Schockstarre - Friederike Schmöe - E-Book

Schockstarre E-Book

Friederike Schmöe

4,7

Beschreibung

Jahresbeginn 2005: Privatdetektivin Katinka Palfy ist vom Pech verfolgt. Erst wird sie Opfer eines Anschlags, dann verschwindet ihre Beretta, um kurz darauf wieder aufzutauchen: als Mordwaffe in einem Fall ohne Beweise, dafür mit umso mehr Motiven. Katinka folgt der Spur in das mittelalterliche Städtchen Coburg, wo sie sich sehr zum Missfallen der dortigen Polizei in die Ermittlungen einklinkt. Diese führen sie zur Arbeitsstelle des Toten, einer Werbeagentur. Als die Detektivin erkennt, dass seelische Abgründe hinter scheinbarem Glück und beruflichem Erfolg klaffen, wird der Burghof der trutzigen Veste Coburg zur tödlichen Falle.

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Friederike Schmöe

Schockstarre

Katinka Palfys fünfter Fall

Impressum

Alle Handlungen und Charaktere in diesem Kriminalroman sind Geschenke der Fantasie und frei erfunden. Sollte es überraschenderweise Übereinstimmungen mit Handlungen und Personen des wirklichen Lebens geben, so sind diese zufällig und unbeabsichtigt zustande gekommen.

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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

>unter Verwendung eines Fotos von: © Marco Barnebeck / PIXELIO

ISBN 978-3-8392-3306-1

Zitat

I want to know God’s thoughts.The rest are details.

Ich will Gottes Gedanken kennen. Alles andere ist Kleinkram.

Albert Einstein

Widmung

Gewidmet den Freunden des Mittwochs

1. Offene Rechnungen

Freitag, 7. 1. 2005, 17:01 Uhr

Katinka Palfy saß im Mantel an ihrem Schreibtisch, einen Becher Kaffee in den klammen Händen, und studierte angespannt die Ausdrucke ihrer aktuellen Einnahme-Überschuss-Rechnung. Mit dem Ellenbogen schob sie ein paar Blätter hin und her, löste widerwillig die rechte Hand von dem heißen Becher und fuhr mit dem Finger über die Ziffernreihen.

»Ich kapier das nicht«, murmelte sie und kuschelte sich tiefer in ihren Mantel.

Gerade vor einer halben Stunde hatte sie den Auftrag einer Versicherung abgeschlossen, erfolgreich, wie sie fand. Weniger würde sich allerdings der Simulant gefreut haben, der mit angeblich zu siebzig Prozent geschädigten Bandscheiben flugs zur Pensionierung durchschreiten wollte, sich aber nicht zu schade war, zwei bauchige Partyfässer in seinen Kombi zu laden. Sie hatte die Fotos gleich an die Versicherung weitergeschickt. Um ehrlich zu sein: Sie kam sich ein wenig schofel vor, die Lebenspläne eines Mittfünzigers durchkreuzt zu haben. Selbst für einen Versicherungsbetrüger konnte sie eine Prise Mitleid empfinden. Dennoch war die Versicherung als Kunde ein dicker Fisch, den sie in ihrem Netz zappeln wissen wollte. Lebenstraum hin oder her. In ein paar Tagen würde sie die Kohle der Versicherung auf ihrem Konto vorfinden. Ganz anders als die Summe, die sie in ihren Unterlagen suchte. Offene Rechnungen wurden allmählich zum Alltag.

Ärgerlich fuhr Katinka sich durch das kurze Strubbelhaar und griff nach ihrer Brille. Sie langte ins Leere.

Lächelnd sah sie auf, vergaß die Papiere und schickte genießerisch ihre Augen durch ihr Büro, so wie ein Wanderer nach dem Aufstieg vom Gipfel ins Tal schaut. Nicht, dass der kleine Raum in der Hasengasse 2a ein besonders apartes Büro gewesen wäre, im Gegenteil: Die Einrichtung stammte größtenteils vom Trödelmarkt. Zwei Besuchersessel, Regale mit Nachschlagewerken, Schreibtisch und Bürostuhl, ein IKEA-Kleiderständer, dazu ein noch jungfräulicher Terminplaner für 2005 an der Wand und ein Dalí-Poster. Katinkas Begeisterung galt vielmehr ihrem völlig neuen Sehgefühl. Zu ihrer großen Freude hatten ihre Augen sich umgehend an die lang ersehnten Kontaktlinsen gewöhnt, sie setzte sie mit Leichtigkeit morgens ein, nahm sie abends genauso einfach wieder heraus, und mittlerweile kam es ihr vor, als habe sie niemals ein Brillengestell auf der Nase gehabt. Ab und zu freilich verfolgten sie die stereotypen Bewegungen aus alten Zeiten: Brille abnehmen, zurechtrücken, am Pulli abwischen. So wie jetzt.

»Denkste«, sagte sie zu sich selbst, zog fröstelnd die Schultern hoch und wandte sich wieder ihren Unterlagen zu. Seit mehr als drei Monaten wartete sie auf eine Überweisung. Viertausend Euro Honorar für einen kniffligen Auftrag, bei dem sie sich einmal mehr Feinde gemacht hatte. Schließlich mochte es kein Außendienstler, wenn er dabei ertappt wurde, wie er für die Konkurrenz tätig war, ohne dass sein Arbeitgeber es wusste, und dabei auch noch eine fantastische Anzahl von Arbeitsstunden und Kilometern geltend machte. Nach seinem Rausschmiss war der Mann in der Detektei aufgekreuzt und hatte sich alle Mühe gegeben, Katinka zur Schnecke zu machen. Am liebsten hätte sie den viertausend noch eine Schmerzensgeldforderung in gleicher Höhe folgen lassen, doch nun wäre sie schon froh, überhaupt einen Zahlungseingang auf ihrem Konto vorzufinden. Sie hasste den Papierkram, sie hasste es, ihrem Geld hinterherzulaufen. Es wurde tatsächlich Zeit, dass sie ihre Rechnungen außer Haus gab. Energisch öffnete sie die Schreibtischschublade und fischte die Gelben Seiten heraus.

»Inkassobüros«, murmelte sie und ging die Spalten durch. »B … B wie Bamberg. Hier haben wir’s ja.«

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken.

»Ja?« Draußen war es mittlerweile vollkommen dunkel. Der Januarnachmittag hockte in der engen Gasse. Vorsicht, mahnte sie sich. Sie trug die Waffe immer bei sich und war obendrein schnell im Zielen. Ein Spleen. Klar. Aber sie dachte an den Außendienstmitarbeiter.

Jemand drückte die Tür auf und trat ein. Erleichtert ließ Katinka Luft ab und stand auf. Eine junge Frau, das kurze, blonde Haar nass vom Regen, gekleidet in einen dicken Daunenanorak, Jeans und Stiefel, sah sich unsicher um und fragte: »Sind Sie Frau Katinka Palfy?«

»Ja, die bin ich. Bitte«, Katinka drückte ihr die Hand und wies auf einen der Besuchersessel, »setzen Sie sich. Leider ist meine Heizung kaputt, und der Installateur lässt auf sich warten. Ich bitte Sie also lieber nicht, abzulegen.«

Ihre neue Klientin schüttelte den Kopf wie ein junger Hund und nickte wissend.

»Immer das gleiche mit den Handwerkern«, meinte sie, während die Wassertropfen spritzten, und setzte sich auf die vordere Kante des Besuchersessels. Eine seltsame Mischung aus Heiterkeit und Nervosität umspielte ihr Gesicht. Da huschte ein Lächeln vorbei, dann zuckte eine Augenbraue, sie fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Lippen und ließ den Blick hektisch durch den Raum eilen.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Katinka, schob ihre Buchhaltungspapiere zusammen und zog ein neues Notizblatt hervor.

»Ich …«, kam es zögernd, um sofort zu verstummen.

Erfahrungsgemäß war das der schwerste Moment im Kundengespräch. Die Klienten mussten sich erst warmlaufen. Sie erschienen Katinka oft wie stotternde alte Motoren, im Zaum gehalten von Hemmungen, Vorurteilen Privatdetektiven oder Frauen oder beidem in Kombination gegenüber. Oft jedoch war der Auftrag, den sie Katinka erteilen wollten, der Kern des Problems. Viele nahmen es als Eingeständnis eigener Unzulänglichkeit, wenn sie mit irgendetwas in ihrem Leben nicht klarkamen. Das war ungefähr so logisch, wie sich schuldig zu fühlen, wegen Migräne einen Arzt aufzusuchen, fand Katinka. Sie verließ sich auf ihre mittlerweile zweijährige Erfahrung im Geschäft. Bot einen Kaffee an oder entschuldigte sich für einen Moment, um in ihrem Nebenraum zu verschwinden und den Leuten Zeit zum Durchatmen zu geben. Manchmal genügten auch ein Augenzwinkern und ein einladendes Lächeln. So wie jetzt.

»Mein Mann …«, begann die junge Frau, »geht fremd. Glaube ich.«

Katinka schrieb geht fremd auf ihr Blatt.

»Das Problem ist … ich bin mir so unsicher. Wir haben doch erst geheiratet, im vergangenen September.«

Vorsicht, mahnte sich Katinka. Vorsicht mit der weiblichen Solidarität. Der Kerl ist vermutlich ein Saftsack, aber im Zweifelsfall für den Angeklagten.

»Ich bin schwanger. Zweiter Monat erst, naja.« Die junge Frau lächelte schüchtern. »Aber ich muss einfach wissen, was Henryk treibt, verstehen Sie?«

Es fiel Katinka schwer, neutral zu bleiben, als sie den Namen auf ihr Papier kritzelte und fragte: »Wieso nehmen Sie an, dass Ihr Mann fremdgeht?«

»Naja, er kommt abends spät, behauptet, er hätte noch in der Firma zu tun, geht aber nicht ans Telefon.«

»Wo arbeitet er?« Katinka schrieb Firma auf den Zettel.

Ihre neue Klientin wurde rot.

»Das … will ich lieber nicht sagen.«

Na gut, dachte Katinka.

»Gibt es sonst Anhaltspunkte? Warum sollte er fremdgehen, wenn er nicht erreichbar ist? Er könnte sich mit einem Kollegen treffen.«

Die andere zögerte.

»Das glaube ich nicht«, kam es schließlich.

»Warum nicht?«

»Wo sollte er ein Geschäftstreffen haben, wenn nicht in der Firma?«

»In einer Kneipe, in der Sauna, im Fitness-Studio«, schlug Katinka vor. »Männer reden überall über die Arbeit.«

Die junge Frau druckste ein wenig herum, bevor sie sagte: »Beschatten Sie ihn. Nur für einige Tage. Es geht mir einfach darum, Sicherheit zu haben. Verstehen Sie?«

Katinka lehnte sich zurück. Selbstverständlich verstand sie, was ihr da bevorstand. Etliche langweilige Stunden in Autos und an dunklen Hausecken. Hochklettern an Baugerüsten, um Einblick in fremde Schlafzimmer zu bekommen, wo zwei Leute Spaß hatten. Ein paar Fotos schießen und ein oder zwei Leben mächtig durcheinanderbringen.

»Haben Sie ein Foto von Ihrem Mann dabei?«

Katinka erwartete ein Hochzeitsfoto oder eine Porträtaufnahme. Stattdessen reichte die andere ihr ein verschwommenes Bild in Schwarz-weiß von einem Typen mit australischem Farmerhut, in dessen Schatten sein Gesicht beinahe völlig verschwand.

»Oje«, sagte Katinka. »Darauf erkenne ich aber nicht viel.«

»Morgen ist Samstag, da geht Henryk nach der Arbeit gerne in den Rio-Club, ein Bier trinken.«

»Samstags? Nach der Arbeit?«

Wieder färbten sich die Wangen der jungen Frau rot. Katinka runzelte die Stirn. Argwohn flirrte durch ihren Magen.

»Tja«, sagte ihre neue Klientin ungeduldig. »So ist das. Gegen 23 Uhr. Wenn Sie ihn da treffen …«

Katinka notierte Rio-Club.

»Machen Sie’s? Ich meine: Übernehmen Sie den Auftrag?«

Das schien alles dürftig. Zu dürftig.

»Ich brauche noch einige Informationen«, sagte Katinka. »Wie diskret soll es sein? Darf er mich sehen? Was, wenn er mich anspricht? Darf ich ihn ansprechen?«

»Lieber nicht! Mir genügt ein Beweis.« Die Frau fuhr sich durchs Haar. Müdigkeit und Erschöpfung schrieben Fältchen in ihr Gesicht.

»Es wird sicher nötig sein, ihm eine Weile an den Fersen zu bleiben. Ich nehme drei Tagessätze als Anzahlung.« Katinka griff nach ihren Visitenkärtchen in der oberen Schublade. »Hier ist meine Kontonummer …«

»Ich zahle gleich!«

Die hat es aber eilig, dachte Katinka, während sie die Scheine entgegennahm. Aber o.k. Nur Bares ist Wahres. Sie griff nach dem Quittungsblock.

»Für wen darf ich die Quittung ausstellen?«

»Ines. Ines Pawlowicz.«

»Und Ihre Adresse?«

»Ich … Ich …«, kam es stockend zurück.

»Eine Telefonnummer reicht fürs Erste auch.«

»Nein. Ich rufe Sie an«, sagte Ines Pawlowicz.

Sie nickte Katinka zu, erhob sich und verschwand in der Nacht.

Noch lange danach starrte Katinka mit zusammengekniffenen Lidern auf den Durchschlag im Quittungsblock.

2. Beschattung

Tom trug stolz die Küchenschürze mit der Aufschrift Raushalten! zur Schau. Vor sich hatte er einen Teller mit Fleisch, Räuchertofu, Bananen und Schalotten stehen.

»Na endlich!«, grüßte er in Richtung Tür.

»Was wird’n das?« Schnuppernd betrat Katinka die Küche und beäugte misstrauisch die Holzspieße in Toms Hand.

»Ein neues Opus Magnum.«

»Ach?« Sie kannte seine Kochkünste und wurde nie enttäuscht. Kulinarisch jedenfalls nicht.

»Wie lief dein Tag?«, fragte Tom und durchbohrte ein Fleischstück.

Genervt schlüpfte Katinka aus dem Mantel und warf ihn auf eine Stuhllehne, wo er einen Sekundenbruchteil hängen blieb und dann zu Boden rutschte. Der Kunstpelz ringelte sich über dem Wollstoff wie ein totes Wiesel. Sie kickte mit ihrem Fuß nach dem Haufen.

»Dem Krause schleife ich seinen knochigen Arsch«, schnaubte sie und mopste ein Bananenstück.

»Wer ist denn Krause?«

»Der Heizungsinstallateur. Dieser Suffkopf hat seinen Betrieb anscheinend wegen Reichtums geschlossen. Heute Morgen verspricht er mir noch hoch und heilig, vorbeizukommen und das Ding wieder zum Laufen zu bringen. Wer kommt nicht? Krause.«

»Typisch«, brummte Tom, »Handwerker versprechen dir alles und halten nichts.« Er presste mit Gewalt einen Holzspieß durch ein Stück Fleisch und zuckte zusammen.

»Hast du dich gestochen?«

Er machte eine fahrige Handbewegung.

»Diese Spieße sind ganz schön spitz. Egal. Wärm dich erst mal auf.«

»Und ob ich das tue.«

Wenn sie heute etwas brauchte, dann Wärme, und wenn es schon kein Saunagang sein sollte, dann wenigstens ein heißes Bad. Durchgefroren von einem langen Arbeitstag im ungeheizten Büro und diversen Businessgängen draußen in der Kälte stapfte Katinka aus der Küche und ließ sich die Wanne ein. Als Zusatz wählte sie Orangenessenz und tauchte dankbar in die Fluten. Während ihre Knochen allmählich auftauten, ging ihr Ines Pawlowicz’ Auftrag durch den Kopf. Die hat mich richtiggehend überrumpelt, überlegte Katinka, und massierte Shampoo in ihr Haar.

Seit sie als Detektivin arbeitete, schulte sie ihren Instinkt für Menschliches, Eigentümlichkeiten, die an den Leuten klebten wie abgestandene Gerüche. Hier miefte etwas, was das war, würde sie noch herausfinden. Katinka spülte den Schaum aus ihrem kurzen Haar und stieg aus der Wanne. Auftrag ist Auftrag, entsann sie sich ihrer beruflichen Maxime. Es hat Zeiten gegeben, in denen ich dankbar für eine Ines Pawlowicz gewesen wäre. Zeiten ohne Klienten und ohne Geld.

Sie stellte sich vor den Spiegel und betrachtete nachdenklich ihr Gesicht. Nichts Besonderes, fand sie. Zwei Augen, Nase, Mund. Kleine, hauchzarte Fältchen um die Augenlider, oft genug dunkle Ränder, weil sie schlecht schlief, wenn ein Fall auch nachts an ihr nagte. Es war nichts Besonderes, dass sie zu später Stunde rausmusste, um Leuten an den Fersen zu kleben. Das ewige Einerlei der Detektive. Sie seufzte, und nur für das eigene Wohlgefühl tupfte sie einige Stäubchen golden schimmernden Lidschatten auf, der ihre haselnussbraunen Augen zum Leuchten brachte.

Als sie beim Essen saßen, erzählte sie Tom von ihrer neuen Klientin.

»Sie hat sich geweigert, eine Telefonnummer oder Adresse anzugeben. Sonderbar, oder?«

»Mach dir keinen Kopf. Was kann schon passieren? Du folgst dem Typ in die Kneipe, und wenn irgendwas schräg läuft, steigst du einfach aus.«

»Sie hat mich schon bezahlt, Tom«, wandte Katinka ein, während sie an einem Stück Schalotte knabberte.

»Das«, befand Tom, »ist ihr Problem. Wenn sie dir ihre Adresse nicht geben will, muss sie selber zusehen, wie sie das Geld wiederkriegt.«

»Wieso steigere ich mich immer in einen Stress rein, der gar nicht meiner ist …«, murmelte Katinka, schläfrig geworden in der warmen Küche und von dem Wein, den Tom ihr aus dem Bocksbeutel servierte.

»Gut erkannt!«

»Aber deine Leichtigkeit ist ganz ungewohnt. Bist du nicht immer derjenige, der Bedenken anmeldet, sobald vermeintliche Gefahr im Verzug ist?«

Er grinste.

»Ich bin dein persönlicher Rottweiler.«

»Na, vielen Dank!«

Froh, dass sie sich diesmal nicht über Risiken im Job stritten, lehnte Katinka sich zurück. Tom hatte recht: Sie konnte jederzeit aus dem Fall aussteigen. Außerdem würde sie Pawlowicz nicht im einsamen Wald beschatten, sondern mitten auf Bambergs belebtester Kneipenmeile.

»Läuft das morgen Abend?«, fragte Tom. »Ich wollte sowieso mal wieder mit einigen von den Jungs ein Schafkopf-Wochenende veranstalten. Macht’s dir was aus, wenn wir gleich morgen loslegen?«

»Wollt ihr ins Sommerhaus fahren?«

Eine Erbschaft hatte ihr im vergangenen Sommer neben einem anständigen Batzen Geld und einem Beetle Cabrio ein Ferienhäuschen in der Fränkischen Schweiz zugespielt, ein voll eingerichtetes kleines Wohnhaus inklusive Heizung und warmem Wasser, im Winter ebenso zu bewohnen wie zu jeder anderen Jahreszeit. Tom spielte dort gern den Gastgeber, wenn seine drei Schafkopfkollegen mit Bierkästen auf den Schultern anrückten, um ein Wochenende lang zu zocken und zu zechen.

»Wenn es dir recht ist«, sagte Tom leichthin und küsste ihr Ohr. »Es ist schließlich dein Haus.«

Als sie im Bett lagen, Tom schlief schon fest, träumte Katinka die weiten Hügel und die Wälder der Fränkischen Schweiz herbei, stellte sich vor, wie Schnee bald all die Sanftheit zudecken würden. Schon beinahe über der Schwelle des Schlafes überlegte sie, ob sie die Beschattung schnell genug geregelt bekäme, um am Sonntag zu den Männern zu stoßen. Sie schlief ein und trieb durch ungewisse, graue Träume.

Samstag, 8. 1. 2005, 22 Uhr.

Tom fuhr am Samstagnachmittag in Richtung Fränkische Schweiz ab, Bier und Schafkopfkarten im Gepäck. Katinka seufzte, als sie die leere Wohnung rauschen hörte. Sie gönnte Tom das freie Wochenende. Er kaute noch an den Schicksalsschlägen des vergangenen Sommers. Seine Mutter Ella hatte einen Schlaganfall erlitten und sich nie wieder davon erholt, sodass sie für mehrere Monate in verschiedenen Rehabilitationseinrichtungen verbringen musste. Außerdem war durch dieses Drama eine finstere, bislang unter Verschluss gehaltene Seite in der Vergangenheit seiner Familie ans Licht gekommen: Ella, die der Gehirnschlag von einer Minute zur anderen in ein neues und beängstigendes Leben gestürzt hatte, war nicht Toms wirkliche Mutter. Sein Vater Bernhard hatte Tom während eines Seitensprungs gezeugt, als er schon mit seiner späteren Ehefrau verlobt war. Tom wurde wie eine Art Mitgift in die Ehe gebracht und von Ella großgezogen. Nie hatte er daran gezweifelt, dass sie seine Mutter war. Den Schock dieser plötzlichen Offenbarung konnte er noch immer nicht überwinden und hielt ihn wachsam verborgen. Kontakt zu seiner biologischen Mutter wollte er nicht aufzunehmen. Katinka hatte nach Wochen des Nachfragens und Drängens erkannt, dass Tom seine Zeit brauchte, um die veränderten Vorzeichen zu einem Teil seiner persönlichen Geschichte zu machen, und dass er selbst am besten wüsste, wann der ideale Zeitpunkt für eine Annäherung gekommen war.

Katinka seufzte. Wenigstens der Kater war dageblieben. Ausnahmsweise ließ Vishnu sich das rotgetigerte Fell streicheln, bevor er in seiner üblichen herablassenden Art davonstolzierte.

Um kurz vor 10 Uhr zog sie Skiunterwäsche an, einen warmen Pullover und dicke Winterstiefel, schnallte das Pistolenholster um, warf den Mantel über und schloss die Tür zweimal hinter sich ab. Winterliche Beschattungen waren nicht gerade das, worum sie sich riss. Das zunehmende Misstrauen im Privaten wie im Beruflichen bescherte ihr immer mehr Aufträge dieser Art. Katinka nahm, was kam. Manchmal lief es locker, der Auftrag war flugs ausgeführt, die Beweise eingesammelt. Leicht verdientes Geld. Es gab andere Gelegenheiten, bei denen sie sich die Nase abfror und später mit Schnupfen und Halsschmerzen im Bett lag. Blieb zu hoffen, dass der Gott der Detektive heute freundlich gesonnen war. Während sie auf ihrem Fahrrad Richtung Sandstraße fuhr, den Schal gegen den scharfen Wind über Mund und Nase gebunden, bemerkte sie, dass ein Wetterwechsel in der Luft lag. Zum Regnen war es zu kalt geworden, und schwere Wolken drückten auf die Dächer. Schneewolken, dachte Katinka und klingelte einen Fußgänger vom Radweg. Trotz der Handschuhe waren ihre Finger steifgefroren.

Sie überquerte die Untere Brücke und radelte dann ganz nach Gewohnheit gegen die Einbahnstraßenrichtung in die Dominikanerstraße, stellte ihr Rad an der Ecke zum Katzenberg ab und ging zu Fuß zum Rio-Club weiter. Sie warf einen kurzen Blick hinein. Pawlowicz war noch nicht da. Katinka lief die Sandstraße ein Stück hinunter und dann wieder zurück, studierte im Schein der Straßenlampen ein letztes Mal das Foto von einem Farmerhut auf einem verschwommenen Kopf. Schräg gegenüber der Kneipe blieb sie stehen und wartete, stampfte mit den Füßen, um sich warm zu halten. Es roch nach Schnee, die Feuchte in der Luft gefror auf ihrem Gesicht.

Ihre Zielperson traf kurz vor halb elf ein. Ganz pünktlich, dachte Katinka grinsend. Erleichtert ging sie ihm nach. Er trug denselben Hut wie auf dem Foto, ein paar braune Haarsträhnen lugten darunter hervor, dazu hatte er eine getönte Brille auf und einen Dreitagebart im Gesicht. Er bestellte eine Cola.

Katinka suchte sich ein günstiges Plätzchen und verlangte ein Spezi. Sie sah den Hut wackeln, ahnte, dass er in ihre Richtung schaute, und richtete sich aufs Warten ein. Das Gewühl und die laute Musik gaben ihr das Gefühl von Sicherheit. Langsam ließ sie den Blick über die Menge schweifen. Alles Leute, die aus öden Jobs in ihr Wochenende flüchteten, in die Euphorie einer Nacht aus Musik, Alkohol, Tanzen und Sex. Katinka sah keinen einzigen Bekannten, ungewöhnlich genug für eine Stadt wie Bamberg, wo man immer irgendwo jemanden kannte. Sie griff sich einen zerlesenen Fränkischen Tag. Nachlässig blätterte sie die Seiten um, aus den Augenwinkeln Henryks Hut betrachtend.

Bis er plötzlich vor ihr stand, seine Cola in der Faust.

»Ich weiß, dass meine Frau Sie geschickt hat«, sagte er. Katinka stöhnte im Stillen. Hier lief schon der Anfang nicht rund. Sein markantes Kinn fiel ihr ins Auge, breit, ausgeprägt, mit einem länglichen Grübchen ganz unten.

»So eine Anmache funktioniert bei mir nicht«, gab sie zurück. Sie blickte zur Tür, zwei Pärchen kamen rein, lachend und schäkernd.

»Nicht?«, fragte er. Das düstere Licht spiegelte sich in seinen Brillengläsern. Seine Kiefer pressten sich zusammen, das Kinn trat noch deutlicher hervor. Der Bart sah räudig aus und stand ihm nicht. Ein fruchtiger Geruch ging von ihm aus, er war parfümiert wie ein Räuchermännchen vom Weihnachtsmarkt.

Katinka sah zu den Pärchen hinüber. Sie wechselten Geld für den Flipper draußen und verdrückten sich wieder. Pawlowicz setzte sich an Katinkas Tisch. Sie mochte nicht, wenn Typen wie er sich einen feuchten Kehricht um den Höflichkeitsabstand scherten und fragte: »Und Sie? Gehören Sie zu den Männern, die immer auf der Suche sind?«

Sie trank ihr Spezi in großen Schlucken. Von draußen hörte sie den Flipper jaulen.

Er schnaubte.

»Ich gehe nicht fremd. Sagen Sie ihr das.«

»Ich glaube nicht, dass ich auf Kommandos von Ihnen reagiere!«

Etwas lief hier fürchterlich schief. Ihre Kehle fühlte sich trocken an.

»Privatdetektivin«, sagte er anzüglich. »Nützlicher Job. Soviel Böses in der Welt.«

Sie hörte seine Stimme noch eine Weile, hörte Münzen auf die Tischplatte klickern, hörte …

Sie wurde auf ihre Füße gestellt. Spürte einen Arm um ihre Schultern. Raste dahin über ein schwarzes Meer, in den Armen eines Menschen mit einem unangenehmen Geruch und versank in den dunklen, eisigen Wellen eines launenhaften Ozeans.

3. Filmriss

Sonntag, 9. 1. 2005, 2:30 Uhr

Feuchtigkeit klebte an ihrer Haut wie Dreck. Katinka riss die Augen auf und beobachtete halb erstaunt, halb verängstigt, wie sich der Himmel um sie drehte. Sie musste sich übergeben. Kämpfte sich auf die Knie und beugte sich vornüber, aber da hatte der Reflex sich schon verflüchtigt. Ihr Magen hob und senkte sich, der Schwindel wirbelte sie um die eigene Achse. Sie hatte Durst. Und ihr war schlecht.

Zuerst tastete sie nach der Uhr. Einige Sekunden musste sie auf das Zifferblatt starren, bis sie verstand, was sie da sah. Es war halb 3 Uhr. Schwarze Nacht. Immer noch war kein Schnee gefallen.

Ihre Zähne schlugen aufeinander. Ihr Mantel war durchnässt, ihre Jeans saßen an den Beinen wie angeschweißt. Das Karussell in ihrem Kopf fuhr langsamer, sie holte ein paar Mal tief Luft. Ließ den Blick schweifen, die Arme weit ausgestreckt, als tanze sie auf einem Hochseil und müsse die Balance halten. Sie sah Fabrikgebäude, trübe beleuchtet, hörte Wasser gurgeln, auf einer nahen Straße ein Auto vorüberfahren. In den Wohnhäusern auf der anderen Straßenseite brannten keine Lichter. Sie zog unwillkürlich die Beine an. Schwarz schoss ein Fluss ein paar Meter unter ihr dahin. Sie hockte auf einer Schleusenmauer, und sie kannte die Schleuse. Sie brauchte einige Minuten, in denen sie sich zusammenkauerte, um dem letzten bisschen Wärme in ihrem Körper nicht zur Flucht zu verhelfen, bevor sie die Erkenntnis zulassen konnte.

Sie zitterte, vor Kälte und Panik. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung, wie sie hier gelandet war, auf der Schleusenmauer am Ortseingang von Gaustadt. Jemand hatte sie hierher gebracht, sie abgesetzt, in Kälte und Nässe, sich davongemacht, und niemand hatte sie bemerkt.

Ich bin nur ein Häufchen aus dunklen Klamotten, dachte sie entsetzt.

Ihr war klar, dass sie hätte erfrieren können, und ein Anflug von Logik sagte ihr, dass sie nicht allzu lange auf dieser Mauer sitzen konnte. Sich schüttelnd vor Kälte fragte sie sich, wo sie die Stunden zuvor verbracht hatte und mit wem. Ein grauenvoller Verdacht flackerte auf, sie drängte ihn sofort weg. Mit aller Anstrengung, wie man einen aufgeblasenen Wasserball unter Wasser drückt.

Ein Name ploppte hoch: Henryk Pawlowicz. Doch statt einer klaren Erinnerung gab es da nur ein schwarzes, eisiges Meer, einen eigenartigen Geruch. Und Übelkeit.

Sie tastete nach ihrem Handy, hielt es unschlüssig in der Hand. Steckte es weg und fuhr suchend mit den Fingern unter ihre linke Schulter.

Da war keine Pistole mehr.

Hitze schoss durch ihren Körper, gefolgt von einem Schwall Kälte.

Kopflos schaute sie sich um. Niemand war hier. Nicht um diese Zeit und bei diesem Wetter. Nicht mal ein Hundehalter.

Sie musste aufstehen, sich bewegen, um halbwegs warm zu werden, musste weg von dem gurgelnden Wasser, der Feuchtigkeit, musste ins Warme. Gedankenfetzen trieben vorbei. Einsamkeit fiel sie an.

Mühevoll kämpfte sie sich hoch. Ihre steifen Gelenke protestierten. Langsam, unsicher auf den Beinen wie nach langer Bettlägerigkeit stieg sie die Stufen zur Brücke hoch, versuchte, über das Gittertor zu klettern, brauchte drei Anläufe, bis sie die Beine drübergeschwungen hatte. Hielt sich kurz am Geländer fest und lief los.

Sie ging nicht auf dem Radweg unten am Ufer, sondern nahm den Bürgersteig an der Straße. Die Morgendämmerung machte ihr Angst. Sie hörte mehrmals Schritte hinter sich, bis sie bemerkte, dass da niemand war. Manchmal meinte sie, Atemzüge direkt neben sich wahrzunehmen. Immer wieder fuhr sie herum, prüfte, sondierte. Nichts und niemand.

Die Übelkeit wurde schwächer. Katinka fiel in einen leichten Trab, hielt aber nicht lange durch. In ihrem Kopf richtete sich eine Schmiede ein, rasten Schläge auf Ambosse, klirrte Metall und zischte Glut. Katinka musste stehen bleiben, lehnte sich gegen einen Baum, ging weiter. Kalter Staub nieselte vom Himmel, feine, spitze Eisklümpchen, die auf die Haut stachen wie Nadeln. Sie schlang fest die Arme um ihren Oberkörper. Ich darf nicht verrückt werden.

Als sie die dunkle Konzerthalle am gegenüberliegenden Ufer sah, fühlte sie sich erleichtert. Sie war ein gutes Stück Richtung Innenstadt vorangekommen, doch gleichzeitig schien ihr, als sei sie fremd hier, als müsse sie sich mühsam an die Straßenführung erinnern, sich den Stadtplan plastisch vorstellen. Sie überquerte taumelnd den Fluss, fühlte den Steg unter sich schwanken, schleppte sich bis zur Bushaltestelle und fiel keuchend auf einen Sitz. Wieder kam die Übelkeit hoch.

Sie schaffte es, Toms Nummer einzutippen. Die Mailbox meldete sich. Er schlief schon. Sicher, es war Sonntag, er war gestern in die Fränkische Schweiz gefahren, die Männer hatten Karten gespielt. Daran erinnerte sie sich immerhin. Katinka hinterließ keine Nachricht.

Bevor der Horror seine kleinen Teufel schicken konnte, stand Katinka auf, hielt sich kurz an dem Bushäuschen fest, holte Atem und ging weiter. Es war der Instinkt des Tieres, der sie führte. Sie kannte ihr Revier. Kämpfend gegen die Übelkeit und schlotternd vor Kälte lief sie durch die Stadt, den Kopf gesenkt. In der Kleberstraße lagen vermodernde Raketenreste im Rinnstein. Katinka fiel ein, dass vor einer Woche Neujahr gewesen war. Was für ein chaotischer Anfang. Die Anfänge sind das Prägendste im Leben, fiel ihr ein. Sie schauderte.

Stöhnend hielt sie sich den Kopf und querte die Promenade. Der Zentrale Busbahnhof schien in dieser Nacht das Tristeste, was Bamberg zu bieten hatte. Neonlicht, Pfützen, ein paar ausgemergelte Gestalten. Leute, denen die Samstagsparty nicht gut bekommen war.

Wie ich, dachte Katinka. Ich bin im Club derjenigen, die im Freien pennen.

Am Schönleinsplatz lehnte sie sich an eine Ampel. Ein Mann mit Berner Sennhund an der Leine starrte sie missmutig an. Sie trabte weiter, bog aber nicht zu ihrer Wohnung in die Herzog-Max-Straße, sondern ging Richtung Kanal. Bei Tag hätte sie sich an dem spitzen, roten Kirchturm orientiert. Jeder Schritt tat ihr weh, aber wenigstens versorgte die Bewegung sie mit ein wenig Wärme. Als sie das orange gestrichene Haus am Ulanenplatz erreichte, zeigte die Kirchturmuhr beinahe halb vier. Jemand kam heraus auf die Vortreppe. Katinka schlüpfte ins Treppenhaus. Nebel driftete durch ihren Kopf. Ihre Zähne schlugen aufeinander, rhythmisch, im Takt einer schnellen Nähmaschine. Sie stieg in den vierten Stock, klingelte an der Wohnungstür, klopfte einige Male, sank dann einfach auf den Boden und kippte nach hinten, als die Tür geöffnet wurde.

»Katinka?«

Die drei Silben fraßen sich in ihren Ohren fest.

»Katinka! Reden Sie mit mir, verdammt noch mal!«

Katinka blinzelte. Über ihr, turmhoch, stand Hauptkommissar Harduin Uttenreuther, genannt Hardo, in einem Flanellpyjama und Socken. Sein kahler Kopf glänzte im matten Licht des Treppenhauses, seine grauen Augen strahlten sie an wie Suchscheinwerfer. Sie wollte sich aufrichten, rutschte aber in sich zusammen, als hätten ihre Füße und Beine den Kampf aufgegeben. Seine riesigen Hände packten sie bei den Schultern.

»Na komm.«

Er half ihr hoch, trug sie hinein und kickte die Tür mit dem Fuß zu.

Katinka war bisher nur ein einziges Mal bei ihm zu Hause gewesen. Harduin Uttenreuther hatte sie und Tom vor einigen Wochen zu sich zum Essen eingeladen. Doch nun witterte sie Stallgeruch in der kleinen, für einen seit Jahren allein lebenden Mann ungewöhnlich hell und fröhlich eingerichteten Wohnung.

Hardo bugsierte sie ins Wohnzimmer und setzte sie auf dem Sofa ab. Er legte ihr eine Decke um die Schultern, befühlte ihre Stirn mit dem Handrücken und sah sie fragend an.

»Ich … wusste nicht, wohin«, sagte Katinka matt. Dankbar stellte sie fest, dass die Übelkeit verschwunden war, doch in ihrem Kopf wurden Pfennigsnägel in Wurzelhölzer getrieben, und sie fror bis in die Knochen.

Hardo verschwand in der Küche. Sie hörte ihn mit dem Wasserkocher hantieren. Kurz darauf kam er mit einer dampfenden Tasse zurück, stellte sie vor Katinka ab und drehte die Heizkörperthermostate hoch.

»Ich glaube, Sie brauchen eine heiße Dusche«, sagte er, als er sich neben sie setzte und die Decke zurechtzog.

»Ich habe nicht gesoffen!«, sagte Katinka schnell. Ihre Zähne klapperten.

»Ich weiß.«

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, obwohl sie es nicht wollte.

»Was ist passiert?«

Sie setzte einige Male an, aber es kam nichts.

»Sie müssen aus den nassen Klamotten raus«, sagte Hardo. »Ich gebe Ihnen was von mir. Da passen Sie dreimal rein, aber besser als nichts.«

Er hielt ihr die Tasse hin. Kaffee. Gott sei Dank, er wusste, dass sie keinen Tee mochte. Kaffee mit viel Milch. Eine Himmelsgabe.

Sie trank ein paar Schlucke. Hardo stand auf und verschwand in seinem Schlafzimmer. Trotz der gut geheizten Wohnung schüttelte es Katinka wie im Krampf. Sie sah ihn zurückkommen, einen Stapel Kleider in seinen Händen.

»Jemand hat mir meine Waffe geklaut.«

Er warf die Anziehsachen auf das Sofa.

»Wer! Wann!«

»Ich weiß es eben nicht.«

»Sind Sie wahnsinnig? Das ist wichtig!«

»Heute Nacht«, flüsterte sie gequält.

Er bezähmte seine Ungeduld.

»Erzählen Sie es mir«, sagte er, drückte ihr erneut die Kaffeetasse in die eiskalten Hände.

Sie brauchte fünfzehn Minuten, bis sie halbwegs zusammenhängend von dem Auftrag berichten konnte, den sie am Vortag bekommen hatte.

»Ines und Henryk Pawlowicz«, murmelte Hardo. »Und weiter?«

»Ich habe ihn getroffen, gestern Abend, im Rio-Club. Soweit war alles normal. Aber dann kam er an meinen Tisch, redete mich blöd an. Er wüsste schon, dass seine Frau mich auf ihn angesetzt hätte. Und dann – Sendepause. Als hätte jemand den Stecker rausgezogen.«

»Keine Erinnerung?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nur … Es war eisig kalt.« Wieder kam dieser widerliche Verdacht hoch, den sie die ganze Zeit unterdrückt hatte. Sie zog die Schultern zusammen.

»Katinka«, sagte Hardo. »Habe ich das richtig verstanden? Sie können sich an nichts erinnern? An gar nichts?«

»Nein. Ich bin auf der Schleusenmauer in Gaustadt aufgewacht. Er muss mich da abgesetzt haben. Irgendwann in der Nacht.«

»Er kann Ihnen was eingeflößt haben. Sie haben doch was getrunken?«

»Ja. Ein Spezi.«

»Haben Sie Ihr Glas mal aus den Augen gelassen? Nur für eine Sekunde?«

Katinka wiegte den Kopf.

»Zwei Pärchen kamen rein. Die wollten Geld für den Flipper wechseln. Sicher, ich habe zu denen rübergeguckt, aber …«

»Ein kurzer Moment reicht, um jemandem was ins Getränk zu schmuggeln«, gab Hardo zu bedenken.

»Ich habe nichts geschmeckt.«

»Das Zeug ist so gut wie geschmacklos, farblos sowieso, in einer süßen Limonade bemerkt man gar nichts.«

»Und dann … war ich ohnmächtig?«

»Das nehme ich nicht an. Wie wären Sie sonst aus der Kneipe rausgekommen, ohne dass jemandem etwas aufgefallen wäre? Ich schicke mal einen Kollegen hin, um nachzuforschen. Aber das Zeug macht eher willenlos als ohnmächtig.«

»K.o.-Tropfen?«

»Sowas in der Art. War jemand im Rio-Club, der Sie kennt?«

»Nein.«

Hardo stand auf und holte das Telefon.

»Ich rufe jetzt eine Ärztin an. Ich kenne sie gut, keine Angst. Wir lassen Ihnen Blut nehmen.«

»Nein, bitte nicht«, sagte Katinka.

Er nahm ihre Hände in seine. Sie waren heiß wie feurige Träume. Unsicher sah sie in seine eisig grauen Augen.

»Seit einiger Zeit kursiert verstärkt eine Droge in der Szene. GHB, auf amerikanisch Dschii Ejtsch Bii«, sagte er, »Akronym für Gammahydroxybuttersäure. Szenename Liquid Ecstasy. Die Opfer werden ausgeknockt, wachen irgendwann irgendwo auf und können sich an nichts erinnern. Die Droge ist auch als Vergewaltigungsdroge bekannt. In den letzten Monaten gab es immer mehr Fälle. Die Dunkelziffer wird unvergleichbar höher liegen. Viele Betroffene melden sich gar nicht.«

»Ich glaube nicht, dass …«, flüsterte Katinka, »… dass er mich vergewaltigt hat.«

Hardo seufzte, wich ihrem Blick aber nicht aus.

»Wir finden es raus.«

Er redete in seiner objektiven, Achtung-ich-bin-Polizist-und-weiß-was-zu-tun-ist-Art. Das beruhigte sie, weil es geschäftlich klang. Sie entzog ihm ihre Hände und streifte die Stiefel ab. Sie plumpsten in eine braungraue Pfütze vor Hardos Sofa.

»Ich habe ihr Wohnzimmer dreckig gemacht«, sagte sie entschuldigend.

»Scherzkeks«, sagte Hardo und wählte eine Nummer. Das Gespräch dauerte nicht lange.

»Dr. Koninger kommt vorbei«, sagte er. »Dann können Sie ein Bad nehmen, oder ich bringe Sie nach Hause, wie Sie wollen.«

Katinka nickte. Hardo zeigte ihr das Bad und legte den Kleiderstapel auf einen Hocker.

»Ziehen Sie sich die nassen Klamotten aus und versuchen Sie es mit meiner ältesten Jogginghose aus der Zeit, als ich noch schlanker war.«

Mit einem Grinsen klopfte er sich auf seinen Bierbauch.

Katinka verschloss die Tür und blickte sich im Spiegel an. Ihre Augen waren gerötet. Sie hatte die Kontaktlinsen schon viel zu lange drin. Mühsam streifte sie die Jeans ab. Ihre Beine schimmerten in einem seltsamen Mix aus Bläulich und Rosa, die Füße weiß, wie abgestorben. Heute Morgen bin ich zehn Jahre älter als sonst aufgewacht, dachte sie. Sie zog die Unterhose aus und befühlte sich. Er hat mich nicht vergewaltigt. Er kann mich unmöglich vergewaltigt haben, ohne dass ich was gemerkt habe. Doch von dieser Nacht war nichts geblieben, keine Erinnerung, nichts außer Schwärze, Kopfschmerzen und einem übermächtigen Gefühl von Ekel.

Was sind das für Drogen, von denen Hardo gesprochen hat, fragte sie sich, während sie sich wieder anzog, die Kordel seiner Hose so eng wie möglich schnürte und sich doch vorkam wie ein Zirkusclown. Sie warf ihren Mantel und den Pulli über den Badewannenrand und schlüpfte in Hardos T-Shirt und Rollkragenpullover. Der fühlte sich warm und struppig an und roch unverkennbar nach dem Aftershave, das der Kommissar benutzte: nach Ozean, Salz, Möwenkreischen. Katinka zog die Socken an, auch die ein paar Nummern zu groß, aber warm und trocken.

»Schick«, lächelte Hardo, als sie zu ihm ins Wohnzimmer zurückkam.

»Hören Sie schon auf!«

»Haben Sie Ihre Waffenbesitzkarte bei sich?«

»Meine Papiere müssten alle in meinem Mantel sein.«

Sie lief ins Bad zurück, und da war tatsächlich alles. Geld, Kreditkarte, Ausweise, Waffenbesitzkarte.

»Er hat nichts mitgenommen«, murmelte sie. »Nur die Pistole.«

Hardo studierte die Unterlagen.

»O.k. Ich melde Ihre Waffe als gestohlen. Dann checken wir mal dieses ominöse Ehepaar.«

Katinka nickte. Ihr Magen knurrte.

»Hunger?« Er sah sie mit seinen grauen Augen fragend an. »Tut mir leid, ich hätte Ihnen gleich was anbieten sollen. Was möchten Sie denn? Honigbrot? Meine Kochkünste können es mit denen Ihres Freundes leider nicht aufnehmen!«

»Irgendwas, egal«, sagte Katinka leise. Sie hatte Sehnsucht danach, in die Arme genommen und gedrückt und gewärmt zu werden. In ihrem Kopf stellten die Schmiede und Tischler allmählich die Arbeit ein. Alles fühlte sich leichter an, vielleicht, weil nun etwas getan wurde.

Es klingelte an der Tür.

»Das ist die Ärztin«, sagte Hardo.

Er ging öffnen, und Katinka hörte sie draußen sprechen, ohne zu verstehen, was sie sagten. Sie unterhalten sich über das erbarmungswürdige Verbrechensopfer, dachte sie. So erging es also den Leuten, von denen sie ab und zu welche zu ihren Klienten zählte. Menschen die Willkür und Gewalttätigkeit ausgesetzt waren und viel Zeit und Willenskraft brauchten, um zu sich selbst und ihrem Leben zurückzufinden. Katinka sagte sich, dass es an der Zeit war, diese Gefühle von Ausgeliefertsein und Furcht selbst durchzumachen. Nur um zu wissen, wie es sich anfühlte.

Als Hardo sie der Ärztin vorstellte, verschwand ein Teil ihrer Panik sofort. Dr. Irmtraud Koninger erwies sich als resolute und warmherzige Frau mit dunklen, an einigen Stellen silbrig glitzernden Locken.

»Sie sind also Frau Palfy«, sagte sie freundlich, komplimentierte den Kommissar kurzerhand hinaus und machte eine Spritze für die Blutentnahme bereit. »Ich war schon lange neugierig darauf, Sie mal kennenzulernen, nachdem Hardo so viel von Ihnen erzählt hat.«

»Ach so?«, fragte Katinka und beäugte misstrauisch die Staubinde.

»Das geht schnell. Sie haben gute Venen, wie ich sehe.«

Der scharfe Geruch des Desinfektionsmittels stieg Katinka in die Nase. Es fühlte sich ekelhaft kalt auf der Haut an. Gänsehaut kroch ihr den Arm hinauf.

»Was war denn los heute Nacht?«, fragte Irmtraud Koninger, während sie mit der Fingerspitze über die Vene tastete und die Nadel behutsam hineinschob.«

»Ich weiß es eben nicht. Jemand hat mir was in das Spezi getan. Schätze ich.«

Der Spritzenkolben füllte sich mit Blut.

»Ich bin Frauenärztin«, sagte Irmtraud Koninger, zog mit einer schnellen Bewegung die Nadel aus Katinkas Arm und presste einen Tupfer auf die Vene. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie gynäkologisch untersuchen, nur um sicherzugehen.«

Sie verschloss das Blutfläschchen.

»Ich glaube … lieber nicht.«

Die Ärztin sah Katinka an und sagte ernst: »Ich dränge Sie nicht. Haben Sie auch nur den leisesten Verdacht, dass Sie vergewaltigt worden sind?«

»Ich … nein.«

»Veränderungen an Ihren Kleidern?«

Katinka beobachtete, wie die Ärztin das Blut wegpackte.

»Nein.«

»GHB muss keinen vollständigen Gedächtnisausfall bewirken«, tastete sich Dr. Koninger vor. »Manche Opfer können sich erinnern, aber schlecht, verschwommen.«

Manche Opfer. Ich bin ein Opfer.

»Es ist schwarz, und kalt. Sonst nichts.«

»Das geht sofort ans Labor. Ich sage Ihnen heute noch Bescheid.«

Dr. Koninger schwieg einen Moment und sah Katinka mit ihren warmen Augen an. Katinka hätte sich gerne zusammengerollt und auf ihrem Schoß zum Schlafen hingelegt.

»Sie kennen sich doch besser aus als ich in diesen Dingen. Wenn Sie den Kerl anzeigen wollen, brauchen wir einen Nachweis.«

»O.k.«, erklärte sich Katinka einverstanden. Ihr Magen knurrte böse.

4. Beretta 9000S

»Tja. Es gibt keine eindeutigen Hinweise. Keine Anzeichen von Gewaltanwendung. Kein Sperma.«

In ihren Mantel gekuschelt saß Katinka Dr. Koninger in deren Sprechzimmer gegenüber. Sie wusste nicht recht, ob Erleichterung oder ein gruseliger Schauer über sie hinwegrollte.

»Und wenn er ein Kondom verwendet hat?«

»Unwahrscheinlich. Solche Typen verwenden keine Kondome.«

»Es sei denn, er rechnet damit, angezeigt zu werden.«

»Nehmen wir an, er kalkuliert ein, dass Sie ihn anzeigen. Doch er nennt Ihnen einen falschen Namen. Ist überzeugt, niemals aufgefunden zu werden. Dann bräuchte er kein Kondom, um irgendwelche späteren Nachforschungen zu torpedieren.«

»Es sei denn, er macht sowas öfter. Er hat vielleicht Bedenken, dass seine DNA schon gespeichert ist.«

Die Ärztin wiegte unentschlossen den Kopf.

»Warum hat er meine Waffe gestohlen?«, bohrte Katinka weiter.

Dr. Koninger stand auf und ging um ihren Schreibtisch herum. Sie stellte sich neben Katinka und sagte freundlich: »Wie geht es Ihnen besser – wenn Sie abschalten oder wenn Sie nachdenken?«

»Wenn ich den Fall löse.«

Die Ärztin lachte.

»Schön. Dann lösen Sie den Fall. Ich bin Medizinerin. Hardo ist Polizist. Was dagegen, wenn ich ihn hereinbitte?«

»Nein,« sagte Katinka gereizt. Alle agierten mit so viel Takt und Behutsamkeit, dass sie sich vorkam, als litte sie an einer gefährlichen Krankheit. Hardo kam hereingestürmt wie Schimanski.

»Könnte es sein, dass er die ganze Aktion gestartet hat, um an meine Waffe zu kommen?«, dachte Katinka laut. Der Gedanke ließ sie erneut frösteln. Sie zog den Mantel enger um sich. Er war immer noch feucht und roch nach Modder.

»Fragen wir den Hauptkommissar«, sagte Irmtraud Koninger. »Also, Hardo, ich denke, es ist nicht zu einer Vergewaltigung gekommen. Dieser Pawlowicz hat Frau Palfy die Droge verabreicht, sie auf der Schleusenmauer abgelegt und ihr die Waffe abgenommen. Niemand hat etwas bemerkt. Die meisten Leute verkriechen sich um diese Jahreszeit in ihren Wohnungen, außerdem ist schlechtes Wetter und Polarnacht.«

»Ich habe nachforschen lassen«, sagte Hardo nach einigen Augenblicken des Nachdenkens. »Es gibt in ganz Bayern keinen Henryk Pawlowicz. Insbesondere keinen, der mit einer Frau namens Ines verheiratet wäre. Eine Ines Pawlowicz ist gar nicht existent. Die Kollegen werden die Alibis der Namenskollegen checken. Aber wir müssen davon ausgehen, dass das Pärchen sich falsche Namen zugelegt hat.«

»Der Typ heißt nicht so«, sagte Katinka. Sie bekam allmählich Bauchkrämpfe vor Hunger. »Wenn einer so einen Coup plant, dann gibt er nicht seinen richtigen Namen an.«

»Sie sollten Anzeige gegen Unbekannt erstatten«, schlug Hardo vor. »Wegen gefährlicher Körperverletzung und Aussetzung. Der Mann hat Sie in eine hilflose Lage gebracht und dann im Stich gelassen. Sie hätten von der Schleusenmauer ins Wasser stürzen und ertrinken können!«

»GHB-Gaben sind ohnehin nicht ohne Risiko«, fügte Dr. Koninger hinzu. »Die Droge kann nämlich nicht exakt dosiert werden. Das Zeug ist in der Regel nicht rein, Sie können nicht wissen, welche Stoffe beigemischt wurden. Wer GHB freiwillig nimmt, sucht den Rausch. Aber die Spanne zwischen einer Menge, die der Konsument als euphorisierend erlebt, und einer Dosierung, die komatöse Zustände hervorruft, ist winzig. An den Wechselwirkungen mit anderen Drogen und Alkohol sind schon Menschen gestorben. Erstickt.«

Katinka biss die Zähne zusammen. Zum ersten Mal stieg Wut gegen ihren Angreifer in ihr auf. Der musste längst über alle Berge sein. Mit ihrer Beretta.

»Jemand hat sich einen falschen Namen ausgedacht und Sie auf einen anderen mit falschem Namen gehetzt«, mutmaßte Dr. Koninger. »Eigenartige Methode, um sich eine Waffe zu beschaffen.«

»Höchst eigenartig«, murmelte Hardo.

»Was ist mit meiner Pistole?«

»Die habe ich als gestohlen gemeldet«, sagte der Kommissar. Er stand auf. »Gehen wir.«

»Wenn Sie was brauchen, rufen Sie mich an«, sagte Irmtraud Koninger und umschloss Katinkas Hand mit ihren warmen, weichen Händen. »Sehen Sie zu, dass Sie ein bisschen Wärme in den Leib kriegen. Seien Sie gut zu sich.«

Katinka bedankte sich und folgte Hardo zum Parkplatz.

»Wo ist denn Ihr Freund?«, fragte der, während er ihr in seiner unnachahmlich besorgten Art die Tür aufhielt.

»Beim Schafkopfen in der Fränkischen.«

Katinka sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb sechs. Ihr Kopf sank gegen die eiskalte Scheibe.

Hardo lenkte den Wagen in die Amalienstraße und hielt vor dem gelben Backsteinhaus. Als sie an der Fassade hochblickte, kein Licht sah, die Dunkelheit auf dem Dach sitzen fühlte, fragte sie, ehe der innere Zensor zuschlagen konnte: »Kommen Sie kurz mit rauf?«

»Klar.«

»Nur um noch ein wenig zu fachsimpeln«, schob Katinka überflüssigerweise nach.

»Fachgespräche führe ich aber erst, wenn Sie sich endlich aufgewärmt und was gegessen haben«, sagte er lächelnd. »Sie haben doch gehört, was Irmtraud gesagt hat.«

»Woher kennen Sie sich eigentlich?«, fragte Katinka neugierig, während sie den Schlüssel ins Schloss steckte.

»Ihre Tochter war eine gute Freundin von meiner Tochter«, sagte er. Seiner Stimme war nichts Ungewöhnliches anzuhören, aber Katinka zuckte dennoch unwillkürlich zusammen. Der Gedanke, dass seine Tochter Sybille vor nunmehr fast zwei Jahren bei einem Unfall zu Tode gekommen war, schockierte sie immer noch. Sybille hätte am Leben bleiben können, wenn ein anderer Autofahrer sich nicht vom Unfallort entfernt hätte, ohne Hilfe zu holen.

»Kommen Sie rein.« Katinka ließ die Plastiktüte mit ihren nassen Sachen auf den Boden fallen und knipste alle Lichter an.

Hardo folgte ihr, die Hände in den Jeanstaschen, und stand ein wenig deplatziert herum, bis sie ihn in die Wohnküche bat und aus der Speisekammer einen Topf zutage förderte.