Schattenschlaf - Kati Hiekkapelto - E-Book

Schattenschlaf E-Book

Kati Hiekkapelto

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Beschreibung

Kommissarin Anna Fekete verbringt ihren Sommerurlaub in ihrer Heimat Serbien. Bereits am ersten Abend wird ihre Handtasche mit Pass und Kreditkarte gestohlen. Anna Fekete kann den Täter noch verfolgen, doch dann verliert sich seine Spur. Es dauert nicht lange, bis der Dieb gefunden wird – er liegt tot am Ufer eines Flusses. Die lokale Polizei geht von einem Unfall aus und will die Ermittlungen einstellen. Anna Fekete indes ist überzeugt, dass der junge Mann ermordet worden ist, und nimmt die Sache selbst in die Hand. Es gibt zahlreiche Spuren, die im Sande verlaufen. Bis Anna Fekete einen Hinweis erhält, der zu ihrer eigenen Familie und einem wohlgehüteten Geheimnis führt: dem lang zurückliegenden Mord an ihrem Vater, der als aufgeklärt gilt. Doch Anna Fekete bringt neue Details ans Licht.

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Seitenzahl: 407

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Zum Buch

Kommissarin Anna Fekete verbringt ihren Sommerurlaub in ihrer Heimat Serbien. Bereits am ersten Abend wird ihre Handtasche mit Pass und Kreditkarte gestohlen. Anna Fekete kann den Täter noch verfolgen, doch dann verliert sich seine Spur. Es dauert nicht lange, bis der Dieb gefunden wird – er liegt tot am Ufer eines Flusses. Die lokale Polizei geht von einem Unfall aus und will die Ermittlungen einstellen. Anna Fekete indes ist überzeugt, dass der junge Mann ermordet worden ist und nimmt die Sache selbst in die Hand. Es gibt zahlreiche Spuren, die im Sande verlaufen. Bis Anna Fekete einen Hinweis erhält, der zu ihrer eigenen Familie und einem wohl gehüteten Geheimnis führt: Der lang zurückliegende Mord an ihrem Vater, der als aufgeklärt gilt. Doch Anna Fekete bringt neue Details ans Licht.

Zur Autorin

Kati Hiekkapelto, 1970 geboren, hat als Lehrerin gearbeitet, bevor sie zu schreiben begann. Sie lebt mit ihrer Familie auf Hailuoto, einer kleinen Insel im Norden Finnlands. Nach Kolibri und Die Schutzlosen legt sie mit Schattenschlaf ihren dritten Roman um Kommissarin Anna Fekete vor.

Kati

Hiekkapelto

SCHATTEN-

SCHLAF

Thriller

Aus dem Finnischen

von Gabriele Schrey-Vasara

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Tumma bei Otava, Helsinki

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Kati Hiekkapelto ja Kustannusosakeyhtiö Otava

Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published in the German language by arrangement with Otava Group Agency, Helsinki

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel/punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von Photocase (dioxin) und shutterstock (Robert Red2000, Kerstin Schoene)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-19557-1V001

www.heyne.de

Für meine Mutter

19.6.

Blutstropfen auf der hellgrünen Tapete wie wilder Mohn am Wegesrand.

Hier, wo der dunstig graue Himmel die Ränder der gewaltigen Getreidefelder verschluckt, wo man die vorbeiströmende Tisza selbst dann noch wahrnimmt, wenn man sie nicht sieht, fließt sie wie eine dunkle Arterie durch die vergifteten Felder, auf denen Unkraut, Klatschmohn, Kornblumen und Löwenzahn erstickt werden, vorbei an der Stadt, in der das Leben unveränderlich, beinahe erstarrt wirkt, während der Staat darum herum allenthalben seinen Namen wechselt, Krieg führt, an der Peripherie der taumelnden Weltwirtschaft vor sich hin darbt, seinen Kriegsverbrechern Unterschlupf gewährt, sich schämt, andererseits aber zu stolz ist, seine Fehler einzugestehen. Dieser Staat besteht aus Dutzenden Nationalitäten, Minderheiten, Mehrheiten, verschiedenen Sprachen. Er hat die UN-Menschenrechtscharta unterzeichnet, hält sich aber nicht daran.

In den nächsten Tagen wird es am Fluss blühen – die üppigste Blüte seit Menschengedenken, so wurde prophezeit. Bereits jetzt in diesem Augenblick graben sich Millionen libellenartiger Insekten aus dem Morast am Uferhang, um schon bald über den Fluss zu fliegen wie eine Wolke schwebender Blumen, um sich zu paaren, um Eier abzulegen und dann wieder zu sterben. Die Menschen versammeln sich am Ufer und feiern, viele rudern hinaus, um den weichen Flügelschlag zu spüren, die Berührung der Insektenleiber auf der eigenen Haut. Die Blüte ist ein regelrechter Karneval des Lebens und des Todes, auf den man in der Stadt hinfiebert, an dem man begeistert teilnimmt. Etwas Ähnliches geschieht sonst nirgends, nur hier an dieser Flussbiegung, am Ufer ihrer Stadt. Als wäre die ganze Stadt irgendwie besonders, gesegnet.

Blutstropfen. Sie verdichten sich in der Mitte der hellgrünen Tapete zu einem großen, sich allmählich schwarz färbenden Muster, das einer riesigen Amöbe gleicht. Die Wand ist etwa zweieinhalb Meterhoch und fünf Meter breit, dahinter liegt eins der beiden Schlafzimmer. Die Wand zieren weder Bilder noch Spiegel – nur die schlichte Tapete. Und jetzt das Mohnfeld, das amöbenartige Muster in der Mitte.

Noch vor wenigen Sekunden ist auf die Wand der Schatten einer Gestalt gefallen, die an dem alten Schreibtisch vor dem Fenster saß. Inzwischen ist der Tisch leer, er wurde erst kürzlich aufgeräumt. Auch die Schubladen sind geleert worden. Von draußen sind Schritte zu hören, das fröhlich glucksende Lachen vorüberlaufender Kinder, das so gar nicht zu der Stimmung in dem Zimmer passen mag. Die Straße führt unmittelbar am Haus vorbei. In diesem Stadtteil sind alle Häuser so gebaut: eng beieinander und so dicht an der Straße, dass sie eine fast durchgehende Mauer am Rand des schmalen Bürgersteigs bilden. Durchs Fenster sieht man einen Kirschbaum. Er wächst auf dem Grünstreifen zwischen Bürgersteig und Straße, beschattet mit seinem dichten Laub das Haus, sodass man die Jalousie nicht unbedingt herunterzulassen braucht, obwohl die Sonne nachmittags auf die Fassade brennt. An diesem Fenster werden die Jalousien erst im Hochsommer heruntergelassen – ein letzter vergeblicher Versuch, sich vor der Hitze zu schützen, wenn sie bereits so drückend ist, dass sie alles durchdringt. Die Äste biegen sich unter den Kirschen, dunkelrote, saftige Kugeln, perfekt gereift. Wird es in diesem Sommer irgendjemand schaffen, sie zu pflücken, in Zuckerwasser einzukochen, die Gläser ins Regal der kühlen Speisekammer hinter der Küche zu stellen?

Noch vor einem Moment funktionierten Kopf und Körper. Der Lauf der Pistole war fest unter das Kinn geschoben worden, in einem wohlüberlegten Winkel, damit die Kugel auch garantiert den Schädel durchschlagen und nicht nur qualvoll das Gesicht zerfetzen würde. Die Pistole war geladen gewesen, die Hand hatte kein bisschen gezittert, der Körper war ruhig und bereit gewesen. Der Kopf hatte – mit einer Ausnahme – in jedem Augenblick genau gewusst, was Hand und Waffe tun würden.

Dann der Schuss und davor nur mehr ein einziger Gedanke: Die Hölle war hier.

3.6.

Das kleine Weinfest fand im Rathauspark statt – eine ziemlich hochtrabende Bezeichnung für den unscheinbaren grünen Flecken, dessen südliches Ende an das Rathaus grenzte und der im Osten an der Straße endete, die von Horgos nach Törökkanizsa führte und dabei den Stadtrand durchschnitt. Im Norden lag die Hauptstraße mit ihren Geschäften, und im Westen ragte der schöne Glockenturm der orthodoxen Kirche in den Himmel auf. Das Areal maß kaum einen Viertelhektar – eine kleine, von Kastanien beschattete Grünfläche am Rand der Innenstadt von Kanizsa. Im Sommer saßen die Menschen im Schatten der Bäume, sahen dem allgemeinen Treiben zu, passten auf spielende Kinder auf und tratschten miteinander. Abends versammelten sich hier die jungen Leute. Na schön, soll er halt als Park durchgehen, dachte Anna, es gibt ja sogar ein paar obligatorische Statuen. Von zwei lokalen Künstlern. Und das Denkmal für den Zweiten Weltkrieg. Za slobodu – »Für die Freiheit«, auf Serbisch. Dieser Park war genauso mickrig wie die Freiheit, die in diesem Land herrschte. Ein Pärklein. Freiheitlein. Anna überlegte, wie das wohl auf Ungarisch heißen würde, doch ihr fiel einfach nichts ein. Derlei Wortschöpfungen gelangen ihr auf Finnisch deutlich besser, dabei empfand sie »Freiheit« auch im Finnischen zusehends als abstrakten Begriff.

Es wurde bereits dunkel. Glühbirnchen hingen in den Bäumen wie Perlenketten und beleuchteten den asphaltierten Fußweg, der durch den Park hindurchführte und gesäumt war von Weinbuden, Tischen und Stühlen, an denen sich die Leute drängten, tranken und lachten. Gute und entferntere Bekannte, auch einige Unbekannte, die höchstens ihre Mutter kannten, blieben stehen, sobald sie Anna sahen, und begrüßten sie mit Küsschen auf die Wangen. Anna konnte den Wein und den Zigarettenrauch in deren Atem riechen, sowie sie neugierig oder auch nur pflichtbewusst die obligatorischen Fragen und Floskeln abspulten: Wie geht’s, wann bist du angekommen, wie lange bleibst du, bist du geflogen, nach Budapest, wie lange dauert denn der Flug, mein Beileid zum Tod deiner Großmutter, sie war eine gute Frau, du bist nicht zur Beerdigung gekommen, dein Bruder ist ja schon eine Weile hier, wie geht es ihm, und deiner Mutter, komm uns doch besuchen, jederzeit. Und zum Schluss flüsterten sie, als wollten sie um Entschuldigung bitten, letztes Jahr seien viel mehr Leute hier gewesen, schade, dass es diesmal so ruhig ist. Sie begannen sofort, dachte Anna, die Entschuldigungen. Hatte man sich auch zu Titos Zeit entschuldigt? Oder hatte das erst nach den Jugoslawienkriegen angefangen? Irgendein Minderwertigkeitsgefühl dräute über Kanizsa wie Staub in einem verwaisten Zimmer, nur dass die Einwohner selbst es wahrscheinlich nicht einmal bemerkten. Die Klagen und das Herunterspielen gewisser Zustände gehörten wie selbstverständlich zur hiesigen Umgangsform, niemand verschwendete auch nur einen Gedanken daran, welche Auswirkungen dies auf die allgemeine Stimmung und auf das Selbstwertgefühl der Menschen haben mochte. Stille Resignation. Die hatte Anna auch früher schon verspürt.

Ihrer Meinung nach waren überraschend viele Leute zu dem Fest gekommen. Nach dem glutheißen Tag war der Abend immer noch warm, doch die Luft roch bereits nach Regen. Ausgelassen spazierten die Leute auf und ab. Auf der Bühne am Ende des Fußwegs spielte eine Coverband ungarische Hits, und zwar so laut, dass es bis an den äußeren Rand der Stadt zu hören sein musste. Minderwertigkeitsgefühle oder nicht, jedenfalls wusste man hier zu feiern, den Moment zu genießen, und niemand, nicht mal der zynischste Alte, würde sich am nächsten Morgen über den Lärm beschweren, der die Nachtruhe gestört hatte. Wahrscheinlich feierte der Alte sogar selbst mit. Oder hatte seine Enkel gebeten, ihm eine Kostprobe vom Wein vorbeizubringen.

Vor der Bühne lungerten junge Leute mit Bierflaschen herum, immer mehr Menschen strömten herbei. Anna war müde. Am liebsten hätte sie sich schlafen gelegt oder sich zumindest in ihr Zimmer zurückgezogen. All die begeisterten Begrüßungen, die Wangenküsschen und die Neuigkeiten hatten sie schon nach den ersten Begegnungen angestrengt. Die überschwängliche, fast schon zudringliche Neugier ihrer alten Bekannten aus Kanizsa vergaß sie jedes Mal, solange sie in Finnland war, doch in den ersten Urlaubstagen erstickte sie beinahe daran. Und jedes Mal begann sie sofort zu vergleichen: Hier ist es so, in Finnland so. Das irritierte sie – als müsste sie ständig abwägen, welcher Ort mehr Pluspunkte verdiente und wohin sie denn nun aufgrund dessen eher hingehörte. Als müsste sie eine Wahl treffen. Dabei musste sie das gar nicht. Das Schicksal hatte ihr die Wahl schon vor Langem abgenommen.

Anna war am späten Nachmittag in Kanizsa angekommen. Nach einer unruhigen Nacht in ihrer Zweizimmermietwohnung in Koivuharju war sie schier unmenschlich früh aufgebrochen, hatte sich ein Taxi zum Flughafen bestellt, war aus dem Norden nach Helsinki geflogen, von dort aus dann weiter nach Budapest, hatte am Flughafen den für sie reservierten Mietwagen abgeholt, einen weißen Fiat Punto mit Automatikgetriebe und einer so starken Klimaanlage, dass ihr vom Luftzug immer noch die Schultern wehtaten, war rund zweihundert Kilometer auf der Autobahn gen Süden gefahren, hatte in Röszke die Grenze überquert und tief Luft geholt, als sie endlich auf der anderen Seite angekommen war, wo die Puszta sich zu beiden Seiten der Straße erstreckte wie ein offenes Meer. Noch eine Handvoll Kilometer, dann die Abzweigung nach rechts, nach Horgos und Magyarkanizsa, das meist nur Kanizsa genannt wurde. Die Häuser am Stadtrand von Horgos hatten ausgesehen, als würden sie jeden Moment einstürzen.

Der Übergang war zu schnell gegangen – so war es immer. Wenn das Flugzeug zum Himmel emporstieg und einen Menschen mit Hunderten Stundenkilometern von einer Stadt und einem Land in ein anderes transportierte, kam die Seele nicht mehr mit. Sie folgte in ihrem eigenen langsamen Tempo, das wusste Anna längst, trotzdem gönnte sie sich die Entschleunigung nicht, sondern suchte jedes Mal sofort bei ihrer Ankunft in Kanizsa die Nähe der Leute, die Nähe ihrer alten Freunde. Dann war sie im Handumdrehen so erschöpft, dass sie fast immer das Gefühl hatte, diesen Ort hassen zu müssen und zu bereuen, dass sie überhaupt gekommen war. Sie hatte das Gefühl, in ihrem seelenlosen Körper zu ersticken, als wäre es einzig und allein die Seele – ihr Innerstes –, die den Körper gegenüber der Außenwelt abgrenzte und ihn vor Angriffen von außen schützte. Ein seltsames Gefühl. Aber das würde vergehen. Auch das wusste sie.

Vor der Bude des Weinguts Nagy-Sagmeister ließen sie sich nieder. Sie wollten sich drei Flaschen Wein und eine Flasche Wasser teilen. Anna war mit Freunden gekommen, die sie bereits aus Kindergartenzeiten kannte: Tibor, Nóra, Ernő und Véra. Réka war nicht mitgekommen. Ihr war den ganzen Tag über schlecht gewesen, also hatten sie abgemacht, sich erst tags darauf zu treffen. Annas Mund war von der langen Reise immer noch staubtrocken. Mit ein paar großen Schlucken leerte sie ihr Wasserglas. Ihre Freunde schoben ihr ein Glas Weißwein hin, Furmint, den der örtliche Winzer im vergangenen Herbst gekeltert hatte. Ein Volltreffer, einfach herrlich. Einen besseren bekomme man nicht mal in Ungarn, da waren sie sich einig. Der Winzer – einer aus Kanizsa – führe die serbische Weinkultur zu neuer Blüte, erklärten sie stolz. Und auch Anna fand den Wein hervorragend. Ihr Blick blieb an einem Mann hängen, der mit einem Weinglas in der Hand vor der benachbarten Weinbude stand und sie ansah. Als fühlte sie sich ertappt, wandte Anna sich wieder ihren Freunden zu, nickte zu Tibors Geschichten, als würde sie ihm konzentriert zuhören, und spähte nach einer Weile erneut vorsichtig zu dem Mann hinüber. Jetzt starrte er sie regelrecht an. Peinlich berührt schlug sie die Augen nieder.

»Guck nicht sofort hin – aber wer ist der Mann da links?«, fragte sie Nóra. »Der Grauhaarige mit dem eleganten Anzug.«

Sekunden später warf Nóra einen Blick über die Schulter. Mittlerweile war der Mann in ein Gespräch mit dem Weinverkäufer vertieft.

»Das ist Remete Mihály, ein Stadtverordneter – ein hohes Tier. Er will im nächsten Frühjahr fürs Parlament kandidieren.«

Wieder warf der Mann Anna einen Blick zu.

»Er starrt mich an«, flüsterte sie. Ihr Rücken prickelte unangenehm.

»Misi-báci mag junge Frauen, das weiß die ganze Stadt«, stellte Tibi fest und knuffte Anna gegen die Schulter.

»Der Typ könnte mein Vater sein«, schnaubte sie.

Der Mann zahlte seinen Wein und näherte sich ihrem Tisch.

»Verdammt, er kommt hierher«, flüsterte Anna.

»Jó estét kívánok, Remete Mihály vagyok.« Der Mann baute sich lächelnd vor Anna auf und gab ihr die Hand, und Anna stellte sich ebenfalls vor. Breite Goldringe zierten seine Finger. »Ich weiß, wer du bist, ich hab deinen Vater gut gekannt. Ein feiner Mann.«

Natürlich, dachte Anna. Alle hatten ihren Vater gekannt. Hier war sie die Tochter ihres Vaters, so war nun mal ihr Platz in dieser Gemeinschaft, zu der sie nicht länger gehörte und an die sie trotz allem für immer gebunden war. Großvater, Großmutter, Urgroßvater – sie waren die Wurzeln, Mutter und Vater der Stamm, an dem ihr eigener Ast gewachsen war. Sie konnte förmlich sehen, wie dieser Ast sich wand wie eine flüchtige Gedankenblase in einem Comic, wenn die Einheimischen versuchten, sie in ihr Kanizsa-Arboretum einzufügen. Dann die Erleichterung auf ihren Gesichtern, wenn sie den richtigen Baum und die richtige Verästelung gefunden hatten. Du bist keine Fremde. Dich kennen wir. Dich können wir einordnen.

Wie sehr sie sich irrten.

»Machst du hier Urlaub?«, fragte Remete Mihály, und Anna erzählte wieder dieselbe Geschichte, beantwortete die gleichen Fragen, lächelte und hob ihr Glas, als der Mann auf ihren Vater trinken wollte. »Komm mich mal besuchen«, sagte er. »Ich kann dir ein paar Fotos von deinem Vater zeigen, aus unserer Jugend. Du wirst überrascht sein. Wir waren ziemliche Filous.« Dann lachte er dröhnend, verabschiedete sich von allen und schlenderte zur nächsten Bude, um sich ein weiteres Glas Wein zu kaufen.

»Ein netter Mann«, sagte Ernő. »Ich hab bei der letzten Wahl für ihn gestimmt.«

Ernő lallte schon ein wenig. Dann wollte Nóra ein paar obligatorische Selfies mit Anna und ihren Weingläsern machen und sie sofort auf Facebook posten. Lächelnd posierten die beiden Wange an Wange, knips, knips, die Furmintgläser hoch, knips, knips, die Männer auch mit drauf. Der Zugvogel ist endlich wieder da, aktualisierte Nóra ihren Status und lachte. Fragte, wann Anna endlich auch auf Facebook wäre. Anna erklärte – wieder einmal –, dass sie einfach keine Lust darauf hätte. Schließlich räumte sie ein, dass sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegen würde, um besser Kontakt mit ihren alten Freunden zu halten, aber dieses Zugeständnis machte sie erst, als Nóras überschwängliche Facebook-Schwärmerei ihr irgendwann zu viel wurde. Die Männer brachten das Gespräch auf die Kommunalpolitik, über die sie unverrückbare Meinungen zu haben schienen, die Frauen unterhielten sich über ihre Arbeit und darüber, was sie heute oder gestern oder letzte Woche gekocht hatten. Anna versuchte, an dem lebhaften Gespräch teilzunehmen, kam aber nicht recht in die Gänge, schaffte es nicht, an den richtigen Stellen die richtigen Kommentare einzustreuen, wusste eigentlich auch gar nicht, was sie zu dem einen oder zu dem anderen Thema hätte beisteuern sollen. Also gab sie es nach einer Weile auf und lauschte nur mehr dem von Gelächter durchsetzten, lebhaften Stimmengewirr und bald nicht mal mehr diesem. Sie hing ihren Gedanken nach, genoss den berauschenden Duft der hársfá, schloss kurz die Augen und begann, sich zu entspannen. Es wird schon werden, dachte sie. Ich gehe bald schlafen, die anderen verstehen sicher, dass ich müde bin. Morgen fühle ich mich schon viel wohler und heimischer, und dann sehe ich auch endlich Réka wieder. Ich werde durch die járás spazieren …

Im selben Moment spürte sie einen Stoß im Rücken. Sie prallte gegen den Tisch, sodass Tibis Weinglas umkippte. Der goldgelbe Furmint lief über die Tischkante, tropfte auf die Erde und auf Annas Hose. Tibi sprang erbost auf – und da erst merkte Anna, dass ihre Handtasche, die neben ihr auf der Bank gelegen hatte, verschwunden war.

»Meine Handtasche!«, rief sie. »Jemand hat sie mir geklaut!«

Tibi und Ernő rannten augenblicklich los. »Haltet den Dieb!«, brüllte Tibi wie in einer Szene aus Donald Duck. Anna stürmte den beiden nach. Sie sah die davonlaufende Gestalt in der Menschenmenge verschwinden. Dann tauchte sie am Rand des Parks wieder auf. Niemand reagierte schnell genug. Anna schubste Leute beiseite, erreichte die Straße und sah zwei Läufer, die sich in verschiedene Richtungen entfernten: einen Mann und ein kleines Mädchen in einem roten Rock, das auf die Hochhäuser neben der orthodoxen Kirche zusprintete. Der Mann lief auf die Schule zu. Beide hielten eine Tasche in der Hand. Anna überlegte einen Sekundenbruchteil, wem sie folgen sollte, und entschied sich dann für den Mann. Ernő, der in deutlich schlechterer Verfassung war als Tibi – er hatte zugenommen und war Kettenraucher, außerdem schon ziemlich betrunken –, hatte dieselbe Richtung eingeschlagen, würde den Dieb aber ganz sicher nicht einholen. Tibor setzte auf der Hauptstraße dem Mädchen nach.

Der Mann hatte bereits die Schule erreicht und verschwand um die Ecke. Anna hatte nicht erkennen können, ob die Tasche, die er in der Hand hielt, ihre gewesen war. Sie zog das Tempo an, überholte den keuchenden Ernő, lief an dem großen, dunklen Schulgebäude vorbei bis zur nächsten Straßenecke. Dort hatte man freien Blick auf die Hauptkirche und Kőrös, doch der Mann war nirgends mehr zu sehen. Anna blieb an der Kreuzung stehen und lauschte. In der stillen Stadt wäre es leicht gewesen, dem Widerhall der Schritte zu folgen, doch die dröhnende Musik aus dem Park übertönte sämtliche Geräusche. Eine Schleiereule machte sich vom Kirchturm aus zu ihrem lautlosen Beutezug auf. Ihre helle Silhouette verschwand hinter den hohen Kastanien. Ernő schloss zu Anna auf.

»Wo ist er hin?«, keuchte er, stützte die Hände auf die Knie und verzog das Gesicht.

»Ich weiß nicht – aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich lauf weiter zur Sumadija utca, such du die Umgebung der Kirche ab. Vielleicht versteckt sich der Typ dort irgendwo hinter den Büschen«, antwortete Anna.

»Und was mache ich, wenn ich ihn finde?«, rief Ernő ihr nach.

»Nimm ihn fest!«

»Aber wie?«

Angst flackerte in seinen Augen – Angst und Unsicherheit. Doch Anna hatte keine Zeit mehr für Belehrungen. Sie zog ihre hochhackigen Schuhe aus, lief schnell und trotzdem beinahe lautlos die Sumadija entlang und am Kindergarten vorbei und hoffte, dass sie und nicht Ernő auf den Mann stoßen würde.

Die Dunkelheit um sie herum wurde dichter. Kleine Steinchen drillten sich ihr in die Fußsohlen, aber sie achtete nicht darauf. Sie hatte hart dafür trainiert, sich nicht von derlei Schmerzen beeinträchtigen zu lassen, in dieser Disziplin war sie inzwischen Meisterin. Nur auf Glasscherben durfte sie nicht treten … Alles hatte seine Grenzen.

Mittlerweile war die Musik verstummt, womöglich machte die Band eine Pause. Hier gab es nur wenige Straßenlaternen, und auf den Straßen waren keine Autos unterwegs. Um sie herum wirkte Kőrös wie ausgestorben. Der Stadtteil war auf dem Grund eines trockengelegten Sees erbaut worden und bildete den nördlichen Stadtrand von Kanizsa. Das Wohngebiet war in einer Zeit entstanden, als in Jugoslawien noch Wohlstand herrschte, und zwei- und sogar dreistöckige Einfamilienhäuser für die obere Mittelschicht standen inmitten großer eingezäunter Grundstücke. Die schweren Rollläden waren heruntergelassen, sodass um sie herum eine beinahe gespenstische Stimmung herrschte. Die Häuser sahen samt und sonders dunkel und verlassen aus. Weil zu fast jedem Haus eine Garage gehörte, parkten am Straßenrand kaum Autos. Inzwischen konnten die meisten Bewohner es sich nicht mehr leisten, die gewaltigen Häuser den Winter über komplett zu heizen. Seit der Preis für das Importgas aus Russland in die Höhe geschnellt war, blieben die oberen Etagen im Winter meist kalt, in manchen Häusern wurden überhaupt nur zwei Zimmer geheizt – die Küche und das Wohnzimmer.

An der Kreuzung Szent János musste Anna sich entscheiden, welche Richtung sie einschlagen wollte. Einen tiefen Atemzug lang lauschte sie der Stille und lief dann intuitiv auf das Gong zu, bog gleich an der ersten Gabelung nach links in die Szőlö utca ein – und plötzlich dröhnte der Metallzaun neben ihr, als würde ihn jemand durchstoßen wollen. Anna schrie vor Schreck leise auf, während auf der anderen Seite des Zauns ein kleiner Köter mit verfilztem Fell kläffend neben ihr herlief.

»Still«, fuhr Anna den Hund an, der an der Ecke des Grundstücks haltmachen musste und wütend hinter ihr herbellte. Spätestens jetzt weiß der Kerl, wo ich bin, schoss es Anna durch den Kopf. Verdrossen bog sie in die Tvirnicka utca ein, joggte kreuz und quer durch die Straßen, immer noch piksten Steinchen ihr in die Fußsohlen, zerrieben den Strumpf und scheuerten ihr die Ferse auf. Der Dieb war nirgends mehr zu sehen. Als Ernő ihr über die Jesenska utca entgegenkam, gab sie schließlich auf.

»In der Handtasche waren mein Pass und meine Kreditkarte – alles! Perkele!«, fluchte sie auf Finnisch.

»Und dein Handy?«, fragte Ernő. Er war so außer Atem, dass er kaum sprechen konnte. Seine Wangen glühten, und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Du solltest ab und zu mal joggen gehen, dachte Anna beinahe schadenfroh.

Sie klopfte ihre Jackentaschen ab. Das Handy war noch da. Gekünstelt triumphierend hielt sie es Ernő hin.

»Alles haben sie nicht gekriegt, ha!«

»Das waren Zigeuner«, stellte Ernő fest.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Anna verwundert. Sie hatte lediglich den dunklen Rücken der Männerjacke gesehen.

»Das Mädchen war eben so … Das hat man doch gesehen.«

»Wie?«

»Na, so … ungepflegt.«

»Wie gut konntest du sie denn sehen? Also, ich hab diesen Mann nicht richtig zu Gesicht gekriegt … Vielleicht eins achtzig groß, normale Statur, dunkle Jacke – mehr könnte ich nicht sagen. Halbwegs jung, schätze ich, höchstens dreißig.«

»Nicht richtig zu Gesicht gekriegt, nennst du das? Ich kann über das Mädchen gar nichts sagen!«

»Größe? Alter?«

»Sicher nicht sehr alt, sie war ziemlich klein. Ein Kind. Ich hab sie nicht richtig sehen können.«

»Aber du hast sehen können, dass sie ungepflegt war? Inwiefern?«

»Ich weiß nicht … Vielleicht lag es an ihren Haaren. Lang und zottelig.«

»Aha, und das macht die beiden also automatisch zu Roma?«

Annas entrüsteter Tonfall war Ernő nicht entgangen.

»Ich kann schon erkennen, ob es welche von denen sind«, verteidigte er sich.

»Das Mädchen hatte einen roten Rock an«, sagte Anna.

»Tatsächlich?« Ernő war sichtlich verblüfft.

Anna hatte die ethnische Herkunft der Diebe nicht ansatzweise zur Kenntnis genommen. Und wenn Ernő nicht einmal der rote Rock aufgefallen war, woher wollte er dann wissen, dass die Haare des Mädchens zottelig gewesen waren? Was er da von sich gibt, ist pure Spekulation, dachte Anna. Gab es irgendeinen Winkel auf der Erde, wo das Wort »Zigeuner« nicht als Synonym für »Dieb« galt?

Doch sie verkniff es sich, Ernő zurechtzuweisen. Außerdem mochte er ja durchaus recht haben. In Annas Augen sah ein durchschnittlicher Rom genauso aus wie ein durchschnittlicher Serbe oder Magyar. Hier trugen die Roma keine Rüschenblusen und schwarzen Samtröcke oder gerade geschnittene Hosen und Blousons wie in Finnland, wo sie im Straßenbild deutlich hervorstachen; hier kleideten sie sich wie alle anderen auch. Und trotzdem wusste man hier aufgrund des Äußeren sofort, wer Rom war und wer nicht. Als wäre diese Unterscheidung überhaupt wichtig.

»Wohnen die nicht hier in der Nähe?«, fragte Anna.

»Ich glaube nicht, dass es welche aus Kanizsa waren.«

»Wieso nicht?«

»Die Stadt ist so klein, dass sie zum Stehlen woanders hingehen müssen. Hier kennt jeder jeden. Oder fast.«

»Gehen wir nachsehen?«

»Die lassen uns nicht rein, da können wir nicht einfach aufkreuzen. Am Ende schießen sie noch. Und wenn die Typen wirklich hier hingerannt sein sollten, haben sie sich längst versteckt. Das Vernünftigste wäre, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten.«

Anna dachte kurz darüber nach. Insgeheim reizte es sie, im nächtlichen Zigeunerviertel herumzuschnüffeln, doch dann riss sie sich zusammen. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, einfach nur Anzeige zu erstatten. Ein toller Anfang für einen ruhigen Urlaub.

Im selben Moment schlug irgendwo ein Hund an. Ernő drehte den Kopf und spitzte die Ohren.

»Das kommt von dort …«

»Gehen wir.«

»Auf keinen Fall, mitten in der Nacht …«

»Hast du etwa Angst?«, fragte Anna.

»Nein.«

»Ich auch nicht, also, gehen wir.«

Anna wischte sich den Sand und die Steinchen von den Fußsohlen und zog ihre Schuhe wieder an. Ihre Strumpfhose war zerrissen, und am linken Ballen hatte sie eine offene Wunde. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren, der von der Fußsohle bis zur Wade ausstrahlte. Die hohen Absätze taten ihr Übriges.

Ihre Schritte hallten durch die leeren Straßen. Es ärgerte sie, dass sie sich ausgerechnet diese Schuhe angezogen hatte. Und Strumpfhose und Rock. Das hat was zu bedeuten, dachte sie. Mehr Make-up und eine femininere Kleidung als in Finnland … War das eine Art Verkleidung? Oder vielmehr – Enthüllung?

Das Gebell hatte inzwischen aufgehört, und die Stille wirkte beklemmend.

Die Ziegelfabrik markierte den äußeren Rand der Stadt. In der letzten Straße vor der Fabrik stand ein weiß verputztes Reihenhaus. Der Innenhof lag zur Fabrik hin, die verfallene Fassade des Hauses war etwa so breit wie die halbe Straße und verdeckte die Sicht auf den Hof. Nirgends brannte Licht. Anna trat an das verschlossene Tor und rief: »Ist da jemand? Aufmachen!«

Ein Köter, der Ähnlichkeit mit einem Dackel hatte und an eine schwere Kette gelegt war, erschien knurrend an der Hausecke.

Ernő hielt sich ein Stück entfernt und sah sich nervös um.

»Kann sein, dass sie bewaffnet sind«, flüsterte er.

»Quatsch«, erwiderte Anna und rüttelte am Tor. »Machen Sie auf!«

Der Hund schlug erneut an, dann ging ein Fenster gleich neben dem Tor auf, und eine junge Frau streckte den Kopf heraus.

»Wer ist da?«, fragte sie.

Anna marschierte auf das Fenster zu. Die dichten schwarzen Haare der Frau waren zu einem Knoten aufgesteckt. Mit ihrem dunklen Teint sah sie bildschön aus. Als sie Anna ansah, lag Skepsis in ihrem Blick und noch etwas anderes – Stolz vielleicht? Oder Verachtung? Ihre Augen waren riesig und pechschwarz.

»Was wollt ihr? Ihr weckt die Kinder auf«, fauchte die Frau.

»Wir suchen einen jungen Mann und ein kleines Mädchen in einem roten Rock. Sind sie vielleicht bei Ihnen ins Haus geflüchtet?«, fragte Anna.

»Hier ist niemand hereingeflüchtet – hier wird geschlafen.«

»Mama, was ist denn los?« Aus dem Zimmer war die verschlafene Stimme eines Kindes, womöglich eines Jungen, zu hören.

»Geh wieder ins Bett, es ist alles in Ordnung«, sagte die Frau und wandte sich dann wieder Anna zu. »Ist irgendwas passiert?« Sie sah Anna direkt in die Augen.

Und die war schlagartig verlegen. Es kam ihr vor, als würde die Frau sie durchschauen, als wüsste sie genau, was geschehen war und wer sie waren. Anna wollte den Hausfrieden nicht länger stören. Die Frau wirkte defensiv, fast schon feindselig, und Anna hätte nicht sagen können, ob diese Feindseligkeit ihr galt oder der Gemeinschaft, der sie angehörte. Sie war hier nicht willkommen, das stand jedenfalls fest.

»Wahrscheinlich sind wir am falschen Ort, ich entschuldige mich für die Störung«, sagte sie, drehte sich um und bedeutete Ernő mit einem knappen Nicken zu verschwinden.

Sie hatten sich kaum ein paar Meter entfernt, als die Stimme der Frau von den Mauern widerhallte. »Tiszavirág«, rief sie mit einer Stimme, die Anna eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Tiszablüte.

Anna und Ernő blieben abrupt stehen und drehten sich um, doch das Fenster hatte sich bereits wieder geschlossen. Die Wunde an Annas Fuß pochte schmerzhaft.

»Was zum Teufel war das?«, fragte Anna.

»Keine Ahnung, aber ich weiß, wer die Frau ist.«

»Wirklich? Wer?«

»Sie heißt Judit. Sie ist im hiesigen Zigeunerverein aktiv, wie immer das offiziell heißt … Organisiert Ferienlager für Kinder und so.«

»Na, das hört sich doch gut an«, meinte Anna.

»Tja, dafür gibt’s sicher irgendwelche Fördermittel«, entgegnete Ernő. »Wir sollten Tibi anrufen. Vielleicht hat er sich ja das Mädchen geschnappt.«

Nachdem Ernő kurz mit Tibi gesprochen hatte, schüttelte er den Kopf. Das Mädchen war verschwunden. Und Tibi und die anderen wollten inzwischen nach Hause. Ihnen war die Feierlaune vergangen.

»Lass uns erst noch zur Polizei gehen. Besser, wir erstatten gleich Anzeige und nicht erst morgen«, sagte Ernő. »Ein beschissener Anfang für deinen Urlaub. Morgen feiern wir das nach!«

Dzsenifer schlich zurück in die Stadt. Zweige rissen an ihren zerzausten Haaren, und im Schlamm wurden ihre kleinen Füße nass. Während des Hochwassers im Frühjahr hatte die Tisza selbst die flachste Senke am Ufer überschwemmt. Dzsenifer hatte dort gehockt, am Ufer, bis es wieder hell geworden war. Bis das Ungeheuer ganz bestimmt verschwunden war. Dann hatte sie ihren Bruder gemustert. Hatte den Pass und die Kreditkarte, die auf der Erde gelegen hatten, aufgehoben und eingesteckt. Sie drehte das schmale Gesicht zur Sonne und versuchte, die Ereignisse der Nacht aus ihren Gedanken zu verbannen. Das hatte sie auch damals getan, als ihre Mutter gestorben war, und es hatte geholfen. Allerdings lag das schon so lange zurück, dass Dzsenifer sich nicht mehr genau daran erinnern konnte, was sie damals getan oder gedacht hatte.

Im Zentrum ließ sie sich in der Nähe des Busbahnhofs nieder. Dort hatte sie das Gefühl, mit der Menschenmenge, die sich dort herumtrieb, zu verschmelzen. Menschen, deren Haare und Haut genauso dunkel waren wie ihre. Dzsenifer wusste nicht, wer die anderen waren, woher sie kamen und warum – aber sie wusste, dass ihr Bruder mit ihnen zu tun gehabt hatte. Geschäfte, hatte er einmal gesagt. Für Dzsenifer bedeuteten Geschäfte Brot und Fleisch, Milch und Burek. Wenn die Geschäfte des Bruders gut liefen, konnten sie sich den Magen vollschlagen. Wenn nicht, hatten sie Hunger. Dann schlüpfte Dzsenifer ins Nachbarhaus, dort bog sich der Tisch zwar nicht gerade unter Speisen, aber das hätte sie auch gar nicht erwartet. Die Nachbarin gab ihr ein bisschen Brot und Schweineschmalz – eine Delikatesse, wenn man hungrig war.

In diesem Sommer waren die Geschäfte gut gelaufen. Dzsenifer wusste nicht mal mehr genau, wann sie zuletzt Hunger gelitten hatte. Doch jetzt zwickte es in ihrem Bauch. Ihr kamen die Tränen, als das Bild ihres Bruders am Tisza-Ufer wieder vor ihrem inneren Auge auftauchte. Vielleicht würde ihr Bruder sich erholen und später nachkommen? Möglicherweise hatte er nur fester geschlafen als sonst? Vielleicht existierte dieser schreckliche Mann, der ihn angegriffen hatte, auch nur in Dzsenifers Albträumen? Denn sie hatte oft Albträume. Deshalb fürchtete sie sich auch vor dem Einschlafen.

Ja, so musste es sein. Ihr Bruder würde später nachkommen.

Dzsenifer wusste, was sie mit dem Pass und der Kreditkarte tun musste. Sie wusste, wohin sie sich am besten damit wandte. Diese Leute, die von irgendwo hierhergewandert kamen, seltsame Sprachen sprachen und sich selbst in den hintersten Winkeln breitmachten, waren auch dort, wohin sie unterwegs war. Eine von denen würde den Pass schon kaufen. Dzsenifer würde viel Geld dafür bekommen.

Ein Bus fuhr schnaufend vor. Der Fahrer stieg aus, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete kopfschüttelnd die Menschenmenge an der Haltestelle. Dzsenifer wäre am liebsten in den Bus gesprungen, doch sie wartete lieber, bis der Fahrer fertig geraucht und die Kippe auf die Erde geworfen hatte. Dann schlenderte sie ruhig auf ihn zu, kaufte sich eine Fahrkarte und setzte sich auf die letzte Bank. Weder Dzsenifer noch irgendwer sonst achtete auf den grauhaarigen Mann, der in einem Auto vor der Pizzeria Venezia saß und ihre Abfahrt beobachtete.

4.6.

Unten in der Küche klapperte es. Anna zwang die Augen einen Spaltbreit auf. Sie lag in ihrem alten Zimmer im Obergeschoss, die Jalousien waren heruntergelassen, sodass das Licht nur in winzigen Pünktchen hereinfiel – wie Nadelstiche vor dem schwarzen Fenster. Nachdem ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, nahm sie allmählich die vertrauten Konturen der Möbel wahr: den Schreibtisch am Fenster, das kleine Bücherregal in der Ecke und den Sessel, auf dessen Lehne sie in der vergangenen Nacht ihre Kleider gelegt hatte.

Ihre Mutter war in das alte Haus der Familie zurückgekehrt, als Anna volljährig geworden war. In diesem Zimmer hatte Anna als kleines Mädchen gewohnt. Ihr Spielzeug war schon vor langer Zeit auf den Dachboden gebracht oder an Kinder von Verwandten weiterverschenkt worden. An den Wänden hingen auch keine Poster oder sonstige Bilder; diese Phase in Annas Leben hatte erst in Finnland begonnen. Und eigentlich nicht einmal dort. Sie hatte nie für irgendeine Band oder einen Schauspieler geschwärmt wie alle anderen Teenagermädchen. Zwar hatte sie in Koivuharju ein paar Poster an ihre Zimmerwände geklebt, aber hauptsächlich, um nicht als Freak dazustehen, wenn Schulfreundinnen zu Besuch kamen. Welche Bands auf den Postern zu sehen gewesen waren, hatte sie vergessen. Aber sie erinnerte sich noch daran, dass sie selten Besuch gehabt hatte.

»Kértek e pálinkát?«

Anna hörte erst die Frage ihrer Mutter und gleich darauf das Knarren der Speisekammertür. Sie warf einen Blick auf ihr Handy, um zu sehen, wie spät es war. Zehn. Also neun – ihr Handy hatte sich nicht automatisch auf die hiesige Zeitzone umgestellt. Um neun Uhr früh Pálinka – hochprozentigen, selbst gebrannten Obstgeist?, dachte Anna und musste grinsen. Willkommen zu Hause.

Sie stellte die Uhr um und lauschte auf den angeregten Wortwechsel im Erdgeschoss, hatte jedoch noch keine Lust aufzustehen. Bestimmt geht es um den Diebstahl, dachte sie und strich sich über den Bauch. Dann schnappte sie die Worte »Zigeuner« und »Dieb« auf. Vielleicht hatte man den Kerl ja schon erwischt. Vielleicht brauchte sie ja auch noch gar nicht aufzustehen, zu duschen, Ernő und Tibi anzurufen, erneut zur Polizei zu gehen und ein weiteres Mal den Ablauf der Ereignisse zu schildern – mithilfe ihrer Freunde, die für sie dolmetschten. Die meisten Polizisten waren Serben, und Serbisch beherrschte Anna nicht allzu gut. Manche Beamten, die schon lange in Kanizsa arbeiteten, sprachen auch Ungarisch, aber der junge Mann, der in der vergangenen Nacht Dienst gehabt hatte, hatte kein Wort Ungarisch verstanden. Anna vermutete, dass er aus dem Kosovo stammte. Es war geradezu ironisch, dass sie hier, in ihrem sogenannten Heimatland, auf die Hilfe ihrer Freunde angewiesen war, um mit der Polizei zu kommunizieren. Der Nachtdienstler hatte rauchend in seinem Plexiglaswürfel gesessen, die Anzeige aufgenommen und sie gebeten, am Morgen wiederzukommen, wenn mehr Personal da wäre.

Im Urlaub aufs Polizeirevier? Nein danke. Befragungen, Augenzeugen, Uniformen, Ermittlungen – Anna wollte nur mehr vergessen, dass es dergleichen gab. Sie wollte ausschlafen, zum Frühstück türkischen Kaffee trinken, sich von ihrer Mutter umsorgen und verwöhnen lassen. Bei den Albanern in der Bäckerei um die Ecke warmes weißes Brot kaufen, mit Réka an der Tisza spazieren gehen und über alles Mögliche reden, in der Sonne schwitzen, Kirschen vom Baum essen. Und das würde sie auch tun, bis ihr Urlaub vorbei wäre: Wenn es so warm bliebe, würden die ersten Kirschen Ende Juni reif sein. Und dann war ausgerechnet ihre Handtasche gestohlen worden. Was für ein verdammtes Pech, schimpfte Anna in Gedanken, rieb sich die Augen und reckte sich.

Dann schoss ihr wieder durch den Kopf, dass Réka am Vorabend nicht gekommen war. Sie hatten einander im Lauf des Tages ein paar SMS geschickt. Réka hatte ihr mitgeteilt, sie sei dienstlich in Szabadka, der nächstgrößeren Stadt auf serbischer Seite. Subotica. Réka hatte ihr geschrieben, ihr sei den ganzen Tag über so schlecht gewesen, dass sie lieber nicht nach Kanizsa zurückfahren wolle. Anna hatte sich insgeheim darüber gewundert, denn bisher war Réka immer sofort nach ihrer Ankunft zu ihr geeilt. Es hatte sich nach einer faulen Ausrede angehört. Réka hatte irgendetwas vorgehabt, was ihr wichtiger gewesen war, hatte Anna fast schon eifersüchtig gedacht. Immerhin hatten die anderen Freunde sie schon zu Hause erwartet, und Anna hatte kaum mehr Zeit gehabt, etwas zu essen und mit ihrer Mutter die wichtigsten Neuigkeiten auszutauschen, ehe sie mit ihrer alten Clique auch schon in die Stadt gegangen war. Doch dann war ihre Handtasche gestohlen worden, und darüber hatte sie Réka fast vergessen.

Widerstrebend setzte Anna sich auf und stellte die Füße auf den braun gemusterten Teppichboden. Teppichböden waren in den Siebzigerjahren, als das Haus gebaut worden war, überaus beliebt gewesen. Sie seien so praktisch, weil man sie nicht nach draußen tragen und ausklopfen müsse, hatte ihre Mutter damals behauptet. Dass sich im Lauf der Jahre Staub und Schmutz darin festsetzen würden, hatte damals keine Rolle gespielt, und bis heute zerbrach sich niemand groß den Kopf darüber. In einem Land, in dem immer noch alle drinnen rauchten, stellte ein bisschen Dreck im Teppichboden keinen Anlass zur Besorgnis dar.

Als Anna sich ins Bad aufmachte, waren die Stimmen in der Küche verstummt. Sie fühlte sich unbehaglich – wie die Mutter eines Kleinkinds, die von ihrer Tätigkeit hochschreckte, weil die Spielgeräusche plötzlich aufgehört hatten: Irgendwas war da doch passiert …

Eilig zog sie sich an, kämmte sich nicht mal die Haare und putzte sich auch nicht die Zähne, sondern lief sofort nach unten. In der Küche saßen ein Mann und zwei Frauen. Als Anna eintrat, drehten sie sich zu ihr um, lächelten aber nicht, und auch jegliche Begrüßungsfloskel blieb aus.

»Man hat deine Tasche gefunden«, erklärte ihre Mutter.

»Na, das ist doch prima«, murmelte sie. Warum dann die gedrückte Stimmung? »Darauf muss ich erst mal etwas trinken.« Sie trat an den Geschirrschrank, holte sich ein Glas und hielt es unter den Wasserhahn. Vergeblich hoffte sie darauf, dass das Wasser kälter wurde. Dann nahm sie einen Schluck und sah die Leute am Tisch abwartend an, die ihre Schnapsgläser nicht einmal angerührt hatten.

»Das sind Kovács Gábor, seine Frau Kovács Gáborné und ihre Nachbarin Gulyás Katalin. Ihr kennt euch von früher. Gábor war ein Kollege deines Vaters bei der Polizei, ist aber schon länger pensioniert. Seit wann genau, Gábor?«

»Seit sieben Jahren«, antwortete der Mann mit tiefer, angenehmer Stimme. Seine Haare waren an den Schläfen silbergrau, er hatte einen stattlichen Schnurrbart und lebhafte braune Augen.

»Ist das schon so lange her«, murmelte die Mutter in sich hinein und schüttelte den Kopf.

»Wo wurde die Tasche denn gefunden?«, fragte Anna und begriff erst im selben Moment, dass sie an dieser Stelle ein paar höfliche Begrüßungsfloskeln hätte anbringen müssen. Die eine Frau – die des Polizisten – sah sie fast schon ein wenig pikiert an. Sie musste Anna für einen ungehobelten Klotz halten. Das hatte sie schon oft erlebt, vor allem bei älteren Frauen: eine kaum verhehlte Abwehrreaktion, die aufstieg wie eisiger Dunst aus einer geöffneten Gefriertruhe, sobald Anna vergaß, etwas auf die richtige Art, mit den richtigen Worten zu sagen. Sie würde nie eine hölgy, eine úriasszony werden, eine Dame oder eine Frau, die gute Manieren besaß, in akzeptablen Familienverhältnissen lebte und ihre Schränke ordentlich aufräumte … Das las sie immer wieder in den Blicken, mit denen ihre Mutter und deren Freundinnen sie bedachten.

»Ein Stück außerhalb, an der Tisza in Richtung Törökkanizsa«, antwortete Kovács Gábor.

»War mein Geldbeutel noch da?«

»Ja, allerdings müssen wir noch klären, ob irgendwas daraus entnommen wurde. Hast du eine Kreditkarte?«

»Ja. Visa.«

»Na, die ist jedenfalls weg.«

»Ich hab sie gestern Nacht noch sperren lassen. Mit der kann keiner mehr was anfangen.«

»Gut. Hattest du viel Geld dabei?«

»Nur etwa zweitausend Dinar. Ich bin gestern erst angekommen und hatte noch keine Zeit, um mehr Geld zu wechseln.«

»In der Geldbörse waren nur ein paar Münzen. Die Scheine sind weg.«

»Natürlich. Und der Pass?«

»Einen Pass haben wir nicht gefunden.«

»Na toll …« Der Verlust ihres Passes bedeutete, dass sie sich an die Botschaft in Belgrad wenden und wahrscheinlich einen komplizierten Papierkrieg würde führen müssen. Scheiße. »Aber ist die Gegend nicht eine ziemliche Wildnis?«, fragte sie dann. »Weiß man, wie die Tasche dort hingeraten ist? Wurde der Dieb gefasst?«

»Er war vor Ort«, antwortete Kovács Gábor knapp.

»Und wer ist es?«

Annas Mutter sah den alten Polizisten bekümmert an, und er nickte kaum merklich.

»War«, sagte die Mutter leise. »Der Mann lag tot neben der Tasche.«

»Wie bitte?«, rief Anna erschrocken.

»Ja. Wir wissen noch nicht, wer der Mann war. Ganz sicher stammte er nicht von hier. Und er ist ertrunken. Offenbar war er ins Wasser gefallen und ist dann an einem im Fluss liegenden Baumstamm hängen geblieben, sodass die Strömung ihn nicht mitgerissen hat. Deine Tasche lag direkt daneben am Ufer«, berichtete Kovács Gábor.

»Úristen!«

»Womöglich hat der Mann sich im Gebüsch am Ufer versteckt, um die Tasche auszuleeren, und ist dabei in den Fluss gestürzt. An der Stelle ist der Boden schlammig und rutschig und die Böschung ziemlich steil. Die Polizei untersucht den Fall natürlich. Du sollst aufs Präsidium kommen, sobald du kannst, und zu Protokoll geben, was gestern Abend passiert ist. Deine Freunde sind ebenfalls vorgeladen. Die Polizei braucht Informationen über alle, die zur Zeit des Diebstahls bei dir waren – Augenzeugen, sämtliche Einzelheiten, die für die Ermittlungen hilfreich sein könnten.«

»Ich weiß«, sagte Anna und sah zum Fenster hinaus. Draußen schien die Morgensonne und verhieß schon jetzt einen heißen Tag. »Ich bin selbst Kriminalbeamtin, im Dezernat für Gewaltverbrechen.«

»Ja, das hat deine Mutter uns erzählt. Wie du siehst, helfe ich gelegentlich noch aus, ich schaffe es einfach nicht, mich rauszuhalten.«

»Warst du dabei, als die Tasche und der Dieb gefunden wurden?«

»Nein. Geländegänge überlasse ich den Jüngeren. Aber ich bin sofort aufs Revier gefahren, als ich von der Sache hörte. Wir dachten uns, es wäre gut, wenn dort ein Ungar bereitstünde, der die Sache mit dir klären kann. Die jüngeren Kollegen sind nämlich fast alle Serben.«

Mit mir, wiederholte Anna in Gedanken. Natürlich. Hört sich fast an, als würde ich hier noch zur Polizeihelferin.

»Das ist sehr freundlich«, sagte sie.

»Wir haben hier sicher nicht die gleichen Ressourcen wie die finnische Polizei, aber auch wir gehen unserer Arbeit so gut nach, wie wir nur können. Es ist sicher auch interessant für dich, die Arbeitsweise der hiesigen Polizei kennenzulernen. Du bist immerhin die Tochter deines Vaters«, sagte Gábor.

»Du siehst ihm wirklich ähnlich«, fügte seine Frau hinzu und lächelte gequält.

Na klar, dachte Anna. Und mein Urlaub ist im Eimer.

»Verdammte Scheiße«, murmelte sie auf Finnisch und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln.

»Was heißt das?«, fragte Gábors Frau neugierig. Annas Mutter warf ihrer Tochter einen Blick zu, der schärfer war als ein Dolch.

»Das heißt: sehr interessant«, antwortete Anna und ging duschen.

Das Polizeirevier von Magyarkanizsa, ein großer gelber Kasten, wirkte von außen wie eine triste Mietskaserne. Es lag an einer ruhigen Seitenstraße am Rand der Innenstadt, unmittelbar neben einem Wäldchen, das nach und nach in unbändiges Gestrüpp überging und bis hinunter an den Fluss reichte. Irgendwo dort unten waren die Tasche und der tote Dieb gefunden worden.

Anna wartete vor dem Gebäude auf Ernő und Tibor. Auf dem kleinen Vorplatz stand ein Denkmal für die in den Jugoslawienkriegen gefallenen Polizisten: ein flaches Monument, in das die Namen der Männer eingraviert worden waren. Allein der Anblick schnürte Anna die Kehle zu und trieb ihr Tränen in die Augen. Ihr ältester Bruder Áron war zwar kein Polizist gewesen – er hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, etwas anderes zu werden als ein stürmischer junger Mann, ehe der Krieg erst seinem Studium und dann seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Ákos trug den Schmerz über den Verlust seines Bruders tagtäglich in sich, die beiden hatten sich sehr nahegestanden, waren fast gleichaltrig und ständig zusammen unterwegs gewesen.

Anna schluckte die Tränen hinunter. Es fiel ihr schwer, an Áron zu denken; die Erinnerung an ihn verblasste zusehends. Sein Gesicht und seinen Körper kannte sie fast nur mehr von Fotos, und an die Stimme ihres Bruders, an seinen Gang, die Gesten und das Mienenspiel konnte sie sich gar nicht mehr erinnern. Und dennoch spürte sie die Trauer wie eine schwere Last im ganzen Körper. Wie geht es unserer Mutter wohl damit?, überlegte Anna. Sie hatte nie wieder von Áron gesprochen. Und von Vater auch kaum mehr.

»Szia!«

Anna hörte den fröhlichen Gruß von der anderen Straßenseite und blickte von dem Denkmal auf, vor dem ein Kranz aus roten Blumen lag. Ernő sah mitgenommen aus. Sie winkte ihm und Tibor zu.

»Sziasztok!«

Drinnen am Empfangsschalter meldeten sie sich bei einem jungen Polizisten an, der zu Annas Überraschung Ungar war – und ziemlich attraktiv. Er bat sie, kurz auf den braunen Metallstühlen Platz zu nehmen. Er werde dem Ermittlungsleiter Bescheid geben.

»Hier arbeiten ja doch Ungarn«, raunte Anna Ernő zu und spähte zurück zu dem Mann am Schalter. Der Beamte musterte sie mit unverhohlenem Interesse. Annas Wangen wurden heiß, und hastig wandte sie den Blick ab.

»Natürlich. Jedenfalls ein paar. Warum auch nicht?«

»Heute Morgen hab ich noch gehört, hier wären fast alle Polizisten Serben.«

»Die sind natürlich in der Mehrheit, genau wie beim Grenzschutz. Aber meines Wissens gibt es eine Quote. Ein Teil muss ungarisch sein. Das nächste Gymnasium für Ungarn liegt übrigens in Törökkanizsa, obwohl dort überwiegend Serben wohnen.«

»Was hat das eine denn jetzt mit dem anderen zu tun?«, erkundigte sich Anna verwirrt.

»Na, jetzt denk mal scharf nach, kluge Frau«, witzelte Ernő, machte aber keine Anstalten, irgendetwas zu erklären.

»Sag schon!«

»Unsere Sprache und unsere Kultur werden bewusst verdrängt. Gewisse politische Maßnahmen machen uns das Leben ganz schön schwer. Da ist es doch gut, dass es ein ungarisches Gymnasium gibt – aber warum nicht hier in Kanizsa? Warum musste es in der Nachbarstadt eingerichtet werden, wo gar nicht viele Ungarn wohnen?«

Ernős Tirade wurde durch die Ankunft eines großen grauhaarigen Mannes unterbrochen, auf dessen Uniform zahlreiche Orden prangten. Zu Annas Erstaunen war es der Polizeichef persönlich. Er stellte sich ihnen vor und drückte dann in holprigem Ungarisch sein Bedauern darüber aus, dass er die Angelegenheit nicht in Annas Muttersprache würde bearbeiten können. Freundlicherweise habe sich jedoch sein alter Kollege Kovács Gábor bereit erklärt zu helfen.

Anna nickte. »Ich weiß«, sagte sie auf Serbisch – ein paar Brocken brachte sie immer noch zusammen, dank Ákos’ alten Freunden und speziell dank Zoran.

Der Polizeichef führte sie in sein Büro im zweiten Stock, wo Gábor bereits wartete, und griff dann zum Telefonhörer. Wenige Minuten später klopfte es an der Tür, und ein uniformierter Mann brachte Annas Tasche. Er trug Handschuhe. Die Tasche steckte ordnungsgemäß in einem Asservatenbeutel.

»Könntest du bitte nachsehen, was fehlt?«, forderte Gábor sie auf. Anna warf dem Polizeichef einen kurzen Blick zu, und er nickte.

Vorsichtig angelte sie die Tasche aus dem Beutel. Stifte, ein Kalender, Quittungen, Mascara, Puderdose, Feuerzeug, eine Schachtel Pastillen, Kaugummi … ein Kondom. Die alten Männer ließen sie nicht aus den Augen, als sie die schmale rechteckige Plastikverpackung zu den anderen Sachen auf den Tisch legte. Anna errötete leicht, als sie Ernős und Tibis Grinsen im Nacken spürte, und fühlte sich für einen Augenblick wie ein verlegener Teenager. Die Geldbörse war aus schwarzem, abgenutztem Leder: ein uraltes Teil, von dem Anna sich nie hatte trennen wollen, obwohl es eigentlich längst zu verschlissen war und an einer Ecke schon die Naht aufging. Anna warf einen Blick hinein. Führerschein, Personalausweis, zig Bonuskarten von verschiedenen Geschäften – doch Kreditkarte und Geld waren verschwunden.

»Bis auf den Pass und die Kreditkarte scheint alles da zu sein«, stellte Anna fest.

»Dann müssen Sie das Konsulat und Ihre Bank kontaktieren, wie Sie sicher wissen«, sagte der Polizeichef, und Gábor übersetzte, obwohl Anna alles verstanden hatte.

»Ja, die Karte habe ich schon sperren lassen. Hätten Sie vielleicht die Telefonnummer des Konsulats, oder können Sie mir sagen, wie ich dort jemanden erreiche?«

Die Männer sahen einander an.

»Schau mal im Internet nach«, schlug Gábor vor. »Wann fährst du nach Finnland zurück?«

»Am Fünfundzwanzigsten.«

»Dann ist ja noch genügend Zeit. Aber ich würde dir trotzdem raten, dich bald darum zu kümmern, damit deine Reisedokumente bis dahin fertig sind. Man weiß ja nie, wie lange so was dauert.«

Der Polizeichef sah sie nacheinander an. »So, und jetzt erzählen Sie noch mal genau, was gestern Abend vorgefallen ist. Schön der Reihe nach. Wir fangen mit den jungen Herren an. Anna, Sie sind als Letzte an der Reihe.«

»Darf ich erst noch was sagen?«