Schnitter, Gevatter und Sensenmann - Christian von Aster - E-Book

Schnitter, Gevatter und Sensenmann E-Book

Christian von Aster

0,0

Beschreibung

Wenn man diesen Erzählband aufschlägt, um sich dem Tod mithilfe von Christian von Asters Erzählungen anzunähern, spürt man schnell, wie sich der Herr Autor mit jeder Geschichte auf einen neuen Tanz einlässt, um ihren Rhythmus, ihren Herzschlag zu erspüren und dem Thema in jeder von ihnen einen neuen Raum zu eröffnen. Am Ende stehen fünfzehn Texte, die, mal von der Tätigkeit des Autoren als Trauerredner, mal von der als Satiriker geprägt, zwischen Zärtlichkeit, Poesie, schwarzem Humor und dem Unaussprechlichen immer in Zwiesprache mit der mystisch morbiden Symbol- und Formensprache der Illustrationen treten, die Maximiliane Spieß eigens für diese Sammlung erstellt hat. Und so ist dieses Buch am Ende nicht weniger als ein ebenso vielseitiger wie vergnüglicher Spaziergang mit dem Tod…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 136

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christian von Aster

 

Schnitter, Gevatter und Sensenmann

 

 

 

Impressum

 

1. Auflage: 1. März 2024

© Edition Outbird, Gera

www.edition-outbird.de

 

Covergrafik + Illustrationen: Maximiliane Spieß

Covergestaltung: Christian von Aster

Lektorat: Hannah Rafalski, Merri Holste, Tristan Rosenkranz

Buchsatz: Danilo Schreiter, Telescope Verlag

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

VORWORT

Es überrascht und ehrt mich in gleichem Maße sehr, dass der Autor ausgerechnet mich auserkoren hat, das Vorwort zu diesem Buch mit seinen Geschichten über den Tod zu verfassen.

Derart überrumpelt weiß ich zunächst einmal nicht, wo ich anfangen soll – nun, vielleicht am besten am Anfang.

 

Vor Jahren fand ich, vor dem Regal einer Buchhandlung am Hauptbahnhof Hannover stehend, Magazine aus allen erdenklichen Bereichen des Lebens: Von Musik über Ernährung bis Garten und Gesundheit und so weiter. Ein Magazin über den Tod, den wir doch alle eines Tages erfahren werden, suchte ich vergeblich.

Um die Idee eines solchen Magazins zu diskutieren, scharte ich, was getrost als Geburtsstunde des Magazins für Endlichkeitskultur, DRUNTER & DRÜBER, betrachtet werden kann, einige wenige Gefährten um mich. Und im Herbst 2015 schließlich erschien das erste Heft, eine Art Testballon, in dem wir Menschen vom Bestatter bis zur Medizinerin zu Wort kommen ließen, die tagtäglich mit dem Tod in Berührung kommen.

Das war in dieser Form ebenso neu wie informativ und kam bei einer kleinen, aber feinen Leserschaft sehr gut an.

Weshalb wir uns auch entschieden, das Projekt weiter zu verfolgen. Die zweite Ausgabe der DuD, wie wir unser Kind fortan liebevoll nannten, war bereits doppelt so dick. Und nun wollten wir unseren Lesern nicht nur Informationen zukommen lassen, sondern auch unterhalten. An dieser Stelle wurde mir von einer guten Freundin Christian von Aster empfohlen. Den Namen hatte ich schon mal gehört. Das war doch der, der beim WGT in Leipzig den Grufties Schauergeschichten vorlas?! Ob der zu meinem Herzensprojekt passte? Ich war skeptisch.

 

Im Dezember 2015 lud ich eine illustre Gesellschaft um Luci van Org und Axel Hildebrand zu einem Frühstück, um gemeinsam künftige Projekte rund um den Tod zu besprechen. Passenderweise trafen wir uns an meinem Arbeitsplatz, einem Krematorium in Sachsen-Anhalt.

An diesem Vormittag lernte ich Christian von Aster kennen. Dieser große, wuchtige Mann mit Glatze und Bart, dessen Augen permanent zu funkeln scheinen, war mir gleich sympathisch – nicht zuletzt wegen seines unbändigen Appetits, den er offenbar gleichsam für Leben, Literatur und Frühstück hegt.

Von der Idee eines werbefreien Magazins über den Tod war er sehr angetan und mehr als bereit, seinen Teil dazu beizutragen.

So erschien in der zweiten Ausgabe der DRUNTER & DRÜBER im Frühjahr 2016 zunächst das chinesische Märchen „Die Nacht, als der Tod Herrn Neng besuchte“, das von Aster einige Jahre zuvor verfasst hatte. Ich war von der Geschichte begeistert, und bin es auch heute noch. Weil sie sich, ganz nach der Idee unseres Magazins, ernst, aber mit einer gewissen Leichtigkeit dem Thema Tod & Sterben widmet.

Möglicherweise war es mein ausgiebiges Lob, das dem offenbar nicht bloß Schauergeschichten verfassenden Autor das Versprechen abnötigte, fortan für die DRUNTER & DRÜBER nicht mehr nur auf seinen Fundus zurückzugreifen, sondern für das Magazin eine das jeweilige Titelthema aufgreifende Geschichte verfassen. Und diesem Arrangement ist es zu verdanken, dass im Lauf der letzten Jahre, während der Autor auch als Trauerredner zu arbeiten begann, so wundervolle Geschöpfe wie Herr Raabe, der während eines routinemäßigen Krankenhausaufenthalts eine unverhoffte Bekanntschaft macht (DuD #3), Herr Möller, der für eine gelungene Trauerrede zu rabiaten Mitteln greift („Der letzte Eindruck“, DuD #7), oder die Reinigungskraft Reinhild, die die einmalige Chance, ihr Leben zu ändern, beim Schopfe packt („Omega“, DuD #10), das Licht der literarischen Welt erblickten.

 

Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden mit dem vorliegenden Werk nun, während der Autor Ihnen in seiner Wandelbarkeit verschiedene Facetten des Todesthemas – von der (naturgemäß) traurigen über die nachdenkliche bis hin zur heiter-beschwingten – eröffnet, ebenfalls in den Genuss kommen, die genannten Personen, und mit ihnen noch einige mehr, kennen und womöglich auch lieben zu lernen.

 

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre.

 

Frank Pasic,

im November 2023

VON BÜCHERN, AUF DENEN KATZEN LIEGEN

 

Der Umgang mit Büchern ist eine sehr intime Angelegenheit.

Das lernte ich schon in jungen Jahren, als ich mit einem überschaubaren Maß an Engagement mein Abitur zu machen versuchte. Ich las damals so wenig wie möglich und schummelte mich durch meine letzten Jahre an der Schule. Mit Hilfe von Zusammenfassungen, gezielter Befragung von Mitschülern oder kühnem Querlesen. Mit Hilfe von Frau Bartelt, die, als ich zur Schule ging, vermutlich bereits um die siebzig war und jedes jemals geschriebene Buch gelesen zu haben schien.

Sie hockte in der Büchertruhe, einer kleinen, holzgetäfelten Buchhandlung voller Bücherstapel und Regale, in denen sich aktuelle Titel mit antiquarischen, Belletristik mit Lyrik und Obskures mit Profanem mischte.

Wann auch immer wer auch immer den Laden betrat, blätterte die kleine alte Frau hinter ihrem Tresen in irgendeinem Buch. Bezahlen oder Fragen stellen konnte man erst, wenn sie ihren aktuellen Absatz beendet hatte. Was nicht weiter schlimm war, weil man sich unterdessen mit Maurizio vergnügen konnte. Maurizio di Mauro, einem zwischen den Regalen lebenden schwarzen Kater, der ersten Ladenkatze, die mir jemals begegnet ist. Und die erste vergisst man nicht.

Frau Bartelt hatte ihn nach einer Figur aus Michael Endes Wunschpunsch benannt. Auch eines der Bücher, die ich niemals vergessen werde. Weil sie es mich im Gegenzug dafür lesen ließ, dass sie mir den Faust, den Prozess und die Buddenbrooks prägnant genug zusammenfasste, dass ich mein Abitur schaffte, ohne mich unnötig damit aufzuhalten. Wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Ebenso wie für Michael Ende. Dieser kleinen alten Frau, die weder Kinder noch Freunde, und zeitlebens nur ihren Kater und jene Bücher hatte, die sie sich mitunter sogar zu verkaufen weigerte. Was nur möglich war, weil sie früher einmal eine Erbschaft gemacht und sich mit ihrem kleinen Buchladen einen Traum erfüllt hatte.

Inzwischen ist viel geschehen.

Das Abitur habe ich geschafft, das Studium abgebrochen, die Buddenbrooks noch immer nicht gelesen und inzwischen eine ganze Reihe Ladenkatzen kennengelernt. Unter anderem Maurizio II und III. Weil Frau Bartelt sich weder umgewöhnen noch auf ihn verzichten wollte. Das Wichtigste, was sich im Lauf der Zeit verändert hat, ist, dass ich inzwischen selbst Bücher schreibe, die zwischenzeitig irgendwo in jenen Stapeln ruhten, deren Ordnung niemandem außer Frau Bartelt und dem jeweiligen Maurizio bekannt war.

Ich bin viel unterwegs. Bücher, die mich interessieren, kaufe ich – auch wenn ich nicht viele davon lese – hauptsächlich in fünf über das ganze Land verteilten Buchhandlungen, in denen ich entweder mit dem Besitzer per Du bin oder zumindest irgendeinen Abteilungsleiter kenne. Diese Leute wissen um meine Vorlieben und ich vertraue ihren Empfehlungen. Auch wenn der ein oder andere das bisweilen ausnutzt. Etwa, wenn ich in seinem Laden eine Lesung halte, er mir anstelle der Gage Bücher anbietet und ich am Ende draufzahlen muss. Ich gebe zu, das ist eine Schwäche von mir: mich zu schnell für zu vieles begeistern zu lassen.

Und alles, wofür man sich begeistern kann, findet sich in irgendeinem Buch. Natürlich auch im Internet. Das ich aber nie durch eine verzogene Tür betrat, um mich, während ich einem Kater auf dem Schoß hatte, von einer kleinen älteren Dame im Schein einer defekten Deckenbeleuchtung bei einer Tasse Tee über die großen literarischen Musen des 20. Jahrhunderts aufklären zu lassen.

Ich weiß nicht, was ohne diese kleine Buchhandlung aus mir geworden wäre.

Diesen Ort, an dem mir Ehrfurcht vor der Literatur genommen und Respekt vor ihr beigebracht wurde. Wo ich Emily Dickinson, Edward Gorey, Roger Willemsen und Mascha Kaléko kennenlernen durfte, und wo ich, wenn ich während der letzten Jahre mal in der alten Heimat vorbeischaute, schicksalshörig jedes Mal exakt das Buch kaufte, auf dem Maurizio III. sich räkelte, wenn ich den Laden betrat.

Wobei diese, auf dem Geschmack eines Katers basierende Auswahl mir im Nachhinein übrigens schlüssiger scheint als manche Bestsellerliste.

Warum schreibe ich hier über all diese Dinge?

Gewiss nicht, um meine kläglichen Lesegewohnheiten öffentlich zu machen.

Oder irgendjemandem etwas über Literatur zu erzählen. Dafür hätte ich vermutlich doch fertig studieren müssen.

Ich tue es, weil Almuth Bartelt vor vier Tagen gestorben ist.

Mit 94 Jahren. Nachdem sie bis zum Ende jeden Morgen ihren Laden aufgeschlossen und keinen der bei ihr ein- und ausgehenden Auszubildenden jemals in ihr Ordnungssystem eingeweiht hatte.

Die hatten sich unter anderem um den Newsletter der Büchertruhe gekümmert, da Frau Bartelt irgendwann einmal um das Jahr 2006 exakt zwei YouTube-Clips betrachtet und beschlossen hatte, mit dem Internet nichts mehr zu tun haben zu wollen.

 

Für gewöhnlich stand zu Beginn des Newsletters Maurizios Buch des Monats. Titel, die in der Regel mindestens fünfzig Jahre alt und nie in irgendeiner Bestsellerliste aufgetaucht waren. Ich gebe zu, ich habe keines dieser Bücher gelesen. Aber jedes einzelne gekauft. Um zumindest eine Ahnung der Verbindung zu jenem Ort aufrechtzuerhalten, an dem ich so vieles gelernt und wo sich so vieles für mich entschieden hatte.

Gestern stand am Anfang des Newsletters eine Todesanzeige.

Ich habe sofort im Laden angerufen und gefragt, ob sich jemand um Maurizio kümmert.

 

All das schreibe ich im Zug zurück nach Hause.

Die Beerdigung war heute. Ich weiß nicht, welche Termine ich verpasst habe. Mein Telefon ist seit gestern ausgeschaltet. Weil ich Wichtigeres zu tun hatte und Abschied von jener Frau nehmen wollte, die mir näher als meine Mutter und eine bessere Lehrerin als alle anderen gewesen war. Eine lebende Bibliothek, mit jenem unglaublichen Gesicht, in dessen Falten sich Buchstaben verbargen, die stets, wenn sie lachte, herausgefallen waren und sich zu Worten geformt hatten.

Ich wusste, was ich ihr schuldig war. Selbst wenn ich womöglich der einzige Trauernde an ihrem Grab sein würde.

Ich wollte da sein. Und ihr etwas mit auf den Weg geben.

Es hat etwas gedauert, aber schließlich habe ich ihn gefunden. Den Wunschpunsch. Eines der wenigen wirklich zerlesenen Bücher in meinem Regal. Ich hatte es mitgenommen, um es auf das Grab jener kleinen alten einsamen Frau zu legen.

Dachte ich.

Die Bahn hat sich wie immer alle Mühe gegeben.

Nach einem ausgefallenen Zug, zwei Stellwerksschäden und einem Polizeieinsatz am Gleis war die Beerdigung, als ich am Friedhof ankam, längst vorüber. Ich kam zu spät. Aber doch rechtzeitig, um jene letzte Lehre zu bekommen, die Frau Bartelt für mich bereithielt.

Mit dem Buch in der Hand schlenderte ich über den Friedhof.

Ich musste nicht lange suchen, um das Grab zu finden – und habe selten so gestaunt wie in dem Moment, in dem ich es erblickte. Es war der Grabstein, an dem ich es erkannte. Obgleich der nicht einmal mehr zu sehen war. Der Bücher wegen, die um ihn herum standen. Dutzende. Mehr als hundert womöglich. So viele jedenfalls, dass ich bei ihrem Anblick ungläubig den Kopf schüttelte und dabei begriff, wie viele Leben diese kleine alte Frau mit den Worten im Gesicht tatsächlich geprägt und verändert hatte.

Eine gute Stunde lang stand ich dort und betrachtete jene Bücher, von denen ich keines zwei Mal fand. Als ob jeder Mensch, der jemals in ihren Laden gekommen war, sein eigenes Buch bekommen hatte. Von ihr, Almuth Bartelt, die jedes Buch, das jemals geschrieben worden war, gelesen zu haben schien.

 

 

Die Rückfahrt verläuft, der Bahn zum Trotz, bis jetzt ohne Zwischenfälle.

Das Bild ihres Grabes geht mir nicht aus dem Kopf.

In der Katzenbox neben mir schläft Maurizio III.

Und diesen alten schwarzen Kater betrachtend, merke ich, dass er wirklich beinahe exakt wie der aussieht, der vor mehr als zwanzig Jahren auf meinem Wunschpunsch geschlafen hat. Und der auch schon dieses brüchige lederne Halsband trug, auf dem die Worte Ursaqs, eines alten persischen Dichters stehen, die mich das, was ich heute begriffen habe, schon viel früher hätten ahnen lassen können:

 

„Jedes Buch ein Schlüssel,

in jedem Menschen eine Tür.“

 

Ich denke, ich werde anfangen, Menschen Bücher zu empfehlen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

SONNE & MEHR

 

Der Name war natürlich nicht besonders originell.

Aber als Almuth Dornholdt ihren Laden eröffnet hatte, war so etwas wie Originalität dem Erfolg eher hinderlich gewesen. Derlei hatte die Leute seinerzeit eher irritiert. Inzwischen kam es nicht mehr auf den Namen an, wenn man mit einem Reisebüro keinen Erfolg haben wollte. Dafür reichte das Internet. Dieser Tage hätte Almuth ihren Laden vermutlich gar nicht erst eröffnet, das Geld stattdessen in irgendeine Kryptowährung investiert und wäre es am Ende eben auf diese Weise losgeworden. Wenn es darum ging, Ersparnisse zu verlieren, waren die Möglichkeiten im 21. Jahrhundert geradezu berauschend, und in den seltensten Fällen brauchte man dafür dreißig Jahre.

Seufzend blickte sie zu den elend anmutenden Plastikbuchstaben empor. Wann immer es etwas besser gelaufen war, hatte sie den Schriftzug nach und nach erneuert. Mit dieser Strategie war sie vor Jahren zumindest bis zum O gekommen.

Während sie ihren Laden aufschloss, warf Almuth einen beiläufigen Blick auf die ausgeblichene Auslage und fragte sich, wie lange sie die Schaufensterdekoration schon nicht mehr gewechselt hatte. Was freilich nur dann eine Rolle gespielt hätte, wenn jemand sie auch gesehen hätte. Dafür war ihr kleiner Laden allerdings etwas zu seitenstraßig gelegen. Eigentlich hätte sie sich längst mitsamt ihres Reisebüros ins Internet zurückgezogen, wären da nicht die Schulden gewesen. Monat für Monat jonglierte Almuth mit dem bisschen Geld, das noch über Butterfahrten, Firmenausflüge und alternde Stammkundschaft reinkam, bezahlte mal die Bank, mal ihre Freunde und spielte dazwischen immer wieder mit dem Gedanken, einfach die Hand zu heben, statt weiter auf das nächste goldene Tourismuszeitalter zu warten.

Als sie die Tür aufschob und das halbdezente Aloha He der elektronischen Ladenglocke ertönte, verdrehte sie die Augen. Auch das hatte sie schon mehrfach zu ändern versäumt. Südsee ging lange schon nicht mehr. Ihren letzten Hawaiitrip hatte sie vor gut zehn Jahren verkauft, und am Ende hatte der Kunde den Reiseveranstalter verklagt, sodass das Ganze auch noch ein gerichtliches Nachspiel gehabt hatte.

Nachdem sie die Post vom Boden aufgehoben hatte, warf Almuth ihre Handtasche auf den Schreibtisch und rückte ein halbes Dutzend Katalogstapel gerade. Dann schaltete sie, nachdem sie die kleine Christopherus-Statue abgestaubt hatte, die Kaffeemaschine ein. Womit sie den größten Teil ihres Arbeitspensums erledigt glaubte. Erfahrungsgemäß unterschieden sich die Tage im Laden lediglich in Bezug auf die Menge des konsumierten Kaffees und die Absender der Mahnungen. Die heute eingegangenen würde Almuth dem Reißwolf zu ihrer Karibik-III-Playlist überantworten. Im Lauf der Jahre hatte sie schon einiges an Musik ausprobiert, aber nichts reichte an die leichte Beschwingtheit des Calypso heran, der eine geradezu beherzte Aktenvernichtung mit Hüftschwung erlaubte.

Wenig später saß Almuth Dornholdt mit ihrer ersten Tasse Kaffee gelangweilt auf einem von drei mintgrünen Stühlen vor ihrem Monitor. Sie dachte gerade darüber nach, aus lauter Langeweile ein paar Phishing-Mails anzuklicken, als sie beiläufig den Blick hob und erschrocken zusammenfuhr. Vor ihr, auf der anderen Seite des Tisches, stand, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht, ein kleiner, bleicher, alter Mann.

Irritiert warf Almuth einen Blick auf die Ladenglocke. Sie hatte sie nicht gehört. Ob die Batterien…?

„Guten Tag“, sagte der Fremde, setzte erst seinen kleinen schwarzen Hut ab, dann sich auf den zweiten abgewetzten Stuhl, und blickte sie schließlich eindringlich an.

Almuth runzelte die Stirn. Seine Stimme klang sonderbar. Nicht etwa, als ob er in all den Jahren – und er sah tatsächlich aus, als wäre er schon sehr lange sehr alt – zu viel getrunken oder geraucht hätte, sondern vielmehr, als ob er seine Stimme nur selten gebraucht hätte. Ein merkwürdiger Gedanke.

Statt sich mit diesem aufzuhalten, legte Almuth ihr kundenorientiertestes Lächeln auf und sagte in der stillen Hoffnung, ihrem Gegenüber eine Weltreise ans Bein binden zu können: „Einen wunderschönen guten Tag. Sagen Sie, was genau kann ich für Sie tun? Wofür interessieren Sie sich?“

Der kahlköpfige kleine Mann blickte sie aus starren Augen an. Mühsam kämpften sich seine Mundwinkel unabhängig voneinander Millimeter um Millimeter empor. Offenbar versuchte er zu lächeln, schien aber auch diesbezüglich eigentümlich ungeübt. Das Ergebnis war jedenfalls derart befremdlich, dass Almuth ihm nicht länger ins Gesicht sehen konnte. Stattdessen versuchte sie, einen näheren Blick auf seine Kleidung werfend, den potenziellen Wert einer anstehenden sozialen Interaktion einzuschätzen. Dafür bekam man mit der Zeit einen Blick. Es half dabei, die eigenen Kräfte einzuteilen, damit man sich den Mund nicht versehentlich für eine Busfahrt ins Heimatmuseum von Hinterbummelsdorf fusselig redete.