«, vollendete Nicos Vater erwartungsgemäß den Satz. Er holte sein Smartphone aus der Tasche, checkte mit einem kurzen Blick, dass niemand angerufen hatte, und schob es zurück in seine Anzugtasche. Das tat er mit genau der Hast, die allen zeigen sollte, dass er diesen Termin mittlerweile für ein Kasperletheater hielt. Er hatte sich extra den Vormittag freigenommen, und Nico wusste, dass er im Anschluss in sein Reisebüro zurück musste. »Sag es ruhig, Stefanie. Ich fand immer, sie kam sehr nach deiner Mutter. Wir hätten gar nicht kommen sollen. Ich habe keine Zeit für solche Scherze.«

Nicos Mutter griff nach ihrer Handtasche, die sie neben dem Stuhl abgestellt hatte. Sie berührte ihre Tochter leicht am Arm. »Nimm es dir nicht zu Herzen, mein Schatz. Wir hätten das vorher als deine gesetzlichen Vertreter wissen müssen. Wir haben lange überlegt, ob wir diesen Termin nicht ganz absagen. Aber dann dachten wir, man weiß ja nie, was alte Damen so unter dem Kopfkissen liegen haben.«

»Steine, Altpapier und Besen«, murmelte Nico.

Der Besen war vielleicht einen Meter lang, gebaut aus einem knorrigen Ast und einem Bündel Stroh, zusammengehalten von Hanfkordel. Das Ding sah zerfranst und ziemlich benutzt aus. Staub und Dreck rieselten schon beim Hinsehen auf die hochglanzpolierte Schreibunterlage aus schwarzem Leder. Nico wollte die Hand danach ausstrecken, aber die Berührung ihrer Mutter wurde zu einem festen Griff.

»Lass das. Wir wollen das nicht.«

»Ich kann ihn mir doch wenigstens mal ansehen.«

Stefanie Wagner stieß einen Seufzer aus und ließ sie los. »Das Ding kommt mir nicht ins Haus.«

Dabei wechselte sie einen schnellen Blick mit Nicos Dad.

Nico nahm den Besen, wog ihn in der Hand, drehte und wendete ihn. Strohhalme lösten sich und fielen auf den Perserteppich. Gustav von Zanner schob die Lesebrille mit spitzem Zeigefinger hoch auf die Nasenwurzel und schaute ihr missbilligend zu.

»Entschuldigung.« Nico bückte sich, um die Halme aufzulesen. Hoffentlich löste sich das Teil nicht gleich komplett in der Kanzlei auf. Sie fühlte sich, als ob es ihre Schuld wäre, dass man ihr so einen Schund vererbte. Als ob sie nichts Besseres verdient hätte.

Was hatte sie sich nicht alles ausgemalt. Ein Termin in der Stadt, für den sie sich feingemacht und herausgeputzt hatten … Und dann im Auto – als ihre Eltern ihr von dem Erbe erzählt hatten – hatte sie die wildesten Überlegungen angestellt, ob sie wohl als Millionärin zurück in die enge Mietwohnung kehren würde. Alles Quatsch. Natürlich nicht. Sie hatte gelacht, hatte sich gefreut, dass jemand mal an sie gedacht hatte, hatte sich vielleicht gewundert, dass ihre Eltern so schweigsam waren und so spät damit rausgerückt hatten, aber umso größer war ihre Aufregung gewesen … Und das alles für – Müll.

Nicos Blick fiel auf die Schuhe ihrer Mutter. Hellbraune Pumps mit Goldschnallen. Die trug sie selten. Ausgehen lag kaum noch drin im schmalen Familienbudget, seit die Leute ihre Reisen im Internet buchten und erwarteten, dass kein Flug mehr als zwanzig Euro zu kosten hatte. Ihr Vater hatte Chinos und Hemd gegen Anzug und Krawatte eingetauscht. Das letzte Mal hatte er sich bei Tante Kianas Beerdigung so fein gemacht.

Nico war nicht dabei gewesen. Zum einen, weil sie an diesem Tag eine Deutschklausur geschrieben hatte. Zum anderen, weil sie sich kaum noch an Tante Kiana erinnern konnte. Und wenn, dann mit einem unguten Gefühl. Von Kiana sprach man in ihrer Familie in einem ganz speziellen Ton. Man wurde leiser, verzog bedauernd den Mund, versuchte, wie von einer Kranken zu reden, aber man bekam den Ärger nicht aus der Stimme heraus. Kiana musste ungeheuer nervig gewesen sein. Nicht ganz richtig im Kopf. Jemand aus der entfernten Verwandtschaft, den man kaum noch erwähnte. Nico hatte ein verschwommenes Bild von ihr aus der untersten Schublade ihrer Erinnerungen gekramt: eine zierliche Frau mit weißen krausen Haaren, die wohl einmal blond gewesen sein mussten. Ein verschmitztes Lächeln. Apfelkuchen. Ja. Der Duft von Apfelkuchen, das war der Duft von Kiana.

Nico tauchte aus ihren Grübeleien wieder auf und legte den Besen zurück auf den Schreibtisch. Die Halme behielt sie in der Hand. Sie wusste nicht, wohin damit.

Gustav von Zanner ließ die Mappe sinken und nahm die Lesebrille ab.

»Nun denn. Nicola Wagner, nehmen Sie das Erbe an?«

Den Pruster, den Nico ausstieß, konnte sie nur mit Mühe mit einem Niesen kaschieren.

»Also ich weiß nicht. – Darf ich?« Sie nahm den Stein in die Hand. Er war groß wie ein Ei, scharfkantig, dunkel und schwer. An manchen Stellen glitzerte er. Ein Stein, wie man ihn an jedem Wegrand, an jeder Bushaltestelle, auf jedem Parkplatz finden konnte. »Das ist schon eine enorme Verantwortung. Schwer zu sagen, ob ich dem gewachsen bin. Was sagt ihr?«

Der Witz kam nicht an. Weder bei von Zanner noch bei ihren Eltern.

Theo Wagner stand auf. »Das ist das letzte Mal, dass ich mich von Kiana habe zum Narren halten lassen«, sagte er. »Ich muss jetzt wirklich. Es tut mir leid, Nico. Ich wünschte, sie hätte dir ein Häkelkissen hinterlassen oder ihre Strickmustersammlung oder irgendetwas, das Großtanten ihren Nichten normalerweise vererben.«

Ein bisschen Geld, dachte Nico. Daran haben wir doch alle gedacht. Es hätte nicht viel sein müssen. Genug, um mal wieder zusammen ins Kino zu gehen. Vielleicht ein neues Handy zu kaufen. Oder ein Laptop, das nicht alle fünfzehn Minuten den Geist aufgibt und ins Gefrierfach gelegt werden muss.

»Fräulein Wagner?«

»Ja? Äh …« Nico warf die Strohhalme in einen Papierkorb aus Leder, der neben dem Schreibtisch stand. Der Besen sah witzig aus. Er war cool. Handarbeit. Er war benutzt worden, das Ende des Stiels glänzte dunkler als der Rest. So was gab es heutzutage gar nicht mehr. Sie überlegte, ob er in ihr Zimmer passen würde. Im Moment waren alle ganz wild auf Karos, Hirschgeweihe und Landleben. Ein alter Strohbesen hatte etwas Uriges, Authentisches. Sie könnte ihn neben das Bett stellen und »Der ist von meiner Großtante« sagen.

Sie setzte sich wieder. »Ja, ich nehme an.«

»Nico?« Stefanie beugte sich zu ihr. »Du lässt das bitte bleiben. Das ist Plunder. Dafür kriegst du auf dem Flohmarkt keinen Cent.«

»Ich mag den Besen. Und er ist ein Erbstück. Vielleicht ist er schon hundert Jahre alt. Ihr sagt doch immer: Nur wer weiß, wo er herkommt, weiß auch, wohin die Reise geht.«

»Theo, nun sag doch auch was!«

Nicos Dad hob hilflos die Schultern. »Das ist deine Verwandtschaft. Du musst das entscheiden.«

»Ich nehm das Zeug«, sagte Nico.

Von Zanner sah zu Nicos Eltern. Theo nickte und ließ sich resigniert wieder neben Nico in den Sessel plumpsen. »In Gottes Namen. Pack es ein. Können wir jetzt?«

Der Notar setzte sich die Lesebrille auf und nahm seine Mappe wieder zur Hand.

»Dann sind wir beim zweiten Teil der Nachlassregelung.«

Stefanie ließ ihre Handtasche auf den Boden fallen. Nicos Dad atmete scharf ein. Ein zweiter Teil? Ihre Mutter knetete nervös die Hände. Es war still, nur das Ticken der Standuhr drang an Nicos Ohren. Und das Rascheln von Papier, als der Notar die Seite umschlug und sich der Fortsetzung dieser merkwürdigen Testamentseröffnung widmete.

»Liebe Nicola.« Er blickte auf und musterte die Angesprochene mit einem kühlen Blick. Es war klar, dass die Ansprache nicht seine Worte waren, sondern die von Tante Kiana. »So lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Als Kind warst Du oft bei mir und hast mein Haus mit Lachen und Freude erfüllt. Es trägt zwar den Namen ›Schattengrund‹, aber wenn Du da warst, schien die Sonne in allen Räumen. Nichts wäre schöner, als dieses Haus in Deine Hände zu legen. Es ist alt und vielleicht willst Du es auch gar nicht haben. Dann verkaufe es und erfülle Dir einen Wunsch von dem Geld. Ich habe niemanden, und der Gedanke, Dir damit eine Freude zu machen, lässt mich leichter gehen.«

Von Zanner unterbrach kurz, um das Blatt umzuwenden. Stefanie Wagner sah, die Lippen zusammengepresst, zu Boden. Nicos Dad verrieb mit dem Schuh einen unsichtbaren Fleck auf dem Perserteppich. Keine Freude. Nur Unbehagen. Zum ersten Mal dämmerte es Nico, wie einsam Tante Kiana gewesen sein musste.

»Die erste Probe hast Du ja schon bestanden.«

Probe? Welche Probe?

»Du hast dir den wertlosen Plunder nicht ausreden lassen. Liebe Stefanie, ich weiß, dass Du es versucht hast, aber Deine Tochter hat eben ihren eigenen Kopf.«

Nicos Mutter zuckte zusammen.

»Und Du, Theo …« Der Notar sah kurz hoch. Nicos Dad verschränkte die Arme und lehnte sich zurück wie jemand, der eine Standpauke nur deshalb über sich ergehen lässt, damit sie schnell vorbei ist. »… stehst ihr natürlich bei. Ich kann Euch gut verstehen. Aber lasst Nico entscheiden, denn sie ist es, um die es hier geht. Das wisst Ihr beide ganz genau. Ich habe mich Eurem Willen stets gebeugt. Nun aber ist es an der Zeit, dass Ihr Nicki ganz allein herausfinden lasst, ob sie den Weg in die Vergangenheit noch einmal gehen will.«

Nicki. Etwas in Nicos Herz wurde warm. Fast tat es ein wenig weh. Hatte Kiana sie so genannt?

Von Zanner machte eine kleine Kunstpause. Der Wind warf eine Handvoll Regen an die Scheiben. Das graue Tageslicht verlor sich in der Mitte des Raumes, die altertümliche Messinglampe zeichnete einen scharf geschnittenen Lichtkegel auf die Tischplatte. Ein Luftzug streifte Nicos Nacken, als ob jemand hinter ihrem Rücken gerade den Raum betreten hätte. Sie drehte sich um. Nichts. Sie fröstelte.

»Drei Rätsel sind an Schattengrund gebunden. Die musst Du lösen, Nicki, und erst dann gehört es Dir. Das Erste: Nutze den Besen. Das zweite: Finde den Turm und das Schwert. Das dritte: Bring den Stein dorthin zurück, wohin er gehört. Dann gehört Schattengrund Dir.«

Der Notar schloss die Akte. Nico wartete, aber es kam nichts nach. Sie beugte sich vor und nahm die halbe Postkarte in die Hand. Sie war in der Mitte durchgerissen und ziemlich alt. Es war die Schwarz-Weiß-Fotografie einer Statue; ein Ritter vielleicht? Ein Kirchenmann? Er trug ein Schwert, und zu seinen Füßen stand ein kleiner Turm aus demselben Material, Stein oder Holz, der ihm bis zu den Knien reichte. Sie drehte die Postkarte um, aber auf der Rückseite stand nichts. Bis auf den kleinen Aufdruck »Romanische Meisterwerke im Harz«.

»Das soll ich finden?«, fragte sie verblüfft. »Und dann? Den Stein zurückbringen und einmal kehren?«

»Wenn Sie, Nicola Wagner, der Meinung sind, die Aufgaben gelöst zu haben, kommen Sie bitte wieder und machen einen Termin zur Beurkundung. Wir werden dann gemeinsam diesen zweiten Umschlag öffnen und prüfen, ob Sie den Bedingungen der Erblasserin vollständig nachgekommen sind.«

Der Notar zeigte den Anwesenden einen weiteren Brief, auf dem in Tante Kianas zittriger Schrift sein Name stand. Langsam kam Nico diese ganze Sache vor wie eine Matrioschka: Immer, wenn man eine Puppe geöffnet hatte, lächelte einem die nächste entgegen.

»Das war’s aber dann«, sagte sie. »Oder gibt es noch einen und noch einen?«

»Dies ist das letzte Schreiben. Es dient nur der Überprüfung, denn ich kann Ihnen bedauerlicherweise nicht zur Hand gehen. Ich bin Notar, kein Straßenkehrer. Nun? Werden Sie der Bitte der Erblasserin nachkommen?«

Nico holte Luft und öffnete den Mund.

»Nein«, sagte Nicos Dad. »Das wird sie nicht tun. Wir lehnen das Erbe ab.«

Sie stieß die Luft mit einem lauten Pfff aus. Theo Wagner stand auf, Stefanie griff wieder nach ihrer Handtasche und erhob sich ebenfalls. Nur Nico blieb sitzen, immer noch mit der halben Postkarte in der Hand.

»Nico?« Stefanies Stimme klang etwas zu freundlich. »Kommst du bitte?«

Aber ihre Tochter kam nicht. Stefanie trat einen Schritt auf sie zu.

»Schatz, ich kann deine Enttäuschung verstehen. Uns geht es auch so. Obwohl ich Kiana gekannt habe und einiges von ihr erwarten konnte. Aber das hier ist … Mir fehlen die Worte.«

»Mein Erbe«, murmelte Nico und starrte auf den halben Ritter in ihrer Hand.

»Wir schlagen es aus. Damit haben wir weder Unkosten noch die Verantwortung für Schattengrund. Wer weiß? Vielleicht fällt es an die Gemeinde und die kann etwas Sinnvolles damit anfangen.«

»Und warum wir nicht?«

Verunsichert sah Stefanie zu ihrem Mann. Theo Wagner fühlte sich sichtlich unwohl dabei, eine Erklärung aus dem Hut zaubern zu müssen.

»Nico, diese Frau war nicht ganz richtig im Kopf. Dir Aufgaben stellen. Keiner weiß, was damit gemeint ist.« Er deutete auf die halbe Postkarte. »Finde den Turm und das Schwert. Was soll das heißen? Den Stein zurückbringen! Das einzig Vernünftige ist das Kehren. Unsere Einfahrt hätte es mal wieder nötig. Also los jetzt. Wir haben schon genug Zeit verplempert.«

»Vielleicht sollten wir erst mal hinfahren und es uns ansehen?«

»Hast du nicht gehört?«

Langsam legte Nico die Postkarte zurück. »Ich verstehe euch nicht. Ein Haus. Das ist doch was wert!«

»Aber nicht Schattengrund«, erwiderte ihre Mutter. »Es ist heruntergekommen, im Fachwerk ist der Holzwurm und durch das Dach regnet es rein. Herr von Zanner, wir lehnen das Erbe ab.«

»Das könnt ihr nicht machen!«

»Du bist noch nicht volljährig, wir sind deine gesetzlichen Vertreter. Damit ist das Thema erledigt.«

»Nein!«

»Doch. Theo?«

Ihr Vater hob die Hände. »Es tut mir leid, deine Mutter hat recht.«

Herr von Zanner verstaute die Akte in einer Schreibtischschublade. »Wann wird Ihre Tochter volljährig?«

»Am sechsten Dezember«, sagte Nico schnell. »Nikolaus.«

Von Zanner zog einen in schwarzes Leder gebundenen Terminplaner heran und blätterte ihn durch.

»Die Widerspruchsfrist beträgt sechs Wochen ab Bekanntwerden des Erbes –«

Ihr Vater unterbrach ihn. »Wir haben das bereits ausgerechnet. Ihr Brief kam am Freitag, also endet die Frist genau einen Tag vor Nicos Volljährigkeit. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, aber wir sind, wenn auch nur knapp, juristisch einwandfrei berechtigt, das Erbe im Namen unserer Tochter auszuschlagen.«

»In meinem Namen?«

»Nico, es ist das Beste. Glaub es mir.«

»Nein! Das glaube ich eben nicht!«

Von Zanner schlug den Kalender zu. Einen Moment lang sah er so aus, als ob er etwas sagen wollte, dann ließ er es bleiben.

Fassungslos musste Nico mit ansehen, wie ihr Vater seine Aktenmappe öffnete und zwei aufgesetzte Schreiben herauszog. Beide legte er vor dem Notar auf den Tisch. Nico fehlten die Worte. Ihr eigener Vater war bereits mit der fertigen Ablehnung hereingekommen. Hätte sie nicht schon ihr klägliches Erbe zu verkraften gehabt, die Enttäuschung wäre kaum zu toppen gewesen.

»Unser Widerspruch. Mit Datum und Unterschrift. Wenn Sie eine Ausfertigung für unsere Akten bitte quittieren und zurückgeben würden? Dann können wir es sofort beim Nachlassgericht einreichen.«

»Sie haben sich über die Tragweite dieser Entscheidung informiert?«

»Selbstverständlich.«

»Die Widerspruchsfrist ist gesetzlich definiert als …«

»Wir wissen, was wir tun. Bitte halten Sie uns nicht weiter auf.«

»Dad?«

Theo Wagner legte die Blätter vor von Zanner auf den Tisch. »Es tut mir leid.«

»Das kannst du nicht tun.«

Er drehte sich zu ihr um und machte eine unbeholfene Bewegung, als ob er sie in den Arm nehmen wollte. Nico stand auf und stolperte einen Schritt zurück. »Bitte glaube mir. Wir haben unsere Gründe.«

»Welche Gründe? Erklär sie mir!«

»Alles, was von Kiana kam, hat Unglück gebracht.«

Stefanie sah zu Boden. Der Notar schraubte seinen Füllfederhalter auf und sah nachdenklich auf die Feder. Die Standuhr tickte. Eine Windbö heulte um die Ecke und rüttelte an den Fensterläden. Wieder fuhr ein Luftzug durch den Raum. Es war ein schlecht isolierter Altbau, da konnte das vorkommen. Und trotzdem hatte Nico das Gefühl, jemand stünde direkt hinter ihr.

»Das stimmt doch gar nicht«, sagte sie leise.

Stefanie trat neben sie. »Doch. Es ist besser so. Bitte glaube uns einfach.«

»Aber …«

»Kein Aber. Nein. Das ist unser letztes Wort.«

Von Zanner unterschrieb und reichte ein Blatt an Nicos Vater zurück. Vielleicht täuschte sie sich, aber in den Augen hinter den funkelnden Brillengläsern glaubte sie, plötzlich so etwas wie Mitgefühl zu entdecken. Mit ihr?

Sie verließen die Kanzlei in eisigem Schweigen. Auch den ganzen Weg zurück sagte Nico kein einziges Wort. Es war, als hätte sich eine dunkle Wand zwischen sie und ihre Eltern geschoben und keiner fand die Tür, um hindurchzugehen. Sie verstand ihre Eltern nicht. Aber was noch schlimmer war: Ihr Nein war endgültig, und sie erklärten noch nicht einmal, warum.

Zwei

In der Nacht wälzte sich Nico auf der vergeblichen Suche nach Schlaf in ihrem Bett herum. Sie war immer noch aufgewühlt von dem, was am Vormittag geschehen war. Jeden Satz, jede Szene war sie im Geist noch einmal durchgegangen, und nach wie vor konnte sie sich keinen Reim darauf machen, warum ihre Eltern so strikt gegen diese Erbschaft waren.

Ihren Vater hatten sie am Reisebüro abgesetzt, danach war ihre Mutter mit ihr nach Hause gefahren. Nico hatte sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert und gehofft, dass irgendwann jemand nach ihr sehen und ihr eine vernünftige Erklärung geben würde – vergeblich.

Am Abend hatte sie noch einmal versucht, das Gespräch auf Kiana zu bringen. Ihr Vater, genervt von dem Thema und der Stornierung einer großen Reisegruppe, hatte sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen und wollte nicht mehr gestört werden. Stefanie hatte wiederholt, was sie schon beim Notar gesagt hatte: Das Haus sei alt und Kiana in den letzten Jahren ihres Lebens nicht ganz richtig im Kopf gewesen.

»Warum hatten wir denn so gar keinen Kontakt mehr zu ihr?«

Stefanie zuckte mit den Schultern. »Sie hat wie ein Einsiedler gelebt und Siebenlehen kaum noch verlassen.«

»Dann hätten wir sie doch mal besuchen können.«

»Nico. Das passiert auch in den besten Familien. Man verliert den Kontakt zueinander und eines Tages ist es zu spät.«

»Tut es dir wenigstens leid?«

Stefanie, die gerade einen Stapel Teller aus der Geschirrspülmaschine geholt und ihn Nico weitergereicht hatte, wandte sich ab.

»Ja. Natürlich. Aber wir hatten es auch nicht leicht. Das Reisebüro hat von Anfang an schrecklich viel Arbeit gemacht. Und im Moment sieht es noch nicht einmal danach aus, als ob sie sich gelohnt hätte.«

»Dann verstehe ich euch erst recht nicht.«

»Wir hatten einen Streit.« Stefanie räumte das Besteck aus und sortierte es in der Schublade ein. »Es ging um dich und darum, dass sie unserer Meinung nach nicht gut genug auf dich aufgepasst hatte. Es war ein Zerwürfnis, das wir nie wieder kitten konnten. Alte Damen können so schrecklich nachtragend sein.«

»Das klang aber heute ganz anders.«

»Nein.« Stefanie schenkte ihr ein merkwürdiges, fast unechtes Lächeln. »So war das immer. Sie war unglaublich nett und lieb, aber in Wirklichkeit hat sie immer was im Schilde geführt. Noch haben wir die Verantwortung für dich.«

»In sechs Wochen nicht mehr! Es geht um vierundzwanzig Stunden!«

»Eben. Merkst du das nicht? Das ist doch kein Zufall. Sie ist im Sommer gestorben. Und erst jetzt, Monate später, kommt es zur Testamentseröffnung. Sie hat gewusst, dass wir das Erbe ablehnen und wie sehr dich das treffen wird. Hätte sie ihre Notarsankündigung nur um einen Tag nach hinten verschoben, wäre alles allein deine Entscheidung gewesen. Sie hat diesen Streit vorausgesehen. Und glaube mir – ich kann ihr Kichern hören, als sie alles genau so ihrem lieben Freund von Zanner in die Feder diktiert hat.«

Nico setzte sich auf den nächstbesten Küchenstuhl. »Das war Absicht?«

»Was sonst?«

Damit war das Gespräch beendet gewesen. Ihre Gedanken waren es aber keineswegs; sie rasten weiterhin durch Nicos Kopf und gaben ihr keine Ruhe. Nico setzte sich in ihrem Bett auf und knipste die Lampe an, ein billiges Modell von einem Möbeldiscounter, auf dem mehrere Schlümpfe Ringelreihen tanzten. Ihr ganzes Zimmer war ein Sammelsurium von Dingen aus verschiedenen Lebensabschnitten. An den Kindergarten erinnerte noch die Messlatte mit den Strichen neben der Tür. Den Schreibtisch hatte sie zur Einschulung bekommen, wobei man darauf geachtet hatte, dass er »mitwuchs«. Die Bücherregale wurden eigentlich nur noch durch die Bücher zusammengehalten, die sich in ihnen stapelten. Ihre Bettwäsche stammte aus der rosa Phase, die Vorhänge hingegen waren ein echtes eBay-Schnäppchen gewesen. Sie mochte ihr Zimmer. Die beiden kleinen Sessel hatte sie vom Flohmarkt, genauso wie den uralten Schemel, den sie zu einem Beistelltisch umfunktioniert hatte. Neben der Tür stand der Besen. Er passte zu ihr und er passte zu diesem Zimmer. Nur der Gedanke, dass Kiana sie alle zum Narren gehalten hatte, der passte überhaupt nicht.

Sie stand auf und schlich leise über den Flur in Richtung Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war fast ein Uhr nachts. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern und hoffte, sie würden nicht schon wieder über den Rechnungen sitzen. Auf dem Rückweg bemühte sie sich, besonders leise zu sein.

»Es war unverantwortlich. Wir hätten das niemals zulassen sollen.«

Ihr Vater. Nico blieb stehen, etwas Wasser schwappte über den Glasrand und tropfte auf den Boden.

»Es war ein Notartermin.« Stefanie. »Was hätten wir tun sollen? Ihn einfach unterschlagen? Irgendwie habe ich gehofft, sie würde eine wurmstichige Kommode kriegen und gut wär’s. Aber Schattengrund – das ist unfassbar. Sie hat versprochen, nie wieder Kontakt zu Nico aufzunehmen. Und sie hat sich sogar daran gehalten. Ich habe wirklich geglaubt, sie hält weiterhin ihr Wort, aber da sieht man mal, wie man sich irren kann. Ich kann nur hoffen, Nico wird es vergessen und verschmerzen.«

Nico wollte weitergehen.

»So wie damals?«, fragte ihr Vater. »Sie ist fast erwachsen. Wir hätten es ihr sagen sollen.«

»Nein!«

»Leise, Steff.«

»Nein.« Die Stimme ihrer Mutter wurde zu einem Flüstern. Nico lauschte angestrengt, aber mehr als ein paar Wortfetzen drangen nicht durch die Tür. »… die alten Wunden … nie wieder … die Schuld an allem …«

Offenbar machte ihren Eltern die Familienfehde mehr zu schaffen, als sie zugeben wollten.

»Sie war so krank. Wir mussten sie sogar aus der Schule nehmen und sie ein Jahr später einschulen … hängt ihr bis heute nach … darf es nie erfahren … sie ist darüber hinweg …«

Was durfte sie nie erfahren? Worüber war sie hinweg? Mit pochendem Herzen näherte sich Nico der Tür. Dabei knarrte eine Diele. Erschrocken huschte sie zurück in ihr Zimmer und löschte das Licht. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie hören konnte, dass ihre Mutter kurz in den Flur kam, um nachzusehen. Vorsichtig stellte Nico das Glas auf den Boden und wartete, bis es wieder still war.

Sie versuchte, das Puzzle aus Wortfetzen, das sie aufgeschnappt hatte, zusammenzusetzen, aber es gelang ihr nicht. Alte Wunden, etwas, an dem Kiana schuld war und das sie, Nico, wohl vergessen hatte. Sie hat nicht gut genug auf dich aufgepasst. War es das?

Oder die Krankheit? Sie wusste bis heute nicht genau, was sie gehabt haben sollte. Ein Nervenfieber, hieß es. Dabei hatten es Erstklässler eigentlich selten mit den Nerven. Manchmal betrachtete sie die Fotos von ihrer ersten Einschulung: Zart war sie gewesen, kleiner als die anderen. Wo will denn die Schultüte mit dem Mädchen hin?, hatte ihr Vater einmal im Scherz gesagt.

Von der zweiten Einschulung gab es keine Fotos. Und Nico konnte sich auch gar nicht mehr richtig daran erinnern. Ein verkorkster zweiter Anfang musste es gewesen sein. Sie hatte den Anschluss verloren und ihn nie so ganz wiedergefunden. In den ersten Jahren hatte die Außenseiterrolle noch geschmerzt, dann hatte sie sich daran gewöhnt. Sie war eben eine Einzelgängerin. Manchmal hatte es noch wehgetan, wenn die anderen sie links liegen ließen. Wenn sie bei der Mannschaftsauswahl im Sport immer als Letzte übrig blieb. Wenn die It-Girls der Klasse von ihren tollen Geburtstagspartys erzählten, zu denen sie nie eingeladen war. Aber sie hatte gelernt, damit zu leben. Ihre Freunde waren ihre Bücher, und als die Jungen endlich aufhörten, in prustendes Gelächter auszubrechen, sobald sie in die Nähe kam, wurde es auch mit dem Selbstwertgefühl besser. Sie war keine Schönheit, aber manchmal stand sie lange vor dem Spiegel, schaute sich in die Augen und dachte, irgendeinen wird es schon geben, der runde Gesichter und schnittlauchglatte Haare mag. Aber er ließ einfach verdammt lange auf sich warten.

Das wurde erst anders, als sie durch Zufall in diesem Schuljahr neben Valerie gelandet war. Valerie, die schon allein wegen ihrer Körperfülle zwei Drittel der Schulbank für sich beanspruchte und die das letzte Drittel in ihrer umwerfend frechen Art auch noch mit ihren Sachen zupflasterte. Sie war neu, und sie erklärte auch sofort, dass sie nicht einmal quer durch die Stadt umgezogen waren, weil sie eine Luftveränderung wollten, sondern weil sie einfach eine billigere Wohnung brauchten. Valeries freches Grinsen eroberte Nicos Herz im Sturm. Jemand, der so offen mit seiner desaströsen Lage umging, kam auch mit einer Loserin wie Nico als Sitznachbarin klar.

Seitdem war sie nicht mehr allein. Der Gedanke an ihre Freundin und wie sie am nächsten Morgen vor der Schule diese rätselhafte Geschichte durchhecheln würden, tröstete sie.

Nico kuschelte sich in ihr warmes Bett und versuchte, sich an den Duft von Kianas Apfelkuchen zu erinnern. An karamellisierten Zucker und warme Hefe, an Milch und Butterstreusel. Und an ein Lächeln im Gesicht einer Frau, die sich zu ihr hinunterbeugte und fragte: »Möchtest du ein Stück?« Fast schon im Traum erwiderte sie das Lächeln. Im letzten halbwachen Moment wunderte sie sich noch, warum sie sich bei dieser Frau so geborgen fühlte. Bei der Frau, die nicht gut genug auf sie aufgepasst hatte.

Drei

Der Winter kam viel zu früh und mit einer Wucht, die den Alltag aus den Angeln hob. Der November brachte erst die Kälte, dann den Schnee. Straßenbahnen blieben stecken, Züge mussten auf offener Strecke anhalten, weil die Oberleitungen eingefroren waren. Die Temperaturen kletterten nicht mehr über null, und wenn der Himmel einmal aufriss, warf eine bleiche Sonne ihr trübes Licht auf den Salzmatsch der Fahrbahnen und Gehwege.

Nach ein paar Tagen hatte Nico aufgegeben. Sie konnte ihren Eltern schlecht sagen, was sie in jener Nacht belauscht hatte, und versuchte auf allen erdenklichen rhetorischen Umwegen, trotzdem mehr zu erfahren. Aber jedes Mal, wenn sie mit dem Thema anfing, erntete sie die gleiche Antwort: Keine Diskussionen, das war nichts anderes als Kianas letzter verrückter Scherz. Schließlich musste sich Nico eingestehen, dass ihre Großtante den Notartermin tatsächlich äußerst hinterhältig angesetzt und sie damit alle noch einmal in einen netten Familienzwist verwickelt hatte. In ihrem Herzen lieferten sich Resignation und Aufbegehren einen unentschiedenen Kampf. Als die sechs Wochen sich langsam dem Ende zuneigten, versuchte sie noch einmal, das Ruder mit einer Charmeoffensive herumzureißen – vergeblich.

»Lecker«, stöhnte ihr Vater nach der dritten Portion Lasagne, für die Nico einen ganzen Nachmittag in der Küche gestanden hatte. »Aber wir fahren nicht nach Siebenlehen.«

»Das ist aber nett von dir!«, rief ihre Mutter und strahlte, als sie sogar ihre Kniestrümpfe gebügelt im Schrank vorfand. »Aber es ändert nichts an unserem Entschluss.«

Die Einzige, die für Nicos Lage Verständnis zu haben schien, war Valerie. »Echt weird«, kommentierte sie den Zustand im Hause Wagner.

Valerie schloss die Tür ihres Spindes, die Turnschuhe in der Hand. Sportunterricht mochte sie genauso gerne wie Kakteen küssen. »Und sie lassen immer noch nicht mit sich reden?«

»Ich hab alles versucht.« Nico streifte sich ein Tanktop über. »Das sind die längsten sechs Wochen meines Lebens. Jeder Tag ist ein verlorener Tag.«

Valerie war über die Frist und deren gnadenlosen Ablauf bestens informiert. »Ein Tritt in den Hintern vom Schicksal persönlich. Hast du mal auf deiner Geburtsurkunde nachgesehen, ob da kein Fehler passiert ist?«

»Haha.«

Nico stopfte ihre Sporttasche in den Spind und schlug die Tür zu. Es war Freitag. Das erste Adventswochenende stand an. Damit brachen die letzten Tage an, bevor endgültig Schluss war mit dem kurzen Traum vom eigenen Haus, mochte es noch so wurmstichig und zerfallen sein. Gemeinsam drängten sie sich an ihren Klassenkameraden vorbei in die Sporthalle. An die blöden Sprüche, wenn die beiden ungleichen Freundinnen auftauchten – Gurke und Kürbis waren noch die nettesten Kommentare –, hatten sie sich längst gewöhnt. Ab und zu gab Valerie charmante Antworten. »Lieber Kürbis als Mixed Pickels, meine Schöne. Autsch, der da auf deiner Stirn sieht ja echt aus, als stünde er kurz vorm Platzen!«

Mit Valerie hatte Nico gelernt, über Spott zu lachen. Seit sie das konnte, ging alles viel einfacher. Und je mehr sie zusammen lachten, desto seltener wurden auch die Verbalattacken. In diesem Schuljahr hatten sie sogar fast ganz aufgehört.

»Und wenn du sie vor vollendete Tatsachen stellst?«, fragte Valerie.

»Wie meinst du das?«

»Einfach hinfahren. Wenn es wirklich ein blöder Scherz war mit diesen drei Rätseln und die Hütte auseinanderfällt, hast du dich wenigstens selbst davon überzeugt.«

Nico blieb stehen. »Das erlauben sie mir erst recht nicht. Völlig ausgeschlossen.«

Valerie schenkte dem Baseballnetz in der Mitte der Halle einen resignierten Blick. Mannschaftsspiele waren ihr Waterloo.

»Liebelein, weißt du eigentlich, was dich und mich unterscheidet?«

Nicos Blick blieb, ohne dass sie es wollte, an Valeries ausladenden Hüften hängen.

»Äh … nein?«

Valerie grinste. Sie sah aus wie ein gütig lächelnder Mond, aber in ihren Augen blitzte der Schalk. »Äußerlich trennen uns nur zwanzig unwesentliche Kilos. Aber innerlich sind es Welten. Ich würde mir eine Woche vor meinem Achtzehnten nicht mehr sagen lassen, was ich zu tun und zu lassen habe.«

Ein schriller Pfiff zerriss die Unterhaltung. Henne, der Sportlehrer, ein drahtiger kleiner Mann, lief zum Netz und verharrte dort, tänzelnd wie ein Boxer. Der Geräuschpegel sank ein wenig, alle trotteten auf ihn zu. Nur Valerie blieb stehen, nahm Nicos Arm und hielt sie zurück.

»Ich hab’s dir schon hundertmal gesagt: Pack deine Sachen und fahr los.«

»Und ich hab dir hundertmal geantwortet: Das geht nicht! Die kriegen das doch sofort mit.«

»Nicht, wenn du angeblich das Wochenende bei mir bleibst. Ich halte dir den Rücken frei. Bis Montagabend. Das sind drei Tage, Schätzchen.«

Wieder ein Pfiff. Die letzten Nachzügler gesellten sich zu Henne, der gerade die Mannschaften einteilte. In Nicos Kopf überschlugen sich die Gedanken. Mit etwas Glück könnte sie schon am Nachmittag im Harz sein und die erste Aufgabe lösen – irgendetwas fegen. Die Einfahrt. Treppen, den Bürgersteig. Ein Foto mit dem Handy müsste als Beweis genügen. Samstag könnte sie den Stein zurückbringen – wohin auch immer. Wahrscheinlich reichte es, wenn sie ihn in den Straßengraben warf. Nur die halbe Postkarte dürfte schwierig werden. Aber die Leute dort würden bestimmt wissen, was es mit den romantischen Meisterwerken des Harzes so auf sich hatte.

»Und wie komme ich da hin? Ich hab doch gar keine Peilung, wo dieses Siebenlehen eigentlich liegt.«

Valerie verdrehte die Augen. »Es soll so etwas wie Fahrplan-Apps geben.«

»Und es soll sogar Handys geben, die sie auch kriegen«, knirschte Nico.

Noch ein Pfiff. Laut, schrill und lang. »Die beiden Damen?«, rief Henne. »Wenn Sie sich eventuell zu uns bemühen könnten?«

Valerie, die Beth Ditto der Abiturientenklasse, tänzelte als Letzte zu Mannschaft Nummer eins.

»Später«, flüsterte Nico ihr zu, bevor sie auf die andere Seite des Netzes zu ihrer Gruppe ging. »Komm heute Nachmittag zu mir.«

Der Rest des Schultags flog irgendwie an Nico vorbei. Valeries Begeisterung schien alles so einfach zu machen. Sie waren oft an den Wochenenden zusammen. Keiner würde Verdacht schöpfen. Trotzdem war Nico bei dem Gedanken unwohl, ihre Eltern so zu hintergehen. Und wenn schon, dachte sie trotzig. Valerie hat recht. Es gibt keinen Grund, sich das Haus nicht wenigstens mal anzusehen.

Kurz nach vier stand Valerie vor der Tür und die beiden Freundinnen verzogen sich schneller als sonst in Nicos Zimmer. Sie hatten es sich gerade auf dem Bett gemütlich gemacht hatten, als es klopfte. Die Tür öffnete sich und Stefanie steckte den Kopf durch den Spalt.

»Hier. Frisch gewaschen.«

Sie hielt ihrer Tochter einen Stapel Pyjamas entgegen. Nico sprang auf.

»Hallo, Valerie! Wie geht’s?«, fragte Stefanie.

»Gut«, murmelte Valerie. Zu ihren Füßen stand eine Reisetasche.

Nicos Mutter betrat den Raum. »So viel für ein Wochenende?« Misstrauisch musterte sie den dicken Winterpulli und die zweite Jeans, die Nico wüst zerknäult in die Tasche gestopft hatte.

»Wir gehen morgen ins Hallenbad. Und am Sonntag fahren wir vielleicht an den Baggersee, Schlittschuhlaufen.« Nico warf Valerie einen scharfen Blick zu, den ihre Mutter hoffentlich nicht mitbekam.

»Ja, Schlittschuhlaufen.« Ihre Freundin nickte eifrig. »Ich will mal wieder was für meine Silhouette tun.«

»Ich dachte, ihr wolltet für die Klausuren lernen.«

»Das tun wir auch.« Nico nahm die Pyjamas und warf einen von ihnen gleich zu ihren Reisesachen dazu. »Aber zwischendurch muss man mal den Kopf freikriegen.«

Sie wich dem Blick ihrer Mutter aus. Es fiel ihr so verdammt schwer, sie zu belügen. Nico wusste nicht, wann sie das zum letzten Mal getan hatte. Schwindeln, ja, das kam öfter vor. Bus ausgefallen, wenn man zu spät nach Hause kam. Keine Zeit gehabt, wenn die Wäsche immer noch nicht aufgehängt war. Schwindeln war kinderleicht und nichts, was die Welt ins Wanken brachte. Aber lügen, bewusst anlügen, war eine andere Nummer.

»Dann denk aber auch an deinen Badeanzug.« Stefanie deutete auf das bewusste Teil unten im Schrank. Nico nahm es und packte es zu den anderen Sachen in die Reisetasche.

Ich kann alles noch abblasen, dachte sie, während sie den Stapel Pyjamas wegräumte. Ihre Mutter war schon wieder an der Tür. Täuschte Nico sich oder streifte Stefanie wirklich den Besen in der Ecke neben dem Bett mit einem kurzen kontrollierenden Blick?

»Ich wünsche euch viel Spaß.« Stefanie lächelte. Aber Nico kam es so vor, als ob auch an diesem Lächeln etwas nicht stimmen würde. »Pass auf dich auf.«

»Mach ich.«

Ihre Mutter wartete noch einen winzigen Moment. Vielleicht auf einen Satz oder eine Geste, die den Hauch von Befangenheit, der in der Luft lag, aufgelöst hätten. Als beides nicht kam, schloss sie die Tür.

»Ich kann das nicht.« Nico ging zurück zum Bett und ließ sich neben Valerie fallen. Valerie legte den Arm um sie und zog sie kurz an sich. Das tröstete. Aber es machte die Lüge nicht ungeschehen.

»Dann bleibst du eben hier. Mir ist es egal, wie du dich entscheidest. Aber du musst hinterher damit leben können. Ich will nicht jahrelang dein Geheule hören, weil du diese Chance verpasst hast.«

»Werd ich nicht.«

»So?« Valerie ging auf eine Armlänge Abstand. »Da bist du dir ganz sicher? Du fügst dich, vergisst alles, und dieses Ding da …« Mit einem Nicken wies sie auf den zerfransten Besen, »…schmeißt du noch heute in den Müll?«

»Bestimmt nicht. Es ist das Einzige, das mich an Tante Kiana erinnert. Na ja, fast das Einzige.«

Valerie ließ sie los. Nico streckte sich und nahm den Besen in die Hand. Er verlor schon wieder ein paar Halme Stroh.

»Komisch. Jedes Mal, wenn ich ihn anfasse, habe ich das Gefühl, er will mir was sagen.«

Valerie grinste, legte den Kopf schief und hielt sich eine Hand ans Ohr.

»Ich höre nichts. Halt! … Ja, jetzt. Leise! Schschsch … Du faule Socke, ich hör’s genau! Du faule, feige Socke …«

Nico hob den Besen, Valerie quietschte auf und wehrte den Schlag mit beiden Händen ab. Stroh, Staub und Dreck rieselten auf den Bettüberwurf. Ein paar kurze Halme blieben in Valeries hellbraunem Pagenkopf hängen.

»Mensch, Nico.« Sie lachte und fieselte sich das Stroh aus den Haaren. »Du bist erwachsen. Du kannst selbst entscheiden.«

Nico ließ mutlos den Besen sinken.

»Zeig mir noch mal den anderen Kram.«

Nico zog die Nachttischschublade auf, holte den Stein und die halbe Postkarte heraus und reichte beides an Valerie weiter.

»Ich hab es gedreht und gewendet. Nichts. Keine Geheimschrift, keine Runen. Wenn es wenigstens eine ganze Postkarte gewesen wäre. Aber noch nicht mal dazu hat es gereicht.«

Ihre Freundin betrachtete das Foto mit gerunzelter Stirn. »War sie wirklich irre, deine Tante?«

»Ich weiß es nicht. Eher so was wie das schwarze Schaf. Meine Oma hatte sechs Geschwister. Die meisten sind vor dem Mauerbau in den Westen gegangen. Nur Kiana nicht. Sie wollte Schattengrund nicht alleine lassen.«

»Dann kommst du eigentlich aus dem Harz?«

»Meine Großmutter. Nicht ich. Nach der Wende hat Oma wohl versucht, die Familie wieder zusammenzukriegen. Aber es hat nicht richtig geklappt. Kiana wollte wohl nicht. Als kleines Kind war ich ein paar Mal in den Ferien bei ihr. Und dann nie mehr. Ich habe gar nicht gewusst, dass sie noch so lange gelebt hat. Sie war irgendwie verschwunden aus unserem Leben. Total verschwunden.«

Nico starrte auf den Besen in ihren Händen. Konnte man um einen Menschen trauern, den man kaum gekannt hatte? Das, was sie fühlte, kam der Trauer jedenfalls verdammt nahe. Aus diesem Grund hatte sie ihrer Freundin auch verschwiegen, dass wohl vor langer Zeit irgendetwas vorgefallen sein musste, das ihre Familie mit Kiana entzweit hatte. Es wäre ihr wie ein Verrat von Familiengeheimnissen vorgekommen. Auch wenn sie keinen blassen Schimmer hatte, um was es bei den geflüsterten Andeutungen ihrer Eltern eigentlich gegangen war.

»Ich glaube, meine Mutter und ich waren die Einzigen, die Kiana besucht haben. Das ist schon so lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann.«

»Und aus diesem Grund hat sie ausgerechnet dir das Haus vermacht?«

Nico seufzte. »Ich weiß es nicht. Warum nicht meiner Mutter? Warum nicht irgendwelchen anderen Verwandten?«

»An wen fällt denn das Haus, wenn du es nicht nimmst?«

»Vielleicht an den Tierschutzverein.« Nico stand auf und stellte den Besen wieder zurück. »Ich werde es wohl nie erfahren.«

Valerie legte den Rest des großartigen Erbes in die Schublade zurück.

»Mein Angebot steht. Wir nehmen jetzt deine Tasche, verlassen das Haus, fahren zum Bahnhof und lösen eine Fahrkarte nach Siebenlehen. Und während du deine merkwürdigen Rätsel löst, halte ich dir hier den Rücken frei. Und Montag konfrontierst du deine Eltern damit, dass das Haus dir gehört. Sie müssen nur noch nicken.«

Nicos Gesicht leuchtete auf. »Komm mit! Zu zweit schaffen wir das locker.«

»Das geht nicht. Jemand muss bei meiner Mom Tag und Nacht neben dem Telefon sitzen, um die viertelstündlichen Kontrollanrufe deiner Eltern entgegenzunehmen.«

»Wo ist sie?«

»Frühschicht.«

Valeries Mutter hatte nach Jahren der Arbeitslosigkeit einen Job im Warenlager eines Discounters bekommen. Harte Arbeit, frühes Aufstehen, wenig Fragen.

»Wenn du jetzt fährst, bist du heute Abend noch im Harz. Drei Tage. Nico, mehr brauchst du nicht. Einen für jede Aufgabe. Und wenn sich herausstellt, dass das Ding eine Bruchbude ist und deine Tante einen an der Waffel hatte, umso besser. Dann bist du wieder da, keiner hat was gemerkt, und du kannst weiter brave Tochter spielen. Deine Eltern werden dich lieben.«

»Und wie krieg ich den hier raus, ohne dass sie was merken?« Sie wies auf den Besen.

Valerie wuchtete sich hoch und nahm ihren Daunenmantel von Nicos Schreibtischstuhl. Er war lang und ehrlich gesagt auch breit genug, um Teil eins von Kianas seltsamem Erbe zu verbergen. »Lass mich mal machen.«

Sie wühlte in den Jackentaschen nach ihrem Handy. Als sie es endlich gefunden hatte, tippte sie darauf herum und hielt das Ergebnis Nico unter die Nase. »Magdeburg, Halberstadt, Blankenburg, Altenbrunn. Deine Reiseroute. Bei Bedarf fährt der Bus weiter nach Siebenlehen. Musst du aber vorher sagen, sonst lässt er das Kaff links liegen.«

Misstrauisch beäugte Nico die ellenlange Fahrplanauskunft auf dem Display.

»Sechs Stunden Fahrtzeit?«

Valerie wischte auf dem Display herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.

»Siebenlehen. Erstmals als Hüttenort erwähnt 1520 zur Zeit des großen Berggeschreys. – Das ist so eine Art Goldrausch, nur dass es dabei um Silbererz ging. – Der Name geht zurück auf insgesamt sieben Höfe, die einstens Markgraf Eckhardt gehörten und Teil von Todtenrode waren. – Also Fantasie bei ihren Ortsnamen haben sie, das muss man ihnen lassen. – Alte Erzgänge sollen noch durch den Ramberg von Siebenlehen bis Altenbrunn führen. Einer übrigens direkt in den Kyffhäuser zu, na, du weißt schon wem.«

»Barbarossa?«

»Jep. 1867 wurde die letzte Hütte geschlossen. Die Bevölkerung verarmte und zog weg. Erster Aufschwung erst nach der Wende mit Tourismus. Erwähnenswert wäre das Gasthaus zum Schwarzen Hirschen.«

»Und?«

»Was und?«

»Ist sonst noch was erwähnenswert?«

Valerie ließ das Handy zurück in ihre Anoraktasche gleiten. »Nein. Da möchte ich nicht tot überm Zaun hängen.«

Vier

Es schneite. In Halberstadt hatte es begonnen, und je länger der Bus sich durch die Nacht und über schneeverwehte gewundene Straßen quälte, desto dichter fielen die Flocken. Glücklicherweise arbeitete die Heizung auf Hochtouren. Die Scheiben waren beschlagen, und jedes Mal, wenn Nico ein Gucklock frei rieb, wuchs es in wenigen Minuten wieder zu. Es gab sowieso nichts zu sehen. Je höher sie kamen, desto einsamer wurde es. Die Scheinwerfer des Busses reichten gerade so weit, dass der Fahrer die nächsten Meter der Piste erkennen konnte. Ab und zu schnitten die Lichtkegel Bilder von tief hängenden Tannenzweigen aus der Dunkelheit, von schroffen Felswänden und uralten niedrigen Mauern – Schutz vor besonders gefährlichen Abgründen.

Irgendwann erreichten sie eine Weggabelung und es ging wieder bergab. Außer Nico saß noch rund ein halbes Dutzend weiterer Fahrgäste im Bus. Sie dösten oder lasen im schummrigen Licht ein Buch oder eine Zeitung. Außer ihr hatte niemand eine Reisetasche dabei.

Der Bus gewann an Fahrt. Nico hielt sich instinktiv an der Vorderlehne fest, denn bei diesen Wetterverhältnissen war es ein fast halsbrecherisches Tempo. Sie hielt den Blick auf den Boden geheftet. Jedes Mal, wenn der Fahrer eine Kurve mit Karacho nahm, hatte sie Angst, sie würden über die Leitplanke hinaus direkt in die Tiefe stürzen. Tatsächlich fiel einmal der Besen aus der Gepäckablage. Eine Frau in einem dicken Alpakamantel reichte ihn ihr mit einem merkwürdigen Blick zurück. Endlich wurde der Bus langsamer. Der Motor heulte noch einmal auf und eine erste Straßenlaterne leuchtete von ferne wie eine Verheißung von Ankunft und Wärme.

»Altenbrunn«, schepperte es durch den Lautsprecher.

Die wenigen Mitfahrer sammelten ihre Siebensachen ein. Nico wischte das Fenster wieder frei. Sie sah Fachwerkhäuser mit schwarz verharzten Balken, Türmchen und Giebeln. Hinter manchen Fenstern brannte Licht. Das sah wunderschön und gemütlich aus. Nico wünschte, sie würde in einem dieser Häuser erwartet.

Der Bus hielt mit keuchenden Bremsen am Marktplatz.

»Sankt Ritter!«

Alle stiegen aus. Nur Nico blieb zurück. Der Motor erstarb mit einem Zittern, der Busfahrer drehte sich zu ihr um.

»Und nu?«

»Ich wollte nach Siebenlehen.«

Der Fahrer brummte etwas vor sich hin und angelte nach seiner Winterjacke, die er hinter dem Sitz verstaut hatte.

»Wie bitte?«

»Geht nicht mehr«, sagte er. »Die Straße ist gesperrt. Tut mir leid, da müssen Sie wohl laufen, Frolleinchen.«

Das Frolleinchen in Nico reagierte bestürzt.

»Laufen?«

»Jawoll. Fortbewegungsart. Einen Fuß vor den anderen. Sind nur zwei Kilometer. Aber der Bus schafft das nicht mehr. Endstation. Morgen früh um fünf kommen die Räumfahrzeuge, dann fahren wir auch Siebenlehen wieder an.«

»Warum haben Sie mir das denn nicht gleich gesagt?«

Der Fahrer wies auf das Schneegestöber. »Bin ich Petrus? Das kommt im Winter öfter vor. Was wollen Sie denn in Siebenlehen?«

»Ich … ähm …« War es klug, einem Wildfremden zu sagen, was sie vorhatte? »Ich hab ein Zimmer im Schwarzen Hirschen.«

»Und da holt Sie keiner hier ab? Die haben doch alle Schneeketten. Sehen Sie da oben das Haus?«

Nico folgte seiner ausgestreckten Hand und drehte sich um.

»Das ist der Brunner Jodlermeister. Die haben Zimmer. Da können Sie auch telefonieren.«

»Danke. Ich hab ein Handy.«

»Das ist hier nicht das gleiche. Also?«

Nico nahm den Besen, hängte sich ihre Messenger-Bag quer über die Brust, angelte nach ihrer Tasche und stieg aus. Flaumiger, weicher Neuschnee lag knöchelhoch auf dem festgefrorenen Boden. Sie folgte den Fußspuren der anderen, die schon längst in alle Richtungen verschwunden waren. Der Busfahrer stieg aus, schlüpfte in seine Jacke und verschloss die Tür. Die Hydraulik seufzte.

»Gute Nacht!«, rief er ihr zu und stapfte in die Dunkelheit.

»Gute Nacht«, murmelte Nico.

Es war gerade mal sieben Uhr. Sie sah sich um. Hinter ihr stand ein Wartehäuschen. Sie stapfte darauf zu in der Hoffnung, einen Plan der näheren Umgebung zu finden. Es schien noch kälter geworden zu sein. Nicos Atem bildete weiße Wolken. Die Flocken verwandelten sich in Kristalle und der Schnee funkelte im Licht der einzigen Straßenlaterne wie Diamantenstaub.

Tatsächlich war hinter dem Glas so etwas wie eine Wanderkarte angeheftet. Altenbrunn war kein rundes, sondern ein in die Länge gezogenes Dorf, das sich ans Ufer des Flüsschens Bode schmiegte. Die Straße führte in den Ort hinein und dann in Schlangenlinien weiter hinauf in die Berge. Die nächste Ansiedlung war Siebenlehen.

Nico checkte ihr Handy. Ein Anruf ihrer Mutter, zwei von Valerie, eine SMS. Wahrscheinlich hatte sie während der Fahrt keinen Empfang gehabt. »Gut angekommen? Melde dich! Vallie«. Mit Handschuhen war es unmöglich, eine Antwort zu tippen. Nico ließ das Gerät zurück in die Tasche gleiten und trat noch einmal an den Plan, um sich zu orientieren. Ein rotes Kreuz markierte den Punkt, an dem sie stand. Wenn sie sich nach rechts drehte und der Straße folgte, würde sie über kurz oder lang direkt in Siebenlehen landen. Stramm marschiert eine knappe halbe Stunde. Sie schulterte ihre Tasche, packte den Besen und ging los.

Innerhalb weniger Minuten hatte sie den Dorfrand hinter sich gelassen. Die Dunkelheit umschloss sie wie ein Tunnel. Kein Mond, keine Sterne waren durch die dichte Wolkendecke zu entdecken. Erst allmählich gewöhnten sich Nicos Augen an das wenige Licht, das der Schnee noch reflektierte. Die Straße verengte sich, wurde zu einem Weg, der kaum noch zwei Autos aneinander vorbeigelassen hätte, und ging bergauf. Riesige Tannen mit tief hängenden Zweigen standen eng beieinander. Der Wald rückte so nah an die letzten Streckenpfosten heran, dass er eine fast undurchdringliche Wand bildete. Nico legte einen Zahn zu. Ihr wurde warm unter der dicken Jacke. Die Tasche schien ihr Gewicht verdoppelt zu haben. Den Besen schleifte sie hinter sich her. Einmal blieb sie kurz stehen und schaute zurück. Die Straße hinunter nach Altenbrunn verschwand hinter einer sanften Biegung im Dickicht, vor ihr schlängelte sie sich weiter hinauf in die Dunkelheit. Kein Licht weit und breit.

Nico holte ihr Handy heraus und stellte fest, dass sie schon wieder keinen Empfang hatte. Zwanzig Minuten war sie jetzt unterwegs. Siebenlehen konnte nicht mehr weit entfernt sein. Doch die Strecke zog sich. Es ging noch steiler hinauf. Mehrmals geriet sie ins Rutschen. Einmal konnte sie sich gerade noch an einem Tannenzweig festhalten, was zur Folge hatte, dass gefühlte zehn Tonnen Schnee auf sie herunterprasselten. Jeder Schritt wurde zu einer gewaltigen Anstrengung. Entweder war sie vom Weg abgekommen oder hier oben hatte man seit Tagen nicht mehr geräumt. Die halbe Stunde war längst verstrichen.

Als sie ihr Handy noch einmal herausholte, zitterten ihre Hände so stark, dass es ihr hinunterfiel und sie ohne Handschuhe danach suchen musste. Als sie es endlich gefunden hatte, glaubte sie, ihre Finger wären erfroren. Eine knappe Stunde war sie nun schon unterwegs. Sie hätte längst in Siebenlehen sein müssen. Der Gedanke, dass sie in die Irre gelaufen war, ließ ihr die Tränen in die Augen schießen. Was sollte sie tun? Umkehren? Der Schnee reichte ihr fast bis zum Knie. Ihre Jeans war schon völlig durchnässt, und langsam, ganz langsam keimte in Nico der Verdacht, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, ganz allein ins Ungewisse aufzubrechen.

Das Motorengeräusch kam aus weiter Ferne. Erst klang es wie eine wütende Hummel, dann wurde es lauter. Jemand arbeitete sich gerade genauso wie sie von Altenbrunn nach Siebenlehen durch. Mit dem Unterschied, dass dieser Jemand einen Jeep oder etwas ähnlich Kraftvolles über den fast unpassierbaren Weg nach oben quälte. Immer wieder jaulte der Motor auf. Nico blieb keuchend stehen. Sie sah Scheinwerfer durch die Baumstämme blitzen, verschleiert von dichter fallenden Flocken. Sie blieb in der Mitte des Weges stehen, ließ Besen und Tasche fallen und wartete.

Der Wagen pflügte sich um die Ecke und hielt direkt auf sie zu. Nico hob die Arme und winkte, aber der Fahrer schien sie nicht zu sehen.

»Hallo!«, schrie sie. Aber wie sollte er sie hören? Im grellen Licht sah sie nur noch eine wirbelnde weiße Wand. »Hallo?«

Die Lichter kamen näher, noch näher. In letzter Sekunde warf sich Nico zur Seite. Der Aufprall im Schnee war hart. Sie hörte brechendes Holz und ein dumpfes Poltern – wahrscheinlich hatte dieser Irre auch noch ihre Reisetasche auf dem Gewissen –, rasselnde Schneeketten, ein letztes Aufbäumen des Motors, eine quietschende Bremse, das Schlagen einer Tür. Sie lag volle Breitseite mit dem Gesicht in einer Schneewehe und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Schritte näherten sich. Es hörte sich an, als liefe jemand durch quietschendes Plastikpulver.

»Alles in Ordnung?« Eine Männerstimme, jung. Anfänger. Vollpfosten.

Nico stützte sich auf die Arme, prustete, schüttelte sich, rieb sich den Schnee aus dem Gesicht und hob die Hand vor die Augen. Sogar die Rücklichter des Wagens blendeten noch. Ihr wurde bewusst, dass sie aussehen musste wie ein Yeti. Sie rang nach Luft und nach Worten, als er noch einen Schritt auf sie zutrat und sie am Arm packte.

»Sind Sie völlig verrückt geworden? Haben Sie sich verlaufen? Kein Mensch nimmt bei diesem Wetter den Wanderweg auf den Brocken!«

Mühsam kam sie mit seiner Hilfe auf die Beine. Er ließ sie los. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie spürte, dass er unsicher geworden war. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, eine Siebzehnjährige über den Haufen zu fahren. Besser gesagt: eine Achtzehnjährige minus drei Tage, dachte sie trotzig.

»Der Brocken? Wo?« Mehr fiel ihr nicht ein. Sie wollte nach Siebenlehen, nicht mitten in der Nacht auf einen Gipfel. Wahrscheinlich hatte er sich verfranst. Aber da konnte sie ihm auch nicht weiterhelfen.

Er trat zurück. Sie erkannte die schlanke, hochgewachsene Silhouette eines Bergsteigers. Oder Schlittenhundführers. Oder Polarkreisexpeditionsteilnehmers. Er trug einen dicken, wattierten Anorak mit Kapuze, eine Wollmütze mit Ohrenklappen und kniehohe, extrem derbe Stiefel.

»Sprechen Sie deutsch? German? English? Français?«

Der Schnee auf ihrem Gesicht taute. Das Wasser lief ihr die Wangen hinunter. Offenbar hielt er sie für eine durchgeknallte Touristin, die in stockdunkler Nacht auf den höchsten Berg Norddeutschlands klettern wollte. Er machte eine Bewegung und der Lichtstrahl einer Taschenlampe traf ihre Augen. Sie hob die Arme vors Gesicht, weil er sie wieder blendete. Wahrscheinlich war ihr Mund eingefroren, denn während er den Lichtkegel an ihrer Gestalt herunterwandern ließ, ballte sich die Wut in ihr. Was fiel diesem Kerl eigentlich ein?

»Come on.« Er drehte sich weg und leuchtete die völlig verschneite Straße ab. »We’ll pick up your bag and I will bring you back to Altenbrunn. Crazy.«

»Ich will nicht nach Altenbrunn.« Sie hatte das Gefühl, ihre Kiefer müssten erst einmal auftauen.

Der Mann leuchtete ihre Tasche an und ging entschlossen darauf zu. Nico folgte ihm. Die Reifenspur ging quer über den Baumwollstoff. Der Reißverschluss hatte dieser Beanspruchung nicht standhalten können. Er war aufgeplatzt und zu Nicos Entsetzen fielen beim Aufheben ihr Pyjama und ein Paar Hausschuhe heraus – die dicksten, wärmsten, die sie besaß. Dunkelblauer Plüsch mit je einem Bärchenkopf an der Fußspitze und entzückenden, treuen Knopfaugen aus Glas. Sie hatte sie nie getragen. Und sie schwor sich in diesem Moment, in dem ihr merkwürdiger Retter ein Schnauben ausstieß, das sich verdächtig nach einem unterdrückten Lachen anhörte, es auch niemals zu tun.

»Hier«, sagte er. »Sie haben noch etwas verloren. Einen … ähm … Badeanzug?«

Sie riss ihm das Teil aus der Hand. »Ja. Danke. Ich will nach Siebenlehen. Lassen Sie sich nicht aufhalten. Weit kann es ja nicht mehr sein.«

Sie stopfte alles in die total ramponierte Tasche zurück. Etwas schepperte. Wahrscheinlich war der MP3-Player samt Zahnbürste ein Fall für den Müll. Aber sie wäre lieber gestorben, als den Rest ihrer Habe hier vor diesem rücksichtslosen Wilderer auszubreiten.

»Da sind Sie aber ganz schön auf dem Holzweg. Wohl nicht in die Wanderkarte geguckt, was?«

Konnte er nicht einfach seinen Mund halten? Sie klemmte die Überreste ihrer Tasche unter den Arm und sah sich suchend um.

»Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit. Ich muss da nämlich auch hin.«

»Mit einem Jeep über den Wanderweg? Wohl kein Navi dabei, was?«