Schattenklingen - Joe Abercrombie - E-Book

Schattenklingen E-Book

Joe Abercrombie

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Beschreibung

Der Meister der düster-grimmigen Fantasy gibt sich erneut die Ehre und mit ihm die Helden, die Hunderttausenden von Lesern ans Herz gewachsen sind: der zynische Großinquisitor Glokta muss sich der größten Herausforderung seines Lebens stellen, König Bethod versucht vergeblich, dem Norden endlich Frieden zu bringen, und der legendäre Barbarenkrieger Logen Neunfinger zieht erneut in die Schlacht. Die insgesamt dreizehn – zum Teil brandneuen – Geschichten aus der Welt der beliebten Klingen-Romane machen Schattenklingen zu einem absoluten Muss für jeden Joe-Abercrombie-Fan.

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Seitenzahl: 550

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DAS BUCH

Als der Vorstoß der Unionsarmee ins Stocken gerät und das Heer der Ghurkisen heranstürmt, schlägt die große Stunde von Oberst Sand dan Glokta. Denn der scheinbar unbezwingbare Turnierfechter und Herzensbrecher schreckt vor keiner Herausforderung zurück – und dies wird schließlich nur ein weiteres Scharmützel auf seinem erfolggepflasterten Weg sein, nicht wahr? In Styrien unterdessen steht Schevedieh, die beste Diebin des ganzen Landes, vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens. Der Sohn des Unterweltfürsten Horald will ihr gerade an den Kragen, da platzt eine riesige, rothaarige und äußerst gewalttätige Frau herein und rettet Schevedieh das Leben und nimmt sie kurzerhand mit auf eine abenteuerliche Reise. Weit oben im Norden versucht Bethod vergeblich, die Clans zu einen, Frieden zu schaffen und ganz nebenbei seine Macht auszubauen. Der einzige, der daran noch etwas ändern könnte, ist seine eigene, gefährlichste Waffe – ein Mann namens Blutiger Neuner …

Diese insgesamt dreizehn, teils brandneuen und teils bereits preisgekrönten Erzählungen aus der Welt der Klingen-Romane machen Schattenklingen zu einem absoluten Muss für jeden Joe-Abercrombie-Fan.

JOE ABERCROMBIE BEI HEYNE:

Kriegsklingen

Racheklingen

Königsschwur

Feuerklingen

Heldenklingen

Königsjäger

Königsklingen

Blutklingen

Königskrone

Schattenklingen

DER AUTOR

Joe Abercrombie arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit seinen weltweit erfolgreichen Klingen-Romanen um den Barbaren, den Inquisitor und den Magier hat er sich auf Anhieb in die Herzen aller Fans von packender, düsterer Fantasy geschrieben und schaffte es bereits mehrmals auf die Times-Bestsellerliste. Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Bath.

Mehr zum Autor und seinen Romanen auf: www.joeabercrombie.com

JOE ABERCROMBIE

Schattenklingen

Roman

Aus dem Englischen vonKirsten Borchardt

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Titel der englischen Originalausgabe:

SHARP ENDS

Deutsche Erstausgabe 02/2017

Redaktion: Werner Bauer

Copyright © 2016 by Joe Abercrombie

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkterstraße 28, 81673 München

Karte: Dave Senior

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Coverillustration: Melanie Korte

Umsetzung Ebook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN: 978-3-641-19773-5V002

www.heyne.de

FÜR MUM UND DAD.OHNE EUER GENETISCHES MATERIAL WÄRE MIR DAS NIE GEGLÜCKT.

EIN BEWUNDERNSWERTER DRECKSACK

Kadir, Frühjahr 566

»Jaa!«, kreischte Salem Rews, seines Zeichens Quartiermeister des Ersten Regiments Seiner Erhabenen Majestät. »Machen Sie ihnen die Hölle heiß!«

Das war tatsächlich etwas, worauf sich Oberst Glokta verstand: seinen Gegnern die Hölle heißzumachen – im Fechtkreis, auf dem Schlachtfeld, aber auch in bedeutend weniger zivilisierter Umgebung, beispielsweise auf dem gesellschaftlichen Parkett.

Seine drei armseligen Kontrahenten gaben sich zwar alle Mühe, ihn zu erwischen, stolperten dabei aber ebenso hilflos hinter ihm her wie die betrogenen Ehemänner, die ignorierten Gläubiger und die übersehenen ehemaligen Kameraden, die ansonsten in seinem Kielwasser zurückblieben. Mit einem wissenden Lächeln tänzelte Glokta um seine Gegner herum und wurde dabei einmal mehr seinem doppelten Ruf gerecht, sowohl der gefeierteste Degenfechter der Union als auch der größte Angeber zu sein. Er schlich und stolzierte, täuschte und trippelte, flink wie eine Eintagsfliege, unberechenbar wie ein Schmetterling und, wenn er es darauf anlegte, so rachsüchtig wie eine aufgestachelte Wespe.

»Nun geben Sie sich mal ein wenig Mühe!«, rief er und brachte sich mit einer schnellen Drehung aus der Reichweite eines ungelenken Schlages, um danach dem Urheber einen festen Streich auf die Hinterbacken zu verpassen, der beim Publikum einen Ausbruch spöttischen Gelächters auslöste.

»Eine großartige Vorstellung!«, rief Lord Marschall Varuz, der begeistert auf seinem Klappstuhl hin und her wippte.

»Eine verdammt großartige Vorstellung!«, echote Oberst Kroy prompt, der rechts neben ihm saß.

»Hervorragende Arbeit!«, tönte Oberst Poulder links von ihm; wie immer waren beide stets bemüht, sich gegenseitig darin zu übertreffen, ihrem Befehlshaber recht zu geben. Als ob es kein edleres Unterfangen hätte geben können, als drei Rekruten zu blamieren, die zuvor kaum jemals einen Degen in der Hand gehabt hatten.

Salem Rews, äußerlich begeistert und innerlich beschämt, erging sich in ebenso lauten Beifallsrufen wie alle anderen. Dennoch konnte er seine Augen nicht daran hindern, gelegentlich von dem gleichermaßen faszinierenden wie ekelerregenden Spektakel abzuschweifen. Hinüber zum Tal, wo sich ein peinliches Beispiel für miserable Truppenorganisation bot.

Während sich die Befehlshaber hier oben auf dem Berggrat sonnten – Wein soffen, Gloktas selbstgefällige Fechtkämpfe beklatschten und den unbezahlbaren Luxus einer frischen Brise genossen –, kämpfte sich der größte Teil des Unionsheers in dem Glutofen unter ihnen weiter voran, versengt von der brennenden Sonne und teils verdeckt von einer erstickenden Staubwolke.

Es hatte den ganzen Tag gekostet, die Soldaten, Pferde und die allmählich auseinanderfallenden Planwagen des Nachschubzugs über die schmale Brücke zu bringen, die sich über das verführerische Rinnsal eines Bachbetts spannte, das sich tief in den Boden gegraben hatte. Die Männer schleppten sich in verlotterten Lumpen und zerfetzten Kleidern dahin und wirkten dabei eher wie Schlafwandler denn wie marschierende Soldaten. Jede Spur einer Straße war längst zu Staub zertrampelt worden, jede Spur von Ordnung, Disziplin oder Moral schon lange vergessen – die roten Jacken, die polierten Brustpanzer, die schlaff herabhängenden goldenen Standarten, alles hatte das allgegenwärtige Hellbraun des sonnenverbrannten, gurkhisischen Staubs angenommen.

Rews schob sich einen Finger unter den Kragen und versuchte, etwas kühle Luft an seinen verschwitzten Hals gelangen zu lassen. Wieder fragte er sich, ob nicht jemand versuchen sollte, etwas mehr Ordnung in das Durcheinander dort unten zu bringen. Es würde doch ohne Zweifel richtig übel für sie ausgehen, wenn jetzt die Gurkhisen kämen? Und die Gurkhisen hatten die Angewohnheit, in den unpassendsten Augenblicken aufzutauchen.

Aber Rews war schließlich nur Quartiermeister. Im Kader des Ersten Regiments stand er ganz unten auf der Leiter, und niemand machte sich die Mühe, diesen Umstand schönzureden, nicht einmal er selbst. Er zuckte die juckenden Schultern und kam still für sich wie so oft zu dem Schluss, dass die Lage auf der Brücke nicht sein Problem war. Dann glitt sein Blick, wie von einem Magneten angezogen, zurück zur unvergleichlichen athletischen Kampfkunst Oberst Gloktas.

Zweifelsohne hätte auch ein Leinwandporträt vermitteln können, dass dieser Mann geradezu unverschämt gut aussah, aber es war die Art, wie er stand, grinste, verächtlich den Mund verzog, die Augenbraue hob, ja, die Art, wie er sich überhaupt bewegte, die ihn erst recht attraktiv erscheinen ließ. Er hatte die Körperspannung eines Tänzers, die Haltung eines Helden, die Kraft eines Ringers, die Schnelligkeit einer Schlange.

Zwei Sommer zuvor hatte Rews in Adua miterlebt – unter deutlich zivilisierteren Umständen –, wie Glokta das Turnier gewonnen hatte, ohne selbst auch nur einen einzigen Streich einzustecken. Natürlich von den billigen Plätzen aus, so weit oben über dem Kampfplatz, dass die Fechter weit entfernt waren und winzig klein erschienen, aber dennoch hatte er mit wild schlagendem Herzen mitgefiebert, so sehr, dass er jede Bewegung mit einem Zucken seiner Hände begleitet hatte. Dass er sein Idol inzwischen aus größter Nähe hatte erleben können, das hatte seine Bewunderung nur gesteigert. Wenn man der Wahrheit die Ehre geben wollte, dann sogar in einem Maße, dass ein vernünftiger Betrachter von Liebe hätte sprechen mögen. Gleichzeitig jedoch hatte sich diese Bewunderung mit bitterem, gehässigem und sorgsam verborgenem Hass gemischt.

Glokta hatte alles, und was er nicht hatte, das nahm er sich, ohne dass ihn jemand aufhalten konnte. Frauen bewunderten ihn, Männer beneideten ihn. Oder anders herum: Frauen beneideten ihn, Männer bewunderten ihn, auch das traf durchaus zu. Bei dem Glück, mit dem das Schicksal ihn bedacht hatte, hätte der Oberst doch eigentlich der angenehmste Mensch auf der Welt sein müssen.

Aber Glokta war durch und durch ein Drecksack. Ein gutaussehender, gehässiger, fähiger, schrecklicher Drecksack, gleichzeitig der beste Mann und der größte Scheißkerl in der Union. Ein Bollwerk selbstzentrierter Selbstbesessenheit. Eine unüberwindliche Festung der Arroganz. Nur eines übertraf noch seine beträchtlichen Fähigkeiten: sein eigener Glaube an ebendiese. Andere Menschen waren Spielfiguren, die hin und her geschoben wurden, mit denen Siegpunkte zu erreichen waren, Requisiten für das herrliche lebende Bild, das er um sich als Mittelpunkt herum inszenierte. In der Disziplin Drecksacksein war Glokta ein echter Tornado, der eine Schneise zerstörter Freundschaften, zerstörter Karrieren und zerstörter Reputationen hinter sich zurückließ.

Sein Selbstbewusstsein war so überwältigend, dass es wie ein seltsames Licht aus ihm hervorschien und dabei die Persönlichkeiten aller anderen um ihn herum so verzerrte, bis sie mindestens zur Hälfte ebenso drecksäckig wirkten wie er. Vorgesetzte wurden willfährige Komplizen, Fachleute beugten sich seiner Unwissenheit. Anständige Männer verwandelten sich in rückgratlose Speichellecker. Frauen mit guter Menschenkenntnis schrumpften zu kichernden Nullen.

Rews hatte einmal gehört, von den besonders ergebenen Anhängern des gurkhisischen Glaubens werde erwartet, dass sie eine Pilgerfahrt nach Sarkant unternahmen. Und mit Glokta war es so, dass seine Person wie von selbst zu einem Pilgerziel aller besonders überzeugter Drecksäcke wurde. Drecksäcke wimmelten um ihn herum wie Ameisen um eine angebissene Pastete. Er war stets von einer ständig wechselnden Drecksack-Entourage umgeben, einem hinterhältigen Klüngel selbstherrlicher Anhänger. Drecksäcke folgten ihm wie der Schweif einem Kometen.

Und Rews wusste: Er selbst war keinen Deut besser. Wenn Glokta über andere spottete, lachte er mit und setzte alles daran, dass seine katzbuckelnde Zustimmung auch wahrgenommen wurde. Wenn er dann selbst zum Ziel von Gloktas gnadenloser Zunge wurde, was unvermeidlich immer wieder geschah, dann lachte er sogar noch lauter, vor Freude darüber, dass er so viel Aufmerksamkeit erhielt.

»Erteilen Sie denen eine Lehre!«, kreischte er, als Glokta einem seiner Gegner die kurze Klinge gegen den Bauch stieß, sodass der zusammenknickte. Noch während er das rief, fragte sich Rews jedoch, was das wohl für eine Lehre sein konnte, die diese Männer aus diesem Kampf ziehen sollten. Vielleicht, dass das Leben grausam, schrecklich und ungerecht war.

Glokta fing den Degen eines anderen Fechters mit seinem langen Eisen ab, schob noch im gleichen Augenblick die kurze Klinge in die Scheide und versetzte dem Mann links und rechts eine schallende Ohrfeige; dann schubste er den überrascht Aufschreienden mit einem verächtlichen Schnauben aus dem Weg. Die Zivilisten, die eigentlich angereist waren, um den Fortgang des Krieges zu beobachten, stießen bewundernde Rufe aus, während die Damen in ihrer Begleitung gurrende Laute von sich gaben und sich unter der flatternden Leinwand eines Pavillons Kühlung zufächelten. Rews stand da, wie gelähmt vor Schuldgefühlen und Begeisterung, und wünschte sich, die Ohrfeigen selbst erhalten zu haben.

»Rews.« Leutnant West drängte sich neben ihn und stemmte einen staubigen Stiefel auf den Zaun, an dem sie standen.

West zählte zu den wenigen Männern unter Gloktas Befehl, der gegen die um sich greifende Verdrecksackung immun zu sein schien und die schlimmsten Exzesse seines Vorgesetzten immer wieder mit ehrlicher Betroffenheit kommentierte, auch wenn das eine eher unpopuläre Haltung war. Paradoxerweise zählte er gleichzeitig zu den wenigen, die Glokta aufrichtig zu respektieren schien, obwohl West von niederer Geburt war. Rews bemerkte das sehr wohl und verstand auch die Gründe dafür, aber dennoch sah er sich nicht in der Lage, Wests Beispiel zu folgen. Vielleicht deshalb, weil er so dick war. Oder vielleicht auch, weil ihm schlicht der Mut für Moral und Anstand fehlte. Jede andere Art von Mut ging ihm schließlich auch ab.

»West«, raunte Rews aus dem Mundwinkel, den Kopf stur geradeaus gerichtet; er wollte schließlich nichts von diesem Spektakel verpassen.

»Ich war auf der anderen Seite der Brücke.«

»Ach?«

»Die Nachhut ist in einem erbärmlichen Zustand. Wenn man denn überhaupt von einer Nachhut sprechen kann. Hauptmann Lasky hat es schlimm erwischt mit seinem Fuß. Es heißt, dass er ihn vielleicht verlieren wird.«

»Wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?« Rews lachte über seinen eigenen Witz und beglückwünschte sich dazu, dass es wahrscheinlich genau die Art von Kommentar war, die Glokta selbst gemacht haben würde.

»Ohne ihn ist seine Kompanie völlig kopflos.«

»Nun, das ist wohl ihr Problem, würde ich sagen – zustechen! Zustechen! Oooooh!« Glokta war geschickt ausgewichen und trat einem Gegner die Beine weg, sodass sich der nun am Boden wälzte.

»Das könnte verdammt schnell unser aller Problem werden«, knurrte West. »Die Männer sind erschöpft, kommen nur langsam voran. Und der Zug mit den Nachschubwagen ist ein einziges Durcheinander …«

»Das ist der Nachschubzug doch immer, das gehört bei dieser Truppe praktisch mit dazu … oh!« Wie alle anderen zog auch Rews hart die Luft ein, als Glokta einem Hieb mit großer Schnelligkeit auswich und dem Mann, der ihn geschlagen hatte – oder vielmehr dem Jungen, wie man korrekterweise sagen musste –, einen Tritt in den Schritt versetzte, dass der mit hervorquellenden Augen zusammenknickte.

»Aber wenn jetzt die Gurkhisen kommen …«, fuhr West fort und blickte weiter mit gerunzelter Stirn über die verdorrte Landschaft auf der anderen Seite des Flusses.

»Die Gurkhisen sind noch meilenweit entfernt. Jetzt mal ehrlich, West, Sie machen sich doch immer Sorgen um irgendetwas.«

»Irgendjemand muss das ja tun …«

»Dann beschweren Sie sich doch beim Lord Marschall!« Rews nickte zu Varuz hinüber, der von dem faszinierenden Schauspiel aus Fechten und Herumschubsen so gefesselt war, dass er beinahe von seinem Klappstuhl kippte. »Was glauben Sie denn, was ich daran ändern kann? Vielleicht mehr Futter für die Pferde anfordern?«

Ein hartes Ratschen war zu hören, als Glokta dem letzten Gegner die flache Seite seiner Klinge durchs Gesicht zog und ihn mit gequältem Aufschrei zurückstolpern ließ, die Hand an die Wange gepresst.

»Ist das wirklich das Beste, was Sie zu bieten haben?« Glokta trat vor und versetzte einem, der gerade wieder aufzustehen versuchte, einen mächtigen Tritt in den Hintern, sodass er unter allgemeinem Gelächter wieder mit dem Gesicht voran in den Staub fiel. Dabei saugte der Oberst den Beifall auf wie eine parasitäre Dschungelpflanze, die vom Saft ihres Wirts lebt; er verbeugte sich, strahlte, warf Kusshände, und Rews presste die Handflächen gegeneinander, bis sie schmerzten.

Was für ein Drecksack dieser Oberst Glokta war. Was für ein bewundernswerter Drecksack.

Seine drei Gegner humpelten geschlagen vom Kampfplatz. Die körperlichen Wunden würden schon bald heilen; die erfahrene Erniedrigung hingegen würde sie bis ins Grab begleiten. Glokta lehnte sich dekorativ an den Zaun, hinter dem sich die Damen versammelt hatten. Besondere Aufmerksamkeit erwies er dabei Lady Wetterlant – jung, reich, schön, wenn auch deutlich zu stark gepudert und trotz der Hitze ganz und gar nach der neusten Mode gekleidet. Zwar hatte sie kürzlich erst geheiratet, aber ihr wesentlich älterer Ehemann war aufgrund der Regierungsgeschäfte des Offenen Rats gezwungen gewesen, in Adua zu bleiben. Die Gerüchteküche wollte wissen, dass er seine Gattin zwar finanziell gut versorgte, aber generell nicht besonders an Frauen interessiert war.

Gloktas Interesse an Frauen wiederum war legendär.

»Dürfte ich wohl Ihr Taschentuch ausleihen?«, erkundigte er sich.

Rews hatte beobachtet, dass Glokta eine besondere Art hatte, wenn er mit einer Frau sprach, die ihm aufgefallen war. Seine Stimme wurde dann ein wenig rauer. Er kam einen kleinen Hauch näher, als tatsächlich schicklich gewesen wäre. Und er entwickelte eine Art Tunnelblick, als seien seine Augen mit Klebstoff an ihr befestigt. Wenn er erst einmal bekommen hatte, was er wollte, dann hätte er sie selbstredend nicht einmal mehr dann mit einem solchen Blick bedacht, wenn sie sich angezündet hätte.

Und dennoch übertrafen sich die neuen Objekte seiner Begierde darin, sich von den Flammen des Skandals verzehren zu lassen und flatterten umher wie Motten um eine Kerze – allesamt von dem Wunsch besessen, sich als die Eine, die Besondere zu erweisen, bei der es anders sein würde als bei allen anderen.

Lady Wetterlant hob eine sorgfältig gezupfte Augenbraue. »Weshalb wohl nicht, Herr Oberst?« Damit hob sie die Hand, um das Tüchlein aus ihrem Mieder zu ziehen. »Ich …«

Sie und ihre Begleiterinnen zogen laut hörbar die Luft ein, als Gloktas langes Eisen nach vorn zuckte und er das kleine Tuch ruckartig mit der stumpfen Turnierspitze aus ihrem Kleid herausbeförderte. Der dünne Stoff schwebte sanft in der Luft und fiel dann so zielgenau wie bei einem einstudierten Zaubertrick in Gloktas wartende Hand.

Eine der Damen hustete heiser, eine andere flatterte mit den Augenlidern. Lady Wetterlant stand ganz ruhig da, die Augen geweitet, die Lippen leicht geöffnet, die Hand noch immer halb zur Brust erhoben. Vielleicht fragten sie sich gerade alle, ob der Oberst die Haken und Ösen ihrer Korsage ebenso schnell hätte öffnen können, wenn er das gewollt hätte.

Rews zweifelte nicht im Geringsten daran.

»Ich danke Ihnen«, sagte Glokta und betupfte seine Stirn.

»Bitte behalten Sie es«, hauchte Lady Wetterlant mit leicht rauer Stimme. »Betrachten Sie es als Geschenk.«

Glokta lächelte, als er das Tuch unter sein Hemd steckte, sodass noch ein Zipfelchen lilafarbenen Stoffes hervorsah. »Ich werde es an meinem Herzen tragen.« Rews schnaubte. Als ob der Kerl überhaupt eins hätte. Glokta senkte die Stimme, achtete aber darauf, dass sie dennoch für alle Umstehenden hörbar blieb. »Vielleicht kann ich es Ihnen später zurückbringen?«

»Wann immer es Ihnen beliebt«, flüsterte sie, und Rews fragte sich wieder einmal, weshalb einem Menschen gerade jene Dinge, die offensichtlich ganz, ganz schlecht für ihn sind, stets so schrecklich verlockend erscheinen.

Glokta hatte sich wieder seinem Publikum zugewandt und breitete nun die Arme so weit aus, als wollte er die Zuschauer allesamt in eine erdrückende, beherrschende, lieblose Umarmung ziehen. »Gibt es unter all diesen ungeschickten Hunden denn niemanden, der unseren Besuchern einen besseren Kampf bieten kann?« Rews spürte, wie sein Herz einen atemlosen Sprung machte, als Gloktas Blick auf ihn fiel. »Rews, was ist mit Ihnen?«

Kurzes Gelächter brandete auf, und Rews selbst lachte am lautesten. »Oh, unmöglich!«, stieß er quäkend hervor. »Ich wäre Ihnen zweifellos nur peinlich!«

Sofort erkannte er, dass er zu weit gegangen war. Gloktas linkes Auge zuckte kaum wahrnehmbar. »Mir sind Sie schon peinlich, wenn ich mit Ihnen im selben Raum bin. Sie wollen doch Soldat sein, oder nicht? Wie zur Hölle kann es sein, dass Sie immer noch so fett sind, ich meine, bei dem verdammt grässlichen Fraß hier?«

Noch mehr Gelächter, und Rews schluckte, hielt starr das Lächeln auf sein Gesicht geklebt und spürte, wie der Schweiß unter seiner Uniform über sein Rückgrat rann. »Nun, Herr Oberst, ich war wohl schon immer dick. Schon als Kind.« Seine Worte stürzten durch die plötzliche Stille mit der schrecklichen Endgültigkeit von Leichen, die in ein Massengrab geworfen werden. »Sehr … dick. Enorm dick. Ich bin ein sehr dicker Mann.« Er räusperte sich und hoffte, der Boden würde sich unter ihm auftun.

Gloktas Blick glitt weiter und suchte nach einem würdigeren Gegner. Sein Gesicht hellte sich auf. »Leutnant West!«, rief er und vollführte eine schwungvolle Bewegung mit seinem Übungseisen. »Wie wäre es mit Ihnen?«

West verzog das Gesicht. »Ich?«

»Kommen Sie schon, Sie sind wahrscheinlich der beste Fechter im ganzen verdammten Regiment.« Glokta lächelte noch breiter. »Nach mir, natürlich.«

West sah blinzelnd über die Gesichter, die ihm nun erwartungsvoll zugewandt waren; es mochten wohl mehrere Hundert sein. »Aber … ich habe gar keine stumpfen Übungswaffen dabei …«

»Dann nehmen Sie doch gerne Ihre Kampfklingen.«

Leutnant West sah auf den Griff seines Degens hinab. »Das könnte ziemlich gefährlich werden.«

Oberst Gloktas Lächeln hatte einen scharfen Zug bekommen, der richtiggehend grimmig wirkte. »Nur dann, wenn es Ihnen gelingt, mich damit zu berühren.« Noch mehr Gelächter, mehr Applaus, beifällige Rufe seitens der anderen Offiziere, hörbares Einatmen seitens der Damen. Oberst Glokta war anerkanntermaßen Spezialist darin, die Damen hörbar einatmen zu lassen.

»West!«, rief jemand. »West!« Es dauerte nicht lange, dann skandierten die Offiziere: »West! West! West!« Die Damen fielen lachend ein und klatschten mit.

»Na los! Na los!« Rews ließ sich vom Chor der Zuschauer erfassen, die offenbar allesamt von angriffslustiger Raserei gepackt worden waren. »Na los!«

Falls irgendjemand dieses Unterfangen für eine schlechte Idee hielt, dann behielt er oder sie es für sich. Es gibt Männer, mit denen man einfach nicht streitet. Und es gibt Männer, die man am liebsten von einem Degen durchbohrt sähe. Glokta gehörte zu beiden Gruppen.

West holte tief Luft, dann sprang er unter kurzem Beifall mit einem eleganten Satz über den Zaun, knöpfte sich die Uniformjacke auf und hängte sie über die oberste Latte. Und dann, mit ganz leisem metallischem Klingen und einem ganz leicht bedrückten Gesichtsausdruck, zog West seine Kampfklinge. Es war keine dieser auffälligen, etwa mit juwelenverziertem Korb versehenen Waffen, wie sie viele junge Offiziere im Ersten Regiment Seiner Majestät so schätzten. Niemand hätte hier von einem schönen Degen sprechen können.

Aber dennoch lag eine gewisse Schönheit in der knappen Bewegung, mit der West ihn präsentierte. Seine Haltung verriet geübte Präzision, und eine elegante, beherrschte Drehung des Handgelenks brachte die Klinge in eine so gerade Linie wie die Oberfläche eines stillen Sees, während die Sonne auf einer Spitze glänzte, die zu tödlicher Schärfe geschliffen war.

Atemlose Stille senkte sich über die Zuschauer. Er mochte von niederer Geburt sein, aber selbst der ahnungsloseste Beobachter hätte jetzt erkannt, dass der junge Leutnant West kein Anfänger war, wenn es um die Handhabung eines Degens ging.

»Sie haben tüchtig exerziert«, stellte Glokta fest, der nun seinem Diener, Korporal Tunny, sein kurzes Eisen zuwarf und nur das lange behielt.

»Lord Marschall Varuz war so gütig, mir einige Hinweise zu geben«, erklärte West.

Glokta sah seinen alten Fechtmeister mit erhobener Augenbraue an. »Sie haben mir nie gesagt, dass Sie auch andere Männer unterweisen, Herr Marschall.«

Varuz lächelte. »Sie haben das Turnier schon einmal gewonnen, Glokta. Ein Fechtmeister ist leider in der unglücklichen Lage, dass er stets neue Schüler finden und zum Sieg führen muss.«

»Wie nett von Ihnen, dass Sie nach meiner Krone hangeln, West. Aber Sie werden möglicherweise feststellen, dass ich noch nicht zum Abdanken bereit bin.« Glokta sprang schnell wie der Blitz nach vorn und stieß zu, einmal, zweimal. West parierte, Stahl schrammte über Stahl und schimmerte in der Sonne. Er wich zurück, aber vorsichtig, aufmerksam, den Blick fest auf Glokta gerichtet. Und wieder griff der Oberst an, Schlag auf Schlag, Stoß auf Stoß, so schnell, dass Rews fast nicht folgen konnte. Aber West hielt ordentlich mit, wehrte die Hiebe geschickt ab und bewegte sich dabei vorsichtig rückwärts, während die Menge bei jedem Kreuzen der Klingen in lautes »Oooh« und »Aaah« ausbrach.

Glokta grinste. »Sie haben wirklich fein geübt. Aber wann begreifen Sie endlich, West, dass Übung nicht Talent ersetzt!« Damit setzte er zu einem noch schnelleren und noch härteren Angriff an, mit glockenhell klapperndem Stahl. Er drängte sich so nahe an seinen Gegner, dass er den jungen Leutnant mit einem harten Kniestoß gegen die Rippen ins Stolpern bringen konnte, aber West fand sein Gleichgewicht sofort wieder und parierte einmal, zweimal, vollführte eine Drehung zur Seite und stand dann schwer atmend wieder bereit.

Und Rews merkte, wie ein beinahe schmerzhaft intensiver Wunsch in ihm Gestalt annahm: dass West Glokta die Klinge in sein grässlich-schönes Gesicht rammen möge, damit den Damen endlich einmal aus anderen Gründen die Luft wegblieb.

»Ha!« Glokta sprang vor, stieß zu, und West wich dem ersten Hieb noch aus, fing den zweiten aber zur allgemeinen Überraschung ab, drückte die Klinge mit metallischem Kreischen beiseite, überwand Gloktas Deckung und versetzte dem Oberst einen heftigen Stoß mit der Schulter. Einen kurzen Augenblick verlor Glokta die Balance. West knurrte mit gebleckten Zähnen und ließ seine Klinge blitzend hervorschnellen.

»Gah!« Glokta fuhr zurück, und Rews erhaschte einen köstlichen, kurzen Blick auf sein entsetztes Gesicht. Die Übungsklinge rutschte ihm aus der Hand und fiel klappernd auf die Erde, und Rews merkte, dass er vor Freude beide Fäuste ballte, bis sie schmerzten.

West lief sofort auf seinen Gegner zu. »Ist alles in Ordnung, Herr Oberst?«

Glokta fasste mit der Hand nach seinem Hals und starrte dann völlig verblüfft auf seine blutigen Fingerspitzen. Als könne er es gar nicht glauben, dass er getroffen worden war. Als könne er nicht glauben, dass er nun, da er getroffen worden war, ebenso blutete wie alle anderen.

»Wer hätte das gedacht«, keuchte er.

»Es tut mir leid, Herr Oberst«, stammelte West, der seinen Degen senkte.

»Was denn?« Gloktas Grinsen wirkte, als ob es ihn alle Anstrengung kostete, die er aufzubringen vermochte. »Ein sehr guter Treffer. Sie sind wesentlich besser geworden, West.«

Nun begannen die Zuschauer zu klatschen, dann wurden die ersten Begeisterungsrufe laut. Rews konnte sehen, wie Gloktas Kiefermuskeln arbeiteten und sein linkes Auge zuckte, dann streckte er die Hand aus und schnippte laut mit den Fingern.

»Korporal Tunny, haben Sie meine Kampfklinge bei sich?«

Der junge Korporal, der erst am Tag zuvor in diesen Rang erhoben worden war, blinzelte. »Selbstverständlich, Herr Oberst.«

»Bringen Sie sie her!«

Schockierend schnell hatte sich die Stimmung verändert und war unversehens sehr hässlich geworden. Das war in Gloktas Nähe öfter der Fall. Rews sah unruhig zu Varuz hinüber und hoffte, der Marschall würde diesem gefährlichen Unsinn ein Ende machen, aber Varuz hatte seinen Platz verlassen und sah mit Poulder und Kroy ins Tal hinunter. Von denen war keine Hilfe zu erwarten.

Mit gesenktem Blick und gemessenen Bewegungen schob West seinen Degen zurück in die Scheide. »Ich glaube, wir haben für heute genug mit Messern gespielt, Herr Oberst.«

»Aber Sie müssen mir doch Gelegenheit geben, mich auf gleiche Weise revanchieren zu können. Das verlangt die Ehre, West, das ist tatsächlich so.« Als ob Glokta überhaupt irgendeine Ahnung davon hatte, was Ehre war – abgesehen davon, dass man sie als Werkzeug benutzen konnte, um Menschen zu verleiten, dumme, gefährliche Dinge zu tun. »Das verstehen Sie doch wohl, auch wenn Sie kein Edelmann sind?«

Wests Kiefermuskeln verhärteten sich. »Die eigenen Freunde mit scharfen Klingen anzugreifen, während es genug Feinde gibt, denen man sich entgegenstellen könnte, erscheint mir eher närrisch als ehrenhaft, Herr Oberst.«

»Nennen Sie mich einen Narren?«, zischte Glokta, der nun seine Kampfklinge, die ihm Tunny nervös hinhielt, mit einem zornigen Zischen aus der Scheide riss.

West verschränkte stur die Arme. »Nein, Herr Oberst.«

Die Zuschauer standen völlig still da, aber direkt hinter ihnen erscholl plötzlich Lärm. Rews hörte gedämpfte Rufe wie »dort drüben« und »die Brücke«, war aber zu gefesselt von dem Drama, das sich gerade vor ihm entfaltete, um weiter darauf zu achten.

»Ich rate Ihnen sehr, sich zu verteidigen, Leutnant West«, zischte Glokta, der die Absätze in den staubigen Boden bohrte, die Zähne bleckte und seine schimmernde Klinge waagerecht ausrichtete.

Und in diesem Augenblick erscholl ein ohrenzerreißender Schrei, der in einem abgehackten Stöhnen ausklang.

»Sie ist ohnmächtig geworden!«, schrie jemand.

»Verschafft ihr etwas frische Luft!«

»Wie das denn? Verdammt noch eins, in diesem ganzen verdammten Land gibt es nirgendwo frische Luft!« Wieherndes Gelächter.

Rews eilte zum abgetrennten Bereich, in dem sich die Zivilisten befanden, und versuchte den Eindruck zu erwecken, als wollte er nur helfen. Dabei wusste er darüber, wie man anderen half, noch weniger als über seine Arbeit als Quartiermeister, aber es bestand immerhin die Aussicht, einen Blick unter die Röcke einer Frau werfen zu können, während sie ohnmächtig war. Unter anderen Umständen bekam Rews leider nur sehr selten, wenn überhaupt, die Gelegenheit dazu.

Doch noch bevor er das Grüppchen besorgter Umstehender erreichte, erstarrte er. Es war der Anblick hinter ihnen, der in ihm das unangenehme Gefühl verursachte, dass ihm seine massigen Eingeweide direkt aus dem Hintern rutschen wollten. In dem weiten, gelbbraunen Land, das sich hinter der Brücke ausdehnte, sammelten sich in einiger Entfernung schwarze Punkte, ein Schwarm, über dem eine Staubwolke hing. Und auch, wenn er vielleicht insgesamt nicht viel taugte, so besaß Rews doch eines: ein sicheres Gespür für Gefahr.

Er hob bebend den Arm. »Die Gurkhisen!«, heulte er.

»Was?« Jemand lachte unsicher.

»Da, im Westen!«

»Das ist Osten, Sie Narr!«

»Moment mal, meinen Sie das ernst?«

»Wir werden in unseren Betten abgeschlachtet werden!«

»Wir sind doch gar nicht in unseren Betten!«

»Ruhe!«, brüllte Varuz. »Wir sind hier verdammt noch mal nicht auf einem Benimmkursus für höhere Töchter!« Das Lärm erstarb, und die Offiziere verstummten schuldbewusst. »Major Mitterick, begeben Sie sich sofort dort hinunter und treiben Sie die Männer an.«

»Jawohl, Herr Marschall.«

»Leutnant Vallimir, wären Sie so gut, die Damen und unsere zivilen Gäste in sichere Gefilde zu geleiten?«

»Natürlich, Herr Marschall.«

»Ein paar Männer würden reichen, um diesen Trupp an der Brücke aufzuhalten«, brummte Oberst Poulder, der an seinem üppigen Schnurrbart zupfte.

»Ein paar Helden«, ergänzte Varuz.

»Ein paar tote Helden«, raunte Oberst Kroy gedämpft.

»Haben Sie frische Leute?«, fragte Varuz.

Poulder zuckte die Achseln. »Meine sind erledigt.«

»Meine auch«, ergänzte Kroy. »Sogar noch mehr.« Als sei der ganze Krieg ein einziger Wettbewerb darum, wer seine Truppen am ehesten verschliss.

Oberst Glokta stieß seine Kampfklinge wieder in die Scheide zurück. »Meine Männer sind frisch«, erklärte er, und Rews spürte, wie die Angst aus seinem Bauch in seine Arme und Beine kroch. »Sie haben sich nach unserem letzten kleinen Scharmützel ausgeruht. Jetzt brennen sie darauf, sich auf den Feind zu stürzen. Ich würde sagen, das Erste Regiment Seiner Majestät wäre bereit, die Brücke zu halten, bis die übrigen Männer bereit sind, Lord Marschall.«

»Wir brennen darauf!«, wiederholte einer von Gloktas Stabsoffizieren wiehernd. Ganz offensichtlich war er zu betrunken, um überhaupt zu erkennen, wozu er sich da gerade freiwillig meldete.

Ein anderer, der vielleicht etwas weniger betrunken war, blinzelte nervös zum Tal hinunter. Rews fragte sich, auf wie viele Männer seines Regiments diese kühne Behauptung des Obersts zutreffen mochte. Der Quartiermeister jedenfalls hatte es nicht eilig, sein Leben für irgendeine noble Sache zu geben, das wusste er mit ziemlicher Sicherheit.

Aber Lord Marschall Varuz war nicht Befehlshaber der Unionstruppen geworden, indem er andere daran gehindert hätte, sich zu opfern, wenn er damit seine eigenen Fehlentscheidungen übertünchen konnte. Er klopfte Glokta herzlich auf den Oberarm. »Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann, mein Freund!«

»Selbstverständlich, Herr Marschall.«

Und Rews erkannte mit wachsendem Entsetzen, dass das der Wahrheit entsprach. Man konnte sich tatsächlich darauf verlassen, dass Glokta jede noch so verschwindend kleine Gelegenheit nutzte, um sich aufzuspielen, ganz gleich, wie schicksalhaft sich das für jene erweisen mochte, die sich mit ihm in die Klauen des Todes begaben.

Varuz und Glokta, Befehlshaber und Lieblingsoffizier, Fechtmeister und Meisterschüler – und zwei Drecksäcke, wie man keine größeren hätte finden können, wenn man jahrelang gesucht hätte – richteten sich kerzengerade auf und salutierten mit vorgetäuschter Ergriffenheit voreinander. Dann rauschte Varuz davon, um Poulder, Kroy und seinem eigenen Drecksackgefolge lautstark seine Befehle zu geben, demonstrativ bemüht, das Heer eilends in Sicherheit zu bringen, damit sich das Opfer des Ersten Regiments Seiner Majestät zumindest lohnte.

Denn das erkannte Rews mit einem weiteren Blick auf den Gurkhisensturm, der sich auf der anderen Seite der Brücke sammelte: Sie würden sich opfern. Mit großer Sicherheit.

»Das ist Selbstmord«, flüsterte er unterdrückt.

»Korporal Tunny?«, rief Glokta, der sich die Jacke zuknöpfte.

»Herr Oberst?« Der allereifrigste unter den jungen Soldaten salutierte auf die allerergebenste Weise.

»Bringen Sie mir meinen Brustpanzer.«

»Selbstverständlich, Herr Oberst.« Tunny stürmte davon. Überhaupt rannten jede Menge Leute jetzt herum, um irgendwas zu holen oder zu bringen. Männer holten Pferde. Zivilisten brachten sich in Sicherheit, wobei Lady Wetterlant noch einen letzten, feuchten Blick über ihre Schulter warf. Rews war doch der Quartiermeister des Regiments, oder nicht? Er hätte jetzt auch irgendetwas Dringendes zu tun haben sollen. Und dennoch stand er einfach nur da, die Augen weit aufgerissen und auch ein wenig feucht, wobei er den Mund und die Hände sinnlos immer wieder öffnete und schloss.

Währenddessen waren nun zwei verschiedene Arten von Mut zu beobachten. Leutnant West sah grimmig zur Brücke hinüber – das Gesicht blass, die Zähne fest zusammengebissen, aber trotz aller begründeten Angst fest entschlossen, seine Pflicht zu tun. Oberst Glokta hingegen lächelte dem Tod höhnisch entgegen, als sei er eine verschmähte Geliebte, die um Zuneigung bettelte; offensichtlich felsenfest davon überzeugt, dass Gefahr nur niedere Menschen einholte, war er völlig bar jeder Furcht.

Nein, es gab sogar drei verschiedene Arten von Mut, wie Rews erkannte, denn schließlich war er ja auch noch da, und er zeigte, wie es aussieht, wenn man überhaupt keinen hat.

Und dann erschien noch eine vierte in Gestalt von Korporal Tunny, auf dessen hell poliertem Koppel die Sonne funkelte, während er dienstbeflissen Gloktas Brustpanzer in den Händen hielt und in seinen Augen der Mut noch unerprobter Jugend schimmerte, die sich unbedingt beweisen will.

»Danke«, sagte Glokta, die leicht zusammengekniffenen Augen auf den wachsenden Trupp gurkhisischer Kavallerie gerichtet, während Tunny die Gurte der Rüstung festzog. Mit beängstigender Geschwindigkeit galoppierten immer mehr Pferde heran. »Und jetzt begeben Sie sich wieder zum Zelt und packen meine Sachen ordentlich zusammen.«

Tunnys Gesicht bot ein Bild fassungsloser Enttäuschung. »Ich hatte gehofft, mit Ihnen dort hinunterreiten zu können, Herr Oberst …«

»Natürlich, und mir wäre nichts lieber, als Sie an meiner Seite zu haben. Aber wenn wir beide dort unten sterben, wer würde dann meine Sachen zurück zu meiner Mutter bringen?«

Der junge Korporal blinzelte die Tränen weg. »Aber, Herr Oberst …«

»Nun kommen Sie schon.« Glokta klopfte ihm auf die Schulter. »Ich würde auch ungern eine so vielversprechende Karriere gefährden. Sie werden zweifelsohne eines Tages Lord Marschall werden.« Glokta ließ den verblüfften Korporal stehen und hatte ihn im gleichen Augenblick bereits vergessen. »Hauptmann Lackenhorm, gehen Sie zu den Soldaten und fragen Sie sie, wer sich freiwillig meldet.«

Der auffällig hervortretende Knubbel vorn an Lackenhorms sehnigem Hals zuckte unsicher auf und ab. »Freiwillig wofür, Herr Oberst?« Dabei war es offensichtlich, welcher Auftrag auf sie wartete, dafür sorgte der Anblick, der sich im Tal unter ihnen bot – ein breit angelegtes Melodram, das sich auf großer Bühne entfaltete.

»Nun, natürlich, um die Gurkhisen von der Brücke dort zu vertreiben, Sie dummer alter Ziegenbock. Beeilen Sie sich und sehen Sie zu, dass die Männer so schnell wie möglich bewaffnet und einsatzbereit sind.«

Lackenhorm lächelte nervös und eilte dann davon, wobei er beinahe über den eigenen Degen stolperte.

Mit einem Satz sprang Glokta nun auf den Zaun, einen Fuß auf der unteren Latte, den anderen auf der oberen. »Heute habe ich die Absicht, diesen Gurkhisen eine kleine Lektion zu verpassen, meine stolzen Mannen des Ersten Regiments Seiner Majestät!«

Die jungen Offiziere scharten sich eilig um ihn wie Enten, die sich von den Plattitüden, die Glokta von sich gab, anlocken ließen, als seien es Brotbrocken.

»Ich werde niemandem befehlen, mir zu folgen – das ist eine Gewissensentscheidung, die jeder für sich selbst fällen muss!« Er verzog die Lippen. »Was ist mit Ihnen, Rews? Wollen Sie hinter uns herwatscheln?«

Rews war überzeugt, dass sein Gewissen eine Menge aushielt. »Nichts wäre mir lieber, als beim Angriff dabei zu sein, Herr Oberst, aber mein Bein …«

Glokta schnaubte. »Ihre Massen herumzuschleppen, das ist natürlich eine Belastung für jedes Bein – das verstehe ich vollkommen. Eine solche Last hätte nicht einmal ein Pferd verdient.« Allgemeines Gelächter. »Manche Männer sind dazu geschaffen, Großes zu leisten. Andere machen eben das … was sie können. Natürlich sind Sie entschuldigt, Rews. Wie könnte es auch anders sein?«

Die vernichtende Erniedrigung ging ganz und gar in einer kribbelnden Welle von Erleichterung unter. Wer zuletzt lacht, lacht am längsten, heißt es schließlich, und Rews bezweifelte, dass viele derer, die sich gerade über ihn lustig machten, in einer Stunde auch noch lachen würden.

»Herr Oberst«, hörte er West sagen, während Glokta sich mit geradezu akrobatischem Geschick vom Zaun in den Sattel schwang. »Sind Sie sicher, dass wir das tun müssen?«

»Wer springt denn wohl sonst ein, was glauben Sie?«, gab Glokta zurück, der an den Zügeln zerrte und sein Pferd hart herumriss.

»Viele Männer werden dabei umkommen. Männer mit Familien.«

»Nun ja, davon gehe ich aus. Wir sind im Krieg, Herr Leutnant.« Vereinzelt wurde unter den Offizieren wieder katzbuckelnd gelacht. »Deswegen sind wir ja hier.«

»Natürlich, Herr Oberst.« West schluckte. »Korporal Tunny, satteln Sie bitte mein Pferd …«

»Nein, Leutnant West«, unterbrach ihn Glokta. »Ich brauche Sie hier.«

»Herr Oberst?«

»Wenn das alles hier vorbei ist, werde ich einen Offizier brauchen, der seinen Arsch von zwei Melonen unterscheiden kann.« Er warf Rews, der sich gerade die zerknitterten Hosen ein wenig hochzog, einen vernichtenden Blick zu. »Davon abgesehen gehe ich davon aus, dass Ihre Schwester zu einem ganz schönen Früchtchen heranwachsen wird. Die kann ich schließlich nicht Ihres festigenden Einflusses berauben, nicht wahr?«

»Aber Herr Oberst, ich sollte …«

»Ich will nichts davon hören, West. Sie bleiben hier, das ist ein Befehl.«

West öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn dann aber schnell, richtete sich auf und salutierte verkrampft. Korporal Tunny tat es ihm gleich, während in seinen Augenwinkeln Tränen schimmerten. Rews bemühte sich schuldbewusst, sich ihnen ebenfalls schnell anzuschließen, noch ganz durcheinander angesichts der entsetzlichen und entzückenden Vorstellung eines Glokta-freien Universums.

Der Oberst grinste sie an, und seine beiden vollständigen Reihen perfekter, brillant weißer Zähne strahlten im Sonnenlicht so hell, dass der Anblick beinahe schmerzte.

»Kommen Sie, meine Herren, keine langen Gesichter. Ich werde zurück sein, bevor Sie gemerkt haben, dass ich überhaupt weg war.«

Mit einem Ruck an den Zügeln ließ er sein Pferd vorn aufsteigen, und kurz hob er sich wie ein Reiterstandbild vor dem hellen Himmel ab, während Rews sich fragte, ob es je einen bewundernswerteren Drecksack gegeben hatte.

Dann spritzte ihm der Dreck ins Gesicht, als Glokta die Anhöhe hinuntergaloppierte.

Hinunter zur Brücke.

DER FLUCH DER GUTEN TAT

Westport, Herbst 573

Als Schev an jenem Morgen zum Aufschließen kam, ragten ein paar große, dreckige, nackte Füße aus dem Eingang zu ihrem Rauchhaus.

Eigentlich hätte ihr das einen ziemlichen Schreck versetzen sollen, aber nach dem, was sie in den letzten Jahren so alles erlebt hatte, erschreckte Schev sich nicht so leicht, wenn überhaupt noch.

»Hey!«, brüllte sie und trat mit geballten Fäusten näher.

Wer auch immer da in ihrem Eingang lag, wollte oder konnte sich offenbar nicht bewegen. Sie sah jetzt auch die langen Beine, die zu den nackten Füßen gehörten, und die in zerfetzten und fleckigen Hosen steckten, außerdem den zerlumpten Stoff eines zerrissenen und verdreckten Mantels. Und direkt in der schmierigen Ecke vor Schevs Tür war da noch ein Gestrüpp aus langem, rotem Haar, in dem sich Zweige und Dreck verfangen hatten.

Ein großer Kerl, ganz ohne Frage. Die Hand, die Schev sehen konnte, war so lang wie ihr Fuß, dick geädert, dreckig und an den Knöcheln abgeschürft. Allerdings hatten sie eine seltsame Form. Erstaunlich schlank.

»Hey!« Sie bohrte ihre Stiefelspitze in die Stelle des Mantelknäuels, an der sie den Hintern des Mannes vermutete. Noch immer tat sich nichts.

Hinter sich hörte sie Schritte. »Morgen, Boss.« Severard, verlässlich wie immer. Der Junge kam wirklich nie zu spät. Zwar nicht der Gründlichste bei der Arbeit, aber zumindest bei der Pünktlichkeit nicht zu schlagen. »Was hast du denn da an Land gezogen?«

»Einen ziemlich komischen Fisch, der da auf meiner Schwelle angespült worden ist.« Schev schob ein paar Strähnen des roten Haars zurück und rümpfte die Nase, als sie dabei feststellte, dass es auch noch völlig blutverklumpt war.

»Ist er besoffen?«

»Sie.« Ein Frauengesicht war unter dem Filz zum Vorschein gekommen. Mit kräftigem Kinn, starken Knochen und blasser Haut, die von so viel schwarzem Schorf, roten Abschürfungen und lila Schwellungen bedeckt war, dass Schev unwillkürlich zurückwich, obwohl sie selten mit Leuten zu tun hatte, die nicht mindestens eine oder zwei Wunden spazieren führten.

Severard stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist aber eine ziemlich große Sie.«

»Und jemand hat ihr ziemlich ordentlich eingeschenkt.« Schev beugte sich hinunter und ging mit ihrer Wange fast bis an den zerschlagenen Mund der Frau, bis sie einen ganz leisen Atemhauch spürte. »Lebt aber noch.« Mit einer wippenden Bewegung kam sie wieder in die Hocke, die Handgelenke auf den Knien, die Hände lose herabhängend, und sie fragte sich, was sie jetzt machen sollte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte sie sich auf jedes Problem gestürzt, das ihr über den Weg gelaufen war, ohne lange darüber nachzudenken, aber irgendwie fiel es ihr immer schwerer, anschließend mit den Folgen solcher guten Taten zurechtzukommen. Sie blies die Wangen auf und stieß einen äußerst müden Seufzer aus.

»Tja, so was kommt vor«, sagte Severard.

»Leider ja.«

»Ist aber nicht unser Problem, oder?«

»Glücklicherweise nicht.«

»Willst du, dass ich sie raus auf die Straße schleife?«

»Am liebsten würde ich das wollen, ja.« Schev schlug die Augen zum Himmel und seufzte noch einmal, vielleicht noch müder als zuvor. »Aber ich denke, wir schleppen sie mal lieber rein.«

»Sicher, Boss? Du erinnerst dich, als wir das letzte Mal jemandem geholfen haben …«

»Sicher? Nein, sicher bin ich mir keineswegs.« Schev hatte keine Ahnung, wieso sie immer noch das Bedürfnis verspürte, nett zu anderen sein zu wollen, nach der ganzen Scheiße, die sie selbst erlebt hatte. Vielleicht war es aber auch gerade deswegen. Vielleicht lauerte in ihr noch ein störrischer Kern, wie in einer Dattel – ein Kern, der sich weigerte, sich wegen der ganzen matschigen Scheiße um ihn herum selbst beschissen zu verhalten. Auch wenn das vielleicht gar keiner so richtig kapierte. Sie schloss die Tür auf, die wackelnd aufschwang. »Nimm du ihre Füße.«

Als Besitzerin eines Rauchhauses entwickelt man unweigerlich schnell Geschick darin, reglose Körper zu schleppen, aber die jetzige Empfängerin von Schevs halb ausgegorener Gutherzigkeit erwies sich dabei trotz aller Erfahrung als ziemlich große Herausforderung.

»Verdammt noch eins«, keuchte Severard. Ihm quollen beinahe die Augen aus den Höhlen, als sie die Frau über den muffig riechenden Korridor bugsierten, während ihr Rücken über die Dielenbretter schleifte. »Woraus ist die denn gemacht, aus Ambossen?«

»Ambosse sind leichter«, stieß Schev durch die zusammengebissenen Zähne hervor. Sie wankte unter dem toten Gewicht und stieß immer wieder an die abblätternden Wände. Mit einem Fußtritt öffnete sie schließlich keuchend die Tür zu ihrem Kontor, oder, besser gesagt, zu der Besenkammer, die sie so bezeichnete. Jeder Muskel ihres Körpers brannte, als sie die Frau hineinzog. Der schlaff herabhängende Kopf schlug dabei gegen den Türrahmen, dann stolperte Schev über einen Mopp und fiel mit einem verzweifelten Aufschrei rücklings auf das Feldbett, das hinter ihr stand. Die Frau landete schwer auf ihr.

Im Bett mit einer Rothaarigen, dagegen war eigentlich nichts zu sagen. Allerdings war es Schev in der Regel lieber, wenn diese Rothaarigen zumindest halbwegs bei Bewusstsein waren. Und wenn sie insgesamt etwas besser rochen, jedenfalls am Anfang des Bettvergnügens. Diese Frau stank nach abgestandenem Schweiß und Fäulnis und dem so ziemlich Allerletzten, was man sich überhaupt vorstellen wollte.

»Dahin bringt einen die Freundlichkeit«, sagte Severard, der leise in sich hineinlachte. »Eingeklemmt von einem ziemlich schwerwiegenden Problem.«

»Willst du dich jetzt nur darüber amüsieren, oder hilfst du mir vielleicht auch mal, du Drecksack?«, fauchte Schev. Die ausgeleierten Federn des Bettes knarrten, als sie sich unter der Frau herauswand, dann wuchtete sie die Beine der Fremden aufs Bett; die Füße hingen ein großes Stück über den Rand. Es war kein großes Bett, aber jetzt, mit ihr drin, sah es aus wie ein Kinderbettchen. Der zerlumpte Mantel hatte sich geöffnet, und das fleckige Lederwams, das ihr neuer Gast darunter trug, war ein Stückchen hochgerutscht.

Schev war ein Jahr lang mit einer Jahrmarkttruppe unterwegs gewesen, zu der ein starker Mann gehörte, der sich der Unglaubliche Zaraquon nannte, obwohl er in Wirklichkeit Runkin hieß. Bei den Vorstellungen stellte er sich mit nacktem Oberkörper hin, ölte sich ein und stemmte dann vor den Augen des staunenden Publikums allerlei schwere Dinge. Abseits der Bühne, wenn er sich das Öl wieder abgewischt hatte, bekam man den faulen Sack nicht einmal dazu, einen Fingerhut zu stemmen. Sein Bauch war mit knotigen Muskeln bedeckt gewesen, als ob er unter seiner straff gespannten Haut aus Baumwurzeln anstatt aus Fleisch und Blut bestand.

Die blasse Körpermitte der Frau erinnerte Schev tatsächlich sehr an den Unglaublichen Zaraquon, wobei sie schmaler war, länger und sogar noch straffer. Bei jedem flachen Atemzug sah man, wie sich die kleinen Sehnen zwischen den Rippen bewegten. Aber statt mit Öl war ihr Bauch mit schwarzen und lilafarbenen und blauen Flecken bedeckt, und er wies dazu noch eine dicke, rote Strieme auf, die aussah, als ob sie von einem ziemlich unfreundlichen Axtstiel stammte.

Severard pfiff leise. »Die haben ihr aber eine ganz schöne Abreibung verpasst, was?«

»Kann man wohl sagen.« Schev wusste nur zu gut, wie sich so etwas anfühlte, und sie verzog mitleidig das Gesicht, als sie das Wams der Frau wieder etwas nach unten zog. Dann schlug sie die Decke hoch und breitete sie über die Fremde aus. Sie steckte sie am Hals sogar noch ein wenig fest, obwohl sie sich dabei blöd vorkam, und die Frau murmelte etwas und drehte sich leicht auf die Seite; dann rutschte ihr das verfilzte Haar übers Gesicht und sie begann zu schnarchen.

»Träum was Schönes«, brummte Schev. Nicht, dass sie selbst das jemals tat. Zwar war es nicht so, dass sie hier wirklich ein Bett gebraucht hätte, aber wenn man ein paar Jahre lang ohne einen sicheren Schlafplatz hatte auskommen müssen, dann neigt man dazu, sich an jedem Ort ein Bett aufzuschlagen, an dem man sich nicht bedroht fühlt. Sie schüttelte die Erinnerungen ab und schob Severard wieder auf den Flur hinaus. »Sieh besser zu, dass du die Türen aufschließt. Die Geschäfte laufen nicht so gut, dass wir auf Gäste verzichten könnten.«

»Meinst du, die Leute wollen um diese Tageszeit schon Spreu qualmen?«, fragte Severard, der versuchte, sich die Hand abzuwischen, die mit dem Blut der Frau beschmiert war.

»Wenn man seine Sorgen vergessen will, wieso sollte man damit bis Mittag warten?«

Bei Tageslicht wirkte das Rauchzimmer ganz und gar nicht wie die faszinierende kleine Wunderhöhle, die Schev hatte aufbauen wollen, als sie das Haus gekauft hatte. Sie stemmte die Hände in die Hüften, sah sich um und seufzte wieder müde. Tatsächlich sah es mehr als nur ein bisschen wie ein echtes Dreckloch aus. Die Dielenbretter waren geborsten und fleckig und voller Splitter, die Kissen so speckig wie eine baolische Bratküche, und einer der billigen Wandbehänge war abgefallen und bot nun freien Blick auf die vor Schimmel blühende Wand. Die Gebetsglocken auf dem Regal waren das Einzige, was diesem Ort ein wenig Klasse verlieh, und Schev strich liebevoll über die größte von ihnen. Dann stellte sie sich auf Zehenspitzen und befestigte die Ecke des Wandbehangs erneut, sodass der Schimmel zumindest ihren Augen verborgen blieb, auch wenn ihre Nase ihn nicht vergessen konnte, da der Geruch nach vergammelnden Zwiebeln alles durchdrang.

Nicht einmal eine so geübte Lügnerin, wie Schev selbst es war, hätte jemanden davon überzeugen können, dass es sich hier um kein Dreckloch handelte. Nicht einmal eine so leichtgläubige Närrin, wie sie selbst eine war. Aber immerhin war es ihr Dreckloch. Und sie hatte Pläne, um es richtig schön herauszuputzen. Sie hatte immer Pläne.

»Machst du die Pfeifen sauber?«, fragte sie, als Severard, der die Türen geöffnet hatte, zurückkam und den Vorhang beiseiteschob.

»Die Leute, die hierherkommen, legen keinen Wert auf saubere Pfeifen, Boss.«

Schev runzelte die Stirn. »Ich aber. Wir haben vielleicht nicht das größte Haus und vielleicht auch nicht das gemütlichste, und wir haben auch wohl nicht das beste Spreu«, sie sah Severard mit erhobenen Augenbrauen in das picklige Gesicht, »und wir haben auch nicht die hübschesten Diener, um die Pfeifen anzuzünden – was also ist bei uns besser als bei der Konkurrenz?«

»Wir sind billiger?«

»Nein, nein, nein.« Sie dachte kurz darüber nach. »Na ja, das auch. Aber was noch?«

Severard seufzte. »Bei uns werden die Kunden besser bedient?«

»Treffer.« Schev schnippte gegen die größte Gebetsglocke und entlockte ihr das himmlische Lied, das in ihr steckte. »Also, mach die Pfeifen sauber, du fauler Strick, und zünde ein paar Kohlen an.«

Severard blies die Wangen auf, über die sich jene Art von flaumigem Bart zog, von dem Jungen hoffen, dass er sie männlicher erscheinen lässt, obwohl er sie in Wirklichkeit nur noch jünger macht. »Ja, Boss.«

Als er das Haus durch den Hintereingang verließ, hörte Schev Schritte von der Vordertür, und sie stützte die Hände auf den Ladentisch – oder vielmehr auf die zerhackte Oberfläche des Schlachterblocks, den sie auf einem Müllhaufen gefunden und aufpoliert hatte – und setzte ihr Geschäftsgesicht auf. Das hatte sie sich von Gusman, dem Teppichhändler, abgeguckt, der immerhin der verdammt beste Kaufmann war, den sie kannte. Er konnte allein mit seinem Blick erfolgreich das Gefühl vermitteln, ein Teppich sei die Lösung aller Probleme, die sein Kunde haben mochte.

Das Geschäftsgesicht löste sich allerdings sofort in Wohlgefallen auf, als sie sah, wer da zur Tür hereinmarschierte.

»Carcolf«, hauchte sie.

Bei Gott, Carcolf war nichts als Ärger. Hochgewachsener, blonder, gutaussehender Ärger. Ärger, der süß roch, süß lächelte, flinke Gedanken und flinke Finger hatte, so greifbar wie Regen und so vertrauenswürdig wie der Wind. Schev ließ ihren Blick an Carcolf hinauf- und hinuntergleiten. Ihre Augen ließen ihr kaum eine Wahl. »Na, da sieht mein Tag ja schon viel besser aus«, murmelte sie.

»Meiner auch«, sagte Carcolf, die sich am Vorhang vorbeidrängte, sodass das Sonnenlicht von hinten auf ihr Haar fiel. »Viel zu lange nicht gesehen, Schevedieh.«

Der Raum wirkte nun, da Carcolf in seiner Mitte stand, plötzlich viel ansprechender. Auf keinem Markt in Westport hätte man ein besseres Dekorationsstück finden können. Ihre Kleidung war nicht besonders eng, schmiegte sich aber an genau den richtigen Stellen an, und sie hatte so eine besondere Art, sich in den Hüften zu wiegen. Bei Gott, diese Hüften. Sie schienen plötzlich überall zu sein, als seien sie gar nicht mit ihrem Rückgrat verbunden, so wie bei anderen Menschen. Schev hatte mal gehört, dass Carcolf früher Tänzerin gewesen war. Der Tag, an dem sie damit aufhörte, war ein schlechter Tag für das Tanzgewerbe und ein guter für die Betrügergilde gewesen, so viel stand mal fest.

»Bist du zum Rauchen gekommen?«, fragte Schev.

Carcolf lächelte. »Ich behalte lieber einen klaren Kopf. Wie könnte man sonst das Leben genießen?«

»Hängt wahrscheinlich davon ab, ob man ein schönes Leben hat oder nicht.«

»Meins ist schön«, sagte Carcolf, die durch den Raum tänzelte, als sei sie die Besitzerin und Schev ein gern gesehener Gast. »Was denkst du über Talins?«

»Das Kaff fand ich schon immer grässlich«, brummte Schev.

»Ich hätte einen Auftrag.«

»Talins fand ich schon immer toll.«

»Ich brauche eine Partnerin.« Das Regal, auf dem die Gebetsglocken standen, war gar nicht so niedrig, aber trotzdem beugte sich Carcolf weit vor, um sie sich genau anzusehen. Ganz unabsichtlich, hätte man meinen können. Aber Schev bezweifelte, dass Carcolf jemals in ihrem Leben irgendetwas ohne Absicht getan hatte. Schon gar nicht, sich vorzubeugen. »Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann. Jemanden, der meinen Arsch bewacht.«

Schevs Stimme wurde heiser. »Wenn es das ist, was du willst, dann bist du bei mir richtig, aber …« Sie löste ihren Blick von diesem Anblick, als sich ihr Verstand wie ein ungebetener Gast in ihre Gedanken drängte. »Aber das ist nicht alles, was du suchst, oder? Wahrscheinlich würde es nicht schaden, wenn diese Partnerin, die du erwähnst, auch Schlösser knacken oder Taschen leer machen könnte?«

Carcolf grinste, als sei ihr diese Idee eben erst gekommen. »Das würde nicht schaden, nein. Wäre auch nicht schlecht, wenn sie den Mund halten könnte.« Damit schwebte sie zu Schev hinüber und blickte auf sie hinunter, was ihr leicht fiel, da sie ein ganzes Stück größer war. Wie die meisten Leute. »Außer, wenn ich natürlich möchte, dass sie den Mund aufmacht …«

»Ich bin nicht blöd.«

»Du wärst mir auch nichts nütze, wenn dem so wäre.«

»Wenn ich mit dir gehe, lande ich wahrscheinlich irgendwann allein in irgendeiner schmierigen Gasse mit nicht mehr als den Kleidern, die ich am Leib trage.«

Carcolf neigte sich noch etwas weiter zu ihr hinunter, und Schevs Kopf war plötzlich von ihrem Geruch erfüllt, der wesentlich angenehmer war als vergammelte Zwiebeln oder eine verschwitzte Rothaarige. »Jetzt muss ich daran denken, wie du dich hinlegst. Und zwar ganz ohne Kleider.«

Schev gab ein Quietschen von sich, das an eine rostige Türangel erinnerte. Mit Mühe widerstand sie der Versuchung, sich an Carcolf festzuklammern wie eine Ertrinkende an einem wunder-, wunderschönen Stück Treibholz. Viel zu lange hatte sie mit ihrem Unterleib gedacht. Jetzt war es an der Zeit, einmal ihren Kopf zu bemühen.

»Ich mache so etwas nicht mehr. Jetzt muss ich mich um diesen Laden hier kümmern. Und wahrscheinlich auch um Severard …«

»Versuchst du immer noch, die ganze Welt ins Lot zu bringen?«

»Nicht die ganze, nur das Stück um mich herum.«

»Du kannst nicht jeden Streuner zu deinem Problem machen, Schevedieh.«

»Nicht jeden, aber diesen schon.« Sie dachte an die riesenhafte Frau in ihrem Bett. »Und vielleicht noch ein paar andere …«

»Du weißt, dass er in dich verliebt ist.«

»Ich habe ihm doch nur ein bisschen geholfen.«

»Deswegen hat er sich ja in dich verliebt. Das hat vorher noch niemand getan.« Carcolf streckte die Hand aus und schob mit einer Fingerspitze eine Haarsträhne aus Schevs Gesicht, dann seufzte sie. »Dabei klopft der arme Junge ja nun wirklich an die falsche Tür.«

Schev fasste nach Carcolfs Hand und schob sie weg. Nur weil man klein war, durfte man nicht zulassen, dass andere Leute mit einem machten, was sie wollten. »Da ist er nicht der Einzige.« Sie hielt Carcolfs Blick stand und sprach mit ruhiger, fester Stimme weiter. »Mir gefällt es natürlich, wenn du hier dein kleines Spielchen spielst. Gott weiß, wie sehr, aber hör bitte trotzdem auf. Wenn du mich um meiner selbst willen haben willst, dann steht dir meine Tür weit offen, und meine Beine sind es danach auch. Aber wenn du mich willst, weil du mich wie eine Zitrone ausquetschen und meine leere Schale dann in Talins wegschmeißen kannst – also, dann lieber nicht.«

Carcolf sah mit betretenem Gesicht zu Boden. Das war nicht so hübsch wie ihr Lächeln, aber wesentlich ehrlicher. »Ich war mir nicht sicher, ob du mich magst, wenn ich keine Spielchen spiele.«

»Warum probieren wir es nicht einfach aus?«

»Das Risiko ist mir zu hoch«, murmelte Carcolf und riss ihre Hand los. Als sie den Blick wieder hob, spielte sie schon wieder ihr Spiel. »Na, egal. Wenn du deine Meinung änderst … dann wird es zu spät sein.« Sie lächelte Schev über ihre Schulter hinweg an, tödlich wie eine Messerklinge, und dann trat sie zur Tür hinaus. O Gott, dieser Gang. Fließend wie Sirup an einem warmen Tag. Wie machte sie das nur? Hatte sie das vor einem Spiegel geübt? Stundenlang vermutlich. Tagelang.

Die Tür fiel ins Schloss, der Bann war gebrochen, und Schev stieß wieder ihr müdes Seufzen aus.

»War das Carcolf?«, fragte Severard, der gerade durch die andere Tür hereinkam.

»Ja«, bestätigte Schev wehmütig. Ein Hauch des himmlischen Geruchs kämpfte in ihrer Nase noch gegen den Schimmel.

»Ich vertraue diesem Luder nicht.«

Schev schnaubte. »Ganz bestimmt nicht.«

»Woher kennst du sie?«

»Von hier und da.« Von überall rund um Schevs Bett und doch nie darin.

»Ihr scheint aber ziemlich vertraut miteinander.«

»Nicht halb so sehr, wie mir lieb gewesen wäre«, brummte sie. »Hast du die Pfeifen sauber gemacht?«

»Joh.«

Wieder hörte Schev die Tür und wandte sich um, auf den Lippen ein Lächeln. Vielleicht war Carcolf noch einmal wiedergekommen und hatte beschlossen, dass sie Schev doch um ihrer selbst willen wollte …

»O Gott«, murmelte sie und ihre Miene verdüsterte sich. Normalerweise brauchte sie zumindest ein wenig länger, bevor sie eine Entscheidung bedauerte.

»Morgen, Schevedieh«, sagte Crandall. Er war Ärger von einer anderen, wesentlich weniger angenehmen Sorte. Ein rattengesichtiges, kleines Nichts, mit schmalen Schultern und schmalem Verstand, rosa umränderten Augen und ständig laufender Nase, aber er war der Sohn von Finger-Horald, und damit war er in dieser Stadt eine ziemlich große Nummer. Ein rattengesichtiges, kleines Nichts mit Macht, die er sich nicht selbst erarbeitet hatte, was ihn leicht reizbar, brutal und empfindlich rachsüchtig machte, zudem neidisch auf alles, was andere hatten und er nicht. Und jeder hatte irgendwas, das Crandall nicht hatte, selbst wenn es sich dabei auch nur um so etwas Profanes handeln mochte wie Talent, gutes Aussehen oder einen letzten Rest von Selbstachtung.

Schev bemühte sich wieder um ihr geschäftsmäßiges Lächeln, obwohl ihr niemand einfallen wollte, den sie weniger gern in ihrem Laden gehabt hätte. »Morgen, Crandall. Morgen, Mason.«

Mason duckte sich direkt hinter seinem Boss durch die Tür. Oder vielmehr, hinter dem Sohn seines Bosses. Er war schon früh einer von Horalds Getreuen gewesen, hatte ein breites, von Narben durchzogenes Gesicht, wie Blumenkohl verformte Ohren und eine Nase, die so oft gebrochen worden war, dass sie jetzt mehr wie eine Rübe aussah. Er galt als einer der härtesten Drecksäcke in ganz Westport, wobei in dieser Stadt an Drecksäcken allgemein kein Mangel herrschte. Jetzt sah er zu Schev hinüber, immer noch geduckt, weil er sich bei seiner Größe unter der niedrigen Decke nicht aufrichten konnte, und zog die Lippen entschuldigend zu einem Strich. Als wollte er sagen: Tut mir leid, aber das war nicht meine Idee, das wollte dieser Narr.

Der besagte Narr betrachtete Schevs Gebetsglocken, ohne sich dabei vorzubeugen, und verzog verächtlich den Mund. »Was sind das denn? Glocken?«

»Gebetsglocken«, erwiderte Schev. »Aus Thond.« Sie versuchte, ganz ruhig zu klingen, während sich drei weitere Kerle hinter Mason in ihren Laden drängten und offenbar versuchten, gefährlich dreinzublicken; allerdings mussten sie feststellen, dass es in dem kleinen Raum für echtes Imponiergehabe zu eng war und sie allenfalls betreten wirkten. Einer hatte ein Gesicht, in dem Eiterbeulen hässliche Krater hinterlassen hatten, und hervorquellende Augen. Ein anderer, der einen Ledermantel trug, der ihm viel zu groß war, verhedderte sich in einem der Vorhänge und riss ihn dabei beinahe herunter. Der dritte hatte die Hände tief in die Taschen geschoben und zeigte mit seinem Blick deutlich an, dass sich darin Messer befanden. Daran war nicht zu zweifeln.

Schev war sich ziemlich sicher, noch nie so viele Leute auf einmal im Laden gehabt zu haben. Schade, dass es keine zahlenden Gäste waren. Sie sah zu Severard hinüber, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat, und hielt ihm die Handfläche entgegen, als wollte sie ganz ruhig sagen. Allerdings musste sie zugeben, dass sie sich selbst nicht besonders ruhig fühlte.

»Hätte gar nicht gedacht, dass du viel für Gebete übrig hast«, sagte Crandall, der nun angesichts der Glocken die Nase rümpfte.

»Hab ich auch nicht«, sagte Schev. »Mir gefallen die Glocken einfach. Sie geben diesem Raum etwas Spirituelles. Willst du was rauchen?«

»Nein. Und wenn, dann würde ich dafür nicht in so ein Dreckloch gehen.«

Stille breitete sich aus, und dann beugte sich der Pockennarbige zu ihr rüber. »Das hier ist ein Dreckloch, hat er gesagt!«

»Hab ich gehört«, gab Schev zurück. »In so einem kleinen Raum überträgt sich der Schall sehr gut. Und mir ist durchaus bewusst, dass es ein Dreckloch ist. Ich habe schon Pläne, wie ich das ändern will.«

Crandall grinste. »Du hast doch immer Pläne, Schev. Aus denen wird nur nie was.«

Das stimmte wohl, und das lag meistens an Ärschen wie denen, die gerade vor ihr standen. »Vielleicht wendet sich ja mal mein Glück«, sagte Schev. »Was willst du?«

»Ich will was klauen lassen. Oder wieso sollte ich sonst zu einer Diebin kommen?«

»Ich bin keine Diebin mehr.«

»Klar bist du das noch. Du bist jetzt nur eine Diebin, die dieses Dreckloch von einem Rauchhaus führt. Und du schuldest mir noch was.«

»Wofür sollte ich dir denn was schulden?«

Crandalls Grinsen wurde jetzt noch eine Spur gemeiner. »Für jeden Tag, an dem man dir nicht die Beine gebrochen hat.« Schev schluckte. Offenbar hatte er es geschafft, sich sogar zu einem noch größeren Drecksack zu entwickeln als früher.

Sanft und beruhigend erklang nun Masons grollende, tiefe Stimme. »Ist doch bloß so, dass es eine echte Verschwendung ist. Westport hat eine großartige Diebin verloren und eine ziemlich durchschnittliche Spreuhändlerin gewonnen. Wie alt bist du? Neunzehn?«

»Einundzwanzig.« Wobei sie sich manchmal eher wie hundert fühlte. »Ich habe nur das Glück, dass ich mir das Feuer der Jugend bewahrt habe.«

»Bist trotzdem noch viel zu jung, um dich zurückzuziehen.«

»Ich bin in genau dem richtigen Alter«, sagte Schev. »Nämlich noch am Leben.«

»Das könnte sich ja ändern«, sagte Crandall und trat näher. So nahe, wie Carcolf ihr vorhin gewesen war, nur wesentlich weniger angenehm.

»Halte mal ein bisschen Abstand von der Lady«, sagte Severard mit trotzig vorgeschobener Unterlippe.

Crandall schnaubte. »Lady? Soll das ein Witz sein, Kleiner?«

Schev sah, dass Severard ihren Knüppel hinter seinem Rücken hielt. Ein Stock von ordentlicher Länge und genau dem richtigen Gewicht, um jemandem ordentlich eins auf die Rübe zu verpassen. Aber es wäre das Letzte gewesen, was sie jetzt brauchte, dass er mit diesem Knüppel auf Crandall losging. Den würde er ein gutes Stück weit im Hintern haben, wenn Mason mit ihm fertig war.

»Wieso gehst du nicht hinten raus und fegst schon mal den Hof«, sagte Schev daher.

Severard sah sie an, das Kinn kampfbereit vorgereckt. Dieser Narr. Bei Gott, vielleicht war er tatsächlich in sie verliebt. »Ich will nicht …«

»Geh hinten raus. Ich komme schon zurecht.«

Er schluckte, warf Crandalls Schergen noch einen schrägen Blick zu und verzog sich dann.