Schicksale - Strigler Mordechai - E-Book

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Strigler Mordechai

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Beschreibung

Die Tetralogie »Verloschene Lichter ist die Schilderung von bloß fünfzehn Monaten Hitlerhölle. Das ist nur ein Fragment der Vernichtung und nicht einmal das grausamste, wenn man von außen darauf schaut.« Mordechai Strigler, 1950 Bereits kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 begann Mordechai Strigler, seine Erfahrungen in den Lagern des besetzten Polens literarisch zu verarbeiten. Wie kaum ein anderer Zeitzeugenbericht beschreibt Striglers Text mit beispielloser Schonungslosigkeit die Lagerorganisation und das Lagerleben sowie den Umgang der jüdischen Gefangenen untereinander. In »Schicksale« schildert Strigler die Zeit vom Winter 1943/44 bis zur Schließung der Munitionsfabrik und Vorbereitung der Evakuierung der Häftlinge im August 1944. Er konzentriert sich dabei auf die Menschen in Werk C des Arbeitslagers Skarżysko-Kamienna und ihre Beziehungen zueinander. Das Eintreffen von assimilierten und getauften, aber auch deutsche Juden aus Krakau im Lager im Frühjahr 1944 verschärfte schwelende Konflikte: Aufgrund der vielen sozialen Unterschiede entstanden unter ihnen Spannungen, die das Leben der Gefangenen teils dramatisch verschlechterten. Strigler liefert damit ungewöhnlich offen eine Sozialstudie jüdischer Schicksale in deutscher Gefangenschaft.

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Mordechai Strigler

Schicksale

Verloschene Lichter IV

Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah

Herausgegeben von Frank Beer Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel

Mit freundlicher Unterstützung der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

Der Herausgeber dankt Frau Leah Strigler für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der deutschen Ausgabe sowie Frau Brigitte Bilz und Frau Ruthild Stobbe fürs Korrekturlesen.

Deutsche Erstausgabe

© 2024 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

© der Originalausgabe by

Mordekhai Shtrigler

Titel der Originalausgabe:

Goirolois. Bukh fir fun dem tsikl »oysgebrente likht«

(Schicksale. Band IV der Reihe »Verloschene Lichter«)

Unión Central Israelita Polaca en la Argentina

(Zentralverband der Polnischen Juden in Argentinien), Buenos Aires 1952

Satz: Germano Wallmann • Gronau • www.geisterwort.de

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, Hildendesign · München ·

www.hildendesign.de

Covermotiv: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive

von Shutterstock und Midjourney

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

www.cpidirect.cpi-print.de

ISBN Print 978-3-98737-002-1

ISBN E-Book-Epub 978-3-98737-397-8

ISBN E-Book-Pdf 978-3-98737-398-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Mordechai Strigler (1918–1998)

Vorwort von Marion Eichelsdörfer

Teil eins: Das Ende in Sicht

Kapitel eins

I

II

III

IV

Kapitel zwei

I

II

III

IV

V

Kapitel drei

I

II

III

IV

V

VI

Kapitel vier

I

II

III

IV

Kapitel fünf

I

II

III

IV

Kapitel sechs

I

II

III

IV

Kapitel sieben

I

II

III

IV

V

Kapitel acht

I

II

III

IV

V

Kapitel neun

I

II

III

IV

Kapitel zehn

I

II

III

IV

Kapitel elf

I

II

III

Kapitel zwölf

I

II

III

IV

V

Kapitel dreizehn

I

II

III

IV

Kapitel vierzehn

I

II

III

Kapitel fünfzehn

I

II

III

IV

Kapitel sechzehn

I

II

III

IV

Kapitel siebzehn

I

II

III

IV

V

Teil zwei: Das letzte Pfeifen

Kapitel achtzehn

I

II

III

IV

Kapitel neunzehn

I

II

III

IV

Kapitel zwanzig

I

II

III

IV

V

Kapitel einundzwanzig

I

II

III

IV

Kapitel zweiundzwanzig

I

II

III

IV

V

Kapitel dreiundzwanzig

I

II

III

IV

Kapitel vierundzwanzig

I

II

III

IV

V

Kapitel fünfundzwanzig

I

II

III

Kapitel sechsundzwanzig

I

II

III

Kapitel siebenundzwanzig

I

II

III

IV

V

Kapitel achtundzwanzig

I

II

III

IV

Kapitel neunundzwanzig

I

II

III

IV

V

Kapitel dreißig

I

II

III

IV

V

Teil drei: Nicht immer brennen Kerzen im Wald

Kapitel einunddreißig

I

II

III

IV

V

Kapitel zweiunddreißig

I

II

III

IV

Kapitel dreiunddreißig

I

II

III

Kapitel vierunddreißig

I

II

III

IV

V

VI

Kapitel fünfunddreißig

I

II

III

IV

V

Kapitel sechsunddreißig

I

II

III

IV

Kapitel siebenunddreißig

I

II

III

IV

Kapitel achtunddreißig

I

II

III

IV

Kapitel neununddreißig

I

II

III

Kapitel vierzig

I

II

III

IV

V

VI

Kapitel einundvierzig

I

II

III

IV

Kapitel zweiundvierzig

I

II

III

Kapitel dreiundvierzig

I

II

III

IV

Kapitel vierundvierzig

I

II

III

Kapitel fünfundvierzig

I

II

III

IV

Kapitel sechsundvierzig

I

II

III

IV

V

Epilog

Nachwort des Verfassers

Über den Autor

Mordechai Strigler (1918–1998)

Vorwort von Marion Eichelsdörfer

»Mein weiterer Aufenthaltsort ist unbekannt und ich weiß nicht, wohin es mich treibt – oder ich getrieben werde …«1 Mit diesen Worten eröffnete Mordechai Strigler im Mai 1945 seinen ersten Brief aus dem befreiten Buchenwald an den Schriftsteller H. Leivick in New York. Nach fast sechs Jahren, in denen er von den Nationalsozialisten in zwölf verschiedene Lager verschleppt worden war, war mit dem Moment der Befreiung zwar Erleichterung eingetreten, aber auch viel Unsicherheit mit Blick auf die Zukunft.

Mordechai Strigler wurde 1918 in Zamość (Polen) geboren. Er besuchte dort eine Mussar-Jeschiwa und studierte in anderen Jeschiwot wie Luck und Kleck, hier unter Rabbiner Aharon Kotler (1891–1962). Als er 1937 nach Warschau zog, arbeitete er als Matif (Moralprediger) in der Großen Synagoge, vermehrt aber auch als Journalist, Schriftsteller und Lehrer. Zum Zeitpunkt des Einmarsches der Deutschen in Polen versuchte Strigler, nach Russland zu fliehen, wurde aber von den Deutschen gefasst und zunächst in das Ghetto seiner Heimatstadt Zamość gebracht. Hier waren bereits seine Eltern und Schwestern eingesperrt. Mit der Auflösung des Ghettos zwischen dem 16. bis 18. Oktober 1942 wurde er in verschiedene Lager zur Zwangsarbeit verschleppt. Im Juni 1943 wurde er nach Majdanek gebracht, wo er sieben Wochen war, bevor man ihn in das Arbeitslager Skarżysko-Kamienna (Werk C) brachte. Über seine Erfahrungen und Beobachtungen in Majdanek verfasste Strigler den ersten Band seines Zyklus OysgebrenteLikht (Verloschene Lichter), der 1947 in der Reihe Dos Poylishe Yidntum (Nr. 20) in Buenos Aires erschien.2

Strigler begann seine schriftstellerische und journalistische Arbeit in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, aber seine Texte wurden erst mit Ende des Zweiten Weltkrieges in breiterer Öffentlichkeit wahrgenommen. All seine Arbeiten, die er bereits vor dem Krieg und in den Lagern verfasst hatte, waren verloren gegangen bzw. unwiderruflich zerstört worden. Gleich nach der Befreiung beschloss Strigler, alles noch einmal von vorne zu beginnen, und ermutigte auch andere Überlebende dazu.3

In seinem Vorwort zum Gedichtband In a fremdn dor (In einer fremden Generation, 1947) geht Strigler auf die Umstände des Verlusts seiner Schriften ein. »Jedes Mal wurden andere Teile von ihnen [den Schriften] vernichtet … So geschah es in den ersten Tagen des Krieges, als er [Strigler] zusammen mit seinen Manuskripten, einer jahrelangen Arbeit, in die Hände der Lubliner Gestapo fiel, und als ein paar gute Menschen ihn halbtot und zerschunden in einer abgelegenen Ecke der Stadt fanden, gelang es ihnen, ihn wieder ins Leben zurückzubringen; nur seine Werke waren in den Händen der Henker geblieben … Später … begrub er Manuskripte in einem Bauernhaus neben seiner Bettstatt und bis jetzt weiß er nicht, was damit geschehen ist … Seine neuesten Werke, geschrieben in den Lagern um die ›judenreinen‹ Städte herum, konnte er selbst aufbewahren bis zur Schwelle der Gaskammer von Maidanek; dort kam er als Nackter heraus und ließ die Werke voll Wehgeschrei an jenem Ort zurück, wo sie zusammen mit seinen Schwestern, Brüdern und Freunden in die Flammen gingen …«4

Später, im Werk C von Skarżysko-Kamienna, begann Strigler wieder zu schreiben, weil er seinen verlorenen Werken nachtrauerte. Er versuchte, sie aus der Erinnerung erneut zu schreiben. Als er schließlich weiter nach Buchenwald verschleppt wurde, musste er wieder alles zurücklassen. Schließlich wollte er aufgeben und nicht noch einmal von vorne beginnen. »Ganze Teile waren aber in seinem verzweifelten Geist stecken geblieben. Sie begannen, sich dort wieder zeilenweise zu formieren.«5

Buchenwald war das letzte der zwölf Lager, in denen Strigler gefangen war. Dort arbeitete er für den jüdischen kulturellen Untergrund, der die Erziehung und Beschulung organisierte.6 David Newman (1919–2002) schrieb in seinen Memoiren, dass Mordechai Strigler sich bereits im Lager von Skarżysko-Kamienna, wo sich die Munitionsfabrik der Firma HASAG (Hugo Schneider Aktiengesellschaft) befand, daran beteiligte, kulturelles Leben selbst unter den schwierigsten Umständen aufrechtzuerhalten. An Sonntagen wurden Konzerte gegeben und Lesungen abgehalten, für die Strigler Texte verfasste und auch selbst vortrug. »Jeden Abend nach der Arbeit saß ich mit meinem neuen Freund Mordechai zusammen, um jiddische oder polnische Gedichte und Sketche oder Satiren über das Lagerleben zu schreiben.«7

Als die Gefangenen aus dem Lager von Skarżysko-Kamienna nach Buchenwald gebracht wurden, kam Newman mit Strigler zusammen in den Block 23 des Großen Lagers. Beide wurden im Sommer 1944 von einer Gruppe älterer jüdischer Gefangener ausgesucht, die mit dem kommunistischen Untergrund zusammenarbeiteten, um mit jüdischen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, die gerade aus den Arbeitslagern in Westpolen gebracht wurden. Sie sollten die Neuankömmlinge beaufsichtigen und mit ihnen arbeiten. Es war unter anderem Striglers und Newmans Aufgabe, für Beschäftigung zu sorgen und sie zu ermutigen. Sie unterrichteten die Kinder und Jugendlichen mit Geschichten und Liedern.8 Strigler schrieb in einem Brief an H. Leivick, er habe begonnen ca. fünfzig Jugendliche zwischen vierzehn und achtzehn Jahren im Geheimen zu unterrichten. Kurz vor der Befreiung musste er seine Vorträge schließlich vor über 800 Jugendlichen halten.9

In einem Videointerview des Yiddish Book Center erzählt Martin Schiller, der als Kind in Buchenwald war, dass er Mordechai Strigler begegnet war und von ihm Lieder gelernt hatte. Er war in einer anderen Baracke untergebracht als sein kleiner Bruder. Von Zeit zu Zeit gelang es ihm, ihn zu besuchen. In derselben Baracke traf er auf Mordechai Strigler. Er konnte ihn bei seiner schriftstellerischen Arbeit beobachten. Vest lakhn war eines der Lieder, die Strigler ihnen vorsang. Hierin ging es um das Gespräch zwischen zwei Jungen, Avremele und Motele. Der eine ist Optimist und verheißt ein glückliches neues Leben: »Vest lakhn! … me hert shoyn di zignaln …«, der andere fragt: »Wie kann ich lachen?«, und hält ihm den Verlust seiner Familie entgegen, während der Erste immer wieder positiv in die Zukunft schaut.10

Jack Werber war Blockschreiber im Block 23 unter dem kommunistischen Blockältesten Karl Siegmeyer und war ebenfalls Mitglied der Untergrundgruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, jüdische Kinder zu retten. Werber schrieb sowohl über Newman als auch über Strigler und deren erzieherische Bemühungen. Strigler sei in Buchenwald als Lehrer und Schriftsteller hochangesehen gewesen. Er soll den Kindern Hoffnung und Mut gemacht haben, indem er ihnen Geschichten vom jüdischen Widerstand in der Vergangenheit erzählte. Aber die Aufgabe, die sich Strigler damit stellte, war nicht einfach, da schon manche der jüngsten Kinder keine Hoffnung mehr in sich trugen. So soll ein achtjähriger Junge gefragt haben: »Wozu soll ich zur Schule gehen? Ich komme hier sowieso nicht lebendig raus.«11

Bereits am 4. Mai 1945, ungefähr drei Wochen nach der Befreiung, gab Strigler eine erste Zeitschrift für Schoa-Überlebende heraus: Tkhiyes HaMeysim (Auferstehung der Toten). Diese Zeitung beinhaltete sechs handgeschriebene Seiten, die aus selbst verfassten Texten zusammengestellt waren. Strigler eröffnete auf Seite eins mit einer kurzen Stellungnahme zur Frage »Farvos a tsaytung?« (Wozu eine Zeitung?): »Mit Herausgabe dieser Zeitung wird der erste Versuch einer jiddischen Presse für die Überlebenden veröffentlicht … Wir sind wenige, Übriggebliebene! Eine Sache aber haben wir in den schrecklichen Jahren gelernt: Hartnäckigkeit! Wir werden uns darin verbeißen, alles erneut zusammenzutragen, es zu zementieren und mit allen physischen und geistigen Anstrengungen beginnen, gemeinsam unser Leben und unsere Welt aufzubauen … Sind wir die letzten, die ihr Leben durchgeschleppt haben, oder gibt es noch andere, die auf unser erstes Lebenszeichen warten? Wie der biblische Noah schicken wir die erste Taube aus … wird sie uns einen Gruß bringen? Verschiedene physische und psychische Schwierigkeiten haben sich im Verlauf der schweren Lagerzeiten an uns geheftet … wir haben den Kontakt mit dem normalen Leben verloren und es ist unsere schwere Aufgabe, ihn wieder zu finden! Wir kennen die Erschütterungen, wir kennen aus eigener Erfahrung die große Nervenprobe und Geisteslast, die ihr, schwer geprüfte Freunde und Brüder, in euch tragt und wir wollen uns mit euch nicht wie Literaten und nicht wie Redakteure unterhalten, sondern wie einfache Menschen in der einfachsten klarsten Sprache … Dies soll unser Weckruf sein. Wacht auf! Kommt, lasst uns zusammen in die neue Welt von Morgen aufbrechen!«12

Diesem ersten öffentlichen Auftreten nach der Befreiung folgte Striglers umfassender Aufruf Tsu aykh shvester un brider bafrayte (An euch, befreite Schwestern und Brüder), den er noch in Buchenwald Ende Mai 1945 verfasste. Einen Monat später, als er sich bereits in Paris aufhielt, überarbeitete er seinen Text und konnte ihn schließlich im selben Jahr in New York unter der Herausgeberschaft des Arbeter Ring(Workmen’s Circle; seit 2019 Worker’s Circle) veröffentlichen. Ähnlich wie in seiner ersten Zeitung für die Überlebenden ruft Strigler der She’erit HaPleta13 wiederum zu: »Hej du! Du bist doch frei! … die Drahtgräuel, mit denen man eure Körper in Majdanek oder Auschwitz eingezwängt hatte, sind bereits aufgehoben; …. Man muss aber das Gefühl der Befreiung in sich haben, um aus der Psychose herauszukriechen, die sich bis zum Wahnsinn in eines jeden Seele eingegraben hat … Wir müssen uns selbst befreien!«14

Strigler ging es darum, den Überlebenden wieder Selbstbewusstsein zu vermitteln, sich nicht mehr minderwertig zu fühlen, sich nicht verstecken zu müssen. Er sah in den Überlebenden vor allem den Samen, der neues Leben schafft, aus dem sich das jüdische Volk erholen muss und der die jüdische Kultur wieder aufbaut: »Auf den Ruinen des alten Europas wird neues Leben wachsen. Keine Bewegung und keine eifernde Fanatikergruppe, sondern ein Volk mit dem Namen: Der neue Jude! … Wir werden als kulturelle Einheit auftreten, mit eigener Sprache, eigenen Dichtern, Denkern und Volksvertretern, und der kulturelle Jude braucht das kompakte, organisierte Judentum … die all-europäische Föderation des geretteten Judentums … gemeinsam sind wir die Kraft zum Aufbau, zum Wiedererschaffen! Es soll nicht ›polnisch-jüdisch‹ gesagt werden, sondern europäisch-jüdisch.«15

Ungefähr zwei Monate nach der Befreiung begleitete Strigler eine Gruppe jüdischer Waisenkinder nach Paris, wo er sieben Jahre, von 1945 bis 1952, verbrachte.16 Es wird vermutet, dass Elie Wiesel in dieser Gruppe war, die in ein jüdisches Waisenhaus gebracht wurde.17 Dort war er Mitarbeiter und Herausgeber der Zeitung Unser Wort und engagierte sich in der kulturellen Arbeit verschiedener Organisationen, die von Überlebenden für Überlebende gegründet worden waren. Auch wenn Strigler überaus aktiv zu sein schien, war das Leben in Paris für ihn schwierig. Er fühlte sich fremd in dieser »normalen« Welt, es widerstrebte ihm, einfach zum Tagtäglichen überzugehen, und er spürte, dass er noch eine Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit hatte: »Er zog sich in ein entlegenes Eck zurück, wie jemand, der mit dieser fremden, normalisierten Generation immer noch nichts zu tun hat … In seiner Abgesondertheit grub er weiter in den Gräbern der Vergangenheit, lebte mit seiner verschwundenen und ausgelöschten Generation und suchte für sie – für sich und sein gepeinigtes Leben von früher – einen Funken Erlösung.«18

Als er noch in Buchenwald war, suchte Strigler bereits Kontakt zu anderen jiddischen Literaten und journalistischen Kreisen in den USA. Seinen ersten Brief schrieb er an H. Leivick (1888–1962) in New York. Ihn bewunderte Strigler bereits als Jeschiwa-Schüler. In seinem Gedicht A lebn azoyns (Welch ein Leben) schrieb Strigler über die verbotene Lektüre eines Gedichtbandes von Leivick während des täglichen Lernens in der Jeschiwa.19 Als er erwischt wurde und man von ihm verlangte, das Buch zu zerstören und zu schwören, solche Literatur nie wieder zu lesen, blieb er standhaft und zog die Konsequenz. Strigler verließ die Jeschiwa und suchte sich eine andere. Dieser erste Brief an Leivick vermittelte, wie das Zitat zu Beginn dieses Artikels andeutet, das Bild eines Überlebenden, der auf der Suche nach einem neuen Ort ist, an dem er seine schriftstellerische Arbeit fortführen kann. Leivick verstand Striglers Anliegen und erkannte in ihm einen talentierten Schriftsteller. Er publizierte das Gedicht Der letsteryid in geto (Der letzte Jude im Ghetto), das Strigler seinem Brief beigelegt hatte. Das Gedicht über die Ermordung des letzten Juden in Striglers Heimatstadt Zamość, den Bäcker Mosche Rapoport, zeigte ein Ausmaß der Gräuel unter der Nazi-Herrschaft auf, das der damaligen Leserschaft bis dahin unbekannt war.20

Leivick selbst war 1913 nach New York gekommen, nachdem er im Jahr zuvor seinem sibirischen Exil entkommen konnte. Er hatte vier Jahre in einem Arbeitslager verbringen müssen und wurde schließlich in einem viermonatigen Fußmarsch nach Witim gebracht. Er war dazu verurteilt worden, weil er öffentlich das zaristische Regime kritisiert hatte. So spielte in Leivicks eigenem Schreiben diese Erfahrung seines Lebens stets eine Rolle und ließ ihn gegenüber den Schoa-Überlebenden besondere Empathie empfinden. Seinen Gedichtband, der Texte der Jahre 1940 bis 1945 enthält, nannte Leivick In treblinke bin ikh nit geven (Ich war nicht in Treblinka).21

In den sieben Jahren ihres Briefwechsels haben sich Strigler und Leivick dreimal persönlich getroffen. Das erste Mal im Rahmen einer Visite einer Delegation von drei Kulturschaffenden (H. Leivick, Sängerin Emma Shaver und der Schriftsteller Israel Efros), die der Jüdische Weltkongress in New York entsandt hatte. Am 10. April 1945 startete die Delegation, unter der Leitung der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), und besuchte achtzehn DP-Lager in der amerikanischen Besatzungszone.22 Darunter waren die Orte München, Garmisch, Mittenwald, Landsberg, Holzhausen, St. Ottilien, Dachau, Föhrenwald, Tutzing, Gauting, Neu-Freimann, Ainring, Leipheim, Feldafing, Stuttgart, Berchtesgaden und Aschau.23 Ende Mai 1946 wurde die Verlängerung des Visums der Delegation jedoch abgelehnt und die Mitglieder waren gezwungen, Deutschland zu verlassen. Noch bevor sie alle Orte besuchen konnten, die sie eingeplant hatten, reisten sie nach Paris ab, wo sie vom 31. Mai bis 11. Juni 1946 blieben. Die dortigen Überlebenden organisierten verschiedene Treffen für sie, unter anderem mit Mordechai Strigler.24

In den folgenden Jahren bis 1952 wurde Striglers journalistischer und schriftstellerischer Weg geprägt. Als er nach New York kam, war Strigler gerade mal 34 Jahre alt und dem jüdischen Lesepublikum bereits bekannt. Er hatte hunderte Artikel überwiegend in Jiddisch, aber auch in Hebräisch verfasst und bereits seine Schoa-Erfahrung in sechs Bänden in der Reihe Dos Poylishe Yidntum (Das polnische Judentum) veröffentlicht.25

Leivick verfasste zum Band Majdanek ein Vorwort, in dem er Striglers Schriften empfahl, weil er in bis dahin unbekannter Weise die Abgründe des menschlichen Verhaltens schilderte: »Strigler war in der allerschlimmsten Hölle – in Hitlers Inferno; was er dort sah, hat nicht nur mit Hitler, nicht nur mit Nazideutschland zu tun, sondern mit dem ganzen Menschengeschlecht. Er sah das Grauenhafteste in der grauenhaftesten längsten Nacht, und – er sah auch den Juden in der längsten Nacht, und – auch sich selbst in der nämlichen Nacht … Meine Begleitworte sind Ausdruck der Anerkennung für einen jungen Kollegen, der sich aus der Zerstörung erhoben hat und dessen Sendungsdrang nicht ruhen wird, ehe er uns alle mit seinen Erlebnissen bereichert hat. Er ist dazu berufen.«26

Strigler fühlte sich tatsächlich zum schreibenden Zeugen berufen und er hatte sehr früh nach der Befreiung den Plan gefasst, seine Erfahrung aus sechs Jahren nazistischer Unterdrückung in diesem Bücherzyklus zu verarbeiten und dabei mit größter Genauigkeit vorzugehen. Dieses Anliegen verstärkte sich bei ihm noch, als er mit der Zeit erkannte, dass es bis dahin noch nicht gelungen war, sich ein vollständiges Bild von den Ereignissen zu machen, »obwohl so viel geschrieben wurde. Die Geschichte der ›Zerstörung der jüdischen Welt‹ muss noch aus dem Inneren heraus geschrieben werden … das musste das Schicksal meines schriftstellerischen Sinns werden, beim nochmaligen Eintauchen der Feder in die Leiden unserer jüdischen Generation. Bei der Planung der Konzeption meiner Arbeit habe ich ein Lager ausgewählt, das von Leben wimmelte – und das den ganzen katastrophalen Weg unseres Schicksals in ganzer Tiefe symbolisiert. Maidanek war nur der Korridor zu noch tieferen Abgründen …«27

Der Charakter von Striglers Zeugnisliteratur ist vielfältig. Einerseits gibt es Passagen, die einem historischen Dokument gleichen, das die Ereignisse verzeichnet, andererseits durchmischt Strigler dies mit Aussagen anderer Zeugen und persönlichen Erinnerungen, aber auch Passagen, in denen er versucht, das Seelenleben der Mitgefangenen erahnend zu beschreiben.28 Die sehr literarisch und poetisch gestalteten Texte des Autors lassen den Leser die geschilderten Situationen intensiv wahrnehmen. Strigler geht es hier nicht in erster Linie um eine chronologisch genaue Darstellung der Ereignisse, als vielmehr um die Vermittlung der verstörenden Eindrücke des Erlebten. In seinem ersten Brief an H. Leivick schreibt Strigler: »Ich muss aber wegen meiner Art zu schreiben etwas anmerken. Ich schreibe alle erlebten Eindrücke elementar und kondensiert. Ich möchte, dass nicht der kleinste Punkt angetastet wird, selbst an jenen Stellen, wo der Stil roh ist. In den Stunden, in denen ich schreibe – durchlebe ich die Sache ein zweites Mal, und ich will jene Stunden nicht mit dem geringsten Strich korrigieren.«29

In New York war Strigler bis 1995 Herausgeber der sozialistisch-zionistischen Zeitung Der Yidisher Kemfer (Der jüdische Kämpfer). Hier veröffentlichte er Texte der bekanntesten jiddischen Autoren seiner Zeit: Abraham Reisen, H. Leivick, Jacob Glatstein und Isaac Bashevis Singer.30 1978 erhielt er den Itzik-Manger-Preis für jiddische Literatur. Ab 1987 bis zu seinem Tod 1998 war er außerdem Herausgeber der jiddischsprachigen Tageszeitung Forverts (Vorwärts) in New York. Sowohl mehrere seiner jiddischen und hebräischen Novellen als auch über tausend seiner Kurzgeschichten, Essays und Artikel in jiddischen und hebräischen Zeitschriften erschienen nicht unter seinem Eigennamen, sondern unter Pseudonym.31 Strigler soll über zwanzig Pseudonyme verwendet haben, die er jeweils für ein bestimmtes Themengebiet, über das er schrieb, reservierte.32

Strigler blieb sein Leben lang der jiddischen Sprache treu und publizierte in ihr. Dies ist sicher einer der Gründe, warum seine Literatur nicht zu seinen Lebzeiten den Weg zu einem breiteren internationalen Lesepublikum gefunden hat, wie es die Bücher anderer Überlebender, wie zum Beispiel die Elie Wiesels, geschafft haben. Erst in seinem Todesjahr 1998 kam eine französische Übersetzung seines Buches Majdanek heraus. Schließlich erschien 2016, kurz vor dem siebzigsten Jahrestag der Ersterscheinung, die deutsche Übersetzung von Sigrid Beisel unter der Herausgeberschaft von Frank Beer, der bereits an der Quellenedition Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Schoa in Polen 1944–1947 (2014) mitgearbeitet hatte. Mittlerweile sind 2017 Striglers In den Fabriken des Todes und 2019 Werk C erschienen. Mit dem Band Schicksale liegt nun der letzte Teil der Tetralogie Verloschene Lichter in dieser wertvollen Übersetzung dem deutschen Lesepublikum vor.

Teil eins

Das Ende in Sicht

Kapitel eins

I

Ruhe bitte.

Es möge still sein! Viertausend Menschen schreiten jetzt in das nächtliche Maul von Werk C. Sie wissen noch nichts, gar nichts! Es ist besser so. Mögen sie die sich wiegenden Bäume sehen und die schlummernden Baracken. Möge alles taub und stumm sein und möge kein Skelettgesicht an den Fenstern auftauchen. Viertausend Menschen könnten die vermutlich letzte ruhige Nacht einbüßen, die ihnen beschert ist zu erleben.

Es ist besser so!

Genau deshalb schreiten sie würdevoll herein und ihre Schatten, in der nächtlichen Öffnung des Tores, krümmen sich nicht, zittern nicht. Neben dem Tor stehen nur einige Polizisten und etliche Menschen von der Verwaltung, die nicht aufhören zu zählen: 67 … 69 … 73 … hundert!

Die Gesichter beim Tor künden davon, dass man hier lebt, dass man gesund ist! Deshalb drücken die Hereinkommenden ihr Bündel an sich, und die spitzen Torpfosten stechen noch nicht in ihre Hoffnung hinein.

Man wird sie durch seitliche Wege bis zu den neuen Baracken führen. Dort werden sie ihre Glieder auf den frischen Brettern der neuen Betten ausstrecken können. Müde sind sie gewiss von dem langen Weg, sie werden glücklich einschlafen. Die umstehenden Bäume werden sich wortlos wiegen wie fromme Blender und die Menschen werden vielleicht vor dem Einschlafen zu den Fenstern gehen und vor Freude seufzen: Ah, Bäume! Frische Luft!

Wie wenig die Welt braucht, um einen Menschen zu täuschen! Sie werden heute eine ruhige Nacht haben, um die sie sich morgen selbst beneiden werden. Alles ist schläfrig. Der ganze Tumult ist für ein paar Stunden in eine andere Welt entschwunden. Nur von Zeit zu Zeit lässt sich eine Polizeipfeife hören. Danach trägt es das ferne Echo einer bekannten Stimme herüber: He, wie geht es dort mit der vierzehnten Baracke?

Schon voll bis zur Schwelle, Panie1 Kommandant!

Und wieder zischelte die Stille wie eine verborgene Schlange in ihrem schwarzen Versteck. Wie es schien, war es schon arg spät gewesen, denn die Menschen in den Baracken gingen still von den Fenstern weg und begannen, auf den harten Lagerstätten zu schnarchen. Die Wache an den Zäunen hatte gewechselt und die zurückgehenden Polizisten gähnten laut. Auch am Tor, gegenüber von Mecheles Baracke, blieb nur ein Wächter, der träge an seiner farbigen Bude lehnte. Viertausend Menschen hatte das umzäunte Viereck gerade erst aufgenommen und es blieb an dem Ort, durch den sie vor kurzem hineingeschritten waren, nicht einmal ein Zeichen von ihnen.

II

Schon lange Zeit bemühte sich Dr. Rost überall um einen frischen Transport Juden. Endlich bekam er die Erlaubnis, sich die menschliche Beute mit dem Kommandanten Amon Göth2 aus der Krakauer Jerozolimska zu teilen. Der Wachführer Schumann fuhr mit einer Gruppe von Werkschutzleuten dorthin und brachte sie in langen verschlossenen Waggons her. Die Zeiten schienen aber schon andere zu sein. Man behandelte sie besser als andere Transporte und sie brachten sogar ihre letzte Habe bis ins Lager.

Jetzt sind sie da und versuchen, in ihrer neuen Welt etwas Schlaf zu bekommen. Wie viele Männer sind gekommen? Wie viele Frauen? In der stummen Schwärze, die Mechele durch das Fenster sieht, kann er es nicht erkennen. Was tragen sie in ihren Rucksäcken? Auch das kann er nicht wissen. Nur das Herz in Mechele klopft wieder hastig wie bei jeder Begegnung mit einer in Geheimnisse gehüllten Sache, die neue Überraschung verspricht. Viertausend neue Menschen! Sie bringen Nachrichten aus einem anderen Teil der Welt mit sich und wissen sicher von vielen Geschehnissen, die man hier nicht kennt.

Er kann sich nicht schlafen legen. Das leichte, milde Lüftchen ruft ihn hinaus, zieht ihn an – und Mechele geht bis in den Korridor, öffnet die Außentür und atmet die feuchte, finstere Stille ein. Die Nacht einer deutschen Munitionsfabrik lässt sich nicht von Geheimnissen überraschen. Sie nimmt alles in sich auf und lässt es in ihren schwarzen leeren Keller hinab. Selbst die melancholischen Bäume stehen in solchen Nächten aufgerichtet, verwachsen mit der Dunkelheit, als stünden auch sie jetzt bei einem Lagerappell. Vermutlich hat ihnen jemand den Befehl gegeben, sie mögen mit ihrem wortlosen Getuschel aufhören, also schweigen sie. Und mit ihnen zusammen schweigen alle: die Menschen in den Baracken, die Schatten draußen, der Wald, die Fabrik, die ganze abgesonderte Welt.

Mechele möchte etwas von dem leisen Nachtrauschen aufnehmen, das die Luft immer für die Leere bereithält. In Werk C aber wird jetzt über die Schicksale von viertausend frischen Leben entschieden und niemand wird sich jetzt losreißen und herkommen, um dem neugierigen Jungen zu erzählen, was dieser hören will. Auch die Luft hält ihren Mund jetzt geschlossen. Nur von der anderen Seite der Straße erkennt Mechele die raue Stimme von Kommandant Wajzenberg: Was behelligst du mich so viel? Es ist nicht für alle Platz? Dann sollen sie diese Nacht über sitzen und das Werk C sitzend kennenlernen. Da sie so viel Gepäck mitgebracht haben, wie kann da für alle Platz sein?

Eine weiche, bittende Stimme neben ihm murmelte etwas. Die Wörter gingen auf dem Weg verloren und Mechele konnte gerade noch verstehen: Mädchen … müde vom Weg … so weit …

Aber Wajzenberg ließ nicht lange reden: Nun ja, ich habe schon davon gehört. Man kennt die Litanei! Polizist sind Sie? Ein Lehrer! Ein wahrhaftiger Melamed3! Sobald sie ein Kleidchen sehen, kann man ihnen die Hüte abnehmen und ins Klosett werfen. Weiche Herzen kriegen sie sofort! Verdreh mir jetzt besser nicht den Kopf, weil ich morgen früh aufstehen muss.

Man hörte noch den salutierenden Knall zweier zusammengeschlagener Fersen und danach ließen sich zwei Paar Stiefel aus zwei verschiedenen Richtungen hören.

Damit war das nächtliche Wandeln in der Finsternis noch nicht beendet. Von allen Seiten konnte man vorsichtige Schritte von Polizisten hören. Eine grobe, kratzende Stimme, an der Mechele den Brotkommandanten Hercke Lederman erkannte, erhob sich gar laut und trunken: Jungs, wenn ihr glaubt, ihr hättet schon alles gesehen, dann sage ich euch, das stimmt nicht! Ihr hättet sehen sollen, wie »sie« auf die Jungen geguckt hat, dann hättet ihr verstanden! Einen Anfall hat sie schier bekommen. Und das ist nicht gut, seht ihr, ihr könnt mir wirklich glauben, dass das nicht gut ist! Ein Durcheinander wird es hier geben! Verlasst euch auf Hercke.

Wer diese »Sie« war und warum sie schier einen Anfall bekommen hatte, konnte Mechele sich nicht erklären. Deshalb konnte er auch nicht verstehen, was dadurch hier schlechter werden konnte. Und für wen?

Die Gruppe bewegte sich fort und ihr weiteres Gespräch war nicht mehr zu hören.

III

Am Morgen weckte man die Leute früher zur Arbeit. Auch der Morgenappell wurde in aller Eile abgehalten, als suche man eine Möglichkeit, die »Alten« des Lagers früher hinauszuschicken. Sobald die Tagschicht durch das Tor gegangen war, ergossen sich über den Hof ganze Scharen von Neuankömmlingen. Sie hatten andere Gesichter als die Werk-C-niks: vollere, glattere. Auch ihre Garderobe war neu und elegant. Nur die Falten in den Kleidungsstücken zeugten vom Liegen in den Waggons. Sie verteilten sich in alle Ecken, trafen Bekannte und versuchten, einander anzulächeln und zu trösten: Nun, es ist noch nicht das Ende der Welt! Man ist an einem neuen Ort und weiter nichts! Man lebt noch, und niemand tut uns was!

Vom Tor her begann die Menschenmenge der Nachtschicht hereinzuströmen. Es tauchten die ersten ausgedörrten Skelette in ihren braunen und gelben Farben auf. Sie schauten sich erschrocken unter den frischen Einwohnern von Werk C um. Wer brauchte die? Bei einer Selektion durfte man neben solch einem nicht stehen! Das war eine der Vorsichtsregeln, die ein geübter Werk-C-nik sich merkte. Und hier waren so viele gekommen! Was ein Deutscher sich denken mochte, wenn man einen alten abgerissenen Hallenmenschen neben solche frischen Jungen stellte, wusste ein Werk-C-nik schon aus früheren Zeiten. Deshalb eilten sie mit ihren schleppenden Schritten bis zu den Baracken, als hätten sie Angst, jemand möge sie auch nur für eine Sekunde gegenüber diesen hier sehen.

Bei vielen erstarrte das vorgeblich fröhliche Lächeln leicht: So wird man hier? Genau so?

Aber für die Menschen der Nachtschicht wäre es eine Verschwendung gewesen stehenzubleiben und zu klagen, jeder Augenblick, den man den Schlaf aufschob, war ein verlorener. So warfen sie nur im Vorbeigehen ein paar abgehackte Wörter hin: Da guckt ihr! Werdet eine Woche älter und ihr werdet sehen, wie die Stiefel aussehen! Warum habt ihr keine Zeit zu warten? Wenn man es erlebt, wird man es sehen!

Und bald verlief sich die ganze Gesellschaft der hergeflogenen Skelette in alle Winkel und verschwand. Es sah aus, als seien die Baracken Gräber, die ihre Türen geöffnet hatten, und die Toten seien für einen Moment mit ihren gelben zerfetzten Flügeln herausgekommen. Nun, da sie sich den Lebenden gezeigt hatten, reichte es ihnen. Deshalb zogen sie sich wieder in ihre Ruhe zurück! Genug gespaßt mit den erschreckten abgenutzten Leben!

Die Köpfe bei den Neuen waren plötzlich gebeugt. Vermutlich hatten sie in einer Minute alles verstanden, denn das fröhliche Begrüßungsgeschrei war verstummt, und sie begannen, sich zu den neuen Baracken zu drängen. Jemand warf nur ein Wort über die Köpfe: Überall das Gleiche! Da braucht man sich nichts vorzumachen. Jeder Deutsche hat nur seine eigene Art, das zu erreichen.

Niemand antwortete etwas auf dieses Dahingebrummte.

IV

In dem neuen Strom befanden sich auch etliche große, starke junge Männer mit weiß-blauen runden Hüten. Das waren Polizisten aus der Jerozolimska. Sie brachten die Hoffnung mit sich, dass sie am neuen Ort wieder denselben Posten einnehmen würden. Also paradierten sie mit ihren breitgestreiften Hüten und den schwarzgrauen Uniformen.

Gleich beim Aussteigen aus dem Zug begannen sie, ihre Leute zu befehligen, halfen mit, Ordnung zu machen, und schrien herum. Die Leute kannten sie vom vorherigen Lager und deshalb gehorchten sie und ordneten sich unter. Sobald sie aber durch das Tor hereinkamen, verstanden sie, dass es hier nicht so glatt ablaufen würde. Hier gab es schon andere Polizisten, und zwar dutzendweise, die eine andere Art von Hüten trugen und wussten, welche Kontakte man pflegen musste, um den Gummiknüppel in die Hand zu bekommen.

Die frisch gekommenen Polizisten waren bald entmutigt und niedergeschlagen, sie schauten sich mit flehenden Blicken um. Dabei begannen sie, sich vorsichtig aus der ganzen angekommenen Menge hervorzuheben, bemühten sich, ihre Polizeiköpfe besser sichtbar zu machen. Die alte Polizeitruppe schaute auf sie vom ersten Moment an mit kühlen, stechenden Blicken wie auf welche, die kamen, um sich hier in ihre Welt hineinzudrängen. Also begannen die Neuen, sich näher bei der Kommandantenbaracke aufzuhalten, und versuchten, sich stärker vor den Augen der Kommandantin zu zeigen. Von allen Seiten warfen sie Blicke zu ihrem Fenster, warteten und guckten sich die Augen aus. Sie hätten sich ihr zu Füßen geworfen, hätten gebeten, versprochen. Was hätten sie denn nicht alles gegeben, nur um einen kleinen Brocken der Macht zu behalten? Aber die Kommandantin im »Weißen Haus«, so tuschelte man, machte Pläne, wie genau eine neue Ordnung herzustellen sei.

Sie wollten auf keinen Fall so werden wie die Gelben, die sie hier entdeckt hatten. Das konnte man verstehen. Deshalb schrien die fremden Polizisten auf die eigenen Leute aus dem frischen Transport ein und strebten mit allen Mitteln an, dass man sie wahrnahm: Möge »sie« ihre Stiefel sehen, die Strenge in ihren Gesichtern und ihre gesunden Figuren! Dann würde sie sicher verstehen, dass sie noch von Nutzen sein konnten!

Für die Neuen brauchte man weitere Polizisten. Die neu angekommenen Ordnungshüter waren dafür geeignet: Sie kannten die Gruppe, sie wussten, wer »etwas« mitgebracht hatte und man konnte sich auf sie verlassen! Aber in der Kommandantenbaracke hatte man sich zurückgezogen, wollte keinen Blick auf sie werfen. Dutzende Menschen der alten Garde warteten schon lange in der Reihe. Man hatte ihnen zugesagt, dass sie die Polizeihüte bekämen, sobald ein neuer Transport einträfe. Was also wollten die erst kürzlich Angekommenen? Sie bereiteten sich darauf vor, wieder die Macht zu übernehmen! Aber hier waren Menschen aus der Fabrik hergeholt worden, hatten ihre Arbeit gemacht und dem Weißen Haus gewisse Dienste geleistet. Sie waren mit allen örtlichen Gegebenheiten vertraut, und es lohnte sich nicht, sich mit ihnen anzulegen. Was sollte man tun?

Die alten Werk-C-Polizisten ließen sich immer wieder auf dem Platz blicken und schauten mit trüben, bösen Augen auf die neue Gruppe, die untertänige Blicke zum Fenster der Warkowiczowa warf. Dabei schafften sie es kaum, ihren Zorn zu unterdrücken: Wartet nur. Noch ein oder zwei Tage könnt ihr euch euren leeren Träumen hingeben! Wir brauchen bloß zu pfeifen und ihr müsst euch alle in die Reihe stellen. Dann werden wir wieder pfeifen und ihr müsst abmarschieren. Bis ans Tor der Fabrik werden wir euch bringen und dort werden die Meister kommen und eure festen Schultern betrachten. Danach wird jeder Einzelne in eine besondere Halle kommen, und die Maschinen werden buchstäblich von dem unverhofften großen Glück anfangen zu brummen: schon lange nicht mehr solch gesunde, frische Hände an mir gespürt.

Kapitel zwei

I

Die Kommandantin von Werk C durchlebte gerade eine fieberhafte Stimmung. Die Hoffnung, den kleinen Sekretär ihres Büros zu gewinnen, war zerronnen. Dieser hängte sich an seine junge Alinka und hatte für nichts anderes auf der Welt mehr Augen. Mareks kleine Geliebte ging wie ein herausgeputzter goldener Pfau umher und warf allen ein glückliches süßes Lächeln zu. Als Fela das entdeckt hatte, verschwand sie in ihrem Zimmer, schloss die Tür ab und blieb lange dort drinnen.

Sie wusste, dass das ganze Lager insgeheim seine ganze Sympathie der kleinen Warschauer Puppe entgegenbrachte. Sie war die Einzige, die der Kommandantin eine Kränkung zugefügt hatte, und dafür war ihr das ganze Lager dankbar. Fela wusste auch, dass ihre Polizisten sich über sie und ihr unterdrücktes Verliebtsein allerlei bösartige Witze erzählten. Mehr als einmal stahl sie sich zur Wand der Polizeibaracke und belauschte sie. Dadurch wurde sie noch verbissener und wütender.

Alles in ihr dürstete nach Rache. Sie wollte etwas tun, was das Lager aufregen würde und wodurch es ihre Macht auf besondere Weise zu spüren bekäme. Sie verabscheute die dandyhaften Polizisten, die ihr mit tänzelnden Schritten und hündischer Schmeichelei in den Augen entgegenliefen. Sie hasste auch ihre Schwester mit ihren ständigen Abenteuern und ihrer närrischen Verliebtheit. Genauso konnte sie den Schwager nicht mehr ertragen, der sich schon zu viel mit den Lagermädchen eingelassen hatte. Außerdem wuchs die Familie immer weiter an. Die Mutter hatte begonnen, Bekanntschaften unter den älteren frommen Juden zu schließen. Diese erschienen in der Kommandantenbaracke und erstachen sie regelrecht mit ihren traurigen Blicken. Dazu hatte Feldman, der älteste Schwager, begonnen, jeden Abend Feste bei sich in der Stube zu veranstalten. Und seine zufriedenen Seufzer auf der anderen Seite der Wand ließen sie nicht zur Ruhe kommen.

Sie hörte sogar auf, in die Baracken hineinzuplatzen und die Mädchen mitten in der Nacht aufzuscheuchen oder die ausgezehrten Männer zu beschimpfen, warum sie Skelette seien und schon keine menschliche Visage mehr hätten.

In den früheren Zeiten, wenn die Deutschen Menschen zum Erschießen auswählten, war Fela als Erste auf dem Platz. Sie pflegte, erschrocken und aufgeregt zu sein. Nur ihre großen Nasenlöcher blähten sich, als hätten sie unbewusst Freude an dem besonderen Geruch, den der Tod hertrug. Sie tastete die Ausgesonderten mit dem Blick ab, wollte an ihnen erkennen, wie der direkt bevorstehende Tod aussah. Dabei hatte sie eine verborgene Freude daran, dass sie hier ein wenig Macht besaß mitzubestimmen und sie zitterte vor Glück, dass die menschlichen Leben sich wanden, als lägen sie in ihrer Hand. In ihren Augen strahlte dann ein besonderer Glanz künstlicher Aufregung, den sie nicht immer hinter dem schmalen Trauerrand verbergen konnte, den sie mitfühlend den zusammengepressten Lippen aufgesetzt hatte. Das Zusehen bei dem Vorbereitungsspektakel zu einer blutigen Ernte wühlte sie auf und man konnte nie wissen, was in ihr stärker war: der erschrockene Kummer oder das unbewusste Glück des Rausches und der Verzückung durch die Gefahr.

Sie hatte die Besuche des Todes zwischen den Baracken miterlebt. Das Bewusstsein, dass er hier anwesend war, aber nicht sie meinte, belebte und trug sie, erregte sie. Nach solchen Momenten war sie geneigt, alle Genüsse auszukosten. In solchen Nach-Selektions-Nächten wollte sie tanzen, hatte Angst, in ihrem Zimmer allein zu sein, und holte sich einen jungen Polizisten nach dem anderen, sie sollten bei ihr sein, sie bewachen, die Schatten vertreiben und ihre junge Vergessenheit und Sorglosigkeit so nahe wir möglich an sie herantragen.

Auch das hörte auf. Sie begann, alle von Werk C zu hassen, und damit fing sie auch an, alles zu hassen, was dort passierte. Manchmal wollte sie es ignorieren und spazierte mit einem aufgesetzten fröhlichen Lächeln durch die Gassen. Sie setzte sich sogar bei den Konzerten in die vorderste Reihe und ließ allerlei Bewunderer und untertänige Schmeichler sie umschwärmen. Mitten in ihrer fröhlichen Stimmung riss sie sich aber los und lief zurück. Auf dem Weg griff sie ihre großäugige Tochter und verschwand mit ihr in ihrem aufgeräumten Zimmer.

Das ganze Lager wusste, dass etwas ganz Neues kommen müsste, das sie fesseln konnte. Ihr gekränkter Stolz ließ nicht zu, dass sie sich mit etwas befasste, das alle hier kannten und das schon lang zum Werk C gehörte.

II

Seit die Nachricht gekommen war, dass man einen neuen Transport bringen würde, bekamen Felas Augen wieder einen Glanz der Neugier. Sie hatte wieder etwas, dem sie entgegenblicken konnte. Und während die Menge in jener Nacht durch das Tor hereinschritt, musterte sie beim Schein der Torlampe die Welle der frischen Gesichter, suchte unter ihnen eines, das sie anregen würde. Aber es war schon spät und die Reihen zogen sehr schnell an ihrem Blick vorbei. Außerdem standen dort etliche Polizisten und beobachteten jede ihrer Bewegungen, sodass sie nicht auf einem bestimmten Gesicht verharren konnte, selbst wenn es sie für einen Moment angesprochen hatte. Sie musste sich Zeit lassen, musste die Menschen sich in ihren Baracken eingewöhnen lassen. Außerdem hatte sie viel Arbeit mit den Besprechungen mit ihren Unterkommandanten und den Verwandten.

Hier gab es jetzt die beste Gelegenheit, gegen alle zu intrigieren. Ihr Schwager Wajzenberg ging ihr schon lange genug auf die Nerven. Ihre Schwester, die Frau Wajzenberg, hatte ihren Geliebten und doch hörte sie nicht auf, Fela zuzusetzen, sie sei an all dem schuld, an ihrem Unglück. Hätte sie Wajzenberg nicht so hoch aufsteigen lassen, hätte er seine Wildheit nicht so ausgelebt, sondern sich mehr bei ihr aufgehalten, bei der Familie. Man sollte ihm jetzt seine Macht beschneiden. Und der zweite Polizeikommandant, Feldman, hatte sich ein wenig zu sehr zurückgezogen. In der ersten Zeit zeigte er sich streng, ein Wichtigtuer mit einer starken Hand. Nachdem aber die Leute aus dem KL Majdanek angekommen waren, hatte etwas ihn in den Bann gezogen. Er pflegte mit abgerissenen jungen Leuten Umgang, die jiddische Lieder sangen und über eine jüdische Partei redeten, zu der er früher auch gehört hatte.

Noch dazu hatte er sich eine merkwürdige »Cousine« ausgesucht! Sie war so ruhig und schweigsam. Sie betrachtete alle Leute der Führungsschicht mit solch reinem und doch stechendem Blick, dass die Warkowiczowa begann, sich vor ihr zu fürchten. Gab es niemand anderen auszuwählen als nur dieses magere, kränkliche Mädchen? Wie passte sie zur Lagerleitung?

Alles weiß sie, die Fela Warkowiczowa: Feldman hat das Mädchen im Wald kennengelernt, als die ganze Gruppe der Abgerissenen dort gesessen hat und so etwas wie ein Konzert veranstaltet hat. Diese Blumcia gehörte zu der Aristokratie der Partei. Ihr Vater war einst ein ganz hohes Tier und dieser Angeber mit dem Gummistecken, der gestandene Kommandant Feldman, schmolz regelrecht dahin! Als er nur den Namen Lazar Krog4 hörte, begann er sofort, dessen verzogenem, dürren Töchterchen nachzulaufen, und es ruinierte ihn!

Er läuft weiterhin als Kommandant umher, stürmt noch in die Baracken und schlägt auf die Köpfe ein. Wenn die Warkowiczowa zuschaut, macht er noch wilde Sachen, schleudert Menschen zu Boden, tritt sie mit den Füßen, wie es sich gehört. Es bereitet ihr Freude, dass er ihr damit gefallen will. Sie weiß aber, dass das schweigsame Mädchen mit der rundlichen Nase mehr Macht über ihn hat. Wenn sie guckt, ist Feldman ein anderer. Dann nennt er den abgerissensten Jungen »Freund« und ihretwegen kriecht er in finstere Baracken und flüstert mit allerlei merkwürdigen Typen.

Fela ist nicht eifersüchtig als Frau! Als solche kann sie es nur auf ganz wenige sein. Aber sie will hier die Herrscherin sein, die Göttin des Lagers. Sie ist zufrieden, dass solche Männer wie Feldman ihre Bereitschaft zu dienen zeigen und versuchen, ihren Geschmack zu treffen. Aber über ihn herrscht faktisch eine andere. Jene ist schwach, hat keinerlei Autorität im Lager, aber ihre rundlichen, glänzenden Lippen verziehen sich, wenn Feldman aufgebracht mit dem erregten Gummiknüppel, der in seiner Hand zittert, angelaufen kommt. Dann wird er schwach, schmiegt sich an das kleine Mädchen, und bittet auf Polnisch: Blumcia. Du weißt doch, ich muss. Anders würden sie nicht folgen.

Auch mit den anderen ist es nicht besser. Sie weiß, dass keiner hier im Lager sie liebhat. Selbst die eigene Tochter weiß nicht, was es heißt, einen Menschen liebzuhaben. Alle kommen sie zu ihr, legen sich ihr zu Füßen. Sie können sie streicheln, liebkosen und vergessen dabei nicht, ein besonderes Privileg zu erbitten. Ein Hund ist treuer als sie alle zusammen! Fela wird sie nicht mehr zu nahe an sich heranlassen! Nur von weitem! Sie kann aber auch weich werden, sie muss es manchmal. Sie erkennen ihre Schwäche, ihren fraulichen Instinkt, und nutzen diese Momente bei ihr aus.

Hier muss alles anders werden! Damit muss Schluss sein! Auch sie will einen eigenen Menschen haben, einen Vertrauten. Und zwar genau so einen, der sie liebhaben soll, der sie liebhaben muss. Wie das geschehen soll, weiß Fela noch nicht. Das muss aber sein, das muss kommen! Damit kann sie Sand in die Augen vieler Werk-C-Menschen streuen. Damit kann sie auch viele Niederlagen überdecken, von denen sie gar nicht wissen will, ob jemand sie kennt.

Viele Dinge müssen sich hier ändern, wenn Fela weiterhin zufrieden im Lager umhergehen will. Aber nur bei dem neuen Transport ist es möglich, etwas zu arrangieren. Fela hasst es, zurückzustecken. Sie kann nur im Unbekannten suchen, zwischen den Neuen. Ha, wird sie dann triumphieren! Sie darf es aber nicht plump anstellen. Es müssen allerlei Listen, Kunstgriffe und Überraschungen angewendet werden. Geradlinige Handlungen verschaffen ihr niemals besonderes Vergnügen. Das geschieht schnell und brennt noch schneller aus. Man muss sich etwas ausdenken, selbst wenn das noch dauert!

III

Schon der dritte Tag, seit der Transport angekommen ist. Einen Teil von ihnen hat man schon in die Fabrik gebracht, auf die Hallen verteilt, und sie kommen am Abend mit dem braunen und gelben Mehl auf den schönen Anzügen zurück. In der Nacht muss die zweite Hälfte abmarschieren und Dr. Rost wird auch sie für alle Abteilungen aussortieren.

Die neue Polizeitruppe wird immer verzweifelter. Sie laufen jetzt noch ruheloser um Felas Fenster herum, suchen einen Weg, näher heranzukommen, und ziehen sich unentschlossen zurück. Fela sieht alles, aber sie hat Zeit. Je länger sie warten müssen, desto niedergeschlagener werden sie sein und desto nachgiebiger. Dabei stört es nicht, dass Wajzenberg immer wieder zu der Gruppe läuft, sie anschreit und auseinandertreibt. Man muss ihnen die ganze Sicherheit nehmen und dann, erst dann …

Was dann sein wird, damit hat Fela sich noch nicht konkret befasst. Aber die bloße Erwartung von etwas, das sie innerhalb von Sekunden erschaffen kann, belebt sie wieder und treibt ihr wildes Blut aufs Neue an wie mit Peitschen. Sollen sie hier herumlungern! Mit voller Absicht zeigt sie sich nicht, sie sollen sie nicht einmal sehen. Das Gefühl, dass Dutzende Menschen sich jetzt die Augen nach ihr ausgucken, tut ihr gut und sie sitzt hier, lässt ihre Anweisungen durch ihre hübsche brünette Hausgehilfin mitteilen und stellt damit bei jenen die Geduld auf die Probe. Sie erschauert schon mit jenem süßen Zittern, das sie immer spürt, wenn so viele Menschen zum ersten Mal auf sie schauen als die Mächtigste in dieser abgezäunten Welt.

Schon lang hat sie sich nicht mehr so herausgeputzt, die langen Haare gebürstet und sich gepudert; schon lang hat der silberne Spiegel sie nicht mehr in seinen hölzernen Armen gehalten und so viel ihres Lächelns und des künstlich zornig fixierten Blickes auf sich gespürt. Und dort, auf den blumengeschmückten Plätzen, neben der Polizeibaracke, zählt man derweil die Stunden. Ein Teil der »alten« Polizisten von Werk C beeilen sich sogar, den »Blauen« mitzuteilen: Bereitet euch vor. Man wird euch bald auf den Weg schicken.

Jene haben aber keine Lust mehr, weiter zuzuhören, und verschwinden in alle Richtungen. Von der Seite folgt ihnen noch Wajzenbergs Gelächter: Sie haben gemeint, dass es uns hier an Ware mangelt. Dabei lungern hier viele von meinen eigenen herum und haben keine Arbeit. Was soll ich also mit ihnen machen? Außer sie zum Traubaldachin zu führen. Und Hochzeit kann man hier nur mit einer Halle haben.

Alle Polizisten lachten unterwürfig mit. Sie bemerkten deshalb nicht einmal, wie Fela hell und strahlend aus ihrer Baracke heraustrat. Ihr Haar war kunstvoll als Kranz um den Kopf gelegt und ihre Augen bewegten sich in einer warmgebetteten Feuchte. Sie war jetzt jünger und schöner, mit Resten von kindlicher Gereiztheit, die sich bleich auf ihrer eingezogenen Unterlippe schlängelte.

Sie ging zu einer separat stehenden Gruppe neuer Polizisten und wandte sich mit gutmütiger Vertrautheit an sie: Nun, Jungs, was gibt es Neues?

Die Gruppe erwachsener Jungen verlor vor Verwunderung die Sprache. Das war sie? So redete sie? In ihrer Verwirrung begannen sie, etwas zu stammeln. Sie richtete sich derweil höher auf, was ihre schmale Schlankheit noch stärker betonte. Dabei entfalteten sich ihre Lippen, wurden weiter, mit jener besonderen Beugung, mit der sie immer deren leidenschaftliche Fülle unterstrich, die das Weiß ihrer Zähne umsäumte. Sprachlos standen sie da, als sie noch liebevoller fortfuhr: Wie gefällt euch unser Werk C? Habt ihr euch schon ein wenig eingelebt?

Von weitem wurden noch weitere der Neuen aufmerksam und kamen schnell näher. Von allen Seiten umringten sie sie, drängten sich und wollten ihre Worte mitbekommen. Jeder von ihnen wollte etwas sehr Kluges einstreuen, um ihren Blick auf sich zu ziehen und von ihr bemerkt zu werden.

Auf Felas Gesicht ergoss sich eine glückliche Röte. Ihre verborgene Schönheit, die nur in bestimmten ihrer Stimmungen hervortrat, zeigte sich jetzt frei auf ihrem Gesicht und schwelgte in ihren verschämten Farben. Sie wollte jetzt jedem von ihnen gesondert antworten, das ging aber nicht. In Fela stieg ein neues Gefühl hoch: Hier drängten sie sich nicht nur zu der Hauptkommandantin. Deren Ort hatte jetzt die gut frisierte und herausgeputzte Frau eingenommen. Deshalb verteidigte sie, die Glückliche, sich: Aber Jungs! Ich kann doch nicht mit allen gleichzeitig reden! Gut, heute wird keiner von euch zur Arbeit gehen, aber wählt unter euch einige Delegierte aus. Heute Abend bei mir, in Ordnung?

Sie signalisierte, dass die Unterhaltung beendet war. Alle machten ihr respektvoll den Weg frei. Sie entfernte sich mit wiegenden Schritten in ihren neuen Schuhen in Richtung des Lagers, wobei ihre gesund geformten Waden leise mitsummten. Sie sah gerade noch, wie Wajzenberg mit einem zornigen Ausspucken, das vom Wind verweht wurde, in die andere Richtung davoneilte. Mehr brauchte sie nicht für ihr Lächeln.

IV

Bei Nacht, als die ganze Abendgruppe abmarschierte, klopften zwei Männer leise an Felas Tür. Sie lag ausgestreckt auf dem plüschenen Kanapee und ihre Haare waren in gewollter Nachlässigkeit arrangiert. Im Zimmer war es gemütlich und still. Nur aus ihrem grün aufflammenden Blick schrie ein erstickter Schmerz auf der Schwelle zum Glück. Sie war in dünne Seide gekleidet, die einen farbigen Kontrast zu dem dunklen Licht des Lampenschirms bildete.

Die zwei Delegierten der Polizisten aus dem Krakauer Lager verbeugten sich still wie vor einer Herrscherin in früheren Zeiten und murmelten nacheinander ihre Namen. Dann bedeutete sie ihnen mit einer Geste, sie sollten sich setzen. In dem kleinen Zimmer hob sich ihr Blick mit dem messerscharfen Blitzen noch schärfer vor dem weichen Grün des Samtes auf ihrer Lagerstatt ab. In dem Gemisch aus Licht und Dunkelheit, das sich um ihren Körper und ihr gelöstes Haar legte, wirkte sie wie völlig von Geheimnissen umgeben und eingehüllt. Wie kam solch eine Frau hierher? Wie kamen ein tapeziertes Zimmer, ein Plüschkanapee, weiche Hausschuhe und dünne Seide in eine Welt aus Pikrin und Trotyl?

Die zwei Männer saßen überrascht da und wussten nicht, womit anzufangen. Fela setzte sich in gespielter Eile auf, legte den fülligen Arm auf das beleuchtete Tischchen und lehnte ihren wallenden Schopf daran. Dabei musterte sie mit dem Blick erst den einen, danach den anderen. Der Erste war ein Hochgewachsener, fast schon zu groß. Dafür waren seine Schultern ein wenig gebeugt. Auch sein Gesicht war knochig und langgestreckt. Seine halbgeschlossenen Augen waren von einer groben Hornbrille verdeckt, die ihm zu putzen einfiel, während sie ihn eingehend musterte. Er begann, in einem untertänigen Polnisch zu reden, in dem die harten R kratzten, wie ein Teil der Juden es so leicht nicht hinbekam. Es sah so aus, als habe man ihn als Redner ausgewählt, wegen seines scharfen Verstandes und seiner gedrechselten, ausgeklügelten Redeweise. Der ehemalige Wunderknabe in der Jeschiwa und spätere warmherzige Talmudgelehrte aus reichem Krakauer Haus, Englard, hatte schon mehrmals mit seinen scharfsinnigen Einfällen und geistreichen Ideen der ungehobelten Polizei ausgeholfen, die ihn deshalb in die Gruppe der Blauhüte aufgenommen hatte. Auch hier gestikulierte er mit den schlanken Händen, die sehr weit aus den kurzen Ärmeln herausragten. Er ereiferte sich immer mehr und sein schütterer, gekräuselter Haarschopf, der verwirbelt an seiner hohen Denkerstirn zu haften schien, warf wilde Schattenkreise auf das beleuchtete Stück der Wand. Fela selbst wusste nicht, ob sie ihm zuhörte oder nicht. Sie hatte ihren strengen Blick auf den zweiten Mann, der schweigend dasaß, gerichtet und sie registrierte: Ihr gegenüber saß ein großer, fester Mann. Seine hellblonden Haare waren dicht und glatt gekämmt. Ein kräftiger Backenbart zog sich bis auf sein glattes, volles Kinn. Seine großen, hellgrünen Augen, die von einem Halbrund aus blonden Wimpern beschattet wurden, waren mit angespannter Entschlossenheit auf sie gerichtet. Er saß da und sagte gar nichts. Aber ihre Blicke berührten sich und innerhalb einer Sekunde war alles beredet und abgeschlossen. Er berührte seinen breiten, ledernen Gürtel und richtete sich auf wie jemand, der sich zum Gehen anschickte. Innerhalb dieser einen Sekunde war Fela verloren. Ihr ganzer Gesichtsausdruck verriet, dass sie Angst hatte, er würde tatsächlich gehen. Das genau hatte er gewollt. Danach konnte er selbstbewusst seine Beine übereinanderschlagen und die Steifheit seiner Pose lockern.

Englard, dem das Geschehen völlig entging, warf immer noch Reden in den Raum, obwohl sie schon lange nicht mehr nötig waren. Er wusste selbst nicht, wie lange er so geredet und sich ereifert hatte, während neben ihm ein stummer, ausführlicher Dialog mit Augen und leichten Körperbewegungen geführt wurde. Und als er es begriff, blieb ihm inmitten der aufgeheizten Luft das wiederholte »Szanowana pani«5 im Hals stecken. Also verstummte er.

Erst dann erhob sich der andere. Seine mächtige statuenhafte Figur warf ihren Schatten über alle Wände, machte den kleingewordenen Raum eng und gemahnte daran, dass Riesen sich vor keiner Nacht und vor keiner Frau ängstigten. Seine Stimme klang fest, sicher und gebieterisch: Die Kommandantin sollte wissen, dass sie nicht erst gestern Polizisten geworden sind. Sie wissen auch, mit wem man reden muss und wie. Die Sprache der Befehlshaber haben auch andere geschafft zu lernen, und wie man eine Tür öffnet, muss man auch niemandem beibringen. Er will einfach Folgendes sagen: Man braucht es nicht! Soll besser alles hier bleiben, wie es war. Die neuen Menschen sind an ihre Polizei gewöhnt. Und im Allgemeinen ist es besser, man bleibt unter sich. Was gibt es noch zu reden?

Was geschah in jenem Moment mit Fela? Einer der beiden Anwesenden stand überrascht und erschrocken da und wusste nicht, was als Erstes zu tun. Er merkte plötzlich, dass seine ganze Beredsamkeit und alle seine klugen Einfälle gegenüber einem vollen, energischen Gesicht und fest geformten Schultern hier gar keinen Wert besaßen. Das verwirrte ihn derart, dass er seinen Polizeihut in den Händen knetete, bis der glänzende Schirm zerbrach. Er fühlte sich überflüssig, klein und unbedeutend und wischte sich fortwährend die Schweißtropfen von der hohen Stirn.

Dagegen fühlte sich der Zweite noch sicherer. Er reckte sich, rückte näher an sie heran und schaute aus seiner Höhe auf sie herab: Wie geht es weiter? Wann werden wir eine Antwort bekommen? Ich habe es eilig, weil ich noch in Erfahrung bringen muss, wohin meine Frau zugeteilt worden ist. Sie ist heute fort in die Fabrik.

Er schaffte es sogar, Felas Zittern zu bemerken, als er so gelassen und gedehnt die Wörter »meine Frau« ausgesprochen hatte. Ihr Blick wurde zornig und benebelt und sie wand sich, wurde kleiner.

Eine bessere Antwort brauchte er nicht.

V

Am nächsten Morgen wurde Werk C überrascht. Wie jedes Mal stürmte die Polizei in die Baracken und begann, die Schlafenden zu treiben und von den harten Lagerstätten zu ziehen. Dieses Mal aber kamen sie mit besonderem Zorn herein, als wollten sie hier einen besonderen Sieg feiern.

Die schlafenden Werk-C-niks spürten im ersten Moment nicht, wer so an ihnen zerrte und wessen Hände den Schlaf mit Stecken aus ihren Körpern schüttelte. Erst als sie mit Gewalt die Augen aufrissen, erkannten sie: Ein ganzer Trupp fremder Gesichter, mit blauen Hüten obenauf, waren wie ein Sturm in die Baracken eingefallen, schlugen auf Köpfe, Arme und Beine ein und dabei brüllten sie regelrecht vor Glück: Ihr habt gemeint, dass wir hier bei euch unsere Lungen ausspucken. Wir werden es euch zeigen! Wir werden euch erst mal Respekt beibringen.

Und plötzlich erkannte man, dass eine neue herrschende Macht im Lager dazugekommen war. Auch ein Teil der alten Polizisten war überrascht. Die blaue Truppe hatte sich für den frühmorgendlichen finsteren Lauf unter sie gemischt und sie konnten es kaum glauben: Die »Blauen« sind schon im Dienst! Sie laufen schon, treiben an und schimpfen noch frecher und strenger als die anderen! Wann ist das passiert? Und wie?

Viel Zeit zum Nachdenken hatten sie nicht. An Gehorsam gewohnt verdauten sie auch dies schnell, zitterten kurz um den eigenen Polizeiknüppel und mischten sich dann schnell unter die neue Gruppe der freudig Triumphierenden. So musste es wohl sein!

Sobald die Tagschicht fort war, hinaus zum Sammelplatz, versammelten sie sich in einer abseits gelegenen Baracke und tranken Brüderschaft. Später zeigte sich, dass die Neuen schon ihre Leute bei der Torwache und an den Zäunen hatten. Wajzenberg und der frühere Polizeikommandant Feldman liefen verwirrt umher, und Feldman, beim Zwirbeln seines großen Schnurrbartes, raunte jedem seiner Freunde etwas ins Ohr.

Aber auch auf dieses Geheimnis musste Werk C nicht lange warten.

Am Abend, als die zweite Schicht sich auf dem Sammelplatz einfinden musste, erschien ein großer, kräftiger Mann mit scharfem Blick. Auf seinem Kopf glänzte ein neuer Polizeihut mit den drei Sternen eines Kommandanten. Er ging energisch und sicher bis zum Tor. Sein Polizeianzug war hell und saß gut und die glänzenden Knöpfe funkelten schon von weitem. Seine kratzende starke Stimme beherrschte bald den ganzen Platz. Auf der anderen Seite erschien Wajzenberg. Auch er begann, der Polizei Kommandos zu geben, befahl, die Menschen anzutreiben, und schrie mit übertriebener Strenge. In einem Augenblick war für alle klar, dass der neue, wie gemeißelt wirkende Mann der Stärkere und Selbstsicherere war.

Wajzenberg erteilte schon jetzt seine Befehle wie unter einem inneren Zwang und es war erkennbar, dass er damit etwas überschreien und überdecken wollte. Der frische gesunde Mann dagegen kommandierte mit einem ruhigen Ton, dem alle, ohne auch nur nachzudenken, gehorchten. Aus einer seitlichen Ecke tauchte die Kommandantin Fela auf. Sie trug ein blaues, dünnes Kleid und eine besonders hergerichtete Frisur. Sie hatte sich, wie es schien, für diesen heutigen Abend sehr herausgeputzt und vorbereitet. Jedes kleine Detail strahlte und strich deutlich die Kokettierende heraus. Es war das erste Mal, dass Werk C sie nicht in ihrer Kommandantengestalt sah, sondern als normale Frau.

Sie trug jetzt nicht die lange Peitsche mit der dünn auslaufenden Spitze. Sie sagte auch nichts und schrie nicht. Ihre strahlend grünen Augen musterten nur alle milde und ironisch. Vor aller Augen ging sie zu dem großen, fremden Kommandanten, steckte ihren fülligen nackten Arm unter seinen, blieb so stehen und warf mit einer unbewusst vergnügten Bewegung des Kopfes ihr offenes Haar nach hinten. Und als er einen weiteren Schritt machte, folgte sie ihm mit verloren trunkenen Schritten.

Die Gruppen stellten sich derweil gemäß ihren Hallen auf. Die Männerreihen standen still und schweigend. Hinter ihnen standen die Frauenabteilungen und flüsterten leise unter sich. Das Erscheinen des neuen Kommandanten ließ sie verstummen. Er trug jetzt einen breiten ledernen Gürtel wie ein hoher Offizier. Sein heller glatter Haarschopf spielte im Wind und einzelne Haarlocken tanzten ausgelassen auf seiner glatten, gesprenkelten Stirn. Seine großen gelblichen Augen strahlten jetzt etwas Befehlendes und Durchdringendes aus. Zweitausend Paar Mädchenaugen musterten ihn voller Eifersucht, Schreck und Neugier. Er sagte laut etwas und suchte dann jemanden mit seinem Blick zwischen den Reihen. Fela, die sich noch immer an seinen Arm klammerte, zog seinen Kopf zu sich heran und sagte etwas in sein blondbehaartes Ohr. Er setzte ein künstliches breites Lächeln auf und Felas grün blitzende Augen wanderten mit einem giftigen Lachen über die Frauenreihen.

Jemand gab laut ein Kommando: Marsch!

Die Reihen begannen wie abgerissene Stücke einer Schlange am Tor vorbeizuziehen. Der neue Kommandant streckte seinen wohlgeformten Körper. Neben ihm flatterte eine Frau in einem dünnen blauen Kleid. Er richtete aber den Blick auf einen Punkt in der Mitte des letzten Frauenabschnitts. Dort war die Reihe irgendwie nicht ausgerichtet und wankte zu allen Seiten. Er schrie aber nicht deswegen. Er schaute nur kühl und angestrengt dorthin.

In jener Frauenreihe schälte sich eine kleine Gruppe heraus, bildete einen Kreis und etliche Mädchenhände streckten sich zu einer bleichen Frauengestalt. Die junge schöne Frau dort wollte sich aufrecht halten, doch wankte sie und drohte zu fallen, sie klammerte sich an die Hände einer Nachbarin, einer zweiten.

Der neue Kommandant riss sich los, wollte näher hingehen. Aber eine feste Hand hielt ihn zurück. Er richtete seinen unverwandten Blick dorthin, seine Augen blitzten rot, loderten, wurden kleiner und zogen sich zurück.

Die Reihen eilten voran. Auch jene Reihe von Frauen richtete sich schnell aus, wurde wieder gerade. Die junge schöne Frau stand eingequetscht zwischen einigen Mädchenkörpern und ließ sich handlungsunfähig mitziehen. Ihr schwacher Schrei, der sich in die Höhe zog und versuchte, sehr weit vorzudringen, erstarb in der Luft.

Einige Neugierige aus der Gruppe reckten ihre Köpfe und trafen auf zwei stechende Augenpaare: von Fela und dem neuen Kommandanten. Schnell zogen alle ihre Köpfe wieder ein und ließen bis zum Hinausgehen die Augen auf das Tor gerichtet.

Eine grundlose Trauer legte sich auf alle, obwohl niemand sicher wusste, was hier geschehen war. Nur aus einer Reihe sehr weit hinten wisperte eine einer zweiten ins Ohr. Das Gemurmel setzte sich unhörbar fort und verbreitete sich bis in alle Winkel: Die Frau des neuen Kommandanten. Sie ist ohnmächtig geworden in der Reihe. Man hat sie kaum wegführen können.

Niemand brachte mehr ein Wort heraus. Im Hof blieb eine leere Stille zurück. Lediglich zwei Gestalten, hingestellt wie Statuen, waren für eine Weile wie erstarrt. Seine Augen offenbarten unter der ganzen Härte einen feuchten Glanz, den er mit der geringsten Berührung aufzurühren fürchtete. Angeklammert an ihn stand Fela. Ihre Augen strahlten jetzt eine verführerische Fröhlichkeit aus. Auch sie rührte sich nicht vom Fleck, bis der Staub der Abmarschierenden in Richtung der Fabrik sich gesetzt hatte. Dann zog sie energisch an ihm: Komm!

Und beide gingen in Richtung ihrer Kammer fort.

Kapitel drei

I