Schattenjunge - Carl-Johan Vallgren - E-Book

Schattenjunge E-Book

Carl-Johan Vallgren

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Beschreibung

Vallgren macht süchtig

In den überfüllten Gängen der Stockholmer U-Bahn versucht ein Vater, mit seinen Kindern den Zug zu erreichen. Sie sind spät dran, der Jüngste im Kinderwagen brüllt, sein siebenjähriger Bruder weigert sich, mit dem Fahrstuhl zu fahren. Er quengelt so lange, bis eine fremde Frau anbietet, ihn die Treppe mit hinaufzunehmen. Widerstrebend willigt der Vater ein. Er sieht seinen Sohn nie wieder. Viele Jahre später verschwindet auch der Bruder des Jungen unter mysteriösen Umständen. Danny Katz wird von der Frau des Verschwundenen auf den Fall angesetzt. Und er ist nicht allein. Je tiefer er in die Machenschaften eines mächtigen Familienimperiums eintaucht, umso komplexer wird der Fall.

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Seitenzahl: 467

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Das Buch

In den überfüllten Gängen der Stockholmer U-Bahn versucht ein Vater, mit seinen Kindern den Zug zu erreichen. Sie sind spät dran, der Jüngste im Kinderwagen brüllt, sein siebenjähriger Bruder weigert sich, mit dem Fahrstuhl zu fahren. Er quengelt so lange, bis eine fremde Frau anbietet, ihn die Treppe mit hinaufzunehmen. Widerstrebend willigt der Vater ein. Er sieht seinen Sohn nie wieder. Viele Jahre später verschwindet auch der Bruder des Jungen: Joel Klingberg, Erbe eines mächtigen Familienimperiums. Seine Frau beauftragt Danny Katz, der gemeinsam mit Klingberg in der Armee gedient hat, nach ihrem Mann zu suchen. Unterstützung erhält Katz von Eva Westin, einer Freundin aus Jugendtagen, die heute Staatsanwältin ist. Die beiden finden tatsächlich heraus, was mit Joel und seinem Bruder geschehen ist. Doch der Preis, den sie dafür bezahlen müssen, ist hoch.

Der Autor

Carl-Johan Vallgren zählt zu den bekanntesten und beliebtesten Autoren Schwedens. 1964 in Linköping geboren, veröffentlichte er 1987 seinen ersten Roman. 2002 erhielt er für Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe den renommierten August-Preis für den besten Roman des Jahres. Mit diesem Buch gelang ihm der internationale Durchbruch, es wurde in 25 Sprachen übersetzt und stürmte in vielen Ländern die Bestsellerlisten. Neben der Literatur ist Vallgren auch als Musiker aktiv. Nach Stationen in Madrid und Kopenhagen, lebte Vallgren von 1993 bis 2003 in Berlin und ist heute mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Stockholm zu Hause. Schattenjunge ist sein erster Spannungsroman.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Skuggpojken

bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.Der Roman wurde in Schweden unter dem Autorennamen Lucifer veröffentlicht.

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das kompletteHardcore-Programm, den monatlichen Newslettersowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazinmit Themen rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter facebook.com/heyne.hardcoreDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2013 by Carl-Johan Vallgren

Copyright © 2014 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Published by agreement with Hedlund Agency

Redaktion: Nike Müller

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel/punchdesign, München Umschlagabbildung: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Igor Kovalchuk, Iakov Filimonov)

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-14295-7V003

www.heyne-hardcore.de

Stockholm 1970

Er hatte die Linie 49 genommen, den Bus von Stadshagen, sein Jüngster schlief im Kinderwagen. Es war Anfang Juni. Der siebte, genauer gesagt. Dieses Datum würde er den Rest seines Lebens nicht vergessen.

Sein älterer Sohn ging neben ihm und hielt sich am Kinderwagenverdeck fest. Die kleine braune Hand war klebrig von den Süßigkeiten, die er auf dem Kindergeburtstag gegessen hatte. Gerade hatte er noch über Bauchschmerzen geklagt und gemeint, spucken zu müssen, aber jetzt an der frischen Luft schien es ihm deutlich besser zu gehen.

Sie waren an der Haltestelle am Nordenflychtsvägen ausgestiegen. Während sie darauf warteten, dass der Bus davonfuhr und sie die Straße überqueren konnten, las er die Schlagzeilen der Abendzeitungen vor dem Laden. Das Aftonbladet hatte ein Foto von der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko auf der Titelseite. Finstere Mienen bei den schwedischen Spielern nach ihrer Niederlage gegen Italien im Gruppenspiel. Ove Grahn sprach von einer Revanchemöglichkeit beim Spiel gegen Israel. Der Expressen setzte auf Palmes Staatsbesuch in den USA.

»Papa«, sagte der Junge. »Mir ist heiß. Kann ich die Jacke ausziehen?«

»Natürlich. Leg sie auf den Wagen.«

Endlich war der Sommer gekommen, recht spät in diesem Jahr. Er hatte sich den ganzen Tag lang abgehetzt. Zuerst war er draußen in Lidingö gewesen, um das Grundstück anzusehen, das Gustav für sie gekauft hatte und auf dem sie im Herbst ein Haus bauen würden. Dann nach Stadshagen rein, wo Kristoffer zu einer Geburtstagsfeier bei einem Freund eingeladen war, anschließend mit dem Kleinen zum Fridhemsplan, um etwas zu essen.

Während Joel im Wagen schlief, hatte er die Gelegenheit genutzt, ein paar Bier zu trinken, genauer gesagt drei große Pils, hatte die Zeit vergessen und dann zum Bus rennen müssen, damit er rechtzeitig da war, um Kristoffer abzuholen.

Sie gingen über den Zebrastreifen. Im Schlosspark von Kristineberg stand ein Obdachloser und pisste. Der Kerl machte sich nicht einmal die Mühe, sich wegzudrehen, zeigte ganz ungeniert seinen Schwanz, während er die Blumenbeete begoss. So weit war es mit ihm jedenfalls noch nicht gekommen. Er konnte sich benehmen, trank nie so viel, dass er sichtbar beeinträchtigt war.

»Kann ich ein Eis, Papa? Es ist so heiß.«

Von der Stimme des Jungen wurde ihm ganz warm ums Herz, selbst wenn er quengelte.

»Reicht denn die Bonbontüte nicht? Außerdem habt ihr auf dem Fest doch auch Eis gekriegt, oder? Jedenfalls hat Peters Mama das gesagt.«

»Aber ich will noch eins. Bitte, Papa … ich fühl mich, als würde ich kochen.«

»Nun hör mal, eben hast du noch gejammert, dass du Bauchschmerzen hast und spucken musst. Und jetzt willst du ein Eis. Was denn nun?«

»Aber jetzt geht es mir besser. Und ich habe fast gar kein Bauchweh mehr.«

Er liebte diesen Knirps, der vor siebeneinhalb Jahren zur Welt gekommen war, neben ihm herlief und um ein Eis bettelte, sich weigerte, dem Papa die Hand zu geben, weil er der Meinung war, dafür sei er zu groß. Diese freundliche helle Jungenstimme. Den Humor, den er mit seinen sieben Jahren bereits besaß. Und dann die anrührende Tatsache, dass er schwarz war, dass das Blut eine Generation übersprungen hatte, ihn selbst übersprungen hatte, und stattdessen bei einem kleinen schwedischen Jungen wieder zum Vorschein gekommen war.

Aber wie sehr er ihn auch liebte und wie schwer es ihm fiel, nicht nachzugeben, würde er ihm doch nicht noch mehr Süßigkeiten geben.

»Nein, tut mir leid, mehr gibt es nicht.«

»Och, bitte …«

Er zuckte zusammen, als ein Volvo Amazon mit hoher Geschwindigkeit den Hjalmar Söderbergs Väg hinuntergebraust kam und im Abstand von nur einem halben Meter an ihnen vorbeiraste. Verdammte Idioten, diese Autofahrer! Der Junge hätte ohne Weiteres auf die Straße laufen können, jetzt, wo er sauer war, weil er seinen Willen nicht bekam.

Er packte das Kind fest am Arm und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Warf einen Blick nach rechts zur Tranebergsbron, die sich in den Himmel wölbte. Ein Zug, der aussah wie eine Riesenlarve auf Rädern, fuhr in den U-Bahnhof ein. Kein Grund, hektisch zu werden. Sie konnten die nächste Bahn nehmen. Joanna war nach ihrem Besuch bei der Freundin direkt nach Hause gefahren, um das Abendessen vorzubereiten. Sie würden es sich gemütlich machen und gemeinsam den Samstagabend genießen, die ganze Familie. Und wenn die Kinder im Bett waren, würden Joanna und er eine Flasche Wein öffnen und sich die Zeichnungen für das neue Haus ansehen. Das Haus, mit dem sein Vater versuchte, seine Liebe zu erkaufen.

Der Volvo verschwand Richtung Stadshagen hinunter, und sie überquerten den Hjalmar Söderbergs Väg. Der Kleine war aufgewacht und hatte sich im Wagen aufgesetzt. Joel. Der vollkommene Gegensatz zu seinem großen Bruder. Helle Haut, fast schneeweiß, ohne den geringsten Anschein eines Mischlings. Natürlich liebte er ihn genauso sehr wie Kristoffer, aber auf eine andere Art und Weise, nicht ganz so intensiv, nicht ganz so schmerzhaft. Als wäre es Joel noch nicht gelungen, einen ebenso großen Eindruck bei ihm zu hinterlassen.

Die Tür zur Bahnhofshalle öffnete sich. Er trat an die Wand, um auf den Fahrplan zu schauen. Der Zug fuhr immer noch alle fünf Minuten, er konnte zwischen zwei grünen Linien wählen.

Plötzlich fing der Kleine an zu jammern, vielleicht hatte er irgendwas geträumt. Er warf einen Blick auf die Wanduhr: halb sechs. Das konnte nicht stimmen. Hatte er sich um eine ganze Stunde vertan? Er schaute auf seine Armbanduhr: halb fünf. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht. Die verdammte Uhr war stehen geblieben.

Eine Frau kam mit einer Zeitung unter dem Arm aus dem Kiosk.

»Entschuldigen Sie«, wandte er sich an sie, »wissen Sie vielleicht, wie spät es ist? Ist es wirklich schon halb sechs?«

»Doch, ja. Halb sechs. Sogar schon ein paar Minuten drüber.«

Sie lächelte ihn freundlich an. Sie war in den Vierzigern, trug ein Kopftuch, ein buntes Baumwollkleid und Gummistiefel. Sie erinnerte ihn an eine Bauersfrau. Wie sie auf dem Land ausgesehen hatten, als er noch klein war.

»Dankeschön.«

»Keine Ursache. Schönes Wochenende!«

Also hatte er sich um eine ganze Stunde geirrt, was bedeutete, dass Joanna zu Hause mit dem Essen wartete und sich wunderte, wo sie blieben. Dann stieß er mit dem Kinderwagen aus Versehen auch noch gegen den Metallpfosten vor der Sperre. So eine blöde Stelle für eine tragende Konstruktion. Der Kleine weinte lauter, vermutlich hatte er sich das Bein eingeklemmt, auch wenn der Zusammenstoß nicht besonders heftig gewesen war.

»Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Wir sind spät dran, Mama wartet mit dem Essen. Wir müssen uns ein bisschen beeilen.«

Er reichte dem Kontrolleur im Häuschen die Fahrkarte und ging durch den Eingang für Kinderwagen. Jetzt schrie der Kleine lauter. Er war kurz davor, in dieses hysterische Heulen zu verfallen, bei dem ihn niemand anders als Joanna trösten konnte.

»Sch, sch, nicht weinen, bitte, nicht weinen.«

An allem waren nur die paar Bier schuld. Er hätte sie nicht trinken sollen, zumindest die letzten beiden nicht. Auch wenn er nicht betrunken war, so beeinträchtigten sie doch sein Urteilsvermögen, er geriet aus dem Takt mit der Welt, verspätete sich, lief gegen Pfosten und konnte Verkehrsunfälle nur knapp vermeiden.

Eine neue Bahn fuhr in den Bahnhof ein, er konnte das Rattern der Räder auf den Schienen oben hören. Mehr Menschen strömten von der Straße herein, schoben von hinten. Der Kleine versuchte schreiend aus dem Wagen zu klettern, er musste mit der einen Hand ihn festhalten, während er Kristoffer mit der anderen hielt und den Kinderwagen mit dem Bauch vor sich her schubste.

Treppe oder Fahrstuhl?

Treppe ging schneller. Aber die Kinderwagenrampe sah steil aus, und mit Joel in diesem Zustand der Auflösung war es wohl die bessere Idee, den Fahrstuhl zu nehmen. Er drückte auf den Knopf.

»Papa, darf ich die Treppe gehen?«

Kristoffer sah ihn mit diesem Blick an, dem er nicht widerstehen konnte. Der karibische Blick. Der Blick seiner eigenen Mutter, auch wenn er sich kaum noch an ihn erinnern konnte.

»Nein.«

»Bitte. Ich kann allein gehen, und ihr nehmt den Fahrstuhl. Das macht Spaß.«

»Du bist dafür zu klein.«

Die halb gefüllte Tüte mit Süßigkeiten hielt er mit der Hand umklammert. Diese schokoladenbraune Kinderhand, nicht einmal halb so groß wie seine. Der vom Lolli rot verschmierte Mund. Wie konnte er nur in Begleitung seiner Söhne betrunken sein?

»Bitte! Ich warte oben auf dich.«

»Ich habe Nein gesagt.«

Plötzlich fiel ein Schatten über das Gesicht des Jungen. Jemand hatte sich neben ihn gestellt.

»Du kannst mit mir gehen, wenn du willst. Ich halte dich an der Hand, bis dein Papa aus dem Fahrstuhl kommt.«

Es war wieder die Frau mit dem Kopftuch. Sie war hinter ihm durch die Schranke gegangen, hatte höflich einem Vater mit Kinderwagen und zwei nervigen Kindern den Vortritt gelassen. Kristoffer sah sie mit großen Augen an, überlegte, ob er vor ihr auf der Hut sein sollte oder ihr sofort vertrauen konnte. Dann schaute er flehend seinen Vater an.

»Bitte Papa, darf ich mit der Frau mitgehen?«

»Okay. Aber du bleibst an ihrer Hand, damit du nicht hinfällst. Du siehst ja, wie voll es ist. Überall massenhaft Leute. Und dann setzt du dich da oben auf die Bank und wartest, bis ich da bin, in höchstens einer halben Minute.«

»Ich setze mich mit ihm hin, bis Sie kommen«, sagte die Frau freundlich. »Nun komm, junger Mann, dann gehen wir.«

Kristoffer strahlte ihn mit seinen Milchzahnlücken an. Die Frau betrachtete ihn mütterlich. Das würde er niemals vergessen. Bestimmte Augenblicke, bestimmte Bilder würden sich für alle Zeiten in seine Erinnerung einbrennen.

Er blickte ihnen nach, während sie die Treppe hinaufgingen. Kristoffers kleine Hand in der größeren der Frau. Sie sagte etwas zu dem Jungen, und er schaute mit seinen großen Augen zu ihr auf und nickte zustimmend, während gleichzeitig der Fahrstuhl läutete, als er die Ebene der Bahnhofshalle erreicht hatte.

Er schob den Kinderwagen hinein und drückte den Knopf für die Fahrt nach oben. Das Gehirn machte kleine Polaroidbilder, die sich später in sein Gedächtnis einätzen würden: Die Kassettendecke mit ihren drei Lampen. Das Schild: 750 kg oder 10 Personen. Die Zigarettenstummel auf dem Boden, die halb leere Bierdose, die in einer Ecke stand.

Der Fahrstuhl hielt mit einem leichten Schaukeln auf der Bahnsteigebene. Die Tür ging auf, und ohne dass er begriff, warum, brach ihm plötzlich der kalte Schweiß aus, und er fühlte sich auf der Stelle nüchtern. Der Kleine war verstummt, als hätte es keinen Sinn mehr, Ärger zu machen. Schnell lief er durch den Gang zum Gleis. Gitterwände aus Metall auf der einen Seite. Plexiglas auf der anderen, sodass man aufs Gleis sehen konnte, nicht aber ins Treppenhaus. Eine Bahn Richtung Westen stand auf dem Gleis, die letzten Fahrgäste stiegen ein. Der Zugführer rief sein: »Zurückbleiben, bitte«, er eilte weiter. Er hörte das saugende Geräusch, als sich die Wagentüren schlossen, und das Quietschen der Metallräder, als die Bahn sich in Bewegung setzte.

Die Glastür zum Bahnsteig öffnete sich. Gleich würde er Kristoffer auf der Bank sitzen sehen, wo er auf ihn wartete, die Bonbontüte in der Hand, zusammen mit der Frau.

Sein geliebter Kristoffer.

Er bog mit dem Kinderwagen um die Ecke und schaute sich um. Die Treppe war leer. Kein Mensch zu sehen. Er sah die Fahrstuhltür im Untergeschoss, durch die er vor einer Minute getreten war, die weißen Wandkacheln im Treppenhaus, die beiden großen, geriffelten Glaslampen, die von der Decke herabhingen. Das Gekritzel auf der leeren Bank.

Joel hatte wieder angefangen zu quengeln. Er löste ihn aus dem Gurt und hob ihn aus dem Wagen. Dann drehte er sich zur anderen Seite, zum Bahnsteig. Der war auch leer. Nur die Rücklichter der Bahn, die Richtung Alvik verschwand. Er drehte sich nochmals zu Treppe und Bahnhofshalle um. Ein einsamer Rentner mit Stock stand vor der Informationstafel.

Er rief den Namen des Jungen:

»Kristoffer!«

Zuerst flüsterte er fast, als hätte er seine Stimme verloren. Dann laut, voller Panik:

»Kristoffer! KRISTOFFER!«

Seine Stimme hallte von den Wänden wider, und dann, weit entfernt, als gehörte das zu einer anderen Welt, einer anderen Zeit, bemerkte er, dass Joel wieder angefangen hatte zu weinen.

TEIL EINS

Stockholm, Mai 2012

Für Katz begann alles mit einer Melodie. Sechs Töne in jeder Zeile, in der Schwebe zwischen Dur und Moll:

I hurt myself today / to see if I still feel … Dumpf und weit entfernt, als befände er sich selbst oder die Musik unter Wasser. I focus on the pain / the only thing that’s real.

Zu seiner Verwunderung hockte eine unbekannte Frau mit einem Löffel in der Hand neben ihm. Sie schien die Musik nicht zu hören, vielleicht interessierte sie sie auch einfach nicht. Zu verzweifelt, dachte Katz, das Gehirn hat eine unglaubliche Fähigkeit, alles Unwesentliche auszublenden.

Sie reichte ihm ein Zehnerpack Fünfmilliliterspritzen aus einer Handtasche. Die Standardsorte mit dem orangefarbenen Stempel, für die Armvenen der meisten Menschen geeignet. Sie hatte ihr eigenes Werkzeug. Abnehmbare Tuberkulinnadeln. Um das Blut aus den Füßen oder Händen zu ziehen, dort, wo die Blutgefäße kleiner sind. Er schielte auf ihre Arme. Langärmlige Bluse. Der gleiche Verkleidungstrick wie bei ihm. Immer langärmlige Hemden mit Manschetten, um die Narben zu verbergen.

The needle tears a hole / the old familiar sting / try to kill it all away / but I remember everything …

Weiter entfernt unter dem Brückenbogen meinte er, seine Eltern zu sehen. Anne und Benjamin, Arm in Arm, stets versunken in ihre Liebe, die alle anderen ausschloss, nicht zuletzt ihn selbst. Dafür hasste er sie, seine Mutter aus Norrland und seinen jüdischen Vater. War es nicht so, obwohl er es nie hatte zugeben wollen? Dann verschwanden die beiden, tot wie sie waren, hinter einem mit Graffiti vollgeschmierten Brückenpfeiler.

Er schaute sich um. Wohnte er tatsächlich jetzt hier, war er zurück auf null, auf der Straße? Auf einer dreckigen Matratze neben einem Lüftungsgitter unter einer Brücke in Stockholms Nordwesten?

Jemand hatte mit Steinen eine Art Grundstücksgrenze um seinen Schlafplatz markiert, oder vielleicht sollte das auch nur eine symbolische Schlafzimmerwand darstellen. Ein Paar Stiefel standen neben einem Stück Plane. Seine eigenen?

Er sah zum Wasser hinunter, zum Strandbad und dem kleinen Hafen auf der anderen Seite der Bucht. Die Tranebergsbron, einst der längste aus Beton gegossene Brückenbogen der Welt, erhob sich über ihm, in einer Epoche gebaut, als Zukunftsglaube im Land herrschte. Und inzwischen Aufenthaltsort für Obdachlose und Junkies.

»Dol Fool«, »Drag« und »Sork« las er auf den Pfeilern. Die Tagger hatten ihre Spraydosen liegen lassen. Ein Stück weiter lagen Wattebäusche verstreut, man hätte sie in der Maiwärme für Blumen halten können, Gänseblümchen, dachte er.

Katz erinnerte sich an die verzweifelten Junkies am Kottbusser Tor in Berlin vor fünfzehn Jahren, zahnlose Kottiejunkies, die neben dem Kanal hockend alte Wattebäusche abkochten, um den letzten Rest an Stoff rauszupressen, damit es für einen halben Schuss Brown Horse, gestreckt mit Ascorbinsäure, reichte. Menschen, die das Wasser der Regenpfützen auf der Straße benutzten, oder das aus den Spülkästen der öffentlichen WCs. Auch er selbst, das musste er zugeben, damals, als er ganz unten gewesen war. Aber er hatte Glück gehabt, er hatte es rausgeschafft.

You could have it all / my empire of dirt …

Die Melodie spielte weiter, wie mechanisch von weither. Ein Königreich aus Dreck, dachte er, das er wegschenken wollte, von dem er glaubte, dass er es bereits los sei.

»Der Teer verstopft die Spritze, Scheißdrecksheroin.«

Die Frau war verzweifelt. Und er selbst auch, wie er merkte. Dieses schreckliche körperliche Begehren nach dem Kick, danach, alles mit dem Rausch auszumerzen. Die Sehnsucht nach der Leere. Der Zeitlosigkeit. Der körperlichen Heimkehr. Die Frau fluchte … zum Teufel noch mal, verdammter Scheiß … während sie mit dem Werkzeug herumhantierte. Wo war er ihr begegnet? Er kannte sie, konnte sich aber nicht erinnern, woher.

Eine aufgeschlagene Zeitung lag auf der Erde. Darauf lag ein Suppenlöffel mit gebogenem Griff, um das Risiko, etwas von der Portion zu verschütten, so gering wie möglich zu halten. Jetzt sah er die Angst in ihren Augen und schlug vor, sie solle ein wenig durch die Nase ziehen, um sich zu beruhigen.

»Halt die Fresse, stör mich nicht …«

»Ach, scheiß doch drauf.«

Er kümmerte sich nicht weiter um sie, machte stattdessen seine eigene Dosis zurecht, holte die Wasserflasche aus der Jackentasche, füllte die Spritze und leerte sie in den Boden einer abgeschnittenen Coca-Cola-Dose, in der das Heroin bereits wartete. Kochte, wartete. Riss ein bisschen Watte von dem Tampon, den sie hingelegt hatte, drehte eine Kugel als Filter und zog die Flüssigkeit mit der Spritze auf. Er war erstaunt darüber, wie sicher seine Hand nach all den Jahren war, es war wie schwimmen oder Rad fahren, wenn man es einmal gelernt hatte, konnte man es für den Rest des Lebens.

Er krempelte den Hemdsärmel hoch, nahm die Strumpfhose, die sie hingelegt hatte, und band sie direkt über die Ellenbogenbeuge. Schnippte die letzten Luftbläschen aus der Spritze und zog die Lösung nach oben.

Zehn Jahre war es her, aber jeder Handgriff saß noch. Und er konnte mit beiden Händen gleich gut spritzen, das hatte er sich antrainiert, denn damals war das lebenswichtig, weil er so oft Drogen nahm, dass er gezwungen war, immer wieder neue Injektionsstellen am Körper zu finden und den Schuss in den rechten Arm zu setzen, wenn der linke nicht funktionierte, und das schnell und schmerzfrei, bevor der Entzug ihn daran hinderte.

Sonnenlicht schien zwischen den Brückenpfeilern hindurch. Ein U-Bahn-Zug donnerte dreißig Meter über seinem Kopf vorbei, wurde langsamer, als er sich der Haltestelle in Alvik näherte. Der Nachmittag war sonnig, nach einer Periode der Kälte und des Schneefalls, die bis weit in den April angedauert hatte, hatte plötzlich die Maiwärme eingesetzt.

Wohnte er jetzt hier? War er wieder auf der Straße gelandet? Nein, sein Büro lag nur ein paar Hundert Meter weiter in Traneberg, er war doch gerade erst noch dort gewesen, hatte vor dem Computer gehockt … oder hatte man einfach die Chronologie geändert, das Ende an den Anfang gestellt und umgekehrt?

Das stimmte nicht. Er wusste, wer er war: Danny Katz, vierundvierzig Jahre alt, einziges Kind von viel zu früh verstorbenen Eltern. Ehemaliger Dolmetscher im Außenministerium. Ehemaliger zivil angestellter Übersetzer und Computerprogrammierer bei den Schwedischen Streitkräften. Ehemaliger Drogenabhängiger und Obdachloser. Aber wieder auf die Füße gekommen. Sein eigener Chef. Nichts Besonderes. Nur ein kleines Übersetzungsbüro, das Aufträge von privaten Firmen bekam und ab und zu auch von der Armee. Das Geschäft brachte nicht besonders viel Geld ein, doch es genügte, um über die Runden zu kommen, die Zweizimmerwohnung im selben Gebäude wie das Büro zu bezahlen, es reichte für seinen bescheidenen Lebensstil ohne Ausschweifungen, schon allein weil Ausschweifungen ihn unerbittlich wieder hierher zurückführen würden, zu einem Leben auf der Straße.

Weiter unten Richtung Wasser, dort, wo seine Eltern gerade verschwunden waren, stand jetzt ein Mann. Er schien nackt zu sein. Es war, als hätte er eine eingebaute Fernglasfunktion im Auge, deshalb konnte er diesen Mann heranzoomen. Ja, ein nackter Mann, Wunden an den Beinen, Blut lief. Er verstand das nicht. Diese Erscheinung. Das war irgendein Zeichen. Aber als er blinzelte und noch einmal hinsah, war der Mann fort.

Stattdessen richtete er den Blick auf die Innenseite seines Unterarms, klopfte leicht mit den Fingerkuppen darauf, zog den Knoten etwas fester und fand die Vene, die er brauchte. Er richtete die Nadel im Zwanzig-Grad-Winkel gegen den Arm, zum Herzen hin, immer Richtung Herz. Mittlerer Winkel, dachte er, nicht zu steil, sonst bestand die Gefahr, dass er die Ader perforierte.

Er kapierte das nicht, warum tat er das? Zehn Jahre nachdem es ihm endlich gelungen war, clean zu bleiben. Nach zehn Jahren bei der Anonymen Drogenberatung, nach zehn Jahren täglichem Kampf. Die kurze Zeitspanne auf Methadon, die erste Therapie unten in Ytterjärna, bezahlt von seinem früheren Kollegen bei den Streitkräften, Rickard Julin, der so viel Kraft und Einfluss dareingesetzt hatte, ihn zurück ins System zu holen, ihm einen Job besorgt, ihn mit dem früheren Netzwerk versorgt, den Weg für ihn geebnet hatte, ihm Kontakte mit Auftraggebern verschafft hatte. Das alles sollte jetzt vergeblich gewesen sein. Für nichts und wieder nichts.

Das konnte nicht stimmen. Was war sein letzter Auftrag gewesen? Eine IT-Firma, die Informationen über eine weißrussische Telefongesellschaft gewollt hatte, er hatte für sie ein paar Jahresabschlüsse übersetzt sowie einige Artikel aus einem Wirtschaftsblatt in Minsk.

Mit der Nadel einen Zentimeter tief im Arm zögerte er, zog mechanisch den Kolben zurück, um zu sehen, ob sich was tat. Dunkelrotes Blut, niemals hellrotes, dann hast du die Vene verfehlt. Er wollte den Schuss nicht aus Versehen ins Gewebe spritzen, dann würde es nur anschwellen und schrecklich wehtun, und es würde eine Ewigkeit dauern, bis der Kick kam.

Jetzt!

Er hatte richtig getroffen, das Blut war dunkelrot und strömte langsam in die Spritze. Mit den Zähnen löste er den Knoten und injizierte. Der Rausch setzte unmittelbar ein. Er sackte in sein eigenes Skelett, ließ das Fleisch auf Knochen und Knorpeln ruhen, und die Augenlider fielen wie Rollläden herunter. Das Gefühl war göttlich, unbeschreiblich, erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr er es vermisst hatte. Langsam zog er die Nadel heraus, das Blut spritzte auf die Hemdbrust, aber das interessierte ihn nicht mehr, er zog nur ein Taschentuch aus der Jackentasche und drückte es auf die Einstichstelle.

Wo der nackte Mann gestanden hatte, stand jetzt ein anderer Mann, in schwarzem Anzug und mit breitkrempigem Hut. Er zwinkerte, bis der Mann, Traumbild, das er wahrscheinlich war, verschwand. Wieder donnerte ein Zug über seinen Kopf hinweg.

Dann sah er wieder zu der Frau. Sie hatte ihren Schuss jetzt fertig vorbereitet, hielt die Nadel gegen das Licht und klopfte die Luftbläschen aus der Spritze. Das rabenschwarze Haar rahmte ein symmetrisches Gesicht mit leicht orientalischen Zügen ein. Blaugrüne Augen, ein schön geschwungener Mund. Weiße Haut. Wie Schneewittchen.

»Ich erkenne dich«, sagte er. »Wo haben wir uns schon mal gesehen?«

»Wir kennen uns nicht … das glaubst du nur.«

Merkwürdige Antwort, dachte er, während sie nach einer Vene suchte, zuerst am Hüftknochen; sie zog die Hose und den weinroten Slip ein Stück herunter, überlegte es sich dann aber anders und tastete mit ihren eingerissenen Fingernägeln um die Halsvene herum. Zu nah an der Halsschlagader, dachte er, bitte, nicht da!

Zu seiner Erleichterung fand sie eine Vene im rechten Oberarm und spritzte dort das Gift mit verkniffenem Gesicht hinein. Sofort fing sie an zu pumpen, zog den Kolben vor und drückte ihn zurück, zog Blut hoch, das sie gleich wieder zurückdrückte, um kein einziges Mikrogramm von ihrem Schuss zu verschwenden.

»Dann haben wir uns erst hier kennengelernt?«, nuschelte er und machte eine Geste Richtung Matratze.

»Ich bin nur zufällig vorbeigekommen. Aber du wohnst hier.«

»Unter der Brücke?«

»Scheiße, ja, du bist übel dran. Und die Leute sind hinter dir her. Jemand will dich festsetzen.«

Er nickte, als würde er das akzeptieren, was sie sagte, als hätte er sich bereits mit seiner neuen Wirklichkeit abgefunden.

»Und wer bist du?«

»Ich? Ich bin niemand …«

Ihre Pupillen waren so klein, dass sie kaum zu sehen waren. Sie war in sich zusammengesunken und lag halb auf ihm, der Slip guckte über dem Hosenbund am Hintern heraus. Jetzt war sie leblos. Er fragte sich, ob sie eine Überdosis genommen hatte, ob er die 112 anrufen und bitten solle, einen Wagen zu schicken, und gleich Narcanti mitzubringen, das ihr direkt in die Brust gespritzt werden konnte, um sie wieder zurückzuholen.

Dann entdeckte er die Bisswunden. Eine Kette aus blutigen Zahnabdrücken um den Hals; Bisse, die die Haut aufgetrennt hatten. Wie damals bei Eva Dahlman, seiner ersten Freundin, von der behauptet worden war, er habe sie bewusstlos geschlagen und sie dann gebissen wie ein wildes Tier. Er war dafür verurteilt worden. Mit sechzehn Jahren. War in eine weitere Erziehungsanstalt gesteckt worden, wo sich plötzlich das Blatt für ihn gewendet hatte: Er hatte beschlossen, mit seinem alten Leben Schluss zu machen, der Kriminalität den Rücken zu kehren. Aber er war es nicht gewesen! Er war gar nicht imstande, so etwas zu tun, was immer die technischen Beweise behaupteten.

I wear this crown of shit / upon my liar’s chair / full of broken thoughts / I cannot repair …

Woher kam die Musik? Er schaute sich um, konnte aber die Geräuschquelle nicht entdecken.

Und die Frau, die anscheinend auf seinem Schoß eingeschlafen war, wer war sie? Er strich ihr das schwarze Haar aus dem Gesicht, legte sie vorsichtig auf die Matratze und stand auf.

Fünf Töne jetzt in jeder Strophe, ein Wechsel zwischen Moll und Dur, nur die Melodie, kein Text mehr, den hatte er selbst in Gedanken hinzugefügt. Er erkannte sie wieder. »Hurt« von Nine Inch Nails.

Die Töne … die immer durchdringender wurden, ihn gewissermaßen aus den Tiefen des Bewusstseins erreichten, die Umgebung ausradierten, die Brückenpfeiler, die Frau, die schmutzige Matratze, die Spritzen, die Droge. Er hatte sie als Klingelton auf seinem Handy, wie er sich triumphierend erinnerte, während er immer schneller an die Bewusstseinsoberfläche stieg, aber er hatte sie nur als Melodie, ohne Trent Reznors bittere Gesangsstimme. Und die Melodie lief immer weiter, bis es ihm endlich gelang, das Telefon zu finden, das neben ihm in der Wohnung auf dem Fußboden lag.

Er setzte sich auf und nahm das Gespräch an. Sah die graue Dämmerung, die durch die Jalousien vor dem Schlafzimmerfenster hereinsickerte, lauschte der Stimme im Handy.

Sie klang wie die Frau unter der Brücke, wie Eva Dahlman, aber irgendwie auch nicht. Als wäre die Chronologie außer Kraft gesetzt.

Angela Klingberg war eine umwerfend schöne Frau. Schön in einer Art, die ihr sicher Probleme bereitet, dachte Katz, als er sich in einer Ecke des Ritorno, dieses alten Cafés in der Odengatan, wo sie sich verabredet hatten, ihr gegenüber niederließ. Natürlich war sie elegant gekleidet, kein Wunder, wenn man bedachte, mit wem sie verheiratet war. Er registrierte die Hermès-Handtasche zu ihren Füßen, die teuren Handschuhe, die auf dem Tisch lagen, den Angorapullover, das diskrete Make-up und das fast ebenso diskrete Diamantarmband am linken Handgelenk. Sie war Mitte dreißig, blond, zierlich, mit einer deutlich wahrnehmbaren und traurigen Aura. Er verspürte einen schmerzhaften Stich bei dem Gedanken, dass sie vergeben war, und dieses Gefühl überraschte ihn, denn es war so erbärmlich und gleichzeitig so ehrlich.

Bis zu ihrem Telefonanruf am selben Morgen hatte er nichts von ihrer Existenz gewusst. Und trotz des Eherings an ihrer linken Hand konnte er sich nur schwer vorstellen, dass sie mit Joel Klingberg verheiratet war, oder dass Klingberg überhaupt verheiratet war.

Während Katz seine Jacke ablegte und über die Stuhllehne hängte, überlegte er, warum er überhaupt eingewilligt hatte, sie zu treffen. Neugier war auf jeden Fall einer der Gründe. Vor fünfundzwanzig Jahren, als er es geschafft hatte, einen Schlussstrich unter sein Leben als minderjähriger Straftäter zu ziehen, waren er und Joel Klingberg zusammen auf die Dolmetscherschule der Armee gegangen. Während der militärischen Grundausbildung in Karlsborg hatten sie ein Zimmer geteilt und dies auch später während zwei intensiver Semester Russisch in Uppsala getan. Über Klingbergs späteres Leben wusste er nur das, was er in den Zeitungen gelesen hatte: Klatschreportagen über die Oberschicht, die gehobenen Kreise, in denen er verkehrte, Partyfotos von Festen, auf die Klingberg mit seiner düsteren Miene nicht zu passen schien, Notizen über eine Immobilienagentur an der Riviera, die er zusammen mit ein paar Freunden vom Internat Sigtuna betrieben hatte, eine kurzes Intermezzo nur, um ein wenige eigene Geschäftserfahrungen zu sammeln, anschließend Jurastudium und ein Jahr an der London School of Economics, bevor er vom Familienunternehmen, der Klingberg Aluminium AB, absorbiert wurde und in der Anonymität der Geschäftswelt verschwand.

»Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben«, sagte die Frau vor ihm und lächelte fast ein wenig verlegen.

»Kein Problem. Woher haben Sie meine Nummer?«

»Sie stand auf Joels Kontaktliste in seinem Computer.«

Was auch merkwürdig war, denn Katz konnte sich nicht vorstellen, dass Klingberg in irgendeiner Weise geplant hatte, mit ihm in Kontakt zu treten.

»Ach ja, möchten Sie vielleicht etwas, soll ich etwas für Sie bestellen?«

»Danke. Es genügt, wenn Sie mir erklären, warum wir hier sind.«

Und dann erzählte sie es ihm:

Joel Klingberg war vor drei Wochen verschwunden, laut Polizeiangaben allem Anschein nach freiwillig. Es gab keinen Grund, nach ihm zu fahnden, und der Verdacht einer Straftat lag ebenfalls nicht vor. Klingberg hatte die gemeinsame Wohnung der Eheleute auf Östermalm am Sonntagvormittag, dem zweiundzwanzigsten April verlassen, um einiges zu erledigen, und war ganz einfach nicht zurückgekommen. Seitdem versuche sie jeden Tag, ihn auf seinem Handy anzurufen, wie sie erklärte, erreiche aber immer nur die Mailbox. Es gab allerdings so etwas wie einen Abschiedsbrief.

Sie zog ihn aus der Tasche, eine E-Mail, auf einem DIN-A4-Blatt ausgedruckt, ursprünglich von Klingbergs Handy abgeschickt. Katz überflog sie: ein paar Zeilen, die andeuteten, dass er auf unbestimmte Zeit verreisen würde, um seine Ruhe zu haben und nachdenken zu können. Er bat um Verzeihung, weil er nicht den Mut gehabt habe, es ihr persönlich zu sagen, schrieb, sie solle sich seinetwegen keine Sorgen machen und auch nicht nach ihm suchen.

»Das habe ich vier Stunden nach seinem Verschwinden erhalten«, sagte sie. »Und das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Joel ist nicht der Typ, der vor Problemen wegläuft.«

»Und was glauben Sie, was passiert ist?«

»Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.«

Sie faltete den DIN-A4-Ausdruck zusammen und steckte ihn wieder in die Handtasche, und Katz erinnerte sich aus irgendeinem Grund an Klingbergs Freundin während der Zeit auf der Dolmetscherschule, ein gleichaltriges Mädchen, deren Oberschichtgehabe ihn gestört hatte, deren Name und Aussehen aber aus seinem Gedächtnis gelöscht waren.

»Die Polizei glaubt, er sei wegen eines Streits nicht zurückgekommen, den wir an dem Morgen gehabt haben. Über Kinder … oder besser gesagt unsere Kinderlosigkeit. Joel wollte noch warten. Ein Mann im besten Alter, seit zehn Jahren verheiratet, und will immer noch warten! Sie wissen sicher von der schweren Bürde, die er trägt; wegen dem, was damals mit seinem Bruder passiert ist. Ich habe ihm gesagt, dass seine Angst vor Verantwortung genau darauf beruht, auf der Furcht, es könnte wieder passieren. Darüber haben wir gestritten.«

Sein Bruder, ja, dachte Katz, während er ihrem Blick folgte, der nervös zwischen den Gegenständen auf dem Tisch hin und her huschte, der Kaffeetasse, aus der sie nicht trank, einer vergessenen Zeitung, die auf der Seite mit den Wett-Ergebnissen beim Trabrennen aufgeschlagen war, den Handschuhen, die in der gleichen Farbe gehalten waren wie die Fingernägel ihrer schönen Hände. Der verschwundene Bruder, die Nabe, um die sich alles gedreht hatte, der Verlust, den Klingberg wie ein unsichtbares Joch auf sich genommen hatte.

»Ich kann selbst hören, wie das klingt«, sagte sie. »Verletzter Mann verlässt streitsüchtige Ehefrau, um eine Weile seine Ruhe zu haben. Aber wie gesagt, das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Und wir hatten uns bereits wieder beruhigt, als er ging. Er hat gesagt, er habe ein paar Dinge zu erledigen und würde gegen Mittag wieder zurück sein. Wir hatten sogar einen Tisch in einem Restaurant reserviert. Es scheint, als wäre ich die letzte Person, die ihn gesehen hat. Und die Einzige, die sich weigert zu glauben, dass er freiwillig gegangen ist. Laut Polizei ist er zunächst ein paar Stunden lang mit seinem Wagen durch die Gegend gefahren …«

Nachdem er die Wohnung verlassen hatte, war Klingberg in den Wagen gestiegen. Das GPS war untersucht worden, erklärte sie. Er schien ziellos herumgefahren zu sein, von ihrer Wohnung in der Skeppargatan kreuz und quer durch die Innenstadt, bevor er Richtung Kungsholmen weitergefahren war. An einer Tankstelle am Thorildsplan hatte er angehalten, war dann weiter durch Stadshagen bis zur U-Bahn-Station Kristineberg gefahren und anschließend weiter nach Alvik und zum Tranebergspark, wo er einige Minuten beim örtlichen Tennisplatz gehalten hatte.

»Sie wohnen doch dort in der Nähe. Habe ich bei der Auskunft herausgefunden. Komisch, oder?«

Katz wurde ganz mulmig bei dem Gedanken, dass Klingberg ausgerechnet dort mit seinem Wagen angehalten hatte. Hätte er an jenem Vormittag zum Fenster hinausgeschaut, hätte er ihn wahrscheinlich zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Parks sehen können.

»Und wohin ist er danach gefahren?«, fragte er.

»Ins Industriegebiet am Ulvsundasjön, bevor er wieder umgekehrt und zurück in die Stadt gefahren ist und seine sogenannte Abschiedsmail geschrieben hat.«

Laut Angela hatte Joel Klingberg seinen Wagen in einem Parkhaus in der Nähe des Hauptbahnhofs abgestellt, und da endeten alle Spuren. Alles deutete darauf hin, dass er in einen Zug Richtung Süden gestiegen war. Es existierte eine Fahrkarte nach Kopenhagen auf seinen Namen, von ihm selbst über das Internet gekauft, aber im System der Bahn war nicht festzustellen, ob er sie auch verwendet hatte.

Sie verstummte, und Katz stellte fest, dass sein Blick in ihrem ruhte. In der Unruhe, die sie ausstrahlte, der Sorge, die sie zu dem machte, was sie war. Eher sein Typ als Klingbergs.

»Und warum kommen Sie damit zu mir?«, fragte er.

»Ich weiß, es klingt merkwürdig. Aber genau das hätte Joel gewollt.«

»Das müssen Sie mir erklären.«

Angela Klingberg hatte erst vor ein paar Monaten zum ersten Mal von Katz gehört. Joel hatte ihn nur in einem Nebensatz bei Tisch erwähnt: Danny Katz, sein alter Kumpel aus der Militärzeit.

»Er hat gesagt, Sie seien der einzige Mensch, dem er jemals vertraut hat.«

»Das hat er behauptet?«

»Ja. ›Der einzige Mensch, dem ich jemals in meinem Leben vertraut habe.‹ Das ist mir nach seinem Verschwinden wieder eingefallen.«

Woher hatte Klingberg diesen Eindruck? Es stimmte, sie waren in ihrem Militärdienst viel zusammen gewesen, aber sie stammten aus zwei vollkommen unterschiedlichen Welten, Katz aus der Welt der Gangs in den Vororten und Klingberg aus der behüteten Oberschicht. An den Wochenenden, wenn sie die Prüfungen der Woche hinter sich hatten, wurde Klingberg von einem Privatchauffeur abgeholt und verschwand wieder im Leben der Reichen bei seinem Großvater, hinter hohen Gartenmauern in Djursholm. Katz hatte ihn nie privat kennengelernt.

»Ich habe ihn einmal bei einer Schlägerei verteidigt«, sagte er. »Vielleicht hat er darauf angespielt?«

»Das hat er nie erwähnt. Ich glaube, er meinte etwas anderes.«

Sie nahm ein Päckchen vom Stuhl neben sich.

»Kurz vor seinem Verschwinden bekam er außerdem das hier. Ich habe es vor ein paar Tagen durch Zufall entdeckt. Es lag ganz hinten in seinem Schrank.«

Es handelte sich um einen großen gefütterten Umschlag ohne Absender, mit einem Poststempel aus Stockholm vom vergangenen Monat. Sie öffnete ihn und legte den Inhalt auf den Tisch.

»Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Aber Joel hätte doch etwas sagen können. Das finde ich wirklich … sonderbar.«

Ein quadratisches Stück Stoff, etwa achtzig mal achtzig Zentimeter, ockerrot und schwarz, entfaltete sich vor Katz’ Augen. Ein nativistisches Motiv in Form zweier gekreuzter Pfeile war darauf gestickt. Und rechts der Pfeile, umrahmt von Pailletten aus rund geschliffenen Spiegelscherben, war mit großen Kreuzstichen ein kniender Mann gestickt. Zwei Stoffbuchstaben waren unter das Motiv geklebt: M. K.

»Namensinitialen?«, vermutete Katz.

»Fragen Sie mich nicht. Und dann noch das …«

Sie breitete ein zweites, ähnliches Tuch aus, das etwas kleiner war. Das gestickte Motiv stellte einen Mann dar, umringt von Hunden, die ihm die Beine leckten.

»Ich weiß nicht einmal, ob das etwas mit der Sache zu tun hat«, sagte sie. »Das ist alles so rätselhaft.«

»Haben Sie das der Polizei gezeigt?«

»Nein. Wie gesagt, es besteht ja kein Verdacht, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Wenn Sie mich kurz entschuldigen …«

Sie stand auf und verschwand Richtung Toiletten. Und Katz musste an die Zeit damals denken, 1987, als er auf die Dolmetscherschule gegangen war. Verba arma nostra, das Wort ist unsere Waffe, das war ihr Motto gewesen. Und Worte waren es, mit denen sie sich bewaffnen sollten, russische, eine unglaubliche Menge an Vokabeln, die jede Woche abgefragt wurden. Binnen zehn Monaten hatten sie den Stoff von sechs Universitätssemestern Russisch bewältigt. Katz erinnerte sich an die endlosen Stunden im Sprachlabor, die Seminare über Verhaltenslehre und Psychologie, wovon sie als Dolmetscher in einer Kriegssituation eine gewisse Ahnung haben sollten. Er erinnerte sich an die Verhörleiterausbildung – POB, personenorientierte Befragung, wie es im Militärjargon hieß – und eine harte Übung auf Gotland, wo sie ihre Fertigkeiten bei den Küstenjägern in der Praxis anwenden sollten. Er erinnerte sich, dass sie einen Lehrfilm gesehen hatten über das Scheinertränken oder Waterboarding, wie es später genannt wurde.

Es war unglaublich, dachte er jetzt, dass niemand reagiert hatte, obwohl es einer Lektion im Foltern gleichgekommen war. In dem Film hatte ein schwedischer Leutnant ein Handtuch über Mund und Nase eines Mannes gebunden, der, den Kopf nach hinten überstreckt, an eine Krankenhaustrage gefesselt war. Der Leutnant goss Wasser auf das Handtuch. Die Reaktion kam unmittelbar: Krämpfe, heftige Würgereflexe. Die Person, erklärte der Leutnant in die Kamera, während er mehr Wasser auf das Gesicht des Mannes goss, erlebt das Gefühl des Ertrinkens durch Atemnot und das Einatmen von Wasser: »Die Methode hinterlässt keinerlei physische Schäden, wird aber als extrem unangenehm erlebt. In Schweden steht das Scheinertränken nicht ausdrücklich unter Strafe, es ist mit unrechtmäßigem Zwang vergleichbar.«

Katz selbst war in erster Linie verblüfft, überhaupt dort gelandet zu sein, als Einziger, der nicht aus gutem Hause stammte. Er gehörte nicht dorthin, und die Tatsache, dass er überhaupt angenommen worden war, handverlesen noch dazu, verwirrte ihn.

Er warf einen Blick Richtung Toiletten, aber Angela Klingberg ließ auf sich warten.

Und Joel … auch er war ein Außenseiter gewesen, aber aus anderen Gründen, immer noch labil aufgrund der Familientragödie. Seine Eltern waren ähnlich wie die von Katz in seiner frühen Jugend umgekommen, sie hatten sich auf dem herrschaftlichen Landsitz in Sörmland in der Garage mit Autoabgasen das Leben genommen. Joel hatte danach bei seinem Großvater gelebt, Gustav Klingberg, dem Gründer von Klingberg Aluminium, zu jener Zeit ein ergrauter Patriarch, der das Familienimperium mit eiserner Hand regierte. Er war verstorben, kurz nachdem sie ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Katz hatte eine Todesanzeige in der Zeitung gelesen.

Doch die eigentliche Familientragödie lag noch länger zurück; das Verschwinden des Bruders Anfang der Siebziger, ein Ereignis, das ein Jahrzehnt später die Eltern in den Selbstmord getrieben hatte. Schmerz und Schuldgefühle hatten sich geradezu eingefressen in Klingbergs Wesen, sie hatten ihn zu dem gemacht, der er war. Er war nur ein Jahr älter als Katz, hatte aber die Haltung eines alten Mannes, der sich vor dem Schmerz und den Schuldgefühlen darüber, derjenige zu sein, der überlebt hatte, der zurückgelassen worden war, in Theorien, Studien und Russischunterricht flüchtete.

Ein einziges Mal hatte ihm Klingberg davon erzählt, was passiert war, in groben Zügen, wie sein Bruder von einer unbekannten Frau an einer U-Bahn-Station in Stockholm entführt worden und nie wieder aufgetaucht war. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem er sich nicht gefragt hatte, was eigentlich passiert war, wer dahintersteckte, ob es das Werk einer verrückten Einzeltäterin war oder ob mehrere Beteiligte darin verwickelt waren. Hatte es sich um versuchte Erpressung gehandelt, die schiefgegangen war – aber soweit Klingberg wusste, hatte seine Familie nie eine Geldforderung erhalten –, oder handelte es sich um Perverse, vielleicht Pädophile?

Es war, als hätte der Bruder seinen Schatten zurückgelassen, hatte Klingberg zu ihm gesagt. Stell dir das mal vor, Katz, der Körper ist weg und nur der Schatten ist noch da.

Als Angela Klingberg von der Toilette zurückkam, konnte Katz sehen, dass sie geweint hatte. Sie nahm wieder am Tisch Platz, wich seinem Blick jedoch aus.

»Ich möchte, dass Sie herausfinden, was mit ihm passiert ist«, sagte sie mit verbissener Miene. »Ich bezahle gut. Wenn Joel und ich etwas reichlich haben, dann ist es Geld.«

Sie kramte in ihrer Handtasche und nahm einen Stift heraus. Da fiel ihm der chaotische Brief ein, den er Klingberg vor fünfzehn Jahren geschrieben hatte, als er so schlecht drauf gewesen war, der Brief, in dem er ihn um Geld gebeten hatte, ein Bettelbrief, auf den Klingberg nie geantwortet hatte, vielleicht war er ja auch nie angekommen.

»Es ist nicht so einfach, jemanden zu finden, der verschwunden ist«, sagte er. »Vor allem dann nicht, wenn er nicht gefunden werden will.«

»Ich möchte nur, dass Sie es versuchen.«

»Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll. Das ist nicht mein Metier.«

»Sie haben doch Erfahrung aus Ihrer Zeit beim Geheimdienst, oder?«

»Hat Joel das behauptet?«

»Er hat erzählt, dass die Armee Ihnen nach dem Wehrdienst den einen oder anderen Job bei Botschaften verschafft hat.«

»Das ist lange her. Ich habe als Dolmetscher, Übersetzer und Programmierer gearbeitet und war bei den Streitkräften angestellt. Nichts Außergewöhnliches. Ich bin immer noch Übersetzer. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt, ich übersetze Dokumente und Texte für Leute, die gewillt sind, dafür zu zahlen. Ich bin kein Geheimagent. Oder Privatdetektiv.«

Aber sie wusste schon von vornherein, was er auch wusste: Er brauchte das Geld.

»Joel hätte gewollt, dass Sie das machen. Ich brauche Ihre Daten. Bankkonto. Mailadresse. Die Festnetznummer, damit wir so effektiv wie möglich kommunizieren können.«

Katz zog eine Visitenkarte aus der Innentasche seiner Jacke. Darauf standen alle Informationen, die sie benötigte. Als er sie überreichte, entdeckte er, dass er etwas auf die Rückseite gekritzelt hatte. Ein Herz und eine Blume. Aus irgendeinem Grund war ihm das peinlich.

Katz lebte von seinem Feingefühl für Sprachen. Dokumente zu übersetzen und in verständliches Schwedisch zu transkribieren für Auftraggeber, die andere Ziele mit den Informationen verfolgten. Verteidigungs- und Umweltanalytiker, Firmen, die sich über ihre Konkurrenten informieren oder in ihrem Geschäftsbereich die Nase vorn haben wollten. Ab und zu rein technische Übersetzungen, die eine perfekte Übertragung erforderten, damit die Auftraggeber sie verwenden konnten. Es war ein unspektakulärer Job. Stunde um Stunde vor dem Computer. Stunde um Stunde lesen, schreiben, Notizen machen, in Wörterbüchern nachschlagen.

Katz war vorher bei der Capitol Security Group in Solna angestellt gewesen. Der Firmengründer, Rickard Julin, hatte ihn dorthin gelockt, als er vor zehn Jahren gerade wieder festen Boden unter die Füße bekommen hatte. Aber kennengelernt hatten sie sich schon sehr viel früher; Anfang der Neunziger, als Katz als Dolmetscher bei der Armee gearbeitet hatte und Julin beim selben Konsulat beschäftigt gewesen war.

Ende der Neunziger, als die Kürzungen im Verteidigungshaushalt ihren Höhepunkt erreichten, hatte Julin gekündigt und zusammen mit ein paar Finanzspekulanten die Firma gegründet. Zu diesem Zeitpunkt hatten Julin und Katz seit mehreren Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Katz war abgestürzt, hatte auf der Straße gelebt und war mit einem quälend langwierigen Selbstmord beschäftigt, als Julin überraschenderweise auf ihn gestoßen war, es schaffte, ihn in eine Entzugsklinik zu stecken und ihm anschließend den Job anbot. Aber Katz hatte sich dort nie zurechtgefunden. Nach ein paar Monaten in einem Büromodul in Solna, wo er, immer noch verwirrt darüber, dass sein Leben eine so erstaunliche Wendung genommen hatte, für die Kunden der Capitol aus der Waffenindustrie Artikel aus russischen Militärzeitschriften übersetzt hatte, kündigte er und machte sich selbstständig. Großzügigerweise war Julin deshalb nicht beleidigt gewesen, sondern sorgte stattdessen dafür, dass er Aufträge erhielt, die er selbst nicht ausführen konnte, Jobs, die außerhalb seines eigenen Kompetenzbereichs lagen.

Capitol gehörte zu den wenigen Unternehmen in Schweden, die erweiterte Berechtigungen für das Personenschutzgewerbe besaßen. Außerdem gehörten zu ihrem Portfolio Reisebegleitung, Objektschutz, das Aufspüren von Vermögenswerten, Hintergrunderkundungen bei Personen – sogenannte Due Diligence – und selbst das, was Angela Klingberg wünschte: die Suche nach verschwundenen Personen. Deshalb überlegte Katz, ob es wirklich richtig gewesen war, diesen Auftrag anzunehmen. Er hätte sie an Julin verweisen sollen, der über Ressourcen verfügte, die er selbst nicht hatte. Andererseits brauchte er das Geld.

Der Gedanke beschäftigte ihn immer noch, als er in sein Büro zurückkehrte, sich hinter den Schreibtisch setzte und den Blick über seine kleine Welt schweifen ließ: die beiden Computer, den Besuchersessel, der nie Besuch bekam, das Bücherregal mit seinen Akten und Fachwörterbüchern, den in der Wand verschraubten Safe, in dem er streng vertrauliche Unterlagen aufbewahrte. Einer seiner Auftraggeber in diesem Frühjahr war eine Pharmafirma. Das Unternehmen hatte eine Untersuchung des illegalen Verkaufs ihrer medizinischen Präparate über osteuropäische Internetseiten in Auftrag gegeben. Katz’ Arbeit bestand darin, Material zu finden, das für einen eventuellen Gerichtsprozess verwendet werden konnte. Informationen über Transaktionen zwischen virtuellen Brieftaschen genügten, damit die Firma Anzeige erstatten konnte. Aber diese Art von Wissen – bezüglich slawischer Sprachen, russischer Piratensites und darüber, wie das Internet auf der anderen Seite der Ostsee funktionierte, über die geheime Beschaffung von Informationen, neuartige Rootkits, Informationsclouds, VPN-Gateways und wie man Firewalls umging – war sicher nicht das, was er brauchte, um einen verschwundenen Geschäftsmann zu finden.

Er seufzte und nahm sich den wattierten Umschlag vor, den Angela ihm gegeben hatte, zog die Tücher heraus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch.

Das Motiv war rätselhaft: ein Mann, der vor zwei gekreuzten Pfeilen kniete. Ein anderer Mann, dem offenbar Hunde die Beine ableckten. Etwas Religiöses oder nur ein Dekorationsobjekt, Kunsthandwerk irgendeiner Art? Es war nicht einmal sicher, dass diese Tücher etwas mit dem Verschwinden zu tun hatten.

Er nahm das erste Tuch und hielt es unter die Schreibtischlampe. Der Stoff sah alt aus. Das Gewebe war zerschlissen. Die Kreuzstiche waren kurz davor, sich auf der Rückseite zu lösen. Antiquitäten? Klingberg konnte es sich ja leisten, kostbare Gegenstände zu sammeln, wenn er Lust dazu hatte. Die Männer auf den Tüchern waren mit schwarzem Garn gestickt, und etwas in ihrer stilisierten Physiognomie assoziierte er mit Afrika. Sklaven, dachte Katz, ohne seine Überlegung so recht zu verstehen; schwarze, gefangene Menschen.

Er legte alles in eine Schreibtischschublade, schob die Erinnerung an Angela Klingbergs unendlich traurigen Blick im Ritorno beiseite und fuhr den Computer hoch, um via Google Bilder seines alten Wehrdienstkumpanen zu suchen.

Kurze Zeit später hatte er ihn im Vollbildformat vor sich. Es war ein Foto, das im Zusammenhang mit einer Hauptversammlung vor einigen Jahren gemacht worden war. Joel stand neben seinem Onkel, dem Direktor von Klingberg Aluminium, Pontus Klingberg. Hinter ihnen standen Männer im Anzug, alle mit einem Champagnerglas in der Hand. Pontus Klingberg hielt einen eingebundenen Folianten unter dem Arm: laut Bildunterschrift der Jahresabschluss der Firma. Und dann war da Joel, in der dunklen Uniform der Businesswelt mit Schlips, maßgefertigten Schuhen, sein Haar war schütterer als zu der Zeit, als Katz ihn kennengelernt hatte; Joel ohne die Brille, die er damals getragen hatte, aber mit der gleichen Aura von Verlorenheit.

Wie kam es, dass dieser Mann vor ein paar Monaten plötzlich angefangen hatte, von Katz zu reden? Der angeblich einzige Mensch, dem er jemals in seinem Leben vertraut habe?

Vielleicht stand das trotz allem im Zusammenhang mit den Ereignissen, die Katz gegenüber Joels Frau erwähnt hatte: dass er ihn einmal aus einer Schlägerei rausgehauen hatte.

Das war während ihrer Grundausbildung in Karlsborg gewesen. Ein anderer Wehrpflichtiger war vor einem Imbiss auf Klingberg losgegangen, ein Fallschirmjägerrekrut. In der Welt des Militärs waren Menschen wie Klingberg nichts anderes als Streber und Bücherwürmer, Besserwisser-Typen, Brillenschlangen und ehemalige Schulsprecher – was überraschend oft auch zutraf. Zunächst hatte Katz gezögert. Er hatte sich vorgenommen, mit seinem alten Leben als Schläger abzuschließen. Aber eine Sache hatte ihn an diesem Abend diesen Vorsatz vergessen lassen: Klingbergs Schutzlosigkeit.

Er war wie gelähmt vor Schreck gewesen, nicht einmal imstande davonzulaufen. Und bei Katz hatte das einen primitiven Beschützerinstinkt geweckt. Er wusste, dass es nichts gab, wovor er hätte Angst haben müssen. Nicht weil er schneller oder durchtrainierter war als der hünenhafte Elitesoldat vor ihm, sondern weil er gelernt hatte, sich um keinerlei Regeln zu scheren. In dem Moment, als der Kerl vor ihm angefangen hatte, den zu Tode erschrockenen Klingberg zu schubsen, war Katz einen Schritt vorgetreten und hatte ihm seinen Kopf ins Gesicht gerammt. Im nächsten Moment hatte er mit voller Kraft die Kniescheibe des Kerls eingetreten, ihn zu Fall gebracht und die Coca-Cola-Flasche, die er in der Hand hielt, auf dem Hinterkopf seines Gegners zerschlagen. Das alles war in nicht einmal zehn Sekunden vorübergewesen.

Erstaunlicherweise war er damit davongekommen. Keine Anklage. Nicht einmal ein Verweis. Vielleicht war die Scham bei seinem Opfer zu groß gewesen.

Klingberg war hinterher fasziniert gewesen. Woher hatte er die Coolness und die Rücksichtslosigkeit, wo hatte er gelernt, sich so zu schlagen? Und Katz hatte ihm von den Jahren im Erziehungsheim erzählt, der Bandenkriminalität, den Schulproblemen, von dem kleinen »Judenbengel«, der es nicht duldete, wenn ihm jemand Vorschriften machte, von einem Leben, das der krasse Gegensatz zu Klingbergs gewesen war.

Ungefähr da hatte ihre Freundschaft begonnen. Das war nur wenige Wochen nach Antritt ihrer Dienstzeit gewesen. Seitdem hatte Klingberg sich an ihn gehalten.

Er klickte auf das Bild und griff zum Telefon. Dann wählte er Julins Durchwahl. Nach drei Freizeichen hatte er ihn in der Leitung.

»Hier ist Katz«, sagte er. »Könntest du für mich ein paar Sachen bei der Polizei nachfragen?«

Er berichtete kurz vom Verschwinden Joel Klingbergs und dem Auftrag, den er von dessen Frau erhalten hatte, hörte, wie Julin herzlich lachend feststellte, dass Katz jetzt in seinem Revier wilderte, ein Sprach- und Computernerd wie Katz, dann folgte sein charakteristisches Brummen, die erwarteten Einwände, dass er seine Kontakte nicht unnötig strapazieren wolle, aber mal sehen, was sich machen ließe.

»Ich will wissen, womit sie ihre Ermittlungen begonnen haben. Es sieht nämlich aus, als hätten sie sein GPS untersucht, bevor sie beschlossen haben, die Nachforschungen einzustellen. Es kann sein, dass seine Frau sich total verrannt hat. Aber ich will wissen, ob es noch andere Gründe dafür gibt, dass sie den Fall geschlossen haben. Und wenn ich innerhalb der nächsten Tage hier nicht weiterkomme, dann verspreche ich dir, dass ich sie zu dir weiterschicke oder zu sonst jemandem, der weiß, was man da macht.«

»Unterschätz dich nicht, Katz. Und sieh das als Chance, deinen Horizont zu erweitern.«

»Wenn du versprichst, mir zu helfen.«

»Ich werde sehen, was ich rauskriegen kann. Du musst aber etwas Geduld haben.«

Gut so, dachte Katz. Julin verfügte über Kontakte, die er selbst nicht hatte.

Nach nur wenigen Stunden hatte Julin die Ermittlungsakten über Klingbergs Verschwinden besorgt. Der Fall war nach einem Tag bereits ad acta gelegt worden, es war keine Fahndung herausgegeben worden. Nichts deutete darauf hin, dass es sich um ein Verbrechen handelte. Es lagen keine Informationen darüber vor, dass jemand aus der Familie Klingberg von Kidnappern kontaktiert worden war. Ein Ermittler hatte pflichtbewusst die Krankenhäuser angerufen, um sich zu erkundigen, ob Klingberg möglicherweise einen Unfall gehabt hatte, jedoch ohne Erfolg. Es sah alles eindeutig nach einem freiwilligen Verschwinden aus, und die Polizei sah keine Veranlassung, weitere Schritte zu unternehmen. An seinen Onkel Pontus Klingberg, den Direktor des Familienunternehmens, hatte Joel eine Mail geschickt, in der er ihm mitteilte, dass er auf unbestimmte Zeit verreist sei. Laut Polizeibericht hatte das eher Verärgerung als Besorgnis in der Chefetage hervorgerufen. Einige wichtige Geschäftsabschlüsse standen kurz vor der Unterzeichnung, und Joel als Chefjurist des Unternehmens wurde für die Vertragsentwürfe gebraucht.

Was den Wagen betraf, der im Parkhaus abgestellt worden war, so hatte Klingberg dafür einen Parkschein für unbegrenzte Parkdauer gelöst. Das Fahrzeug war lokalisiert und von der Spurensicherung untersucht worden, anschließend hatte Angela Klingberg es abgeholt. Julin hatte das GPS-Logbuch an seine Mail angehängt. Es stimmte mit dem überein, was Angela Klingberg erzählt hatte, mit dem einzigen Unterschied, dass Joel noch ein weiteres Mal am Tennisplatz in Traneberg gehalten hatte, bevor er in die Stadt gefahren war, den Wagen abgestellt und sich in Luft aufgelöst hatte.

Während Katz ein weiteres Mal die Unterlagen durchging, beschäftigte ihn der Gedanke, Klingberg habe ihm etwas mitteilen wollen, und deshalb nur zweihundert Meter von seinem Haus entfernt im Auto gesessen. Aber warum hätte es so sein sollen? Alles sprach dafür, dass es sich nur um einen Zufall handelte.

Welche Beweggründe gab es für einen Menschen, freiwillig zu verschwinden? Wenn er davon ausging, dass Angela Klingberg recht hatte und ihr Streit nichts damit zu tun hatte. Eine Bedrohung? Hatte Klingberg vor irgendetwas so große Angst, dass er es vorzog unterzutauchen? Ein Verbrechen? War er in kriminelle Machenschaften verwickelt? Oder war er drogenabhängig oder es früher gewesen und hatte einen Rückfall erlitten?

Falls es sich nicht um eine Affäre handelte und er mit einer Geliebten abgehauen war. Aber ein normal veranlagter Mann würde eine Frau wie Angela nicht für eine andere verlassen. Er sah sie vor sich, wie sie am Cafétisch im Ritorno gesessen hatte, den Schmerz, den sie ausstrahlte und der ihn zu seiner eigenen Verwunderung heißmachte, die langen, eleganten Finger, die aus einer Anspannung heraus, die von der Sorge um ihren Mann herrührte, leicht zitterten, und ohne dass er es verhindern konnte, fing er an, sich vorzustellen, wie sie Knopf um Knopf sein Hemd öffnete, mit den Fingernägeln den Brustkorb und am Nabel entlangfuhr, die Hand um sein Geschlecht legte, die Hand mit dem Ehering, die ihn durch den Hosenstoff hindurch massierte, bis er steif wurde, und dann wieder schlaff von etwas, das wie Selbstverachtung erschien, aber in Wirklichkeit wohl Neid war.

Den Rest des Nachmittags verbrachte er damit, Klingberg zu googeln, ohne etwas zu finden, was mit seinem Verschwinden zusammenhängen konnte. Dem Familienunternehmen schien es jedenfalls gut zu gehen. Man hatte neue Verträge abgeschlossen mit Industrieriesen in Russland und China. Joel tauchte in einigen Bekanntmachungen auf, unter anderem hatte er den Posten im Aufsichtsrat gewechselt, war vom einfachen Mitglied zum stellvertretenden Vorsitzenden aufgestiegen. Ansonsten nichts außerhalb der Geschäftswelt. Nichts auf LinkedIn, Facebook oder in anderen sozialen Netzwerken.

Gegen halb fünf rief er bei Klingberg Aluminium an, um ein Gespräch mit Joels Onkel zu vereinbaren, aber er kam nur bis zu einer Sekretärin, die ihm mit entschlossener Stimme erklärte, sie würde sich noch einmal melden, wenn sie im Kalender nachgeschaut hätte. Er legte auf, überlegte kurz, ob er für den Tag Feierabend machen sollte, wählte dann aber Angela Klingbergs Nummer.

»Könnte ich mir einmal Joels Auto ansehen?«, fragte er, nachdem sie sich gemeldet hatte.

»Glauben Sie, dass da etwas zu finden ist, was die Polizei übersehen hat? Na gut – und wann?«

»Jetzt, wenn das möglich ist.«

Er hörte ihren gleichmäßigen, ruhigen Atem dicht am Ohr, als lägen sie nebeneinander im Bett, ihre Lippen an seiner Wange, kurz vor dem Einschlafen.

»Geht es auch etwas später am Abend?«

»Ja, natürlich. Außerdem würde ich mir gern seinen Computer ansehen.«

»Das dürfte kein Problem sein. Der steht in seinem Arbeitszimmer, so wie er ihn zurückgelassen hat.«

»Perfekt, wann passt es Ihnen denn?«

»Wäre halb neun in Ordnung?«

»Natürlich. Es wird nicht lange dauern.«

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