Schulische Prävention im Bereich Verhalten - Thomas Hennemann - E-Book

Schulische Prävention im Bereich Verhalten E-Book

Thomas Hennemann

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Beschreibung

Der wirksamen schulischen Prävention von Verhaltensstörungen kommt heute vor dem Hintergrund eines sich verändernden inklusiven Schulsystems zentrale Bedeutung zu. Das Buch gibt einen fundierten Einblick in die theoretischen und empirischen Grundlagen zur wirksamen Prävention im Bereich Verhalten. Darauf aufbauend erfolgt ein systematischer Überblick über wirksame Präventionsmaßnahmen für das Kindes- und Jugendalter. Neben evidenzbasierten kindzentrierten Programmen und Maßnahmen, die die Bedeutung eines effektiven Classroom Managements unterstreichen, werden auch beispielhaft Programme für die Ebene "Lehrer" und "Eltern" vorgestellt. Darüber hinaus wird eine ideale Vernetzung der Hilfen der Erziehung für das Schulsystem im Sinne einer präventiven Schule näher beleuchtet.

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Fördern lernen – Prävention

Herausgegeben von

Stephan Ellinger

 

Band 19

Thomas Hennemann/Dennis Hövel/Gino Casale/Tobias Hagen/Klaus Fitting-Dahlmann

 

Schulische Prävention im Bereich Verhalten

2. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

2. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032357-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032358-2

epub:    ISBN 978-3-17-032359-9

mobi:    ISBN 978-3-17-032360-5

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort des Reihenherausgebers

 

Die Reihe Fördern lernen umfasst drei klare thematische Schwerpunkte. Es sollen erstens die wichtigsten Förderkonzepte und Fördermaßnahmen bei den am häufigsten vorkommenden Lern- und Verhaltensstörungen dargestellt werden. Zweitens gilt es, die wesentlichen Grundlagen pädagogischer Beratungsarbeit und die wichtigsten Beratungskonzepte zu diskutieren, und drittens sollen zentrale Handlungsfelder pädagogischer Prävention übersichtlich vermittelt werden. Dabei sind die Bücher dieser Reihe in erster Linie gut lesbar und unmittelbar in der Praxis einzusetzen.

Im Schwerpunkt Intervention informiert jeder einzelne Band (1–9) in seinem ersten Teil über den aktuellen Stand der Forschung und entfaltet theoriegeleitet Überlegungen zu Interventionen und Präventionen. Im zweiten Teil eines Bandes werden dann konkrete Maßnahmen und erprobte Förderprogramme vorgestellt und diskutiert. Grundlage für diese Empfehlungen sollen zum einen belastbare empirische Ergebnisse und zum anderen praktische Handlungsanweisungen für konkrete Bezüge (z. B. Unterricht, Freizeitbetreuung, Förderkurse) sein. Schwerpunkt des zweiten Teils sind also die Umsetzungsformen und Umsetzungsmöglichkeiten im jeweiligen pädagogischen Handlungsfeld.

Die Bände im Schwerpunkt Beratung (10–15) beinhalten im ersten Teil eine Darstellung des Beratungskonzeptes in klaren Begrifflichkeiten hinsichtlich der Grundannahmen und der zugrundeliegenden Vorstellungen vom Wesen eines Problems, den Fähigkeiten des Menschen usw. Im zweiten Teil werden die Methoden des Beratungsansatzes anhand eines oder mehrerer fiktiver Beratungsanlässe dargestellt und erläutert, so dass Lehrkräfte und außerschulisch arbeitende Pädagogen konkrete Umsetzungen vornehmen können.

Die Einzelbände im Schwerpunkt Prävention (16–21) wenden sich allgemeinen Förderkonzepten und Präventionsmaßnahmen zu und erläutern praktische Handlungshilfen, um Lernstörungen, Verhaltensstörungen und prekäre Lebenslagen vorbeugend zu verhindern. Die Zielgruppe der Reihe Fördern lernen bilden in erster Linie Lehrkräfte und außerschulisch arbeitende Pädagogen, die sich entweder auf die Arbeit mit betroffenen Kindern vorbereiten oder aber schnell und umfassend gezielte Informationen zur effektiven Förderung oder Beratung von Betroffenen suchen. Die Buchreihe eignet sich auch für die pädagogische Ausbildung und als Zugang für Eltern, die sich nicht auf populärwissenschaftliches Halbwissen verlassen wollen.

Die Autorinnen und Autoren wünschen allen Leserinnen und Lesern

ganz praktische Aha-Erlebnisse!

 

Stephan Ellinger

Einzelwerke in der Reihe Fördern lernen

Intervention

Band 1: Förderung bei sozialer Benachteiligung

Band 2: Förderung bei Lese-Rechtschreibschwäche

Band 3: Förderung bei Rechenschwäche

Band 4: Förderung bei Gewalt und Aggressivität

Band 5: Förderung bei Ängstlichkeit und Angststörungen

Band 6: Förderung bei ADS/ADHS

Band 7: Förderung bei Sucht und Abhängigkeiten

Band 8: Förderung bei kulturellen Differenzen

Band 9: Förderung bei Hochbegabung

Beratung

Band 10: Pädagogische Beratung

Band 11: Lösungsorientierte Beratung

Band 12: Kontradiktische Beratung

Band 13: Kooperative Beratung

Band 14: Systemische Beratung

Band 15: Personzentrierte Beratung

Prävention

Band 16: Berufliche Eingliederung

Band 17: Förderung der Motivation bei Lernstörungen

Band 18: Schulische Prävention im Bereich Lernen

Band 19: Schulische Prävention im Bereich Verhalten

Band 20: Resilienz

Band 21: Hilfen zur Erziehung

Inhalt

 

Einleitung

1

     

Emotionale und soziale Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

1.1 Emotionale und soziale Kompetenzen

1.2 Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

1.3 Die Entstehung von Gefühls- und Verhaltensstörungen

Vertiefende Literaturempfehlungen

2

     

Prävention von Gefühls- und Verhaltensstörungen

2.1 Klassifikation präventiver Maßnahmen

2.2 Anforderungen an effektive Prävention

2.3 Empirische Befundlage

2.4 Grundlagen evidenzbasierter Förderung

3

     

Ein pädagogisches Leitbild:die präventive Schule

3.1 Schule als Präventionssetting

3.2 Mehrebenenansatz pädagogischer Prävention

3.3 Ein Rahmenkonzept schulischer Prävention: Response-to-Intervention (RTI)

Vertiefende Literaturempfehlungen

4

     

Präventive Förderung emotional-sozialer Kompetenzen

4.1 Präventive Förderung im Vorschulalter

4.2 Präventive Förderung in der Grundschule

4.3 Präventive Förderung in der weiterführenden Schule

4.4 Elterntrainings

4.5 Lehrerorientierte Maßnahmen

Vertiefende Literaturempfehlungen

5

     

Zum Abschluss: ein Plädoyer für eine präventive Schule als Basis einer inklusiven Schule

Literatur

Einleitung

 

In der aktuellen politischen und fachwissenschaftlichen Diskussion zur Inklusion insbesondere von Kindern und Jugendlichen unter erhöhten emotional-sozialen und kognitiven Risiken wird die Frage nach einer konkreten und effektiven Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen zur Vermeidung bzw. Verminderung von Gefühls- und Verhaltensstörungen dringlicher gestellt denn je. Betrachtet man die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung, zeichnet sich nach wie vor eine zu einseitige Orientierung an formaler Intelligenz und Leistung ab, die zu Lasten der Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen geht. Dies spiegelt sich in gezeigten physischen und psychischen Auffälligkeiten bereits im Kindes- und Jugendalter wider. Besonders die Schulen als hochsensibler Messparameter sozialer Fehlentwicklungen haben unter dieser allgemeinen Problematik zu leiden. Fehlende emotional-soziale Kompetenzen stellen ein erhebliches Entwicklungsrisiko für Kinder dar und können bis zu manifestierenden Gefühls- und Verhaltensstörungen und damit erheblichem Leidensdruck aller Beteiligten führen.

Der Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Gefühls- und Verhaltensstörung gehört für viele Pädagogen zu den größten beruflichen Herausforderungen in (vor-)schulischen und außerschulischen Institutionen. Dabei wird nach internationalen und nationalen Einschätzungen von einer Prävalenzrate (Auftretenswahrscheinlichkeit) von 10–20 % aller Kinder und Jugendlichen ausgegangen, die Gefühls- und Verhaltensstörungen aufweisen (z. B. Beelmannn/Raabe 2007; Ihle et al. 2000). Auch konservative Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 5 % aller Kinder und Jugendlichen aufgrund einer vorliegenden psychischen Störung als dringend behandlungsbedürftig einzuschätzen sind (Ihle/Esser 2008). Epidemiologische Längsschnittstudien zeigen relativ übereinstimmend hohe Persistenzraten (Stabilität). So weisen z. B. externalisierende Formen wie aggressiv-dissoziales Verhalten und ADHS, die bereits im Kindesalter beginnen, sehr ungünstige Verläufe auf (Ihle/Esser 2008).

Zudem sind auch hohe Wechselwirkungen (Komorbiditätsraten) etwa von Gefühls- und Verhaltensstörungen mit Lernstörungen von bis zu 50 % (Klauer/Lauth 1997) als deutliches Indiz für die Verschärfung der Problematik zu sehen, auf die besonders die (Sonder-)Pädagogik professionelle Antworten gerade im Rahmen eines inklusiven Bildungssystems finden muss. Auch vor diesem Hintergrund erhält ein frühzeitiges, unterstützendes Eingreifen und gezieltes Fördern eine immense Bedeutung: Die gezielte frühzeitige, präventive Förderung emotional-sozialer Kompetenzen ist alternativlos, wenn man nicht die individuell und gesellschaftspolitisch gleichermaßen gravierenden Konsequenzen sich verfestigender und kumulierender Risikokonstellationen in Kauf nehmen will, wie zahlreiche Längsschnittstudien eindeutig belegen (Beelmann/Raabe 2007). Sowohl wissenschaftlich als auch politisch und ökonomisch nimmt daher die Forderung nach geeigneten Präventionsmaßnahmen, die sich an empirischen und zugleich theoretischen Qualitätskriterien orientieren, zu (Beelmann/Raabe 2007; Ihle/Esser 2008), da sie als kostengünstige Alternative gelten, die zu einem frühzeitigen Zeitpunkt Einfluss auf die kindliche Entwicklung nehmen und somit komplexere Problemkonstellationen, wie sie häufig im Jugendalter bei dissozialem Verhalten auftreten, verhindern können. Eine effektive, zielgruppenspezifische Präventionsarbeit im Bereich der (vor-)schulischen Erziehungshilfe ist unabdingbar an theoretische und empirisch abgesicherte Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie sowie an Ergebnisse der Resilienzforschung gebunden. Insgesamt ergibt sich daher für die Pädagogik im Allgemeinen und für die Sonderpädagogik im Speziellen ein wesentlicher präventiver Auftrag (Hillenbrand 2006). Dieser frühzeitige Präventionsauftrag für alle an der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen Beteiligten wird auch durch die Kultusministerkonferenz (2000) dringend empfohlen: »Durch vorbeugende Maßnahmen können die Verfestigung sozial unangemessener Handlungsmuster frühzeitig verhindert, erwünschte angebahnt und dadurch die schulische Entwicklung positiv beeinflusst werden« (KMK 2000, S. 3). Die zentrale Bedeutung einer frühzeitigen präventiven Förderung wird auch durch die aktuellen KiGGS-Studien des Robert-Koch-Instituts bekräftigt (Hölling et al. 2007; 2014).

Doch welche wirksamen pädagogischen Möglichkeiten gibt es, um zum einen konsequent emotional-soziale Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen in den Bildungsinstitutionen zu fördern und gleichzeitig möglichen Entwicklungstendenzen hin zu einer Verhaltensstörung effektiv vorzubeugen? Aufgrund des spürbaren Leidensdrucks der beteiligten pädagogischen Fachkräfte, der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern wird sehr häufig nach schnellwirksamen »Zaubertechniken« oder »Rezepten« im Umgang mit herausforderndem Verhalten gerufen. Der Wunsch ist verständlich, jedoch wissenschaftlich betrachtet nicht einlösbar, da sich Entwicklungs- und Erziehungsrealitäten sehr komplex darstellen. Nichtsdestotrotz liegen mittlerweile eine Reihe von wirksamen präventiven Maßnahmen für pädagogische Kontexte vor, die in diesem Buch unter dem Fokus der wissenschaftlichen und praxisorientierten Qualitätskriterien näher vorgestellt werden.

Wichtig ist es uns dabei zu betonen, dass wir alle im Folgenden von uns empfohlenen Maßnahmen und Methoden immer auf der Grundlage eines Verständnisses von Prävention im Sinne der bestmöglichen Förderung jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen sehen. Insofern geht es in diesem Buch nicht um pädagogische Techniken, die in beliebigen Kontexten eingesetzt werden können, sondern um überprüfte hilfreiche Förderansätze, die eine sozial-emotional positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördern helfen und Pädagogen bei diesem Ziel als konkrete Arbeitshilfen dienen können. Die Grundlage jedes pädagogischen Handelns ist immer eine tragfähige Beziehung zwischen Pädagogen und zu erziehenden jungen Menschen, die von Authentizität, Respekt und Akzeptanz im Miteinander bestimmt ist. Jene Ideale einer humanistischen Pädagogik (Rogers 1977; Tausch/Tausch 1977; Cohn 1975) in Balance mit umsetzbarem pragmatischen pädagogischen Handeln und dessen kritischer Reflexion zu bringen, ist das anzustrebende Ziel.

Das Buch ist insgesamt in fünf inhaltliche Kapitel gegliedert. Nach der Einleitung erfolgt in den Kapiteln eins und zwei ein fundierter Überblick über die theoretischen und empirischen Grundlagen präventiven Handelns auf der Basis der Darstellung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse, zentraler Entwicklungsaufgaben sowie abgesicherter Risiko- und Schutzfaktoren im Kindes- und Jugendalter. In einem weiteren Schritt werden zentrale Erkenntnisse über das Phänomen »Gefühls- und Verhaltensstörungen« sowie die verschiedenen Formen und Modelle der Prävention und ihre Wirksamkeit näher dargestellt.

In den Kapiteln drei bis vier erfolgt ein systematischer multimodaler Überblick über wirksame Präventionsmaßnahmen für das Kindes- und Jugendalter auf den verschiedenen Präventionsebenen sowie über unterschiedliche Formen der Prävention. Darüber hinaus wird die Bedeutung einer engen und tragfähigen Vernetzung der Hilfen der Erziehung für das Schulsystem im Sinne einer präventiven Schule skizziert. Neben evidenzbasierten kindzentrierten Programmen und Maßnahmen, in denen einem effektiven Classroom Management eine besondere Bedeutung zukommt, werden auch beispielhaft Programme für die Ebene »Lehrer« und »Eltern« als wichtige Präventionsmöglichkeiten vorgestellt.

Das Buch schließt mit schulkonzeptionellen und schulpolitischen Bausteinen präventiven Handelns in einem inklusiven Bildungssystem.

 

Köln, Oktober 2016

Thomas Hennemann, Dennis Hövel, Gino Casale, Tobias Hagen & Klaus Fitting-Dahlmann

 

 

 

 

1

Emotionale und soziale Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

 

In diesem Kapitel werden wichtige entwicklungspsychologische Grundsteine für ein effektives, präventives Handeln im Kindes- und Jugendalter dargestellt. Eine enge Orientierung an den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, den Ergebnissen der Resilienzforschung sowie der Theorie der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung bildet dabei die theoretische Basis für die präventive Förderung emotional-sozialer Kompetenzen im Kindes- und Jugendalter.

1.1        Emotionale und soziale Kompetenzen

Für die nähere Auseinandersetzung mit den Konstrukten sozialer und emotionaler Kompetenzen ist es erforderlich, sich die Definitionsversuche dieser zu vergegenwärtigen.

Soziale Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, in sozialen Situationen persönliche Ziele zu erreichen und gleichzeitig positive Beziehungen zu anderen aufrechtzuerhalten (Siegler et al. 2008).

Als emotionale Kompetenzen werden die Fähigkeiten bezeichnet, die in sozialen Interaktionen mit emotionaler Priorität dazu beitragen, ein erwünschtes Ergebnis zu erreichen (Saarni 2002).

Betrachtet man vor diesem Hintergrund, unterschiedliches Verhalten von Menschen, so lässt sich mit Hilfe dieser Definitionen eine Aussage über deren soziale Kompetenz formulieren:

Ein Mensch, der ausschließlich an der Umsetzung eigener Ziele arbeitet und dabei die Ziele und Bedürfnisse anderer Menschen ignoriert bzw. diesen sogar entgegenwirkt, zeigt kein sozial kompetentes Verhalten. Ein Mensch, der stets bedacht ist, die Ziele anderer Menschen wahrzunehmen und zu verwirklichen und dabei seine eigenen Ziele und Bedarfe nicht berücksichtigt, zeigt ebenfalls kein sozial kompetentes Verhalten. Dagegen kann man nach diesen Definitionen einem Menschen, der sich z. B. aufgrund einer ausgeprägten Religiosität stark für andere Menschen engagiert, soziale Kompetenzen zuschreiben. Das eigene Handlungsziel wäre in diesem Fall der Einsatz für andere Menschen, sodass sowohl die eigenen als auch fremde Ziele berücksichtigt werden.

Sozial kompetentes Verhalten ist jedoch nur auf der Basis einer stabilen Emotionalität möglich. Bei Menschen mit einem geringen Selbstwert, mit ausgeprägten Ängsten, aber auch unter dem Einfluss von Wut, Trauer oder anderen Emotionen gerät die eben beschriebene doppelte Zielpassung in den Hintergrund und es wird häufig nur eine Dimension (die eigene oder die der anderen) berücksichtigt.

Unterschiedliche Modelle dieser Kompetenzen sollen im Folgenden beschrieben und deren Entwicklung aufgezeigt werden, um die Relevanz und Funktion jener Kompetenzbereiche für die Ausgestaltung menschlichen Verhaltens zu verdeutlichen.

1.1.1     Die Bedeutung der Emotionen und Modelle emotionaler Kompetenz

Die Entwicklungsbereiche emotionaler und sozialer Kompetenzen sind in vielfältiger Weise miteinander verknüpft und bedingen sich in ihrer Entwicklung gegenseitig (Petermann/Wiedebusch 2008). Emotionen gestalten zwischenmenschliche Interaktion. Menschen lassen sich dabei von sozialen Emotionen in ihrem Erleben, Denken und Handeln maßgeblich leiten:

»Die Funktion von Emotionen ist es, die eigenen Handlungsziele, -ergebnisse und -folgen und ihren situativen Kontext in ihrer Beziehung zum Grad der Befriedigung der eigenen Motive sicherzustellen (Frijda, 1986, S. 465 f nach Holodynski 2006). [. . .] Emotionen regulieren demnach die Handlungen einer Person in ihren motivrelevanten Aspekten, womit sie eine äußerst komplexe Funktion in der menschlichen Tätigkeitsregulation übernehmen (Holodynski/Friedlmeier 2006, S. 41).«

Eine Emotion besteht aus einer objektiven und einer subjektiven Ebene. Objektiv sind der Ausdruck und die körperlichen Komponenten (Gesichtsausdruck, Körperspannung, Herzklopfen usw.), die sich bei einer Emotion ergeben. Subjektiv ist das Gefühl, wie ein Individuum eine Emotion erlebt (Holodynski/Friedlmeier 2006). Beide Aspekte einer Emotion sind für die Gestaltung zwischenmenschlicher Interaktion von zentraler Bedeutung. Für die kindliche Entwicklung haben Abe und Izard (1999) die Funktionen von Emotionen wie folgt zusammengefasst:

•  Emotionen fördern soziale Interaktion.

•  Emotionen bringen Kinder dazu, über die eigenen Erwartungen und Verhaltensweisen nachzudenken und diese gegebenenfalls neu zu bewerten.

•  Emotionen fördern die Vorstellung von Kindern über die Kontextabhängigkeit von Gefühlen. (Kullik/Petermann 2012)

Denham (1998) formuliert in ihrem »Konzept der emotionalen Kompetenz« insgesamt neun Fähigkeiten, welche in die drei Kategorien Emotionsausdruck, Emotionsverständnis und Emotionsregulation eingeordnet sind. Dieses Modell legt einen starken Fokus auf die Entwicklung und stellt heraus, dass sich die einzelnen Fertigkeiten in den drei Bereichen im Laufe von mehreren Jahren ausbilden können. So kann es sein, dass bei einem Kind einige Schlüsselfertigkeiten bereits vorliegen, andere hingegen noch nicht (Petermann/Wiedebusch 2008).

Das Modell der »Schüsselfertigkeiten emotionaler Kompetenz« von Saarni (1999) knüpft an den Entwicklungsgedanken an und betont die Entwicklung der einzelnen Fertigkeiten, welche von familiären und kulturellen Interaktion geprägt sind. Saarni formuliert insgesamt acht emotionale Schlüsselfertigkeiten:

1.    Die eigenen Emotionen wahrnehmen

2.    Emotionen anderer wahrnehmen und verstehen

3.    Die Fähigkeit zur Kommunikation über Emotionen

4.    Empathie

5.    Die Fähigkeit zur Trennung zwischen Emotionsausdruck und Emotionsempfindung

6.    Adaptive Emotionsregulationsstrategien

7.    Bewusstsein der emotionalen Kommunikation in sozialen Beziehungen

8.    Die Fähigkeit zur Selbstwirksamkeit

Diese sind jedoch nicht theoriegeleitet zusammengestellt, sondern auf Grundlage empirischer Untersuchungen entwickelt worden. In diesem Zusammenhang besteht die Möglichkeit der Ergänzung weiterer Fertigkeiten und der Bedarf, die einzelnen Komponenten in eine hierarchische Struktur zu bringen (Petermann/Petermann 2008; Saarni 2002).

Ein erster Entwurf, der versucht, die einzelnen Komponenten in eine hierarchische Struktur der Entwicklung zu bringen, ist das Konzept des Emotionswissens (Pons et al. 2004). Die hier benannten Fertigkeiten sind chronologisch nach der Reihenfolge der Entwicklung angeordnet:

1.    Mimik: Erkennen und Benennen von verschiedenen Emotionsausdrücken anhand der Mimik.

2.    Anlässe: Zuordnung einer Emotion zu einem konkreten Anlass/einer bestimmten Situation.

3.    Wünsche: Erwartungen und Wünsche werden als Emotionsauslöser verstanden.

4.    Emotionsperspektive – ToM (Theory of Mind): Fähigkeit zur emotionalen Perspektivübernahme in die Gefühle anderer.

5.    Erinnerung: Verständnis dafür, dass abgespeicherte Erinnerungen erneut Emotionen auslösen können.

6.    Regulation: Die Fähigkeit, das eigene emotionale Befinden zu beeinflussen.

7.    Verbergen von Emotion: Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu verbergen.

8.    Multiple Emotionen: Verständnis dafür, dass man mehrere Emotionen gleichzeitig haben kann.

9.    Gewissen: Verständnis für Emotionen, die sich aus dem sozialen Kontext ergeben.

Die Komponenten bauen teilweise aufeinander auf und lassen sich in drei verschiedene Phasen unterteilen: externale, mentale und reflexive Aspekte von Emotion. Das Wissen über die ersten Komponenten entwickelt sich bereits im Kindergartenalter, die letzten Komponenten frühestens in der späten Grundschulzeit (Janke 2008). Die Entwicklung des jeweiligen Emotionswissens vollzieht sich jedoch nicht dergestalt, dass ein bestimmter Entwicklungsschritt erst vollständig abgeschlossen sein muss, bevor Merkmale einer höheren Entwicklungsstufe überhaupt beginnen können sich auszuprägen. Vielmehr findet im Zuge des Voranschreitens ebenfalls ein kontinuierlicher weiterer Ausbau der davorliegenden Niveaus statt. Während durch erworbene Fertigkeiten neue Entwicklungen angestoßen werden, können sich gleichzeitig die Fertigkeiten im vorausgehenden Bereich noch intensivieren. Zum Beispiel ist die Fähigkeit zur Emotionsregulation die notwendige Bedingung dafür, die eigenen Emotionen verbergen zu können. Während sich, initialisiert durch Kompetenzen in der Emotionsregulation, die Fertigkeit zum Verbergen von Gefühlen ausbildet, entwickelt sich die Emotionsregulation selbst ebenfalls noch weiter. Für die neun Bereiche des Emotionswissen von Pons et al. (2004) konnte, insbesondere im deutschsprachigen Raum, ein sich chronologisch vollziehender Fortschritt in den einzelnen Komponenten über die Entwicklungsspanne der Kindheit nachgewiesen werden (Janke 2008).

Die Verflechtung zwischen emotionaler und sozialer Kompetenz ist Kerngedanke des »Konzeptes affektiver sozialer Kompetenzen« (Halberstadt et al. 2001). Es betont vor allem das Einsatzgebiet der beschriebenen Kompetenzen, die soziale Interaktion:

•  Senden emotionaler Botschaften

•  Kompetente Kinder wissen, wann sie in einer sozialen Situation emotionale Botschaften senden müssen. Sie identifizieren und senden situationsangemessene Botschaften auf klare und prägnante Weise. Außerdem treffen sie angemessene Entscheidungen darüber, was sie kommunizieren und was nicht.

•  Empfangen emotionaler Botschaften

•  Kompetente Kinder wissen, wann sie in einer sozialen Situation emotionale Botschaften empfangen. Sie können die Botschaften anderer angemessen identifizieren und interpretieren. Emotionale Botschaften werden nicht verwechselt und müssen nicht wiederholt werden. Außerdem treffen sie klare Entscheidungen darüber, ob sie wahre oder falsche Signale empfangen.

•  Erleben von Gefühlen

•  Kompetente Kinder wissen, wann sie in einer sozialen Situation Gefühle erleben. Sie können ihre emotionalen Erfahrungen erkennen und richtig interpretieren. Außerdem können sie angemessene Entscheidungen darüber treffen, ob sie ihre emotionalen Erlebnisse im Hinblick auf das Ziel der sozialen Interaktion abschwächen, zurückhalten oder verstärken müssen.

Die enge Beziehung zwischen emotionalen und sozialen Fertigkeiten, wie sie in dem Modell von Halberstadt et al. (2001) zum Ausdruck kommen, ist ein zentrales Merkmal dieser Kompetenzen. Das Erkennen von Emotionen stellt im Rahmen emotionaler und sozialer Kompetenzen eine wesentliche Basisfertigkeit dar (Izard 1994). Sie bildet die Voraussetzung für das Emotionsverständnis (Denham 1998), welches wiederum das Fundament für die interpersonelle Fähigkeit zur Emotionsregulation ist (Grob et al. 2009). Das Anwenden von adäquaten Emotionsregulationsstrategien bildet seinerseits die Basis für ein sozial kompetentes Handeln, trägt im Allgemeinen zur psychischen Gesundheit bei und schützt vor psychischen Störungen (Petermann/Barnow 2013). Die Fähigkeit zur selbstständigen Regulation von Emotionen ist daher eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben (ebd.).

1.1.2     Modelle sozialer Kompetenz

Im Kontext der beschriebenen Komponenten emotionaler Kompetenz ist es vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass aktuelle Modelle sozialer Kompetenz emotionale Aspekte integrieren. Sozial kompetentes Verhalten vollzieht sich in der Wechselwirkung zwischen kognitiven sozialen Kompetenzen, emotionalen sozialen Kompetenzen und aktionalen sozialen Kompetenzen (Döpfner 1989). Auf der Ebene der kognitiven sozialen Kompetenz bedarf es hiernach einer effektiven sozialen Informationsverarbeitung sowie einer guten Einschätzung und Antizipation der für die Interaktion relevanten Faktoren sowohl in einer Person selbst als auch in deren Umwelt. Auf der zweiten Ebene, der emotionalen sozialen Kompetenz, werden Fähigkeiten benötigt, um für die Situation angemessene Gefühle entwickeln zu können. Die letzte Ebene der aktionalen sozialen Kompetenzen bezieht sich schließlich auf das Repertoire verbaler und nonverbaler Verhaltensfertigkeiten und deren angemessene Kombination bei der Ausführung von Verhalten.

Ebenfalls in einem engen Zusammenhang mit emotionalen Fähigkeiten und Fertigkeiten stellt sich das Pyramidenmodell sozialer Kompetenz von Rose-Krasnor (1997) dar (Abb. 1). Sie fasst soziale Kompetenz als Effektivität in sozialen Interaktionen auf. Das Fundament (Skills Level) dieses Modells stellen die emotionalen und kognitiven Fertigkeiten einer Person dar, die dieser kontextübergreifend zur Verfügung stehen. Auf der zweiten Ebene (Index Level) werden die Fertigkeiten der ersten Ebene in verschiedene Kontexte eingebunden. Diese Ebene veranschaulicht, dass zielerreichendes Verhalten sowohl durch die Anpassung der eigenen Person als auch durch die Anpassung des Gegenübers erreicht werden kann. In der Spitze (Theoretical Level) steht die soziale Kompetenz. Diese macht von den Ressourcen der unteren Ebenen Gebrauch, um Entwicklungsziele zu erreichen.

Abb. 1: Pyramidenmodell sozialer Kompetenz (Rose-Krasnor 1997, zit. n. Salisch 2002)

Die angeführten Modelle zeigen den engen Zusammenhang emotionaler und sozialer Kompetenzen. Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich einer begrifflichen Bestimmung sozialer Kompetenz und sozial kompetenten Verhaltens nach Kanning (2009) festhalten, dass soziale Kompetenz die »Gesamtheit des Wissens, der Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person [ist], welche die Qualität eigenen Sozialverhaltens – im Sinne sozial kompetenten Verhaltens – fördert« (ebd., S. 15). Hiervon ist die emotionale Kompetenz eine Teilmenge auf der Ebene der Fertigkeiten. Ziel all dieser Kompetenzen ist das sozial kompetente Verhalten, welches definiert ist als »Verhalten einer Person, das in einer spezifischen Situation dazu beiträgt, die eigenen Ziele zu verwirklichen, wobei gleichzeitig die soziale Akzeptanz des Verhaltens gewahrt wird« (ebd.).

1.1.3     Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen

Um die komplexen Wirkungsweisen der Emotionen besser verstehen zu können, werden menschliche Gefühle in zwei Bereiche kategorisiert: die Basisemotionen (auch Grundemotionen genannt) und die Sekundäremotionen, die auch als komplexe Emotionen oder selbstbezogene Emotionen bezeichnet werden.

Die Basisemotionen sind universell und kulturübergreifend bei Menschen und auch im Tierreich, z. B. bei Primaten, zu beobachten und dienen der Handlungsleitung (Berk 2011). Zu diesen Basisemotionen zählen Freude, Ärger/Wut, Trauer und Angst. Einige Autoreninnen und Autoren zählen zu den Basisemotionen auch noch Interesse, Überraschung und Ekel (Petermann/Wiedebusch 2008); diese Gefühle sind allerdings nicht eindeutig in allen Kulturkreisen zu identifizieren, sodass die Identifikation stark davon abhängt, ob der Beobachtete und der Beobachter aus demselben Kulturkreis stammen (Berk 2011; Grammer/Eibl-Eibesfeldt 1993). Von Geburt an verfügt das Neugeborene bereits über Vorläuferemotionen, die sich innerhalb der typischen kindlichen Entwicklung durch eine interpersonale Regulation dieser Gefühle durch die Bezugspersonen während der ersten sechs Lebensmonate zu den vier Basisemotionen ausdifferenzieren (Holodynski/Friedlmeier 2006, S. 120).

Die Sekundäremotionen sind selbstbezogene, komplexe Emotionen, die das Erkennen der eigenen Person als körperlich eigenständiges Wesen voraussetzen (Berk 2011, S. 249; 275). Zu diesen komplexen Emotionen zählen Schuldbewusstsein, Scham, Verlegenheit, Neid, Stolz und auch Empathie, die sich zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat ausbilden (Saarni et al. 2006; Berk 2011). Die primäre Funktion von Emotionen – die Handlungsanleitung – wird durch die sekundären Emotionen um den Aspekt der Selbstbezogenheit ergänzt, indem sie Einfluss auf die Steigerung oder Verletzung des Selbstwertgefühls haben (Berk 2011). Anders als die Basisemotionen, die auch durch leblose Gegenstände außerhalb einer sozialen Interaktion hervorgerufen werden können, treten selbstbezogene Emotionen nur innerhalb einer sozialen Interaktion auf. Die Ausdifferenzierung und der Wissenserwerb über diese sozialen Emotionen vollziehen sich über einen langen Zeitraum in der kindlichen Entwicklung. Große Entwicklungsfortschritte vollziehen sich vor allem in den Übergängen vom häuslichen Umfeld in den Kindergarten, vom Kindergarten in die Grundschule und von der Grundschule in die weiterführende Schule (z. B. Janke 2008; 2007). Merkmal dieser Transitionen ist der Anstieg der sozialen Komplexität und die damit einhergehende Erhöhung der Bandbreite sozialer Emotionen.

Die emotionale Entwicklung eines Menschen verläuft nach Holodynski (2006) insgesamt in drei großen Phasen:

1.    Die Phase der Vorläuferemotionen eines Neugeborenen,

2.    die Phase der Entstehung von funktionstüchtigen – im Sinne der Definition – Emotionen und

3.    die Phase der Entstehung der intrapersonalen Regulation (d. h. der selbstständigen Regulation von Emotionen und Handlungen).