Etwa 800.000 Menschen in Deutschland stottern, oft so schwer, dass ihr Alltag leidet – und manchmal ihre Lebensplanung. Darunter auch GEO-Redakteurin Vivian Pasquet. Seit sie fünf Jahre alt ist, kämpft sie gegen den drohenden Bruch in ihrem Redefluss. Hier erzählt sie ihre Geschichte. Die großen Themen der Zeit sind manchmal kompliziert. Aber oft genügt schon eine ausführliche und gut recherchierte GEO-Reportage, um sich wieder auf die Höhe der Diskussion zu bringen. Für die Reihe der GEO-eBook-Singles hat die Redaktion solche Einzeltexte als pure Lesestücke ausgewählt. Sie waren vormals Titelgeschichten oder große Reportagen in GEO.
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Seitenzahl: 20
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Herausgeber:
GEO
Die Welt mit anderen Augen sehen
Gruner + Jahr GmbH & Co KG,
Am Baumwall 11, 20459 Hamburg
www.geo.de/ebooks
eISBN: 978-3-65200-810-5
Mein Stottern und ich
Von Vivian Pasquet
Zusatzinfos
Wege aus dem Stottern
Stotterndes Kind – was tun?
Etwa 800.000 Menschen in Deutschland stottern, oft so schwer, dass ihr Alltag leidet – und manchmal ihre Lebensplanung. Darunter auch GEO-Redakteurin Vivian Pasquet. Seit sie fünf Jahre alt ist, kämpft sie gegen den drohenden Bruch in ihrem Redefluss. Hier erzählt sie ihre Geschichte
Von Vivian Pasquet
Zwischen Tütensuppen und Trockenobst fasse ich Mut. Fast eine halbe Stunde bin ich durch einen Supermarkt in Hamburg gelaufen. An allen Regalen mehrfach entlang, selbst bei Küchenrollen und Klopapier habe ich nachgeschaut. Mit einer Frage im Kopf, die ich mich nicht zu stellen traute.
Wo finde ich die Datteln?
Schließlich spreche ich eine Verkäuferin an.
„Entschuldigung“, sage ich und atme tief ein.
„Wo finde ich die D-d-d…“
Das Wort steckt fest, zwischen vorderem Gaumen und Zungenspitze. Ich beginne zu schwitzen.
Ich bin zum Abendessen eingeladen und habe versprochen, Datteln im Speckmantel vorzubereiten. Jetzt verfluche ich mich dafür. Warum habe ich nicht Hummus vorgeschlagen, Salat oder Wackelpudding? Egal was, Hauptsache nichts, das mit einem D anfängt und mehr als eine Silbe hat.
Ich schließe die Augen und presse die Zunge gegen den Gaumen.
„Die D-d-d-d… – Äpfel?“
Die Mitarbeiterin führt mich zur Obstauslage, ich fülle eine Tüte mit Äpfeln, die ich nicht brauche.
Als ich auf die Straße trete, fühle ich mich wie eine Versagerin.
Zwei Tage zuvor habe ich Ingrid Del Ferro angerufen. Als ich 16 Jahre alt war, hat die Sprechtrainerin mich aus meiner schlimmsten Stotterzeit befreit. In der Grundschule hatte ich in einem Theaterstück anderthalb Stunden am Bühnenrand gekauert und einen Stein gespielt – weil es die einzige Rolle ohne Text war. Im Gymnasium hatten mich die Lehrer kurz vor dem Pausenklingeln nicht mehr aufgerufen, weil ich für meine Antworten viel zu lange brauchte. In einem Frankreichurlaub sollte ich zwei Baguettes kaufen und kam mit acht Stück zurück, der einzigen Zahl, die ich in der Bäckerei über die Lippen brachte.
Jetzt, mit 32, erzähle ich Ingrid Del Ferro, dass ich dank des Sprachkurses in ihrem Institut als Journalistin arbeite; dass ich problemlos telefonieren und Interviews führen kann. Ich fühle Stolz.
Von meinen Schwierigkeiten erzähle ich nichts.