Schattenkiller - Mirko Zilahy - E-Book
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Schattenkiller E-Book

Mirko Zilahy

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Beschreibung

"Ich bin nur ein Schatten. Aber ich weiß, was ihr getan habt. Und ich werde nicht eher ruhen, bis eure Schuld gesühnt ist."

Seit Wochen schüttet der Septemberhimmel gewaltige Wassermassen über Rom aus. Nahe des Tiber werden an düsteren Orten drei Leichen entdeckt, deren Entstellungen der Polizei Rätsel aufgeben.

Profiler Enrico Mancini, anerkannter Experte für Serienmorde, sieht zunächst keine Verbindung zwischen den Fällen. Doch dann erhält er verschlüsselte Botschaften, alle von einem Absender, der sich Schatten nennt. Botschaften, die ein neues Licht auf die Taten werfen. Denn ein grausamer Racheplan ist offenbar noch nicht vollendet. Und weist bald in eine einzige Richtung - in die Mancinis.

»Ein fesselndes Thrillerdebüt mit dem Fresko eines herbstlich düsteren Rom als atmosphärischer Kulisse« La Stampa

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Seitenzahl: 542

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorspann

ERSTER TEIL Enrico Mancini

1

2

3

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5

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ZWEITER TEIL Das Team

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DRITTER TEIL Der Schatten

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VIERTER TEIL Die Tode Gottes

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EPILOG

ANMERKUNGEN DES AUTORS

DANKSAGUNG

Mirko Zilahy

SCHATTEN-KILLER

Thriller

Aus dem Italienischen vonKatharina Schmidt und Barbara Neeb

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der italienischen Originalausgabe:»È così che si uccide«

Für die Originalausgabe:Copyright © Mirko ZilahyPublished by arrangement with Laura Ceccacci Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnUmschlaggestaltung: Bürosüd, MünchenTitelabbildung:© Francesco Sanesi, www.francescosanesi,tumblr.com

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3046-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Der erste Sinn, der ihm schwindet, kaum dass das lodernde Feuer ihn trifft wie ein Schlag, ist das Sehen. Die Wimpern verbrennen sofort mit einem Zischen, die Augäpfel pochen. Er schwankt. Die Wände drehen sich wie ein unaufhörlich saugender Strudel. Züngelnd greifen die Flammen auf die Baumwolle über, die sofort mit der Haut verschmilzt, verbrennen das Fleisch, durchtrennen die Muskeln, legen die Nerven bloß. Einer nach dem anderen schwinden die übrigen Sinne, ein schrilles Pfeifen überflutet die Trommelfelle, alles schwankt. Er bekommt keine Luft, die Flammen wabern auf seiner Kleidung, dringen in die Nasenlöcher und schlängeln sich durch den Nasengang ins Gehirn. Er öffnet den Mund, will atmen, schreien, doch das Feuer verschmort seinen Gaumen, verbrennt seine Zunge, dringt tief in ihn ein.

Unvermittelt wird er gepackt, umgeworfen, wie von einer eisigen Windbö. Dann blitzschnell eingehüllt, wie in den Kokon einer riesigen Schwarzen Witwe. Ist das die letzte Umarmung des Feuers?, kann er noch denken, bevor er auf dem Boden aufschlägt.

Der Aufprall ist hart, schmutzig, schlammig. Er kracht auf den Boden, rollt weiter, angetrieben von dieser unsichtbaren Kraft. Die heiße Haut trifft auf die Feuchtigkeit, wird zum Lehmpanzer, er ist gefangen, versiegelt in dieser Puppe aus getrocknetem Schlamm. Spürt die ersten Zuckungen, Nachbeben des Lebens, das aus ihm weicht.

Dann wird alles dunkel.

Als er aufwacht, liegt er auf der Seite. Er öffnet das, was von seinen Lidern noch übrig ist, und lässt den Blick aus seinem linken Auge ein Stück nach oben wandern. Das Display über der Tür zeigt 07:13 Uhr.

Das Atmen kostet ihn große Mühe, fortlaufende, quälende Versuche, in winzigen Dosen Luft zu bekommen. Die Haut an den Armen, im Gesicht und über der Brust ist buckelig, wie Pappmaschee. Er muss husten, reißt vor Schmerz die Augen auf. Neben sich im Schlamm, den die Flammen ausgetrocknet haben, erblickt er ein verbranntes Gesicht.

Träumt er?

Das ist ein Albtraum, ein schmerzhafter, nur allzu realer Albtraum. Sogar die Haut auf dem Kopf ist verbrannt, verdorrt. Er versucht, den Mund zu öffnen, aber als die Lippen sich voneinander lösen, drängt erneut die Hitze in ihn, füllt die Lungen, die Haut auf der Brust knackt wie Luftpolsterfolie zwischen den Fingern eines gelangweilten Kindes. Die Luft, die er schließlich einsaugt, ist flüssiges Feuer.

Das schwarz verschmierte Gesicht, keinen halben Meter von ihm entfernt, bewegt sich jetzt, kommt näher. Er sieht zu, reglos, unfähig zu reagieren. Das Gesicht neigt sich ihm entgegen, legt sich auf seine Brust und verharrt dort. Lauscht seinem unbeständigen Atem, erspürt die Schläge seines erschöpften Herzens, sekundenlang, hebt sich wieder.

Wer ist das?

Am ganzen Körper pulsiert das Fleisch, als hätte man ihn in den rauchenden Krater eines Vulkans geworfen. Er kann nicht jedes einzelne Zucken erfassen, die simultane Fülle des Schmerzes erschöpft ihn, überführt ihn seiner wahnsinnigen Verzweiflung.

Verliert er den Verstand?

Dem Mund entschlüpfen sinnlose Silben, spröde, das Gurgeln einer tonlosen, zusammengeschrumpften Stimme.

»Warum?«

ERSTER TEILEnrico Mancini

1

Rom, Montag, 1. September, Nacht

Die bleiche Mondscheibe hing verschwommen über dem hohen Stahlgeflecht, während der Himmel wahre Wassermassen über die Stadt ausschüttete. Am Ufer des Tiber, zwischen den Überresten der alten Seifenfabrik Mira Lanza, schob sich ein Schatten durch das Labyrinth aus Gestrüpp. Zahlreiche Trampelpfade zeugten vom vielen Hin und Her zwischen diesem Versteck am Lungotevere Gassman und der Straße. Rasch schlich er voran, den Oberkörper gebeugt, um nicht aus den Fenstern am Viale Marconi gesehen zu werden, die in Richtung der Industrieruine zeigten.

Es war kalt an diesem Abend. Durchnässt und hungrig war er immer noch auf der Suche nach Essensresten oder ein paar Münzen. Er hatte sich weit aus seinem Unterschlupf gewagt, die Straße entlang bis zum Imbiss in der Via degli Stradivari. Doch der Regen hatte die Menschen in ihre Häuser getrieben, und so war dort an diesem Montag Anfang September kein einziger Kunde. Der fette Koch mit der roten Mütze hatte gerade an der Hintertür die letzten Züge seiner filterlosen Camel geraucht, also hatte er ihn um ein Brötchen gebeten. Mehr hatte er jedoch nicht erbetteln können, denn der andere Typ, der mit dem schwarzen T-Shirt und dem rasierten Schädel, hatte ihn angebrüllt, die Bierflasche in der Hand: »Du schon wieder? Hau ab, du Dreckszigeuner.«

Er hatte sofort auf dem Absatz kehrtgemacht, wohl wissend, dass er nicht mehr bekommen würde, aber das höhnische Gelächter und der Schlag der Bierflasche in den Rücken, kurz bevor sie auf dem Boden zerschellte, hatten ihn kurz zusammenzucken lassen. Er war Hals über Kopf auf seinen schmutzigen, dünnen Beinen durch den Regen geflohen, jedoch am Ponte di Ferro nicht gleich rechts abgebogen, wo er sich im Schutz des dichten, vertrauten Gebüschs hätte fortbewegen können. Seine Wut darüber, ohne Essen heimzukehren, war stärker gewesen als die Vernunft, und so hatte er die Brücke überquert, war auf die Schotterstraße eingebogen und schließlich zu den Metallzäunen gelangt, welche die ewigen Baustellen rund um den Flusshafen umgaben.

Der Regen nahm zu und verschleierte den Mond über dem Stahlskelett des großen Gasometers. Getroffen vom silbrigen Schein, verwandelten die Stützen, die umlaufenden Streben, die beweglichen Stahlkränze und die unverrückbaren Bolzen die hohe Metallkonstruktion in ein Ungeheuer – halb Bauwerk halb Maschine –, gehüllt in einen eisigen stählernen Mantel. Die Regentropfen daran, hängend, vom bleichen Licht erfasst, verwischten den Umriss, fast so, als gerate die bizarre, zylindrische Form in einer Drehung um sich selbst in Bewegung.

Beschützt von drei identischen, wenn auch deutlich kleineren Gasometern sowie einer Vielzahl verfallender Gebäude, wachte der Stahlkoloss über die Tiberbiegung. Hier war achtzig Jahre zuvor das größte und produktivste Industriegebiet der Stadt beheimatet gewesen, die Gasversorgungsbetriebe, das Wärmekraftwerk und das alte Zollamt, während sich auf der anderen Seite des Flusses die eingefallenen Gebäude und der Ziegelschornstein der Seifenfabrik befanden, das Getreidesilo der landwirtschaftlichen Genossenschaft und die Mühlen der Firma Biondi, die schon seit Langem nicht mehr in Betrieb waren.

Rechts fiel das Ufer ein Dutzend Meter steil ab, hinunter zu den Büschen und Bäumen, die im Moment knapp unterhalb des Wasserspiegels lagen. Nach dem sehr heißen August hatten die Regenfälle der vergangenen Woche den Flusspegel rasch ansteigen lassen, nun führte der Tiber Hochwasser. Schmutzig grün floss es voran, klatschte gegen die Uferdämme und die Pfeiler des Ponte di Ferro. Vor dem Jungen erhoben sich drei fahle Bauten mit dunklen Dachschrägen, die Fenster durch überkreuzte Holzbalken verrammelt. Er huschte eilig vorbei und auf die riesigen, sandfarbenen Gebäude des ehemaligen Großmarkts zu, wo die schlafenden Mastinos gleich wachsam und stumm ruhten.

Der Junge suchte Schutz am ersten Haus, und verschnaufte unter dem Vordach ein wenig. Er ließ seinen Blick schweifen, hinauf zu den beiden gewaltigen Stahlarmen, die sich über das Ufer hinweg bis auf den Fluss erstreckten, Verladebrücken, welche einst die riesigen Winden zum Verladen von Kohle und anderen Waren auf die Lastkräne getragen hatten.

Seine Neugier war geweckt, und als der Regen nachließ, verließ er das schützende Dach und drang weiter zwischen den im Dunkel liegenden Häusergerippen vor. Links von ihm erhoben sich zwei kleine Stahlbetontürme, auf denen gewaltige zylindrische Tanks ruhten – Eisenkonstruktionen, Gittergerüste und Wasserspeicher, deren Sinn und Zweck er nicht verstand. Die Luft war drückend, und das Atmen fiel ihm schwer, trotz der kräftigen Windböen, die irgendwo in der Ferne eine Glocke zum Schwingen brachten. Das Heulen des Windes und ein düsteres, leises Echo ließen ihn erschaudern.

Aber er hatte keine Angst, sollten die Jungs aus seinem ehemaligen Lager doch reden, diese beiden Blödmänner, mit denen er gewettet hatte, wer mehr verwertbare Reste in den Müllcontainern fand oder wie viele Autos zwischen zwei Rotphasen passieren würden. Nach dem Tod seiner Mutter hatten sie angefangen, ihn zu hänseln, und manchmal verprügelten sie ihn auch. Sie hatten ihm immer die schwierigsten Aufgaben übertragen und ihn »Hosenschisser« genannt wegen seiner Heidenangst vor den streunenden Hunden im Lager. Aber was hätte er denn machen sollen, wenn die ihn bellend verfolgten, sobald er zum Pinkeln in die Latrine ging? Deshalb war er im August aus dem Lager weggelaufen und dort unten an den Fluss gezogen. Er hatte sich im Gebüsch bei der alten verlassenen Seifenfabrik versteckt und sich dort in den drei verbliebenen Mauern eines teilweise überdachten kleinen Anbaus einen Unterschlupf eingerichtet. Innen wuchs ein großer Feigenbaum, dessen Stamm durch die eingestürzte Decke ragte. Die aschgraue, ehemals glatte Rinde trug unzählige, milchige Narben, die Spuren seines Taschenmessers, sein persönlicher Kalender. Die Feigen der unteren Zweige hatte er gleich nach seiner Ankunft gegessen, und die länglichen Blätter nutzte er als Klopapier, wenn er nichts Besseres fand. Sogar ein Bett hatte er sich gebaut, aus einer Matratze, die neben einem Müllcontainer gelegen hatte, und Laken, die er von einem Balkon am Viale Marconi gestohlen hatte.

Man konnte ihm viel nachsagen, nicht aber, dass er ein Angsthase war. Er war jetzt elf Jahre alt und lebte schon allein. Na gut, er schaffte es nicht jeden Tag, das Nötigste zu besorgen und mit vollem Magen schlafen zu gehen, aber er konnte nicht klagen. Immer noch besser, als mit einem Plastikbecher in der einen und einem schmuddeligen Heiligenbildchen in der anderen Hand an Ampeln, in der U-Bahn oder vor San Paolo fuori le mura betteln zu gehen.

Ein paar Dutzend Meter weiter blieb er stehen. Er kauerte sich hin, suchte mit einer Hand den Boden ab, bis er einen großen porösen Stein fand, einen dieser grauen. Er packte ihn und stand auf, suchte mit dem Blick nach einem Ziel, das im Halbdunkel zu erkennen war. Er straffte die Schultern, drehte sich wie ein Diskuswerfer auf dem linken Fuß einmal um die eigene Achse, holte Schwung, blieb abrupt stehen und warf den Stein kräftig ab. Er flog weit, direkt auf einen Bau zu, der in der Dunkelheit glänzte, wie eine hohe Kathedrale aus Stahl, mit zwei weißen Wasserspeichern als Kirchtürmen. Der Junge meinte zu erkennen, dass der Boden im hufeisenförmigen Innenraum aus Metall war.

Der Stein fiel, doch der Boden warf kein Geräusch zurück, nicht einmal ein helles Scheppern, wie der Junge es erwartet hätte.

Vielleicht habe ich ja etwas getroffen, dachte er in der Hoffnung, dass es kein streunender Hund war, der dort Unterschlupf gefunden hatte, oder gar ein Obdachloser an seinem Schlafplatz. Die ausgetretenen Flipflops rutschten über das schlammige Pflaster, als er auf seinen dünnen Beinen auf das Gebäude zu rannte.

Aus der Nähe wirkte es noch gespenstischer, hoch wie ein fünfstöckiges Wohnhaus, dazu vier Ecktürme und im weitläufigen Innenraum zwei Reihen riesiger Stahlflaschen. Im Inneren des hufeisernen Raumes fühlte sich der Junge an einen Brennofen erinnert, von dessen höchstem Punkt viele kleine Rohre waagrecht zu den oberen Enden der Stahlflaschen führten. Mit wenigen Schritten war er in der Mitte des Raumes, suchte aufmerksam den Boden nach dem Stein ab, fand aber nichts. Das Einzige, was er beim Gehen bemerkte, war ein schwacher säuerlicher Geruch, abstoßend und zugleich irgendwie vertraut, ohne dass er hätte sagen können, woher er rührte.

Er beschloss, alle Wände des rechteckigen Raumes abzugehen, der von zwei kurzen Seitenwänden und einer etwas längeren Rückseite begrenzt war. Er wandte sich nach links, als er in der Mitte der längeren Seite eine drei Meter hohe Öffnung bemerkte, breit wie ein Höhleneingang. Er trat darauf zu und sah sich äußerst wachsam um.

Es war die Öffnung zum eigentlichen Ofen.

Ein Blitz zuckte durch die Luft und erhellte für den Bruchteil einer Sekunde den Raum. Gleich darauf wurde der Regen wieder stärker, das Prasseln lauter. Der Junge glaubte im Lichtblitz eine Bewegung im Innern des Ofens ausgemacht zu haben. Einen dunklen Fleck, eine Augentäuschung.

Und dann sah er es.

Wenige Meter vor ihm, in der Mitte der Metallkonstruktion, lag ein undefinierbarer Gegenstand. Draußen prasselte der Regen auf das Pflaster und schirmte die Kathedrale durch eine Wasserwand von der Außenwelt ab. Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel, sein flüchtiger Schein jagte über die glänzenden Flächen des Raumes, erhellte das Zentrum des Ofens.

Ein Körper. Vor ihm lag ein Körper.

Der Junge erstarrte.

Sein Blick suchte in der Dunkelheit nach den Umrissen der Gestalt. Und nach einem Lebenszeichen. Es donnerte, dann erhellte abermals ein Blitz den Raum, und erst da entdeckte er in einer Ecke, nahe einer Wand aus Stahlblech, den Stein, den er geworfen hatte. Meine Güte, dachte er, ich habe den armen Kerl getroffen und ihn getötet! Er machte eilig einen Schritt auf den Körper zu, um nachzusehen, ob er noch atmete.

Vereinzelte Regentropfen fielen leise klirrend in den silbern schimmernden alten Ofen. Der Junge schluckte trocken und tat noch einen Schritt, denn er war kein Hosenschisser, und hier gab es keine streunenden Hunde. Noch ein Schritt, dann verharrte er wenige Zentimeter von dem Körper entfernt.

Der bewegte sich nicht, er musste ihn also an der Stirn getroffen haben. Er beugte sich vor, um nach einer Verletzung zu suchen. Die Gestalt war in einen blauen Sack gehüllt, verschlossen mit einem langen Metallreißverschluss, aus dem aber ein Teil des Kopfes und die Füße herausragten. Der Junge ließ seinen Blick von seinen schmutzigen Flipflops zu den Spitzen eines Paars beinahe neuer Laufschuhe wandern, die aus dem Sack hervorstachen, und machte sich dann mit flinken Fingern an das Aufknoten der Schnürsenkel. Die Schuhe waren zu groß, aber das war ihm egal.

Er würde den Sack öffnen müssen, um den Spann befreien und die Schuhe ausziehen zu können. Ohne zu zögern zog er am Reißverschluss.

Der klemmte. Er probierte es noch einmal, vergeblich. Versuchte es mit Gewalt, bis ihm mit einem Mal aufging, warum er ihn nicht aufbekam. Das Teil war schmutzig, vollkommen verkrustet. Nachdenklich stand der Junge auf.

Und plötzlich begriff er.

Ein Schreckensschauer kitzelte ihn im Nacken, lief ihm kalt die Wirbelsäule hinunter bis zum Steißbein.

Der Typ in dem Sack … Wenn er da so eingewickelt lag, konnte er ihn mit seinem Stein gar nicht getötet haben.

»Heiliger Himmel«, konnte der kleine Niko gerade noch hervorstoßen, dann wurden aus der kaum merklichen Bewegung von zuvor drei schnelle Schritte.

Und selbst der ferne Schein des Mondes erlosch.

2

Rom, Dienstag, 9. September, 08:15 Uhr

Enrico Mancini, Beamter bei der Kriminalpolizei im Revier Monte Sacro, stand in seinem Büro über seinen Schreibtisch gebeugt und blätterte im Messaggero.

Er faltete die Zeitung einmal mit seinen Fingern, die in braunen Lederhandschuhen steckten, dann beugte er sich noch weiter vor, um besser lesen zu können. Schlug die schmale schwarze Krawatte zurück, die er zu dem über die Jeans hängenden grauen Hemd trug, weil sie nun vor seinem Blickfeld baumelte. Doch er kam nicht dazu, die ersten Zeilen des Artikels zu studieren, denn in diesem Moment enterte, von Kopf bis Fuß durchnässt, ein blonder Höhlenmensch den Raum, langer Bart, die Augen so blau wie die Hose und das Hemd, das er trug. Walter Comello, der jüngste Ispettore der Kriminalpolizei.

»Haben Sie schon gehört, Commissario?«, sprudelte es aus ihm heraus. »Drüben bei San Paolo ist die Hölle los! Dort wurde eine Leiche gefunden!« Er hielt kurz inne, um Luft zu holen, wartete auf eine Reaktion, die jedoch ausblieb, und fuhr fort: »Eine Frauenleiche, brutal aufgeschlitzt.«

»Beruhig dich. Und dann erklärst du es mir«, sagte Mancini, ohne den Blick von der Zeitung zu heben.

»Offenbar eine grauenhafte Geschichte. Heute Morgen wurde auf dem unbefestigten Gelände vor der Basilika …«

»Von wem kam die notitia criminis?«

»Eine Studentin hat den Fund gemeldet. Die Leiche einer Frau, so um die vierzig, zerteilt wie ein Tier. Einmal der Länge nach und einmal quer, mit einem Kreuz in der Mitte wie bei einer Pagnotta …«

»Hör auf damit, Walter.« Mancini seufzte und atmete dann langsam aus. »Wer ist diese Studentin? Was wollte sie um diese Zeit dort?«

»Ihr Name ist Paola Arduini. Sie hat ausgesagt, vor einer anstehenden Prüfung dort zur Messe gewesen zu sein. Die Dritte Universität liegt dahinter, in Ostiense, in der Gegend wimmelt es von Studenten«, erklärte Comello seinem Vorgesetzten, der immer noch reglos vor seiner Zeitung stand.

»Du siehst jetzt erst mal zu, dass du dich mit dem Händetrockner halbwegs trocknest, und dann kommst du wieder her.«

Mancini musterte Comello eingehend, schüttelte den Kopf angesichts des traurigen Anblicks, den der durchnässte Riese bot, um dessen alte weiße Adidas-Schuhe sich jetzt zwei große Pfützen auf dem Boden ausbreiteten. Der Polizist verschwand, kehrte aber bereits fünf Minuten später zurück, die goldblonden Haare zerzaust.

»Wer ist mit dem Fall betraut?«, fragte Mancini.

»Das für die Gegend zuständige Kommissariat.«

»Na dann«, Mancini legte eine Pause ein und warf seinem Untergebenen einen Blick zu, »betrifft uns die Sache wohl kaum, wir sitzen schließlich auf der anderen Seite von Rom.«

»Man kann nie wissen …« Comello grinste verschwörerisch.

Ispettore Comello, das Faktotum der Station – Fahrer, Computerfreak, Vertrauensmann und wenn nötig Schläger –, kannte Mancini nur zu gut. Comello war dreißig Jahre alt, arbeitete seit zwei Jahren als Ispettore bei der Polizei, was die beiden goldenen Fünfecke auf der Epaulette seiner Uniform bezeugten, die er ausschließlich zu offiziellen Anlässen trug. Er hatte Mancinis Karriere schon zu seiner Zeit als einfacher Streifenbeamter verfolgt und diesen Profiler aus dem eigenen Haus für seine internationalen Erfolge bewundert. Nach seiner Beförderung war er im Polizeirevier Monte Sacro gelandet, demselben, in das Enrico Mancini sich vor anderthalb Jahren, als seine Frau erkrankt war, hatte versetzen lassen, um näher an seinem Wohnort zu sein. Kurz gesagt, Comello kannte die verschlungenen Pfade, die den Commissario menschlich wie beruflich in dieses kleine Revier geführt hatten.

Einen Moment herrschte Schweigen. Das kalte Neonlicht des Raumes schien von den vergilbten und mit grauen Flecken überzogenen Wänden regelrecht aufgesaugt zu werden. Zu den wenigen Einrichtungsgegenständen im Raum gehörten ein Papierkorb in einer Ecke und ein altes Ledersofa, das irgendein längst pensionierter Beamter beschafft hatte. An der Wand hinter Mancinis Schreibtisch befanden sich ein Polizeikalender und das Foto des Staatspräsidenten, auf dem Tisch ein alter Computer und drei grüne Aktenmappen.

Als an der Tür das gedämpfte Geräusch von Fingerknöcheln auf Holz erklang, wandten sich die beiden Männer gleichzeitig der Türöffnung zu, aus der die schwere Stahltür entfernt und an die benachbarte Wand gelehnt worden war.

In der Öffnung stand Caterina De Marchi, Ispettrice und zudem die Fotografin des Reviers. Klein und zierlich, mit kupferrotem Haar und tiefgrünen Augen und schlank aufgrund jahrelangen, frühmorgendlichen Joggens.

»Cate«, begrüßte Comello sie.

»De Marchi«, sagte Mancini beiläufig.

»Wir können jetzt los, zum Haus von Dottor Carnevali.« Caterina De Marchis Versuch, Blickkontakt mit Mancini aufzunehmen, scheiterte.

An diesem Morgen stand der Ortstermin in Mauro Carnevalis Villa an, einem als vermisst gemeldeten Chirurgen. Fünfundfünfzig Jahre alt, geschieden und Vater eines Sohnes, war er alleiniger Bewohner eines imposanten Landhauses in der Nähe von Rom. Er arbeitete im Poliklinikum Gemelli, wenn er nicht Patienten in seiner Privatpraxis in Parioli empfing. Er hatte keine Hobbys und verreiste nie, die Medizin war, wie man so sagt, seine Lebensaufgabe. Am Morgen seines Verschwindens hätte er eine Operation durchführen sollen, war aber nicht im Krankenhaus erschienen. Die Stationsschwester auf der Onkologie hatte beständig versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, jedoch immer nur ein Freizeichen als Antwort erhalten.

All das stand in der Akte mit der Aufschrift »Vorgang Carnevali« auf dem Schreibtisch des Commissario. Was nicht in der Akte stand, sich aber wie mit flammenden Buchstaben in Mancinis Hirn gebrannt hatte, war die Tatsache, dass durch eine seltsame Laune des Schicksals Carnevali der behandelnde Arzt … nein, der Arzt gewesen war, der versucht hatte, Marisas Krebserkrankung zu behandeln.

»Wir warten im Wagen auf Sie«, sagte Caterina und verließ den Raum.

»Noch ein Kaffee, dann komme ich«, rief Mancini ihr hinterher. Comello wartete in der Tür auf ihn.

Mancini stand vor der Kaffeemaschine, als das schrille Klingeln des altmodischen Bakelitapparats auf seinem Schreibtisch die Stille durchbrach. Ungläubig und verärgert wandte Mancini sich um und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Zwanzig nach neun.

»Ja?«, blaffte er in den Hörer. Nickte, lauschte eine Weile schweigend und legte schließlich auf. Dann strich er sich mit den Fingerspitzen über die Lider und sagte knapp, ohne Comello anzusehen: »Das war Questore Gugliotti. Er hat mich ›gebeten‹, Commissario Lo Franco bei den Ermittlungen zu unterstützen. Erst einmal rein informell …«

Comellos Antwort kam schnell: »Ich wusste es, Dottore. Ich wusste es.«

»Lass das.« Aus Mancinis dunklen Augen war jeder Glanz gewichen. »Ich muss los. Dann müsst eben ihr zwei den Ortstermin in Carnevalis Haus erledigen.«

»Zu Befehl«, antwortete Comello.

Mancini hatte dem nichts hinzuzufügen. Er wandte sich um, trat ans Fenster, schob mit zwei Fingern die Jalousie beiseite und sah hinaus.

Es regnete.

Seit Tagen litt Rom unter einem lähmenden Regen. Schmutzwasser, grau wie der Himmel, aus dem es herabströmte, überflutete die Via Nomentana, seit die unzureichenden Abwasserkanäle der Hauptstadt sprudelnd überliefen. Die Kanalschächte konnten die ungeheuren Wassermassen nicht mehr aufnehmen, Abfälle und Papiermüll trieben die Straße entlang, wo sich der Verkehr, gesättigt von Kohlenmonoxyd, wildem Hupen und Fluchen, wie eine riesige Raupe auf der breiten Hauptverkehrsader vorwärtsschob. Der Aniene war am Ponte Nomentano über die Ufer getreten und hatte, begleitet von unermüdlichen Strudeln, eine schmutzig gelbe Farbe angenommen.

Diese meteorologische Tortur wird die Römer kaum in die Knie zwingen, dachte Mancini, schließlich haben sie im Laufe der Jahrhunderte gelernt, sich nicht mehr über irgendetwas zu wundern, sondern stattdessen lieber zu fluchen und weiterzumachen. Allerdings war das Wetter gerade dabei, Einfluss auf seine persönliche Stimmung zu nehmen. Tief in seinem Inneren spürte er, wie sich das inzwischen gewohnte Grau in das Schwarz der schlimmsten Momente verwandelte. Das ihn bald in eine seiner Krisen hineinziehen würde.

Er war gerade dabei, sich dies einzugestehen, als seine Beine sich wie von selbst auf die lederne Aktentasche zubewegten, die am Fuß des Schreibtischs lehnte. Er bückte sich, und seine Hand glitt automatisch hinein.

Sie war da. Er wusste es.

Mancini richtete sich auf, lauschte einen Augenblick, bis er sicher war, allein zu sein. Er seufzte, presste die Augen fest zu und hob den Hals der immer noch eisgekühlten Flasche an seinen Mund.

3

Rom, Dienstag, 9. September, später Vormittag

Um elf Uhr betrat Commissario Enrico Mancini mit seinen eins siebenundachtzig, den ausgeblichenen Trenchcoat eng um den Leib geschnürt, gemächlichen Schrittes die Polizeiwache des Reviers Garbatella, jenen hässlichen ockergelben Betonklotz im rationalistischen Stil, dessen einfallslose Geradlinigkeit für den jetzigen Verwendungszweck wie geschaffen schien.

Mancini fischte ein Päckchen Kaugummi aus der Tasche seiner Jeans, riss es auf und schob sich einen Streifen in den Mund. Commissario Lo Franco erwartete ihn schon in seinem Büro mit den zwei roten Sesseln und Zimmerpflanzen in jeder Ecke.

»Dario.«

»Enrico, wie geht’s?« Sein Gegenüber musterte ihn durch die Gläser seiner rechteckigen Brille.

»So lala.« Mancini ließ sich in einen der Sessel vor dem Schreibtisch fallen. »Ich arbeite am Fall des vermissten Dottore Carnevali«, sagte er, augenscheinlich mehr zu sich selbst.

»Ich habe davon gehört.« Lo Franco richtete den linken Bügel seiner Brille, der mit Klebeband befestigt war.

»Aber es gibt nichts Neues, von einer Spur ganz zu schweigen«, fuhr Mancini fort. »Hier, sieh dir das an.« Er holte den Messaggero aus der geräumigen Tasche seines Trenchcoats und zeigte Lo Franco die Schlagzeile der Lokalseite.

RÖMISCHER CHIRURG VERSCHWUNDENENTFÜHRUNG ODER LIEBESFLUCHT?

»Wenn die nichts zu schreiben haben, saugen sie sich eben was aus den Fingern.« Lo Franco kniff seine kleinen dunklen Augen unter dem spärlichen roten Stoppelschopf zu jenem schroffen Ausdruck zusammen, der so typisch für ihn war.

»Du weißt, warum ich hier bin, oder?«

»Klar, Gugliotti hat mich angerufen.«

»Und – was hat er dir gesagt?«, fragte Mancini trocken.

»Ich soll dich vorübergehend mit rumschnüffeln lassen. Aber, na ja … Wenn es ganz dumm läuft und das nur der Anfang ist, wirst du demnächst sowieso bis zum Hals mit drinstecken«, warnte Lo Franco.

Mancini ließ seine Lider für einen Moment entspannt ruhen, dann riss er sie wieder auf und zwinkerte mehrfach heftig, wie bei einem plötzlichen Tic. »Es tut mir wirklich leid für die arme Frau, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich um die Tat eines Serienmörders handelt.«

Commissario Lo Franco musterte seinen ehemaligen Teamkollegen. Die schwarzen Locken, die die Ohren halb bedeckten, die hohen Wangenknochen über dem dreieckigen Gesicht, das in einem Grübchen in der Mitte des Kinns auslief. Er wirkte müde, verbraucht, als wäre er über Nacht gealtert. Der kürzliche Tod Marisas nach fünfzehn gemeinsamen Jahren hatte ihn offensichtlich in ein anderes Leben katapultiert. Davon zeugten auch die kleine graue Strähne ganz oben auf dem Kopf sowie einige Falten unter den Augen und die trockenen Lippen, die Mancini auch jetzt wieder befeuchtete. Ein Leben, in dem er sich ganz offensichtlich nicht wohlfühlte.

»Und – wie geht es dir? Du siehst müde aus«, sagte Dario.

»Lass uns keine Zeit verlieren.« Mancini trat auf den Freund zu und nahm ihn am Arm, woraufhin dieser keine andere Wahl hatte, als aufzustehen. »Sag mir, was du über diese Frau weißt, und dann schauen wir, ob ich dir helfen kann.« Er hielt inne, zog die Handschuhe straff bis über die Handgelenke, dann schob er die Akte auf die andere Seite des Schreibtischs und setzte sich wieder, dieses Mal in den anderen Sessel.

Lo Franco beobachtete ihn, fasziniert von den geschmeidigen Bewegungen des Kollegen, die ihn an eine große Raubkatze erinnerten. Er kommentierte es jedoch nicht, sondern setzte sich in den Sessel, den vor einer Minute noch Mancini belegt hatte. »Na gut.« Mit einem Seufzer hob er die Akte an. »Ich habe hier eine erste Rekonstruktion des Tathergangs.«

Mancini schlug die Beine übereinander und beugte sich vor.

»Wir wissen schon einmal, um wen es sich handelt, denn das Opfer hatte seinen Personalausweis bei sich. Nora O’Donnell, eine Irin. Und wir wissen auch, dass sie in einem Pub in Santa Maria Maggiore gearbeitet hat. Einer der Beamten am Fundort ist Stammgast dort und hat sie wiedererkannt«, erklärte Lo Franco seinem Gegenüber sichtlich zufrieden. »Außerdem haben wir herausgefunden, dass Nora O’Donnell sich gestern Abend, also am achten September, in der Nähe der ENI-Zentrale im Stadtviertel EUR aufgehalten hat. Am See.«

»Sie wurde dort von den Straßenhändlern gesehen.«

Dario sah Enrico ungläubig an. »Woher weißt du …«

Marokko, Bangladesch, Pakistan, Ukraine. Die Straßenhändler aus sämtlichen Winkeln der Erde und nunmehr über die ganze Stadt verteilt waren die eigentlichen Augen und Ohren, vor allem aber der Mund Roms. Das wusste Mancini nur zu genau, hatte er im Austausch gegen einen wertvollen Hinweis doch selbst schon hier und da ein Auge zugedrückt, wenn es um eine abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung oder nicht ganz regelkonforme Lizenz ging.

»Erzähl weiter.«

»Also, es scheint nicht so, als hätte jemand versucht, sich ihr zu nähern. Sie ist einfach verschwunden, wenn man so will.«

»Haben wir die Zeugenaussagen der Straßenhändler? Hast du einen von deinen Männern hingeschickt?«

»Ja, aber dabei ist nichts rumgekommen. Außer, dass sie die Frau auf der Fotokopie ihres Personalausweises wiedererkannt haben, die wir ihnen gezeigt haben. Diese Leute muss man schon auf die Wache bringen, damit sie reden. Sie haben Angst, deshalb sagen sie nichts.«

»Verstehe, sie wollen nicht als Spitzel dastehen.« Mancini führte die Hand ans Kinn. »Wie ist sie gestorben?«

»Laut vorläufigem Bericht ist sie erwürgt worden. Sie verlor das Bewusstsein, als der Mörder sie an den Haaren schleifte. An der rechten Schläfe fehlt eine Haarsträhne.«

»Und?«

»Das ist alles. Vielleicht hat er sie in einem Wagen weggebracht.«

»Und dann?«

»Dann … dann hat eine Studentin sie auf dem unbefestigten Gelände neben der Basilika tot aufgefunden.«

»Einzelheiten bezüglich des Auffindens?«

»Die Leiche wurde heute Morgen um 06:50 Uhr entdeckt. Sie war mit einer beigen Jacke bekleidet, die zugeknöpft war und die Verstümmelung verbarg.« Lo Franco entnahm der Akte vier Fotos und hielt sie Mancini hin. »Ein Kreuz: ein senkrechter Schnitt, der unter dem Kinn ansetzt und bis zur Scham geht, der andere verläuft waagerecht von der Milz bis zur Leber. Beide Schnitte wurden sorgfältig genäht. Kurz gesagt: Nachdem er getan hatte, was er wollte, hat unser Mann sich offensichtlich gedacht, doppelt hält besser, und sowohl die Schnitte als auch die Jacke ordentlich verschlossen.«

»Was aber wollte er?«, fragte Mancini leise.

»Ins Blaue gesprochen würde ich sagen, dass es sich um ein Ritual handelt.« Lo Franco reckte das Kinn und richtete den Blick nachdenklich auf einen Punkt an der Zimmerdecke. »Der Mund ist mit Angelschnur zugenäht und die Zunge wurde … an der Wurzel ausgerissen. So steht es im Bericht: ausgerissen. Die Zunge wurde nicht bei der Leiche gefunden. Sie ist also verschwunden«, schloss er ein wenig verlegen. Dann schüttelte er langsam den Kopf und fügte, kaum hörbar, fast wie ein Geständnis, hinzu: »Ich habe so etwas hier bei uns noch nie gesehen.«

»Kann ich mir vorstellen«, antwortete Mancini ebenso gedämpft.

Und das stimmte, Italien war schließlich nicht Amerika. Rom war nicht Wisconsin und dieses Grauen war nicht das Werk eines Serienkillers wie Ed Gein. Trotzdem war Mancini immer wieder verblüfft, wie fassungslos Menschen waren, was die Existenz von Serienkillern oder den Anblick verstümmelter Leichen oder brutaler Morde im Fernsehen betraf. Für ihn galt das nicht. Schon lange nicht mehr. Die jahrelange Arbeit bei der UACV, der Einheit zur Analyse von Gewaltverbrechen, das Studium der Kriminalpsychologie bei Professor Carlo Biga und seine Fortbildung im Bereich Criminal Profiling in Quantico, Virginia, dazu die Leidenschaft für forensische Anthropologie, die er mit seinem früheren Dozenten teilte, hatten Mancini zu einer in Italien beinahe einzigartigen Kapazität auf seinem Gebiet gemacht. Einst war er stolz auf diesen Status gewesen. Aber diese Zeit gehörte einem Leben an, das Lichtjahre entfernt war.

Es erstaunte ihn, dass selbst seinen Kollegen angesichts solcher Verbrechen die Worte fehlten. Dem armen Dario ging es anscheinend nicht anders. Doch was wusste er schon vom Grauen? Wenn es eben nicht um einen einzelnen Tod ging, einen Auftragsmord, ein Eifersuchtsdelikt, sondern um Tod, der nicht in der Einzahl daherkam, Morde, die nach Plan verübt und zelebriert wurden. Was wusste er über das Gehirn wahnsinniger Verbrecher, über deren Scharfsinn, Strategien und Rituale? Über den durchdringenden Verwesungsgeruch, der einem beim Betreten eines Schuppens entgegenschlug, der sich in ein Schlachthaus für menschliches Fleisch verwandelt hatte? So riecht die Hölle, dachte er jedes Mal, wenn er ihn wahrnahm.

Also, was konnte er schon von ihm erwarten? Dario war achtundvierzig, seit dreißig Jahren im Dienst, seit fünfundzwanzig mit Donna aus Lafayette, Louisiana, verheiratet. Ein Familienmensch, Vater von George und Lucy, achtzehn und dreizehn Jahre alt. Häuschen samt Schäferhund, winzigem Garten und ordentlich zwischen zwei Weiden gespannter Hängematte, ganz in der Nähe der Wache. Er war immer noch derselbe wie früher, hatte sich nicht sehr verändert, außer vielleicht, dass ihm inzwischen ein paar Haare fehlten. Ein sanfter Mann, der trotzdem beherzt eingreifen konnte, wie Mancini von ihrer gemeinsamen Zeit bei der Drogenfahndung wusste. Er hatte vonseiten seines Kollegen immer eine Art Neid gespürt, wenn auch wohlwollend, wegen der Karriere, die Enrico bis in die Vereinigten Staaten gebracht hatte. »Grüß mir meine Heimat«, hatte Donna jedes Mal mit diesem harten amerikanischen T gesagt, wenn sie sich alle vier auf eine Pizza am Viale di Trastevere trafen.

Marisa saß dann am oberen Ende des Tisches – er sah sie regelrecht vor sich –, in einem edlen Rollkragenpullover. So wie im Dezember, vor einem Jahr. »Eine Capricciosa, oder?«, hatte sie ihn neckisch gefragt, da sie wusste, dass Enrico immer das Gleiche wählte. Sie bestellte in der Pizzeria stets nur gefüllte Reiskroketten und Stockfischfilet und hatte sich über Lo Franco lustig gemacht: »Pizza isst man mit den Händen, Commissario!«

Mancini versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln, konzentrierte sich auf die Fotos in seiner Hand. »Abgesehen von ihrem Ausweis und den Tatsachen, dass sie in einem Pub arbeitete und am See gesehen wurde, wissen wir nichts über diese Frau? War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? In welchem Umfeld hat sie sich bewegt?«

Lo Franco blätterte in einem roten Büchlein nach seinen Notizen. »Sie lebte schon ewig in Italien, fast zwanzig Jahre. Unterrichtete auch Englisch an einer kleinen Privatschule. Hinter ihrem Ausweis lagen eine Zugangskarte und ihr Unterrichtsplan. Sie hat seit Beginn des Sommers dort gearbeitet. Das ist alles.«

»Okay.«

»Bis jetzt haben wir nichts Weiteres gefunden.«

»Verstehe.« Mancini legte das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Einer unserer Männer kümmert sich darum, vielleicht stößt er ja noch auf etwas. In ein paar Tagen wissen wir mehr.«

»Wer war am Fundort?«

»Ein Streifenwagen mit zwei Beamten.«

»Und dann?«

»Wurde ich informiert und habe den Bereich sofort absperren lassen.«

»Hast du mit jemandem im Polizeipräsidium gesprochen?«

»Ja, mit dem Leiter der Bereitschaftspolizei.«

»Und die Staatsanwaltschaft?«

»Kam eine Stunde nach dem Fund der Leiche.«

»Wer?«

»Dottoressa Foderà.«

»Giulia Foderà?«

»Hm … attraktiv, oder?«

»Sie macht ihren Job sehr gut«, fertigte Mancini ihn kurz ab.

»Freust du dich, dass sie dabei ist?«

»Ja«, gab Mancini zu.

»Wirklich?«

»Ja, wirklich, denn dann braucht ihr mich nicht.«

»Aber Gugliotti …«

»Giulia Foderà wird sich zeitnah um die Ermittlungen kümmern, und ich kann ich mich dann wieder auf den Fall Carnevali konzentrieren.«

Lo Franco schien bestürzt, was Mancini jedoch ignorierte. »Welche Untersuchungen hat die Staatsanwältin angeordnet?«

»Vor Ort waren die Leute und Fotografen von der Spurensicherung, mit irgendwelchem Hightech- Spielzeug, die …«

»Wer noch?«, drängte Mancini.

»Der Gerichtsmediziner natürlich.«

»Wen hat man geschickt?«

»Rocchi.«

»Gut.« Mancini stand auf und verabschiedete sich mit einem Winken seiner behandschuhten Finger. »Ich geh kurz bei ihm vorbei und sehe mich dann mal am See im EUR-Viertel um, damit der Polizeipräsident Ruhe gibt. Das hier nehme ich mit«, schloss er und nahm ein Passbild von Nora O’Donnell vom Schreibtisch.

Kurz darauf war er durch die Tür. Lo Francos »Okay, ich halte dich auf dem Laufenden« verhallte in der Leere seines Büros.

4

Rom, Dienstag, 9. September, 14:00 Uhr

»Woran ist sie gestorben, Antonio?« Mancini überflog zerstreut die beiden Seiten des Computerausdrucks.

»Gute Frage. Kann ich dir im Moment noch nicht sagen. Tut mir leid. Mehr als das hier habe ich nicht.«

Gutachten Nr.346: Obduktion, durchgeführt von Dr. Antonio Rocchi am Leichnam von Nora ODonnell, geboren am 05.03.71 in Cork, Irland.

[…] Der Leichnam weist zwei Schwellungen auf, eine in Höhe des Nackens und eine an der rechten Schläfe. Der Mund wurde mittels eines transparenten Nylonfadens mit sieben Stichen durch die Lippen zugenäht. In der Mundhöhle wurde die Zunge an der Wurzel ausgerissen. Die Leiche wurde an allen behaarten Stellen rasiert Kopf, Scham, Achseln, Wimpern und Augenbrauen. In Anbetracht der Präzision, mit der sowohl der schmale Längsschnitt vom Schambein bis zum Kinnansatz als auch der tiefe Schnitt von rechts nach links von der Leber bis zur Milz auf Höhe des Nabels durchgeführt wurden, wurden die Wunden vermutlich mit einer sehr scharfen, aber leichten Schnittwaffe zugefügt. Die inneren Organe Leber, Pankreas, Gallenblase, Dünn- und Dickdarm sowie der Zwölffingerdarm wurden mit großer Präzision aus dem Körper geschnitten, wenn auch nicht von geübter Chirurgenhand. Beide Schnitte wurden vernäht, sodass der Leichnam […]

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