Schulzeiten - Imbke Behnken - E-Book

Schulzeiten E-Book

Imbke Behnken

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Beschreibung

Dieses Buch kennzeichnet ein radikaler Perspektivenwechsel auf die Schule. Es ist nicht der Blick der Lehrer, Eltern oder Bildungsforscher. Hier wird mit den Augen von Kindern und Jugendlichen auf das gesellschaftliche Unternehmen Schule geschaut. Autobiografische Berichte vergegenwärtigen den Schulalltag im Erleben damaliger Schüler und zeichnen prägnante Bilder des Schullebens. Das Buch verknüpft diese subjektive Sicht mit den übergreifenden gesellschaftlichen, politischen und historischen Tendenzen. In der Langzeitperspektive werden so thematische Querschnitte, etwa die Veränderungen in der Schule, aber auch eine hartnäckige Reformresistenz der Institution erkennbar. Zugleich werden aber auch die individuell erlebten Schulgeschichten beleuchtet, die sich in den Lebenslauf von Jungen und Mädchen unterschiedlichster Herkunft und Milieus eingeschrieben haben.

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Imbke Behnken

Manuela du Bois-Reymond

Schulzeiten

Schulgeschichte aus Schülersicht 1870–heute

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030555-7

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-030556-4

epub:  ISBN 978-3-17-030557-1

mobi:  ISBN 978-3-17-030558-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhaltsverzeichnis

 

1 Zur Einführung

2 Schulerleben in zivilisatorischer Sicht

Einleitung

Verschiebung von Machtbalancen

Formalisierung – Informalisierung – Re-Formalisierung

Alte und neue Lernorte; alte und neue Lerner

Periodisierungen

1870 – 1918: Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs

1918 – 1945: Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur

1945 – zur Gegenwart

3 Schulzeit in autobiographischer Perspektive

Lebensgeschichte als Quelle für sozialwissenschaftliche Forschung

Theoretische Forschungsinteressen

Semantische Variationen zum Konzept Lernen in der pädagogischen Biographieforschung

Lernbiographien als Lebensgeschichte von Lernenden

Bildungsbiographien

Biographisches Lernen

Pädagogisch-praktische Interessen

Autobiographie als besondere Form von Lebensgeschichten

Methodenkritische Anmerkungen

Zur Quellenkunde autobiographischer Schulerinnerungen

Zum Vorgehen: Auswahl und Themen

4 Schule und Lehrer

Die Kaiserzeit

Weimarer Republik und nationalsozialistische Diktatur

1945 bis zur jüngeren Gegenwart

Lehrertypologien aus Schüler-Sicht

Schule als Ort informellen Lernens

5 Exkurs

Von der sozialen Klassengesellschaft zur demokratischen Mittelstandsgesellschaft

6 Scholarisierung und Lebenswelt

Die Kaiserzeit

Schule als Bildungsanstalt

Schule als Lebenswelt

Weimarer Republik und Nationalsozialistische Diktatur

Schule als Bildungsanstalt

Schule als Lebenswelt

1945 bis zur jüngsten Gegenwart

Schule als Bildungsanstalt

Schule als Lebenswelt

7 Autobiographische Portraits

Zur Auswahl der Quellen

Autobiographische Portraits

Aufwachsen in der Kaiserzeit

Hermann Lietz (1868–1919)

Gertrud Bäumer (1873–1954)

Kindheit und Jugend in der Weimarer Zeit und in der nationalsozialistischen Diktatur

Heinz Reinhold (1910–2012)

Trude Simonsohn, geb. 1921

Erich Fried (1921–1988)

Kindheit und Jugend nach 1945

Wolfgang Schmidbauer, geb. 1941

Maria Wimmer, geb. 1944

Vergleichender Kommentar

8 Rückschau auf 150 Jahre deutsche Schulgeschichte aus Schülersicht

Quellenkritische und methodisch-methodologische Bemerkungen

Das Verhältnis von schulischem und außerschulischem Lernen

Schülertypologie

Literatur

 

1

Zur Einführung

Der Untertitel unseres Buches, Schulgeschichte aus Schulersicht, ist eine Herausforderung für alle an pädagogischen Handlungen Beteiligten und Interessierten. Herausgefordert werden Lehrer, Eltern und Bildungsforscher, sich nicht nur als Erziehungsberechtigte und Experten zu sehen, sondern mit den Augen von Kindern und Jugendlichen auf das gesellschaftliche Unternehmen Schule zu schauen. Was sie dort sehen, ist der Inhalt unseres Buches. Denn wir nehmen programmatisch die Perspektive derer ein, auf die sich die Überzeugungen und Handlungen von Erwachsenen richten, die im pädagogischen Feld arbeiten. Wir sind einmal nicht die Bestimmenden, sondern die Zuhörenden. Was haben ehemalige Schüler und Schülerinnen uns über ihre Lehrer, den Unterricht, kurz ihre Schule zu erzählen? Wie haben sie ihre Schulzeit erfahren, wie beurteilen sie diese Anstalt, wenn sie später auf sie zurückschauen? Bot ihre Schule ihnen ein Klima, das sie zum Lernen anregte, oder beherrschten Regeln und starre Unterrichtsformen das Klima? Und welche Handlungsstrategien standen ihnen im Klassenzimmer und außerhalb der Schule zur Verfügung, um auch gegen systemische Widerstände ihre Interessen durchzusetzen?

In den hier dokumentierten autobiographischen Berichten über Schule taucht eine Vergangenheit auf, die uns Heutige einerseits sehr entfernt anmutet, die uns andererseits aber auch vertraut ist, sei es aus unserer eigenen Schulzeit, sei es als Eltern mit schulgehenden Kindern, sei es als Schulforscher, die Daten über die gegenwärtige Schule erheben und im gesellschaftlichen Kontext interpretieren.

Solche persönlichen und wissenschaftlichen Anschauungen rufen Fragen auf: War Schule immer so, oder was hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert – und in welche Richtung? Wir nehmen hierzu eine Langzeitperspektive ein, wir wollen 150 Jahre Schulgeschichte von unten durch die autobiographische Brille ehemaliger Schüler und Schülerinnen betrachten. Heutige Lehrer könnte unser Buch dazu anregen, ihre Berufsauffassungen und ihre Berufspraxis vergleichend zu überdenken, ebenso wie Schulpolitiker darüber ins Grübeln kommen könnten, wie beharrlich Schule auf ihren eingefahrenen Prozeduren und Lösungen von Problemen besteht, trotz aller inzwischen durchgeführten Schulreformen.

In der Schule geht es um Lernen, um den Erwerb von Wissen und Zertifikaten; das ist ihr offizieller Auftrag. In der Schule geht es aber um viel mehr und anderes, nämlich um Leben und Überleben, es laufen dort außer den formalen Lernaufträgen auch kognitive, soziale und emotionale Aneignungen von Umwelten ab, die nicht im Lehrplan stehen. Wie verhält man sich als Schüler gegenüber mächtigen Erwachsenen? Wie schafft man sich Freiräume? Wie vermindert man Lernstress und verschafft sich Luft? Das ist das informelle Curriculum, das neben dem formellen einhergeht und Schule erst richtig ausmacht.

Im folgenden Kapitel 2 – Schulerleben in zivilisatorischer Sicht – schaffen wir für all diese Phänomene einen theoretischen Hintergrund, der es uns erlaubt, subjektives Erleben mit objektiven gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen zu verknüpfen, und wir tun dies unter dem Gesichtspunkt von Wandel und Beharrungsvermögen.

Kapitel 3 – Schulzeit in autobiographischer Perspektive von Jugendlichen – führt die Leser in Forschungen über Biographie und Lernen ein und führt sie ins Herz unseres Buches, die Quelle Autobiographie. Diese Quelle benutzen wir zweifach: einmal für eine Querschnittauswertung, in der wir viele Quellen themengerichtet erschließen; zum anderen, indem wir monographische Portraits erstellen, in denen das Schulleben einer bestimmten Person im autobiographischen Zusammenhang über ihre gesamte Schulzeit (und darüber hinaus) aufscheint. Diese beiden Verfahren – Querschnitt und Lebenswelt – stehen in einem produktiven Spannungsverhältnis zueinander. Thematische Querschnitte sagen nur ausschnitthaft etwas über die individuelle Person aus, dafür aber Einschlägiges über das betreffende Thema, etwa das Lehrer-Schülerverhältnis. Monographien lassen tiefere Einblicke in die Persönlichkeit und die Lebenswelt der Autographen zu, in ihre Bildungs- und allgemeine Entwicklungsgeschichte, in der möglicherweise auch andere Motive und Sachverhalte erscheinen als in den Querschnitten.

Wir führen unsere Leser nach den beiden Theoriekapiteln durch drei thematische Querschnitt-Kapitel (4, 5, 6) und ein längeres Monographie-Kapitel (7). Im letzten Kapitel (8), Rückschau auf 150 Jahre deutsche Schulgeschichte aus Schülersicht, fragen wir uns und unsere Leser nach dem Ertrag unserer Arbeit.

 

2

Schulerleben in zivilisatorischer Sicht

Einleitung

Hier geht es uns darum, das Thema dieses Buches »Schule von unten« in theoretische und empirische Diskurse und Überlegungen einzubetten, die uns in unserer eigenen wissenschaftlichen Arbeit über Kindheit und Familie, Schule und Lernen, Schüler und Lehrer sowie, ganz allgemein, gesellschaftliche Wandlungen angeleitet haben und uns vertraut sind. Dabei lassen wir uns von den Arbeiten Norbert Elias‹ und seiner Mitdenker anregen (Elias 1969; 1986; Gleichmann/Goudsblom/Korte 1977; 1979; 1984; Wouters 1999; Krumrey 1982). Sie haben den westeuropäischen Zivilisationsprozess bis in die jüngere Gegenwart verfolgt und zu seinem Verständnis eine Reihe von Teiltheorien und Konzepten vorgeschlagen, die wir in eigenen Forschungen weiterentwickelt haben und auch hier für unsere Darstellung und Analysen nutzen (Behnken/du Bois-Reymond/Zinnecker 1988; 1989; Behnken 1990).

Während die wissenschaftliche Produktion der sozio- und psychogenetischen Zivilisationstheorie seit den 1980er Jahren zu einem gewissen Stillstand gekommen ist, haben soziologische Modernisierungstheorien seither einen enormen Aufschwung genommen. Sie entstanden zum Teil parallel und in freundschaftlicher Nähe zu Elias, zum Teil in kritischer Distanz und mit anderen Erkenntnisinteressen. Wir selbst verhalten uns beiden Traditionen gegenüber unbefangen: Weder spielen wir die eine gegen die andere aus, noch fühlen wir uns der einen mehr als der anderen verpflichtet. Wir verfahren eklektisch: Wenn es um Lernen im allerbreitesten Sinn geht, so sind selbstverständlich auch bildungssoziologische, erziehungswissenschaftliche und lernpsychologische Theorien mitgefragt (Terhart 2015; Grunert/von Wensierski 2008; Coelen/Otto 2008; Schröer/Stauber/Walther u. a. 2013). Und wenn es um Wandlungen von Kindheit geht, also die jungen Lerner in und außerhalb der Familie, so holen wir uns auch aus der neuen Familien-, Jugend- und Kindheitssoziologie Anregungen (Leccardi/Ruspini 2006; Krüger/Grunert 2009; Breidenstein/Prengel 2005; Heinz/Zeiher 2005). Schon gar nicht wollen wir ethnografische und Lebenswelt-Traditionen vernachlässigen, zu deren Gründungsvätern Alfred Schütz (1975) und, aus dem amerikanischen Raum, Erving Goffman (1959; 1961) gehören.

Verschiebung von Machtbalancen

Schauen wir zwei, drei Generationen zurück in unsere eigenen Familien, so wird jedem von uns Gegenwärtigen klar, dass sowohl im familialen wie im größeren gesellschaftlichen Rahmen eine wesentliche Veränderung das Verhältnis zwischen Männern und Frauen und das Verhältnis zwischen Erziehern und Kindern betrifft (Krumrey 1982). Durch diese Entwicklungen verschiebt sich die Machtbalance zwischen den Geschlechtern, wobei wir hier das soziale Geschlecht meinen, mit dem englischsprachigen Begriff »gender« bezeichnet, und zwischen den Generationen. Dabei ist Macht nicht als eine Substanz zu denken, die quasi wie ein Kuchen aufgeteilt wird, wobei nun die Frauen und Kinder ein größeres Stück auf Kosten der Männer bekämen. Vielmehr geht es um einen Strukturwandel in der Figuration (Elias 1986) der Geschlechter/gender und der Generationen. In beiden Figurationen geht es um ein Ausbalancieren gegenseitiger Interessen und Bedürfnisse, und was Kinder betrifft, nicht nur gegenüber den Eltern, sondern auch gegenüber anderen (ehemaligen) Autoritätspersonen wie Pfarrern oder Lehrern. Diese Veränderungen korrespondieren mit makrosoziologischen Wandlungen, die Soziologen unter dem Sammelbegriff Modernisierung zusammenfassen und ausdifferenzieren (Herlth/Brunner/Tyrell 1994; Beck/Bonß/Lau 2001; Beck/Beck-Gernsheim 1990; Beck 1986; Zinnecker 2003b).

Insgesamt führt eine (mehr) ausgeglichene Machtbalance zu mehr Verhaltensalternativen und Verhaltensformen aller in einer Figuration involvierten Menschen, kleinen und großen. Sind in (stärker) hierarchischen Beziehungen nur wenige Aktions- und Reaktionsweisen vorgesehen – Respekt fordern und Respekt erhalten –, so öffnen sich nun für Menschen viel mehr Verhaltensvariationen. Kinder und Jugendliche sind Teil der Machtbalance und ihrer Wandlung hin zu mehr Anspruch auf Wahrung eigener Interessen. In älteren Familienfigurationen – denken wir etwa an die Kindergeneration der 1950er Jahre – hatten Kinder und Schüler wenig aktive Einflussmöglichkeiten auf das familiäre und schulische Geschehen; Eltern und Lehrer waren Respektpersonen, bis hin zu körperlicher Sanktionsgewalt. Das ist heute Ausnahme, nicht (mehr) Regel (du Bois-Reymond/Büchner/Fuhs/Ecarius 1994; Zinnecker 2003b).

Mehr Freiheit bedeutet nun aber nicht Zügellosigkeit. Wie insbesondere Bildungssoziologen thematisieren, erfordert eine gezielte und realistische Schulwahl Selbstdisziplin und Aufschub von momentaner Befriedigung (z .B. weniger Leistungsdruck in weniger anspruchsvollen Bildungsgängen oder schneller Geld verdienen – vgl. hierzu den Klassiker Paul Willis 1977). Wer dies nicht gelernt hat, kann auch zugenommene Wahlmöglichkeiten nicht optimal nutzen – womit allerdings nicht gesagt sein soll, dass schulische Benachteiligung aufgehoben wäre, wenn alle Kinder und ihre Eltern vernünftige Schulwahlen träfen.

Wenn sich so einschneidende Veränderungen in modernen Gesellschaften vollziehen, und dies in einem relativ kurzen Zeitraum (jedenfalls unter einer zivilisationstheoretischen Perspektive, die mit langen Zeiträumen rechnet), so fordert dies den betroffenen Personen enorme Lernleistungen ab, Männern wie Frauen, Vätern wie Müttern, jüngeren wie älteren Kindern und Jugendlichen. Sie beziehen sich schon auf die Kleinkind- und Vorschulphase, erst recht auf die Schule. Moderne Eltern haben aus dem verfügbaren gesellschaftlichen Wissen gelernt, dass eine gute Schulbildung für ihre Kinder lebenswichtig ist, ja selbst überlebenswichtig in einer stets mehr auf Wissen basierten Gesellschaft1. Sie stellen deshalb ihre Erziehungsvorstellungen um vom Einfordern von Gehorsam auf das Stimulieren sozialpsychologischer und kultureller Kompetenzen wie das Begründen eigener und Reflektieren anderer Meinungen, Sprachfertigkeit und die Zügelung von aggressiven Impulsen. Norbert Elias hat die Herausbildung dieser Fähigkeiten im zivilisatorischen Langzeitverlauf als die Emanzipation von Fremdkontrolle hin zu Selbstkontrolle analysiert (Elias 1969). Diese Entwicklungen erstrecken sich auf alle sozialen Milieus, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung und Geschwindigkeit.

Moderne Erzieher haben mit dem Widerspruch zu tun, anzuerkennen, dass Kinder und Jugendliche historisch mehr Entscheidungsmacht erobert haben, andererseits müssen sie von ihnen Frustrationstoleranz und Leistungsbereitschaft fordern. Deshalb müssen Machtbalancen im schulischen und außerschulischen Leben immer neu ausgehandelt werden.

Formalisierung – Informalisierung – Re-Formalisierung

Im Verlauf der letzten etwa 150 Jahre entwickelt sich in europäischen Gesellschaften eine Dynamik, die auch für unsere Thematik – Schulleben aus autobiographischer Sicht – bedeutungsvoll ist. Es handelt sich hierbei um den Übergang von stark formalisierten zu mehr informellen Verhaltensformen. Diese Dynamik hat eine Anlaufzeit und kulminiert in den 1960/70er Jahren in der kulturellen und sexuellen Revolution – Höhepunkt informeller Verhaltensweisen nach Jahrzehnten (viel) stärker reglementierter Verhaltenskodes, wie man dies gut anhand von Anstandsbüchern (Krumrey 1982) analysieren kann. Das impliziert eine Adjustierung der Selbstzwang-Fremdzwang-Balance: Wenn sich den Individuen aufgrund allgemeiner Demokratisierungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen mehr Wahlmöglichkeiten und erweiterte Verhaltensalternativen eröffnen, wenn ihr Verhalten also weniger durch Zwang von außen und oben gelenkt wird, so steigt im selben Atemzug die Notwendigkeit zur Selbststeuerung – in psychoanalytischer Terminologie: Gewissensbildung.2 Es kommt zu einer »Verringerung des Machtgefälles zwischen machtstärkeren und machtschwächeren Gruppen« (Elias 1990, S. 36). Diese Abschwächung des Machtgefälles finden wir auch im Verlauf der Schulgeschichte (s.w.u.), in der Beziehung von Lehrern und Schülern, Schüler haben sich gegenüber ihren Lehrern mehr Freiheitsgrade im Verhalten erobert, Lehrer haben sich weitgehend von Obrigkeitsideologien gelöst. Aber, wie Elias anmerkt: Diese Verringerung des Machtgefälles vollzieht sich in einer Gesellschaft – und zumal der deutschen – nicht gleichmäßig, sondern in den oberen Gesellschaftsklassen früher, während man sich »im Verkehr mit Tiefergestellten, wie es die Sprache uns in den Mund legt, keinen Zwang anzutun (braucht), man kann sich gehen lassen« (Elias 1990, 50).

Es dauerte drei bis fünf Generationen, bis diese Unterschiede ausgeglichen waren. Wir können das aus unseren schulhistorischen autobiographischen Quellen bestätigen: Um die Jahrhundertwende behandelten Lehrer ihre Schüler deutlich als Tiefergestellte, denen gegenüber man sich keinen Zwang antun musste, bis hin zu körperlichen Übergriffen; sechzig Jahre später ist bei Lehrern und Schülern die Selbstzwang-Fremdzwang Balance ausgeglichener.

Die Schulgänger der 1960/70er Jahre und später profitierten von Informalisierungsschüben, die tradierte Generationsbeziehungen aufweichten. Nicht nur Eltern und Kinder »verhandeln« nun auf Augenhöhe. Auch in den Schulen ist seither der Umgangston lockerer geworden, bis hin zum Duzen von Lehrern, und gewiss gibt es den militärischen Morgengruß nicht mehr, von Körperstrafen zu schweigen, unter denen so viel Schüler früher gelitten haben.3

Es handelt sich aber in der Schule um eine andere Einfärbung von Informalisierung als in den Familien. Familiäre Informalisierung geht gepaart mit einer Emotionalisierung und Pädagogisierung des Eltern-Kind Verhältnisses einher (weniger Geschwister, mehr Elternzeit pro Kind und Aufmerksamkeit für seine soziale und psychische Entwicklung), wohingegen in der Schule Informalisierung bei abnehmender Sanktionsgewalt der Lehrer eher zu einer tendenziellen Vergleichgültigungdes Lehrer-Schüler Verhältnisses führt (»denen ist doch egal was mit mir ist«).4

Vergleichgültigung ist hier nicht als eine psychische Persönlichkeitseigenschaft des einzelnen Lehrers zu verstehen, sondern als eine gesellschaftlich vermittelte psychosoziale Reaktion der Lehrerschaft, die ihren Beruf in einem Verwaltungsstaat ausübt, der das Bildungssystem und damit jede einzelne Schule unter objektiv-technologisch-ökonomische Sachzwänge stellt.5

Wenn das Schüler-Lehrer-Verhältnis nicht mehr durch klare Macht und Autorität der Vertreter der älteren Generation bestimmt ist mit dem eindeutigen Anspruch auf das generative Wissensmonopol, sondern wenn sich diese Zwinge, in der beide, die jüngere und die ältere Generation eingespannt waren, gelockert hat – bis hin zur Nivelliereng des Wissensvorsprungs (die »Digi-Generation« ist in vielen medialen Bereichen beschlagener als ihre Erzieher) –, so relativiert sich schulisches Lernen und Lehren und nimmt gleichermaßen Züge von Lohnarbeit an; Lernen reduziert sich auf Leistung, Lehren auf Leistungsmessen.

Verschiedene Autoren haben die Tendenz der Vergleichgültigung auf der Schwelle des Übergangs von informalisiertem zu reformalisiertem Schulleben dem Verlust des auratischen Raumes Schule zugeschrieben und sich dabei auf Walter Benjamins viel zitierten Artikel »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1939) berufen (Ziehe/Stubenrauch 1982; Schmidt 1984; du Bois-Reymond 1998). Vorbei sind die Zeiten der »weißen« wie der »schwarzen« Pädagogik (Rutschky 1997), in der Lehrer ihre Schüler und Schülerinnen mit ihrem pädagogischen Eros zu begeistern und zu faszinieren wussten und eine Tür zu einer Welt öffneten, die zu erobern Schülern und Schülerinnen groß und erstrebenswert erschien; in der sie ihre Lehrer um ihr Wissen bewunderten und diese ihnen als Vorbild dienten. Wir werden derartige Zeugnisse später präsentieren. Vorbei aber auch die Zeiten, in denen der Lehrer physische Gewalt über den Kinderkörper hatte und diese ausnutzte. In beiden, der weißen wie der schwarzen Pädagogik, war die Schule auratisch aufgeladen und ist dies heute nicht mehr.

Auf eine Zeit weitgehend gelockerter Verhaltensstandards folgte eine Reformalisierung als Reaktion auf eine Epoche verstärkter Informalisierung und Emanzipation.6 Eine solche Reformalisierung fand aber weniger im privaten als im öffentlichen Leben statt. Dort achtete man nun wieder mehr auf formalisierte und standardisierte Prozeduren und Verhaltensformen, wobei es, wie bei allen gesellschaftlichen Wandlungen, nie ein »Zurück« zu alten Zuständen gibt, sondern sich vorgängige mit aktuellen Entwicklungen zu neuen Mischungen fügen (Wouters 1999; Krumrey 1982).

Durch zugenommene Verhandlungsmacht der Schüler und Konfliktbereitschaft der Eltern, gegebenenfalls im Interesse ihrer Kinder zu intervenieren und beim Lehrer und Schulleiter über nachteilige oder vorurteilsvolle Notengebung zu klagen, kommt es, im Zusammenhang mit einer allgemeinen Bürokratisierung schulischer Abläufe, zu einer Verrechtlichung der Eltern-Schulbeziehungen. Lehrer haben heute, wie in aktuellen Zeitungsberichten (DIE ZEIT 23.03.2016) zu lesen, mehr Angst vor selbstbewussten und provozierenden Eltern, die notfalls mit gerichtlichen Schritten drohen, als vor ihren Vorgesetzten. In extremen, aber nicht zu vernachlässigenden Fällen werden Lehrer von Schülern (oder sogar Eltern) physisch angegriffen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Wir interpretieren diese Tatbestände als einen von vielen Auswüchsen einer weit übers Ziel hinausgeschossenen Informalisierung, auf die die Schulen mit Monitoring-Kursen zu Konfliktmanagement sowie streng formalisierten Instrumenten (schriftlich niedergelegten und von Eltern und Schülern zu unterschreibenden Schul- und Verhaltensnormen) zu konterkarieren bestrebt sind.

Mit Demokratisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung ist die Schule (das Bildungssystem in seiner Gesamtheit) zur größten gesellschaftlichen Veranstaltung überhaupt geworden. Schule erfasst in modernen Massengesellschaften alle Kinder und Jugendlichen bis in ihr junges Erwachsenenalter und darüber hinaus. Modernes Kinder- und Jugendleben ist heutzutage charakterisiert durch Scholarisierung und Dauerlernen in und außerhalb der Schule (Mitterauer 1986; Zinnecker 2003b). Mit Scholarisierung verbunden ist eine »Pädagogisierungsoffensive« großen Stils. »Die Pädagogisierung des Lebens hat uns alle zu Dauerlehrlingen gemacht, die vor lauter Wegweisern die Orientierung verlieren«, so der Klappentext zu Johann Becks Bestseller »Der Bildungswahn« von 1994. Und im Vorwort zur deutschen Ausgabe zu Philipp Aries »Geschichte der Kindheit« hatte Hartmut von Hentig in den siebziger Jahren bildungskritisch angemerkt, dass Kindheit zu einer pädagogischen Kindheit geworden sei, in der die erwachsenen Erzieher »ihre Taten und Äußerungen gegenüber den Kindern durch das, was sie als ›die richtige Erkenntnis von Pädagogik‹ zu haben meinen, (filtern)« (von Hentig 1978; vgl. auch Bertram 1988).

An dieser Stelle stoßen wir – wie dies charakteristisch für alle Wandlungsprozesse ist – auf Gegentendenzen. Diese betreffen nicht so sehr eine erneute Informalisierungswelle in der Schule als vielmehr ein Auswandern der Schüler aus der Schule in informelle Lernorte, in denen sie ihre begrenzte Schülerrolle ablegen und zu breiter orientierten Lernern werden (du Bois-Reymond/Behnken 2016).

Alte und neue Lernorte; alte und neue Lerner

Im Verlauf des Zivilisationsprozesses verlagern sich, ganz allgemein gesprochen, Lebensvollzüge von Außen- in Innenräume, eine Entwicklung, die wir als »Verhäuslichung« analysiert haben (Behnken/du Bois-Reymond/Zinnecker 1988). Früher und bis in die Neuzeit spielte sich ein großer Teil des Arbeits- und Erholungslebens außerhalb der Wohnung ab. In den kleinen und mittelgroßen Städten wurden handwerkliche Tätigkeiten in halboffenen Werkstätten ausgeübt und waren für die Quartiersbewohner einsichtig. Kinder verbrachten einen Großteil ihrer Freizeit auf der Straße und nahmen als Beobachter am Leben der tätigen Erwachsenen teil. Die Wohnungen der Unterschicht waren beengt und boten kinderreichen Familien keinen Platz, sie suchten sich ihre Spielplätze draußen. Dies galt in modifizierter Form auch für die Kinder aus höheren Sozialschichten. Ihre Kinder hatten allerdings mehr Innen- und andere Außenräume zur Verfügung, nämlich das (groß-)bürgerliche Spielzimmer und einen Garten, aber auch für sie galt, dass sie vergleichsweise viel Freizeit draußen verbrachten (Behnken 2006; Zinnecker 2001; Muchow/Muchow 2012).

In einem sozio-kulturell vergleichenden Projekt haben die beiden Autorinnen dieses Buches und ihre Kollegen die Stadt- und Quartiersräume in Leiden, Niederlande, und in Wiesbaden im Hinblick auf Kinderleben 1910/20–1950/60 untersucht (Behnken/du Bois-Reymond/Zinnecker 1989; 1989b; Behnken 1990). Aus den Berichten mündlicher Zeitzeugen, Fotografien, Stadtplänen und Stadtarchivmaterial tritt das Bild einer Kinderzeit noch vor ihrer Verhäuslichung durch längeren Schulbesuch, größere Wohnungen, gestiegene pädagogische Ansprüche und elterliche Kontrolle hervor. Arbeiter- und kleinbürgerliche Kindheit war bis weit in die 1950er Jahre Quartierskindheit. Eine Draußen-Kindheit galt erst recht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts für Landkinder. Sie wurden schon in frühem Alter als Mithelfer in der Landwirtschaft eingesetzt und waren nach wenigen Volksschuljahren lange von einem weiterführenden Schulbesuch ausgeschlossen.

In den Jahrzehnten etwa ab 1960/‘70 wird Kindheit, wie oben gesagt, durch eine zunehmende Scholarisierung und Pädagogisierung bestimmt, die ihre außerschulische Freizeit begrenzt. Mehr Tagesstunden spielen sich hinfort in Innenräumen ab, und zwar sowohl in Schulräumen wie privaten und öffentlichen Räumen, seien diese in der elterlichen Wohnung, bei Freunden zuhause, in Freizeiteinrichtungen, Klubhäusern, Einkaufspassagen oder anderen überdeckten Räumen. Aus Straßenkindheit wird verhäuslichte Familienkindheit (Behnken/Jonker 1990). Jürgen Zinnecker hat diesen Prozess in folgendem Schema erfasst (Zinnecker 1990, 152; vgl. auch Preuss-Lausitz/Büchner/Fischer-Kowalski u. a. 1983):

Historische Entwicklungslinien der Verhäuslichung von Kindheit nach sozialer Klasse des Elternhauses: Vergleich 1800 – 1900 – 1990 (Schema: Zinnecker 1990, 152)

Zeitraum

Unter dem Gesichtspunkt von Lernleistungen beschränken wir uns hier auf die beiden letzten Perioden, 1900 und 1990, und kontrastieren bürgerliche mit Arbeiterfamilien. Aus dem Schema geht hervor, dass in bürgerlichen Familien die Kinder historisch früher ein Leben in Innenräumen führten und Straßenkindheit nie so »hautnah« erlebten wie Arbeiterkinder. Ihr Zuhause bot ihnen reichhaltiges Spielzeug und die individualisierte Aufmerksamkeit von erwachsenen Bezugspersonen in und außerhalb der Familie mit vielfältigen Lernangeboten (Bücher, Sport und Musik, Reisen), sie erhielten viele Lernanregungen, und auch in der Schule lernten sie in der Regel mehr und länger als Arbeiterkinder. Demgegenüber fanden Arbeiterkinder im Quartier viele informelle (nicht pädagogisierte) Lerngelegenheit, wenn sie den Erwachsenen bei ihrer Arbeit zusahen und mithalfen (Behnken/Zinnecker 1992). Schule bot vergleichsweise weniger Lernstoff und nahm weniger Lebenszeit in Beschlag.

In der modernisierten Massenschule findet nicht nur formales, sondern zunehmend auch organisiertes Lernen außerhalb des Pflichtcurriculums statt. Dabei zeichnen sich zwei gegenläufige Tendenzen ab, die die Schule charakterisieren und erneut dynamisieren: einerseits die auch von bildungspolitischer Seite geforderte Bemühung, informelles und außerschulisches Lernen ins formale Curriculum zu integrieren (Stichwort Ganztags- und Gesamtschulen – vgl. Coelen/Otto 2008) sowie projektbasierte Erweiterungen insbesondere im Grundschulbereich einzuführen (vgl. Brügelmann 2014). Andererseits entziehen sich Schüler dem Zugriff von Schule, tiefer in ihren privaten und Freizeitraum einzudringen, und schaffen sich eigene Lern- und schulische Antiwelten, insbesondere durch die intensive Benutzung einer ausdifferenzierten Palette von sozialen Medien; Kinder und Jugendliche erleben und gestalten heute eine Medienkindheit, die von vielen schulischen Pädagogen mit Sorge zur Kenntnis genommen wird (Traxler/Kukulska-Hulme 2016).

Bildungssoziologische Studien aus den letzten zwanzig Jahren haben sich mit der Spannung zwischen dem formalen und dem nicht-formalen Curriculum beschäftigt und sind dabei auf verschiedene Schülertypen gestoßen, die sich in ihrer Einstellung zu schulischem und außerschulischem Lernen voneinander unterscheiden.7 Ein Schlüsselkriterium ist hierbei ihre Lernmotivation. Geht man von einer Unterscheidung zwischen einer extrinsischen gegenüber einer intrinsischen Motivationsstruktur8 aus und bezieht diese auf inner- bzw. außerschulische Lernorte, so ergeben sich idealtypisch vier Lerner Typen:

•  Extrinsische schulische Lerner (Typus 1)

•  Intrinsische schulische Lerner (Typus 2)

•  Extrinsische außerschulische Lerner (Typus 3)

•  Intrinsische außerschulische Lerner (Typus 4).

Im historisch-zivilisatorischen Langzeitvergleich hat Typus 1 schulisches Lernen bis in die Neuzeit bestimmt und bestimmt die Pflichtschule noch heute sehr weitgehend: Gelernt wird, weil gelernt werden muss. Typus 2 vertraten im alten Schulleben die Schüler, die ihre Lehrer liebten und anbeteten, die ihnen Vorbild waren und deren Wissen sie sich selbst erwerben wollten. Heute repräsentiert dieser Typus bildungsbewusste Schüler, zumeist aus kulturell begüterten Elternhäusern, die sich schulisches Wissen um des Wissens willen aneignen wollen.

Bei Typus 3 handelt es sich um Schüler, die mehr oder weniger freiwillig in kompensatorischen außerschulischen Programmen Lernrückstände aufarbeiten (sollen). Derartige Programme in Ganztagsschulen können im geglückten Fall ihre Lernfreude wieder erwecken, womit sie dem 2. Typus zuzuordnen wären (Pohl/Walther 2013; Niemeyer 2005). Aus historischer Sicht würden wir auf eine Zeit zurückgreifen müssen, in der Kinder außerhalb der Schule von ihren Eltern zur Arbeit in Haus, Hof oder Gewerbe gezwungen wurden, später auf die Zeit des Nationalsozialismus, in der Kinder- und Jugendorganisationen zum außerschulischen Pflichtcurriculum wurden, worunter auch Ferieneinsätze auf dem Land zu zählen sind.

Auch der 4. Typus hat eine historische Vergangenheit. Schon immer hat es Schüler gegeben, die in der Schule, sei diese eine niedere oder höhere, nicht zu ihrem Recht kamen, weil sie intellektuell unterfordert waren oder Interessen hatten, die auch eine standesgemäße Schule nicht befriedigte (außergewöhnliche mathematische oder musikalische Interessen zum Beispiel). Diese Schüler langweilten sich in der Schule und »tauchten ab« (wie Typus 1). Derartige Kinder und Jugendliche entschädigen sich bis heute mit intensiv betriebenen Hobbies und finden darin Lernanreize, die sie in der Schule vermissen.

In neuerer Zeit erobern Typus-4-Schüler immer mehr Lerngebiete außerhalb des Pflichtcurriculums, wobei ihnen die rasante Entwicklung der sozialen Medien und weltweiten Informationsportale wesentliche Instrumente sind. Diesen Typus haben wir in mehreren Arbeiten als »Trendsetter«, »die neuen Lerner« oder »Netzwerklerner« bezeichnet (du Bois-Reymond/Behnken 2016; ausführlicher in Wohner 2015). Immer geht es hierbei um Brüche und Widersprüche im Bildungssystem, die sich um erforderliche, aber nicht befriedigte Lernmotivation in Wissensgesellschaften drehen.

Wir betrachten die hier skizzierte Lerner-Typologie als ein heuristisches Instrument, das wir in der Hinterhand halten, wenn wir uns unserem autobiographischen Material zuwenden. Dabei wird sich möglicherweise, ja sehr wahrscheinlich zeigen, dass sich in einer Periode viel mehr als nur ein (idealtypischer) Schülertypus aufhält und, das vor allem, sich in einer einzigen Autobiographie Motivationsstrukturen verschieben, je nach Schul- und Lernerfahrungen. Was uns im Zusammenhang mit der Ausweitung von informellem Lernen besonders interessiert, ohne dass wir hierüber schon Klarheit hätten, ist die Überlegung, ob gegen schulisches Pflichtlernen gerichtete Lernstrategien außerhalb der Schule, die der Typus 4 repräsentiert, schrittweise ins offizielle Curriculum einwandern, da moderne Schulen als Zulieferer von (hoch) qualifizierten Arbeitskräften in Wissensgesellschaften auf motivierte Lerner angewiesen sind. Damit würden Typus 2 und 4 sich nicht mehr antagonistisch zueinander verhalten, sondern sich ergänzen. Aber das ist ein Vorgriff auf Entwicklungen, die wir in diesem unserem Buch nicht mehr durch autobiographisches Material belegen können.

Periodisierungen

Bevor wir uns den autobiographischen Quellen zuwenden, wollen wir unseren Lesern eine grobe Übersicht über schulhistorische Entwicklungen verschaffen, in der unsere Zeitzeugen ihre Schulzeit verbracht haben. Hierzu benutzen wir das Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, das die Epochen von 1870 bis in die 1990er Gegenwart darstellt (Berg 1991; Langewiesche/Tenorth 1989; Führ/Furck 1998). Wir fassen diese Entwicklungen unter drei Großgesichtspunkten zusammen: auf eine kurze Einleitung folgen:

•  Bildungs- und Schulpolitik

•  Schulsystem und Schulrealitäten

•  Aufstiegsmöglichkeiten.

1870 – 1918: Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs

Einleitung

Seit der Reichsgründung 1870 wandelte sich Deutschland vom Agrarzum Industriestaat. Durch den Sieg über Frankreich waren enorme Geldströme ins Land geflossen, die in den Ausbau von Eisenbahnen und neuen Industrien investiert wurden. Der Wohlstand zog eine explosive Bevölkerungsentwicklung nach sich, Menschen zogen massenhaft vom Land in die Städte, die dadurch ihrerseits sprunghaft anwuchsen und weitere billige Arbeitskräfte anzogen. Aus Landarbeitern wurden Lohnarbeiter. In einer Zeitspanne von knapp 50 Jahren war der Hunger der Arbeitsmärkte so groß, dass auch Frauen bezahlte Lohnarbeit leisteten.

Frauenlohnarbeit veränderte in den Städten die Familienstruktur, die Frauen mussten nun Haushalt und Kindererziehung mit ihrer außerhäuslichen Arbeit vereinbaren. Neben der Proletarisierung der Arbeiterfamilien aufgrund eines zu geringen Lohns bildeten sich politische Parteien (Sozialdemokratie) und Reformbewegungen (Frauenrechtlerinnen, Wandervögel, erste Ansätze der Jugend- und pädagogischen Reformbewegung, Lebensbewegungen).9 Gleichwohl blieb das Zweite Deutsche Kaiserreich zwischen 1870 und bis zum Ersten Weltkrieg in dem Widerspruch zwischen »wirtschaftlichem Fortschritt bei politischer Rückständigkeit« (Berg/Herrmann 1991, 2) befangen.

Bildungs- und Schulpolitik

Das 19. Jahrhundert firmiert in der Geschichte der Pädagogik als das Jahrhundert der Bildung: Bildung muss und kann fehlendes Vermögen ersetzen. Das Bildungsbürgertum ist zwar nicht arm, es beruht aber nicht auf Industrie- und Neureichenkapital und steht diesem distanziert gegenüber. Gleichzeitig wird das Schul- und Hochschulsystem ausgebaut. Die Bildungseliten fürchten um den Verlust ihres Anspruchs auf exklusive Bildung und ihres gesellschaftlichen Status. Für die unteren Klassen werden die Volksschulen ausgebaut und die Alphabetisierung der Land- und Stadtbevölkerung vorangetrieben. Mehrere Reformvorhaben richten sich auf eine Modernisierung der Gymnasialbildung zugunsten von neusprachlichen Fächern, die das alte humanistische Curriculum ergänzen; der wachsende Industriestaat braucht einen neuen Bildungskanon auch der höheren Gesellschaftsklassen.

Schulsystem und Schulrealitäten

Es kommt in dieser Periode trotz vielfältiger Initiativen und Anstrengungen nicht zu einer das ganze Volk umfassenden Schulerneuerung; insbesondere das Volks- und Mittelschulwesen für über 90% der Bevölkerung wird nicht in ein aufeinander bezogenes Schulsystem gebracht. Die Schullandschaft zerfällt in ein Konglomerat von Gemeindeschulen, die je nach Landstrich, Religion, lokalen Lebensbedingungen und Autoritätsverhältnissen unkoordiniert nebeneinander bestehen (Kuhlemann 1991, auch im Weiteren). Zwar gibt es seit den Allgemeinen Bestimmungen des preußischen Staates von 1872 eine weitgehende Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht bis zum 14. Lebensjahr, aber viele Kinder, besonders auf dem Land, erhalten bis zum Ende der Epoche nur eine sehr unvollkommene Allgemeinbildung, deren ideologischer Hauptpfeiler eine obrigkeitsstaatlich ausgerichtete Religionserziehung im Interesse konservativer Machterhaltung und Disziplinierung der Volksmassen ist.

Auf dem Land überwogen einzügige Schulen mit überfüllten Klassenzimmern, 50–80 Schüler waren keine Seltenheit, ein Lehrer stand ihnen vor und unterrichtete Jungen und Mädchen zusammen, die nur innerhalb des Klassenzimmers getrennt wurden. Wegen Überfüllung arbeiteten diese Landschulen oft auch als sogenannte Halbtagsschulen, also in zwei Schichten, in denen der Lehrer die Schüler dann hintereinander unterrichtete, während in den Städten mehrzügige Schulen mit geringeren Klassenfrequenzen zunehmend die Regel wurde.

Insbesondere auf den Landschulen – Schule für die überwiegende Mehrheit der Kinder – herrschte ein vom Klerus bestimmtes autoritäres Klima, mit angespanntem Verhältnis zwischen Pfarrern und Lehrern.10 Die Schulpolitik für den aufsteigenden Mittelstand war demgegenüber progressiver und dynamischer.

Es entwickelten sich, je nach Örtlichkeit und lokalen religiös-politischen Verhältnissen, mehrere 9-jährige Mittelschultypen, entweder aufbauend auf der 4-jährigen Grund-/Volksschule oder als selbständige Einrichtungen mit getrennten Knaben- und Mädchenschulen. Sie fungierten in ihrer Mehrheit als »grundständiger Schultyp«; nur in größeren Städten dienten sie als Vorbereitungsschulen für Realschulen, Oberrealschulen, höhere Mädchenschulen sowie für die mit einem gemeinsamen Unterbau ausgestatteten Gymnasien und Realgymnasien (Reformgymnasien).

Aufstiegsmöglichkeiten

Insgesamt waren die Chancen, ihre Klassenposition durch Bildungsaufstieg zu verbessern für aufstiegsbegabte Kinder in dieser Periode äußerst beschränkt aufgrund des bis 1920 vorherrschenden Vorschulsystems, das bürgerliche und adlige Kinder neben der Grund- und Volksschule in gesonderten privaten Einrichtungen auf höhere Schulen vorbereiteten.

Erheblich mehr Mädchen als Jungen besuchten eine Mittelschule, da sie bis 1908 keine Wahlmöglichkeit zwischen mittlerer und anerkannter höherer Bildung und deshalb keine weiteren Aufstiegsmöglichkeiten hatten, während den Jungen höhere Knabenschulen offenstanden (Realgymnasien neben den traditionellen Gymnasien).

1918 – 1945: Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur

Einleitung

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte sich im Bismarckreich die deutsche Sozialdemokratie konsolidiert. Das veranlasste den Obrigkeitsstaat, mit einer autoritären Schulpolitik gegenzusteuern. Mit dem Eintritt Deutschlands in den Krieg 1914 sollte die Schule den »Wehrwillen« der Jugend stärken und reformpädagogischen und revolutionären Strömungen gegensteuern. Das »niedere Volk« sollte zu gottesfürchtigen Untertanen erzogen, pädagogische Erneuerungen entmutigt werden (Langewiesche/Tenorth 1989, 12 und ff.). Mit der Weimarer Verfassung wurden einschneidende Schulreformen auf den Weg gebracht, bis dann die nationalsozialistische Machtübernahme einen weiteren Ausbau demokratischer Reformen abblockte.

Bildungs- und Schulpolitik

In den Verfassungsberatungen der Republik nach Kriegsende wurde zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine grundlegende Demokratisierung der Schule angestrebt, allerdings nur unvollkommen verwirklicht. Im sogenannten Weimarer Schulkompromiss von 1920 blieben die Schulen in gemeindlicher, nicht gesamtstaatlicher Aufsicht, sodass es zu keiner Zentralisierung der zersplitterten Schullandschaft aus den Vorkriegsjahrzehnten kam und die Macht der Kirche in den Konfessionsschulen erhalten blieb. Aber in den 1920er Jahren entstand ein öffentliches Schulsystem, das die Kinder aller sozialen Schichten zu einem 4-jährigen Schulbezug verpflichtete; damit war die Vorherrschaft der privaten Schulen und Vorschulen gebrochen.

Die Weimarer Jahre waren darüber hinaus trotz weiter bestehender kirchlicher Einflussnahme und autoritärer Erziehung gekennzeichnet durch eine breite pädagogische Erneuerungswelle, die an progressive Reformbewegungen aus den Vorkriegsjahrzehnten anschloss und die pädagogischen Ausbildungsberufe modernisierte, ohne dass allerdings die Wünsche der Lehrerschaft nach einer Einheitsschule und mehr Unabhängigkeit von der Kirche und einer Aufwertung ihres gesellschaftlichen Status honoriert wurden.

Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und ihrer Übernahme der Republik scheiterten Ansätze zu einer weiteren Demokratisierung des Bildungssystems, die Ideologie der Volksgemeinschaft wurde auch in der Schulpolitik wirksam, bis die Kriegswirtschaft immer mehr Lehrer und ältere Schüler für Wehrdienst und Kriegseinsätze abzog. Jüdische Lehrer und Schüler verloren schrittweise alle öffentlich-staatlichen Rechte bis hin zu ihrer Verfolgung und Auslöschung. Unter dem Nationalsozialismus wurde der Privatschulsektor verstaatlicht, was vor allem kirchliche Schulen traf.

Mit Kriegsbeginn und seiner Fortführung ersetzten weibliche Lehrkräfte ihre männlichen Kollegen und profitierten beruflich vom Lehrermangel. Es beginnt hier die Feminisierung des Lehrerberufs, wenngleich nicht an Gymnasien.

Schulsystem und Schulrealitäten

In den End-1930er Jahren ist das dreigliedrige Schulsystem reichseinheitlich verwirklicht, mit einer 8-jährigen Schulpflicht für alle Kinder eines Jahrgangs, an die sich die Oberschule für Jungen und Mädchen anschließen (das Gymnasium bleibt als gesonderte Schulform bestehen). Diese Schulformen für die Mittelklassen werden später zur neuen Mittelschule mit mehreren Varianten, die die Schüler bis zu ihrem 16. Lebensjahr besuchen, noch ohne Koedukation.

Mit den Jugendorganisationen des Nationalsozialismus entwickeln sich ein außerschulisches Curriculum und außerschulische Lernorte mit Pflichtcharakter, die der traditionellen kirchlich-religiösen Erziehung in und außerhalb der Schule Konkurrenz machen.

Aufstiegsmöglichkeiten

Bis in die Nachkriegsjahre sind Aufstiegschancen für Arbeiterkinder die Ausnahme, sie blieben ihrer sozialen Herkunft und Klasse verbunden. Demgegenüber entwickelt das Kleinbürgertum vermehrt Aufstiegsambitionen und »stellte etwa 2/3 der höheren Schulen« (gemeint sind die Mittelschulen). Der alte Mittelstand beginnt, fehlendes ökonomisches in Bildungskapital umzusetzen und damit einen »Umstieg aus dem ›alten‹ in den ›neuen‹ Mittelstand zu schaffen« (Langewiesche/Tenorth 1989, 179), während die Oberklassen ihre Bildungsprivilegien zu wahren wussten. Ein Aufstieg von Schülern aus den unteren Gesellschaftsklassen in höhere Schulzweige mit Abitur, das zum Universitätsstudium berechtigt, war nur äußerst begrenzt möglich.

1945 – zur Gegenwart

Einleitung

»Im Osten wie im Westen knüpfte man zunächst an neuhumanistische und reformpädagogische Traditionen aus der Zeit der Weimarer Republik an« (Führ 1998, 7 und ff.). Aber sehr bald drifteten die Erziehungs- und Bildungsvorstellungen zwischen der sowjetischen Besatzungszone und den westlichen Sektoren unter den alliierten Besatzungsmächten auseinander. Im Westen ordneten die Amerikaner »reeducation« (8) und Neuaufbau der Gesellschaft im Geist des demokratischen Westens und althumanistisch-geisteswissenschaftlicher Tradition an, getragen von rückkehrenden Emigranten aus den USA und anderen Ländern. Im Osten hieß reeducation »Entnazifizierung« (12) und führte zu einer forcierten sozialistischen Wende in der Bildungspolitik und der Anknüpfung an sowjetische pädagogische Vorläufer, die von nach Deutschland zurückgekehrten Emigranten aus der Sowjetunion importiert wurden.

Bildungs- und Schulpolitik

Während in der DDR zügig ein Einheitsschulwesen aufgebaut wird, nutzt der Westen die Chance zu einem strukturellen Neuanfang nicht, sondern orientiert sich an Entwicklungen in der Weimarer Republik mit Länderhoheit im Bildungswesen und konfessionellen Schulen, die allerdings durch die enormen Flüchtlingswellen ihren geschlossenen Charakter verlieren und in den 1960er Jahren gänzlich abgeschafft werden. Es kommt im folgenden Jahrzehnt trotz vielfältiger Reformanstrengungen – vor allem den allerdings nur teilweise verwirklichten Gesamtschulen und dem Ausbau von vorschulischen und Ganztagsschuleinrichtungen – nicht zu einer einheitlichen Bildungsgesamtplanung.

In der DDR wurde die Ganztagsbetreuung sowohl der Kleinkinder wie später aller Schüler schon deswegen zügig eingeführt, um die Frauen am Erwerbsleben beteiligen zu können, während in den Westländern bis in die 1990er Jahre ein Mangel an Kitas herrschte und die Eingliederung der Frauen auf den Arbeitsmarkt behinderte.

Schulsystem und Schulrealitäten