Schwarzes Netz - Val McDermid - E-Book
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Schwarzes Netz E-Book

Val McDermid

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Beschreibung

Ein spannender Thriller von Crime-Queen Val McDermid, indem sich das Ermittlerduo Carol Jordan und Tony Hill durch ein Geflecht von Verleumdung, Internet-Trollen und einer steigenden Zahl von Leichen starker Frauen kämpfen muss: Im neunten Band der Thriller-Bestseller-Reihe ist die Polizei im englischen Bradfield mit einer Serie mysteriöser Selbstmorde konfrontiert. Stets sind es Frauen, die mitten im Leben stehen. Jede imitiert auf seltsame Weise den Freitod einer berühmten Schriftstellerin wie Virginia Woolf, Sylvia Plath oder Anne Sexton, deren Werke jeweils in der Nähe der Toten gefunden werden. Die Frauen hatten zuvor mit ihrer provokanten Meinung einige Trolle im Internet auf sich gezogen, die einen Shitstorm lostraten. Konnten die Frauen diesen nicht verkraften? Oder ist hier ein Serienkiller am Werk, dessen kaltblütige Manipulationen weitere Opfer fordert? In diesem atemlos spannenden Thriller muss das Ermittlerduo um Detective Chief Inspector Carol Jordan und Polizeipsychologe Tony Hill zunächst neu zusammenfinden, um den mysteriösen Fall zu lösen. Carol ist trotz der schlimmen Bluttaten der Vergangenheit wieder im Dienst, die aktuelle Selbstmord-Serie wird jedoch zu einer weiteren spannenden Zerreißprobe. Alles deutet auf einen perfiden Serienkiller hin, der nur schwer zu durchschauen ist... Hier bürgt ein Name tatsächlich für spannende Qualität. Hellweger Anzeiger Kenner und Liebhaber der Reihe kommen auf ihre Kosten. lovelybooks.de Val McDermid schreibt solide Spannungsromane (...). Ihr Stil ist leicht, flüssig und spannend, ihre Geschichten in der Regel ausgezeichnet recherchiert. Buecherserien.de Weitere spannende Thriller des Ermittlerduo Carol Jordan und Profiler Tony Hill: Bd. 1: Das Lied der Sirenen Bd. 2: Schlussblende Bd. 3: Ein kalter Strom Bd. 4: Tödliche Worte Bd. 5: Schleichendes Gift Bd. 6: Vatermord Bd. 7: Vergeltung Bd. 8: Eiszeit Bd. 9: Schwarzes Netz Bd. 10: Rachgier Bd. 11: Der Knochengarten

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Seitenzahl: 596

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Val McDermid

Schwarzes Netz

Ein Fall für Carol Jordanund Tony HillThriller

Aus dem Englischen von Doris Styron

Knaur e-books

Über dieses Buch

In McDermids neuntem Fall mit dem Ermittlerduo Hill/Jordan ist der Polizeipsychologe Tony Hill mit einer mysteriösen Serie von Selbstmorden konfrontiert. Stets sind es Frauen, die mitten im Leben stehen, mit ihren prononcierten Meinungen jedoch einen Shitstorm von Internet-Trollen hervorgerufen und diesen offenbar nicht verkraftet haben. Merkwürdig nur, dass sie alle den Freitod berühmter Schriftstellerinnen wie Sylvia Plath, Virginia Woolf oder Anne Sexton imitieren und sich deren Werke jeweils in der Nähe der Toten finden. DCI Carol Jordan ist unterdessen zurück in ihrem alten Job bei der Polizei und bekommt ein neues Team, mit dem sie im Norden Englands schwere Fälle aufklären soll. Die rätselhafte Serie von Suiziden wird für sie zur Nagelprobe.

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. KapitelDankTIPP!Leseprobe »Rachgier«
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Für Leslie Hills – als Dank für all die Jahre der Freundschaft. Und weil du dich, meine Liebe, wie so viele meiner Freundinnen nicht zum Schweigen bringen lässt.

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1

Am besten waren Wochenenden. Da konnte er es leicht einrichten, nicht arbeiten zu müssen. So war es einfacher, die Frauen zu beobachten, die ihn interessierten. Die meisten gingen an diesen Tagen ebenfalls nicht zur Arbeit, was ihm Gelegenheit gab, ihre Gewohnheiten zu studieren und sich zu überlegen, wie er sie am besten umbringen konnte.

Er war ein guter Beobachter. Seine Lehrer und später seine Chefs hatten immer betont, dass er die Einzelheiten im Blick hatte. Dass er nie ein Projekt angehen würde, ohne vorher alle Risiken und Möglichkeiten abzuwägen. Als er das erste Mal tötete, hatte er damit gerechnet, dass ihn das traumatisieren würde, aber sogar damals war er in der Lage gewesen, einen Plan zu entwerfen und sich daran zu halten. Danach hatte er erkannt, dass ihm diese Tat eine Tür zu einer Lebensaufgabe aufgestoßen hatte. Inzwischen hatte seine Berufung einen zentralen Stellenwert in seinem Leben gewonnen.

Wie zum Beispiel heute. Er hatte sich noch nicht so richtig entschlossen, wer als Nächste drankommen sollte. Ein paar Namen hatte er im Kopf, und er wusste, wie er die Erwählte töten wollte. Es ging hauptsächlich darum, sich darüber klarzuwerden, ob die Logistik funktionieren würde. Wenn man plante, eine Person zu erhängen, musste man sicher sein, dass etwas da war, an dem man sie aufhängen konnte. Und er hatte es nicht eilig. Die Letzte war noch frisch in seinem Gedächtnis, eine Quelle tiefer Befriedigung. Perfekt erledigt.

Aber diese jetzt … Zwar erfüllte sie alle Kriterien, doch er würde sich nicht zu einer vorschnellen Entscheidung hinreißen lassen. Nicht wie beim ersten Mal, als er einfach in die Wildnis rausgegangen war – so betrachtete er das gern. Während er jetzt hier saß und ein Haus beobachtete, in dem nichts geschah, war es spannend, sich das ins Gedächtnis zu rufen. Aufregend, aber auch nervenaufreibend. So vieles hätte schiefgehen können.

Sie war allein gewesen. Das war so unerwartet, dass er ganz unsicher auf den Beinen geworden war und fast über die eigenen Füße gestolpert wäre. An der Backsteinwand hatte er sich die Knöchel aufgeschürft, und Blutströpfchen hatten die Haut gesprenkelt wie ein Ausschlag. Er hatte es kaum fassen können, aber sie war tatsächlich allein gewesen. Kein Aufpasser, kein Fahrer, keine Assistentin, keine der plappernden Schlampen, die sie für ihre Selbstbestätigung brauchte. Nur sie allein war die fünf Stufen von ihrer Haustür auf den schmalen Kiesweg hinuntergesprungen, der ihr wunderschönes – es war so ungerecht! – Haus von der Straße trennte, wohin er und seinesgleichen verbannt waren. Eigentlich hatte er erwartet, dass die Tür noch einmal aufgehen und jemand aus ihrem Gefolge hinter ihr hersprinten würde, um vor ihr am Tor anzukommen.

Aber nein. Da war niemand. Nur sie.

Er hatte sich hektisch umgeschaut; seine Angewohnheit, sich ins Straßenbild einzupassen, war wie Konfetti in alle Winde verstreut worden in der abgasgeschwängerten Luft der Stadt. Aber niemand hatte ihm auch nur die geringste Beachtung geschenkt. Spätnachmittag in Nordlondon; niemand beachtete irgendetwas oder irgendjemanden außerhalb des kleinen Knäuels eigener Sorgen, und sie wurde schon gar nicht wahrgenommen. Von den Twitterern abgesehen, hätte sie sowieso keiner erkannt. Für die Durchschnittsperson auf der Straße war sie einfach irgendeine Nordlondonerin über dreißig. Designerjeans und ein modischer Kapuzenpullover saßen knapp und betonten ihre durchschnittliche Figur, der Lederrucksack, Must-have des Jahres, hing über einer Hüfte, das in vielen Schattierungen gefärbte blonde Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz zurückgebunden. Kaum eines ersten Blickes wert, eines zweiten erst recht nicht. Schwer zu glauben, dass irgendjemand einmal Notiz genommen hatte von dem, was sie gesagt oder getan hatte.

Ohne seine Verwirrung zu bemerken, hatte sie das schwere Eisentor mit dem schaurigen Quietschen geöffnet, das ihm inzwischen schon vertraut geworden war. Sorgfältig hatte sie es hinter sich geschlossen und war losgegangen.

Er hatte kaum glauben können, was da geschah. Drei Wochen lang hatte er sie genau im Auge behalten, wann immer es ihm möglich gewesen war. Und sie hatte sich nie allein nach draußen getraut. Sie war verängstigt, hatte er festgestellt – nicht verängstigt genug, um die Klappe zu halten, aber ausreichend, um sicherzustellen, dass immer jemand zu ihrem Schutz da war.

Nach all dem, was sie am Abend zuvor zu ihr gesagt hatten, hätte sie sich unter der Bettdecke verkriechen sollen, eingeschüchtert bis zur Unterwerfung. Und sie hätte nicht auf dem Gehweg ausschreiten sollen, als wäre sie diejenige mit der moralischen Überlegenheit, statt die Wahrheit einzugestehen: nämlich dass sie eine destruktive, aufmüpfige, gefährliche Schlampe war, die alles verdient hatte, was sie bekommen würde.

Er hatte gar nicht geplant, sie sich heute vorzunehmen. Eine so goldene Gelegenheit hatte er nicht erwartet. Aber er würde sie nicht verstreichen lassen. Wer weiß, wann sich wieder eine solche Chance ergab. Und er hatte sich ja alles schon hundertmal ausgemalt, hatte jedes Element des Plans auf Schwachpunkte getestet und ausgetüftelt, wie man sie überwinden konnte.

»Nimm dich zusammen«, hatte er sich halblaut selbst ermahnt und sich ihr angeschlossen, nur ein paar Meter und zwei junge Mädchen zwischen ihnen. Er hatte gewusst, es würde lange dauern, bis er sie wieder ganz allein erwischen würde. »Nimm dich zusammen.«

Sie von der Straße wegzulotsen war leichter, als er erwartet hatte. Frauen wie sie – Mittelklasse, sich ihres Status bewusst, daran gewöhnt, dass alles in der Welt so lief, wie sie wollten – wiegten sich in einem falschen Gefühl der Sicherheit. Sie vertrauten den Menschen, bis ihnen jemand einen guten Grund gab, das nicht zu tun. Sie hatte ihm vertraut, weil er dafür gesorgt hatte, dass er so aussah und klang wie all die anderen jämmerlichen Kerle, die zuließen, dass ihre Frauen die Hosen anhatten, und sich von ihnen zum feigen Sklaven machen ließen.

Er hatte recherchiert. Er kannte die Namen, die seine Lügen glaubwürdig erscheinen lassen würden. Sie hatte seine erfundene Geschichte geglaubt, dass ihr Radiosender sie im Studio brauche, damit sie für eine kranke Kollegin einspringen könne. Sie war ohne Murren ins Auto gestiegen. Und dann hatte er ihr die Fotos auf seinem Handy gezeigt.

Darauf war er stolz gewesen. Er wusste, wie man etwas einfädelt, plant und vorbereitet. Ihre Tochter dazu zu bringen, in der Filmschule an einem Grundlagenkurs teilzunehmen, war lächerlich einfach gewesen. Er hatte sich als Fotograf ausgegeben, der ein Projekt über Geiseln und Protest durchführen wollte. Er hatte drei von ihnen mitmachen lassen, damit er nicht dastand wie ein Perverser, der speziell hinter einem Mädchen her war. Und dann hatte er eine Serie von inszenierten Schnappschüssen erstellt, Fotos, auf denen sie scheinbar gefangen gehalten und gefoltert wurden. Deshalb hatte er zum richtigen Zeitpunkt eine Reihe sorgfältig bearbeiteter Aufnahmen auf seinem Handy, die ihm ein perfektes Druckmittel lieferten.

Sobald er ihr das erste Bild gezeigt hatte, war sie erstarrt. Ein Wimmern hinter zusammengepressten Lippen. Dann hatte sie sich zusammengenommen und mit zitternder Stimme, die über eine Oktave oder mehr auf und ab schwankte, gesagt: »Was wollen Sie?«

»Es kommt mehr darauf an, was Sie wollen. Sie wollen doch, dass Ihre Tochter das lebend übersteht, oder?«

»Das ist eine blöde Frage«, hatte sie geantwortet, und auf ihrem Gesicht war Zornesröte aufgeflammt.

Das hatte er sich nicht gefallen lassen. Er hatte die linke Hand vom Schalthebel genommen und ihr heftig mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen. Sie hatte aufgeschrien und war vor ihm zurückgewichen. »Bringen Sie mich nicht dazu, dass ich Ihren Babysitter anrufen muss. Es wird Ihnen nicht gefallen, was mit Madison passiert, wenn ich das tun muss.« Er hatte geschnaubt. »Madison. Was ist denn das für ein beschissener Name? Wir kennen keine Grenzen. Wir werden sie aufschneiden, vergewaltigen, wir werden sie so zurücklassen, dass niemand sie jemals wieder anrühren will. Höchstens aus Mitleid. Tun Sie also, was ich Ihnen verdammt noch mal sage!«

Ihre Augen hatten sich geweitet, ihr Mund sich zu einem angstvollen O gerundet. Er musste zugeben, es hatte wirklich Spaß gemacht, zu sehen, wie sie den Preis zahlte für ihr Meckern, Jammern und Maulen. Sie hatte Männer wie ihn Frauenhasser genannt. Das war gerade das Gegenteil von dem, was sie waren. Männer wie er, die liebten Frauen. Sie wussten, welches Leben am besten zu Frauen passte. Sie verstanden, was Frauen wirklich wollten. Richtige Frauen wollten nicht draußen sein in der Welt, wo sie dauernd herumkrakeelen mussten. Sie wollten ein Nest bauen, sich um die Familie kümmern, das Heim gestalten und dort ihre Macht ausüben. Sie wollten Frauen sein, keine nachgemachten Männer.

Danach war es einfach gewesen. Zurück in ihre Wohnung, nachdem das Personal gegangen war. In die Garage. Handgelenk mit einer Handschelle an die Armstütze gefesselt, damit es aussah, als wollte sie sichergehen, es sich nicht anders zu überlegen. Schlauch vom Auspuff in den Wagen. Das Buch auf dem Sitz neben ihr, eine Erinnerung für ihn selbst an die Wurzeln, aus denen seine Tat erwuchs. Er hätte sich jederzeit anders entscheiden, hätte ihr verzeihen können. Aber was hätte das gebracht? Selbst wenn sie sich geändert hätte, würde das keinen Unterschied machen. Er hatte einen letzten Blick auf sie geworfen und die Tür der Garage geschlossen.

Am Morgen hatte man sie gefunden.

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2

Carol Jordan schwenkte den letzten Rest Portwein in ihrem Glas und dachte fast sehnsüchtig an Mord. Für einen flüchtigen Beobachter, so hoffte sie, würde es aussehen, als spiele sie einfach herum. Tatsächlich hielt sie ihr Glas so krampfhaft fest, dass sie befürchtete, es könne ihr zwischen den Fingern zerbrechen. Der Mann zu ihrer Linken, der nicht aussah wie jemand, dem man gern eine reinhauen würde, beugte sich vor, um seine Ansicht entschiedener vorzubringen.

»Es ist absolut nicht schwer, kapitalkräftige Personen zu finden, wenn man seine Suche sorgfältig und zielgenau ausrichtet«, erklärte er.

Und wieder, ganz automatisch, hätte sie seinem schmalen, selbstgefälligen Gesicht am liebsten einen Schlag versetzt, um zu spüren, wie diese spitze Nase unter ihrer Faust knirschte, und zu sehen, wie er nach diesem Schock seine kleinen Schweinsäuglein aufriss.

Aber stattdessen trank sie den letzten Schluck und schob ihr leeres Glas ihrem generösen Gastgeber entgegen, der beiläufig einen weiteren großzügigen Schluck des Dow’s von 2007 eingoss.

Der Mann zu ihrer Linken hatte schon verkündet, es sei »wahrscheinlich der beste Port, der jemals von Dow hergestellt wurde«, nachdem er ein weiteres Stück Stilton damit runtergespült hatte. Sie wusste nicht genug über Port, um sich zu streiten, aber sie hätte es wahnsinnig gern getan.

»Sicher haben Sie recht«, murmelte Carol wieder und strengte sich an, nicht unhöflich und eigensinnig zu klingen. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal bei einem so konventionellen Dinner gewesen war, aber sie hatte nicht vergessen, welche Verpflichtungen sich daraus ergaben, wenn man die Einladung zu einem gemeinsamen Essen angenommen hatte. Solche Dinge waren ihr am Tisch ihrer Mutter eingebleut worden. Lächeln, nicken, zustimmen, nicht über Politik reden und niemals einen Streit anfangen.

Zum Glück für den Rest der Gäste hatten ihre Jahre im gehobenen Dienst der Polizei die Warnungen ihrer Mutter vor Politik beim Dinner noch verstärkt. Wenn die Geldmittel und sogar die Existenz des eigenen Teams von der Großzügigkeit der Politiker abhingen, lernte man schnell, eine Meinung für sich zu behalten, die sich mit der Menschenfreundlichkeit eines Vampirs gegen einen wenden konnte. Im Lauf der Jahre hatte Carol sich sorgsam die Kunst angeeignet, keine kontroversen Ansichten zu haben, damit ihr nicht im falschen Moment etwas herausrutschte. Sie überließ das den nachrangigen Mitgliedern ihres Teams, die ihre Zurückhaltung mehr als ausglichen.

Nicht dass es während ihrer Karriere als Leiterin einer Elite-Mordkommission viele Gelegenheiten wie diese gegeben hätte. Die Beanspruchung durch die Arbeit hatte sie ausgelaugt und ihr viel mehr als die vierzig Wochenstunden abverlangt, die sie laut Vertrag abzuleisten hatte. Carol sparte sich die restliche Zeit für Dinge auf, die sie tun wollte. Wie zum Beispiel schlafen. Statt endlose Stunden an einem fremden Tisch zu verbringen und sich die unausstehlichen reichen Idioten anzuhören, die sich über die Ungerechtigkeiten derer verbreiteten, die ihrer Meinung nach zwischen ihnen und ihrer nächsten Million standen.

Aber jetzt hatte sie nichts außer viel Zeit. Die Karriere, über die sie sich definiert hatte, war vorbei. In solchen Augenblicken wie jetzt musste sie sich vor Augen halten, dass sie selbst die Entscheidung getroffen hatte. Sie hätte weiterhin Detective Chief Inspector Carol Jordan sein können. Aber sie hatte sich dafür entschieden, einfach Carol Jordan zu sein, einfach eine weitere Zugezogene in einem ländlichen Tal in Yorkshire.

Eine Gegend, die erbarmungslos überrannt war von Menschen ohne jede Beziehung zu ihrer Landschaft; diese Gegend gefiel ihnen lediglich besser als die Vorstädte, die sie hinter sich gelassen hatten.

Ihr Gastgeber, George Nicholas, war eine Ausnahme. Seine Familie hatte am Eingang des Tals den großen Landsitz im georgianischen Stil gebaut und wohnte dort ohne Unterbrechung schon seit etwas mehr als zweihundert Jahren. Er stammte aus jenen angenehmen und auskömmlichen Verhältnissen, die Carol eher mit Verachtung betrachtete. Als sie ihn zum ersten Mal traf, hatte sie nach einem Blick auf seine saubere, gerötete Haut, sein klassisches Oberschichtsprofil und seine Montur, die direkt aus einem Ausstattungskatalog für den perfekten Landedelmann zu stammen schien, beschlossen, ihm weder zu trauen noch ihn zu mögen. Aber schließlich war sie von seinem unerschütterlichen Charme besiegt worden, der sich ihrer Feindseligkeit entgegenstellte und diese einfach ignorierte. Das und die verdammten Hunde waren es gewesen.

Später hatte sie erfahren, warum er glaubte, er werde als Letzter seiner Familie diesen Landsitz bewohnen. Drei Jahre zuvor war er Witwer geworden, als seine Frau bei einem Verkehrsunfall gestorben war. Er zeigte seinen Kummer nicht allzu offensichtlich, aber für jemanden, der im Umgang mit Traumata so geschult war wie Carol, war sein Schmerz deutlich und gegenwärtig.

Carol räusperte sich und schob ihren Stuhl zurück. »Ich muss jetzt gehen, George«, sagte sie. Weder ein Zögern noch ein Nuscheln, das verraten hätte, wie viel sie getrunken hatte.

Die Lachfalten um seine Augen verschwanden zusammen mit dem Lächeln, das die ironische Bemerkung einer Frau neben ihm hervorgerufen hatte. »Musst du schon?« Er klang enttäuscht. Das konnte sie ihm nicht verdenken. Schließlich hatte er wochenlang versucht, sie zu überreden, auf ein Essen herüberzukommen. Und jetzt machte sie sich bei der ersten Gelegenheit davon. »Wir haben ja noch nicht mal Kaffee getrunken.«

Carol bemühte sich um einen bedauernden Ausdruck. »Flash ist noch ein bisschen zu jung, um sie allzu lange allein zu lassen.«

Er reagierte mit einem Senken der Mundwinkel. »In meiner eigenen Schlinge verfangen.«

»Wer ist Flash?« Die Frage kam von einem älteren Mann, der weiter unten am Tisch saß und dessen fleischiges rotes Gesicht mit mehr als einem Doppelkinn ihn aussehen ließ wie eine der eher heiteren bildlichen Darstellungen aus einem Roman von Dickens.

»Carol war so nett und hat eins von Jess’ Jungen genommen«, erklärte George, jetzt wieder der gut aufgelegte Gastgeber. »Eins, das Angst vor Schafen hat.«

»Angst vor Schafen?« Der Fragesteller, der an die Pickwickier erinnerte, schien so ungläubig, wie er klang.

»Das kommt von Zeit zu Zeit vor«, sagte George gutmütig. »Ein Mutterschaf braucht nur zu blöken, da zieht Flash schon den Schwanz ein und rennt weg. Carol hat den Hund vor der Arbeitslosigkeit gerettet.«

»Und sie ist eine großartige Gefährtin«, sagte Carol. »Allerdings ist sie fast noch ein Welpe. Und wie alle Collies will sie nicht lang allein sein. Deshalb sollte ich gehen.«

Der Mann, dem sie gern eine reingehauen hätte, schnaubte: »Ihr Hund hört sich ja tyrannischer an als unser Babysitter. Und das will was heißen.«

»Nein, überhaupt nicht, Charlie«, meinte George. »Carol hat ganz recht. Wenn man einen Welpen vernünftig behandelt, wird man später mal einen erstklassigen Hund haben.« Er lächelte, seine dunklen Augen leuchteten freundlich. »Ich werde Jackie bitten, dich nach Haus zu fahren. Du kannst den Wagen abholen, wenn du morgen früh mit Flash unterwegs bist.«

Carol runzelte die Stirn. Er hatte also darauf geachtet, wie viel sie getrunken hatte. Der Gedanke ärgerte sie. Wie viel sie trank, war ihre Sache. Man konnte von niemandem erwarten, das ohne irgendeine Art von Rückhalt durchzustehen, was sie hinter sich hatte. Sie wusste, dass sie das Trinken unter Kontrolle hatte, nicht andersherum, egal was andere darüber denken mochten. Oder eine bestimmte Person.

Sie verdrängte diesen Gedanken und zwang sich beiläufig zu klingen. »Ist nicht nötig. Jackie hat doch genug zu tun in der Küche. Ich kann noch fahren.«

Der Mann zu ihrer Linken stieß einen leicht spöttischen Laut aus. »Ich sage meinem Fahrer, er soll Sie hinbringen«, schlug er mit einem herablassenden Tätscheln ihrer Hand vor.

Carol stand auf und schwankte kein bisschen. »Sehr nett von Ihnen, aber es ist nicht nötig. Es sind ja nur ein paar Meilen von hier. Und so spätabends ist es hier still wie auf einem Friedhof.« Sie sprach mit der Sicherheit einer Frau, die es gewohnt ist, dass man sich ihr fügt.

George stand hastig auf, die Lippen zusammengepresst. »Ich bringe dich zum Wagen«, sagte er dann mit seiner unerschütterlichen Höflichkeit.

»Hat mich gefreut, Sie alle kennenzulernen«, log Carol und lächelte rund um den Tisch, auf dem das Chaos eines späten Abends mit Kristallgläsern und Silberbesteck, Porzellantassen und Käseplatte herrschte. Acht Menschen, die sie nie wieder würde sehen müssen, wenn sie Glück hatte. Acht Menschen, die wahrscheinlich erleichtert aufseufzten, dass die Person, die hier völlig fehl am Platz war, sich verabschiedete.

George öffnete die Tür des Esszimmers und trat zurück, um sie in die geflieste Diele vorausgehen zu lassen. Dank der unaufdringlichen Beleuchtung prunkten die alten Teppiche in satten Farben. Oder vielleicht war das nur der Wein, dachte Carol, als sie zu der breiten Haustür schritt.

George blieb in der Vorhalle stehen und betrachtete die Mäntel, die am Kleiderständer für Gäste hingen. Er streckte eine Hand aus nach einem langen schwarzen Kaschmirmantel, hielt dann aber inne und warf ihr über die Schulter ein Lächeln zu. »Die Barbourjacke, oder?«

Carol war nun etwas verlegen. Absichtlich hatte sie die Jacke angezogen, die sie zum Gassigehen mit dem Hund trug, genauso, wie sie sich trotzig geweigert hatte, sich rundum passend anzuziehen für eine Einladung, zu der sie nur ungern ging. Jetzt kam ihr das wie eine absichtliche Beleidigung eines Mannes vor, der ihr immer nur mit Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit begegnet war. »Sie passt besser zum Land Rover als das Kleid«, sagte sie und zeigte auf das schwarze Etuikleid aus Seidenjersey, das ihr besser passte als früher. Sie hatte jetzt eine andere Figur als die Frau, die es gekauft hatte; schwere körperliche Arbeit hatte ihre Schultern breiter werden lassen und ihre Hüften und Schenkel anders geformt.

Er half ihr in die Wachsjacke. »Mir gefällt der Kontrast eigentlich«, sagte er. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, aber an seiner Stimme hörte sie, dass er lächelte. »Danke, dass du gekommen bist, Carol. Ich hoffe, es war keine allzu große Tortur. Nächstes Mal wird’s ein entspannterer Abend, ich verspreche es. Einfach ein kleines Abendessen in der Küche vielleicht?«

»Deine Beharrlichkeit erstaunt mich.« Sie drehte sich um und stand ihm gegenüber, ihre grauen Augen begegneten seinem Blick. »Ich an deiner Stelle hätte mich schon längst aufgegeben.«

»Das ist das Geheimnis meines Erfolgs, Beharrlichkeit. In meiner Gruppe war ich nie der Klügste oder der Beste, aber ich lernte, dass das Ergebnis meistens akzeptabel war, wenn ich dranblieb. So hab ich es geschafft, dass Diana mich heiratete.« Er öffnete die Tür, und kalte Luft wehte ihnen entgegen. »Und da wir schon von Beharrlichkeit reden – willst du wirklich fahren? Es ist gar kein Problem, Jackie kann dich schnell hinbringen.«

»Es ist alles in Ordnung, George. Wirklich.« Sie trat auf den bereiften Kies und ging knirschend los, war aber dankbar, dass sein Arm gleich da war, als die ungewohnten Stöckelschuhe sie zwei Meter vor dem Wagen fast straucheln ließen. »Mein Gott, ist es lang her, dass ich diese Schuhe getragen habe«, sagte sie mit einem gezwungenen Lachen.

»Das ist einer der Gründe, weshalb ich dankbar dafür bin, ein Mann zu sein.« George trat einen Schritt zurück, als sie die Tür des Land Rovers öffnete und sich auf den hohen Sitz hinaufschwang. »Aber fahr vorsichtig. Vielleicht sehen wir uns morgen auf dem Hügel?«

»Wahrscheinlich. Noch mal danke für das wunderbare Dinner.« Sie schlug die schwere Tür zu und ließ den lauten Dieselmotor aufbrummen. Die Windschutzscheibe war von einer leichten Frostschicht überzogen, aber nachdem die Scheibenwischer zweimal darübergewischt hatten, war sie weg. Mit hochgeschaltetem Gebläse, damit die Scheibe nicht beschlug, nahm Carol den Schalthebel langsam aus dem Leerlauf und fuhr die Einfahrt hinunter. Dass George seine verstorbene Frau erwähnt hatte, die bei einem Verkehrsunfall mit einem betrunkenen Fahrer umgekommen war, gab ihr das Gefühl, er mache ihr einen Vorwurf, weil sie sich entschieden hatte, sich nach ein paar Gläsern Wein hinters Steuer zu setzen. Aber sie fühlte sich ausgezeichnet, hatte ihre Reaktionen und Reflexe vollkommen unter Kontrolle. Außerdem waren es weniger als drei Meilen. Und sie wollte unbedingt entkommen.

Mein Gott, was für ein Abend! Wäre das nicht eine solche Schar von Vollidioten gewesen, hätte sie sich geschämt, ein so mieser Gast zu sein. Aber so war sie nur bestürzt darüber, wie unzureichend sie Georges Großzügigkeit vergolten hatte. Sie hatte verlernt, mit Menschen zusammen zu sein. Früher einmal war sie einem Mann nah genug gewesen, dass sie ihn ständig wegen seines Mangels an gesellschaftlichen Umgangsformen gehänselt hatte. Jetzt war sie wie er geworden.

Von der Einfahrt fuhr sie auf das schmale Straßenstück hinaus, das sich zwischen George Nicholas’ Landsitz und der Steinscheune erstreckte, die sie in den letzten Monaten bis auf ein Gerippe hatte einreißen lassen, um sie nach ihrer eigenen Vorstellung wieder aufzubauen. Sie hatte alles entfernt, was Erinnerungen wachrufen könnte, aber die Vergangenheit verfolgte sie trotzdem.

Die Scheinwerfer nahmen den Hecken die Farbe, und sie war erleichtert, die Anzeichen zu erkennen, die ihr zeigten, dass sie schon fast zu Hause war. Der krumme Stumpf einer abgestorbenen Eiche, der Zaunübertritt und der Wegweiser für den Fußpfad, der schmutzig gelbe Streugutbehälter aus Kunststoff, der da stand, um die Tatsache auszugleichen, dass die Gemeinde eine Straße nie streuen ließ, die so unbedeutend war, dass sie nicht einmal eine weiße Linie in der Mitte hatte.

Und dann war da ganz plötzlich ein anderes Zeichen. Eines, das nie etwas Gutes bedeutete: Blaulicht, blendend hell wie in einer Disco, in ihrem Rückspiegel.

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3

Chief Constable James Blake war von Natur aus kein geduldiger Mensch. Er hatte sich während der Jahre, in denen er sich mühsam seine Stellung an der Spitze erkämpft hatte, gezwungen, den Anschein von Geduld anzunehmen. Wenn er erst einmal das Sagen hatte, so seine Vorstellung, würde er das Arbeitstempo nach seinen Wünschen erhöhen. Zu seinem Verdruss war es aber bei seiner ersten Stellung im Südwesten nicht so gelaufen. Wenn er versucht hatte, seinen Mitarbeitern Dampf zu machen, war es gewesen, so hatte er oft zu seiner Frau gesagt, als wolle man eine Schnecke vor sich her bergauf treiben. Er hatte vermutet, es läge daran, dass dort unten offenbar alles langsamer vor sich ginge. Also hatte Blake beschlossen, in den sauren Apfel zu beißen und die erste sich bietende Gelegenheit zu ergreifen, an einen Ort zu wechseln, wo man eher in die Gänge kam.

Die Bradfield Metropolitan Police, hatte er gedacht, musste doch so weit auf der Höhe der Zeit sein, dass Polizeiarbeit auf einem modernen städtischen Niveau möglich wäre. Das wäre genau das Richtige für ihn. Eine unruhige Stadt im Norden mit einer anständigen Portion Schwerverbrechen und organisierter Kriminalität, perfekt, um als Chief Constable einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Einen Eindruck, der ihm eine Handvoll Aufsichtsratsposten garantieren würde, wenn er später mal seine Uniform auszog. Er hatte den Ausschuss beim Vorstellungsgespräch überzeugt und seiner Familie eingeredet, ihnen allen werde das Großstadtleben gefallen. Mit wehenden Fahnen kam er nach Bradfield, überzeugt, dass er hier alles mit Schwung und Leistungskraft in Gang bringen würde.

Es war nicht gerade hilfreich, dass zeitgleich mit seiner Ankunft die Mittel gekürzt worden waren. Aber in seinen Augen war das keine Entschuldigung für die hartnäckige Verbohrtheit, die er auf allen Ebenen antraf, während er sich abmühte, die Polizei effektiver und leistungsfähiger zu machen. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass es daran lag, dass seine Untergebenen zu wenig Respekt vor ihm hatten; ihm fehlte die Erfahrung in praktischer Polizeiarbeit, die in Bradfield unabdingbar war. Blake schob stattdessen die Schuld auf die Vorurteile dieser Städter im Norden – für sie war er bestimmt ein ahnungsloser Hinterwäldler, denn er kam ja aus dem Südwesten. Er war enttäuscht und, manchmal musste er das zugeben, entmutigt. Deshalb war er zu diesem Treffen voller gespannter Erwartung gekommen. Ein Arbeitsessen mit einem Staatssekretär des Innenministeriums, zwei seiner Beamten und einem Sonderberater. Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen, selbst wenn der Sonderberater der pensionierte Polizeichef war, der vor ihm in Bradfield seine Position innegehabt hatte. Blake hielt nicht besonders viel von John Brandon, hätte der seine Arbeit richtig gemacht, dann wäre Blakes Aufgabe wesentlich leichter.

Was immer man mit ihm vorhatte, niemand beeilte sich, zur Sache zu kommen. Sie saßen schon fast zwei Stunden in ihrem separaten Nebenraum beisammen und hatten sich über Appetithappen, Vorspeise und Gemüsesorbet zu Hauptgang und Nachtisch vorgearbeitet. Das Essen war reichlich gewesen, sogar luxuriös. Der Wein eher weniger reichlich, aber nicht weniger gut. Die Unterhaltung hatte sich um verschiedene Themen der Polizei und Politik gedreht, angereichert mit unterhaltsamen Anekdoten und ein paar amüsanten Indiskretionen, aber Blake tappte immer noch im Dunkeln, warum sie hier waren. Seine Ungeduld plagte ihn wie eine Magenverstimmung.

Endlich brachten die Kellner eine üppige Käseplatte, eine Schale mit Obst und ein Körbchen mit Crackern und Keksen, zogen sich zurück und überließen die fünf Männer sich selbst, ohne dass eine weitere Unterbrechung geplant war. Offenbar was es an der Zeit, zur Sache zu kommen.

Christopher Carver, der Staatssekretär, beugte sich vor und nahm sich ein Stück des sehr reifen Epoisses. Nach seinem Bäuchlein zu urteilen, das sein Hemd an den Knöpfen spannen ließ, war es nicht das erste Mal, dass er seinen Appetit auf Kosten der Steuerzahler stillte. Mit einem verschmitzten Lächeln schaute er zu Blake. »Sie haben sich bestimmt schon gefragt, wozu das alles dient, James.«

Während der Abend vorgerückt war, war Blake mehr und mehr überzeugt, man werde ihn in die berufliche Stratosphäre katapultieren. Ein Dinner in diesem Stil, Gäste von diesem Niveau – das war nicht einfach ein Klaps auf die Schulter, weil er mit seinem Budget bei der Bradfield Metropolitan Police Wunder gewirkt hatte. »Es war mir schon durch den Kopf gegangen, Herr Staatssekretär.«

»Sie werden sich ja daran erinnern, dass wir über die Idee sprachen, die Abwicklung der internen Arbeit auf mehrere Polizeiapparate zu verteilen«, sagte Carver. Sein Gesicht war rot nach dem übermäßigen Genuss, aber seine Augen waren klar, und er hielt den Blick auf Blake gerichtet.

Blake nickte. »Das leuchtet schon ein. Es ist schwieriger, es mit Einheiten hinzubekommen, die so groß sind wie die BMP, aber es ist uns gelungen, die Tatortarbeit zusammenzulegen.«

»Manche unter uns sind der Meinung, dass wir drastischere Maßnahmen ergreifen könnten. Nicht nur, was Kosteneinsparungen betrifft, sondern auch, was eine bessere Reaktion der Polizei auf schwerwiegende Straftaten angeht. John, könnten Sie James unsere Vorstellungen erklären?«

Ganz anders als bei Blake hatte sich John Brandons Karriere immer an vorderster Front abgespielt. Niemand hatte jemals seine Entscheidungen hinterfragt, wenn es um operative Strategien ging, wobei Blake allerdings fand, dass das ein bisschen zu viel Respekt sei. Schließlich war niemand perfekt. Aber er lächelte und nickte Brandon artig zu, der an seinem Glas Wasser nippte und sich dann räusperte. Je älter er wurde, desto mehr ähnelte Brandon einem Bluthund, dachte Blake. Langes Gesicht, Hängebacken, Tränensäcke unter den Augen.

»Mordfälle«, sagte Brandon und zog mit seinem Tonfall aus dem Norden die Silben in die Länge. »Trotz all der Polizeiserien im Fernsehen haben wir außerhalb der großen Städte nicht allzu viele davon. Womit wir es hauptsächlich zu tun haben, ist häusliche Gewalt. Da den Überblick zu behalten würde eine durchschnittliche Nagelpflegerin nicht überfordern, und schon gar nicht Detectives. Aber hin und wieder kommt etwas vor, das nicht wie unser Nullachtfünfzehn-Tötungsdelikt ist. Ein zergliederter Oberkörper wird im Wald gefunden. Oder ein entführtes Kind liegt erdrosselt auf einer unbebauten Brache. Oder ein Mädel kommt nach einem Abend in den Clubs nicht nach Haus, und ein Hundebesitzer findet ihre verstümmelte Leiche beim Gassigehen am Kanal. Schwierige, verwickelte Fälle. Weil es sie gibt und weil es unsere Aufgabe ist, sie zu lösen, bestimmt jeder Polizeiapparat seine besten Ermittler und teilt sie einer Sonderkommission zu. So weit klar?«

»Natürlich. Man muss spezialisierte Leute haben, die darin geübt sind, sich um diese schwierigen, verwickelten Fälle zu kümmern. Wir haben der Öffentlichkeit gegenüber eine Pflicht. Aber wir müssen auch unser Personal möglichst gut nutzen. Wir können die Mitarbeiter nicht einfach herumsitzen und auf den nächsten Mord warten lassen«, sagte Blake und bemühte sich, nicht defensiv zu klingen. »Und außerdem bedeutet eine Reorganisation wie die von Bradfield, dass wir, wenn es nötig ist, ein sehr spezifisches Team zusammenstellen können, um die Anforderungen besonderer Vorfälle zu bewältigen.«

Brandon lächelte matt. »Niemand kritisiert Sie dafür, dass Sie Ihr Sondereinsatzkommando MIT aufgelöst haben, James. Wir mögen der Entscheidung nicht zustimmen, aber wir verstehen die Motivation.«

Der Staatssekretär strich seine silbernen Stirnfransen zurück und sagte: »Eigentlich, James, war es die Unerschrockenheit Ihrer Entscheidung, Ihre Spezialisten auf das CID als Ganzes zu verteilen, die uns unsere Strategie auf diesem Gebiet noch einmal überdenken ließ. Wenn ein Polizeiapparat wie die BMP es für möglich hält, ohne eine ständige Ermittlungsgruppe auszukommen, was wäre da für andere Apparate sinnvoll?« Er wies mit seiner dicklichen Hand auf Brandon. »Deshalb habe ich John gebeten, mal unkonventionell zu denken. Sagen Sie James, zu welchem Ergebnis Sie gekommen sind.«

Brandon begann, mit einer Hand ein Haferplätzchen zu zerkrümeln. »Der Nachteil daran, dass man ad hoc ein Team für größere Fälle aufstellt, ist, dass es die Ermittlungen beeinträchtigen kann, die die Detectives vor Ort bereits begonnen haben. Gar nicht zu reden davon, dass man nie weiß, welche Eigendynamik sich in so einem zusammengewürfelten Haufen entwickeln wird. Das ist es nämlich, ein zusammengewürfelter Haufen. Es ist kein Team. Nicht wie eine geschlossene Einheit, die sich ergibt, wenn die Leute eine gewisse Zeitspanne zusammenarbeiten. Wenn sie den unnötigen Ballast oder den unbeholfenen Typen oder das sexistische Schwein, das die Frauen in der Gruppe verärgert, losgeworden sind. Das ist ein Team, und so ist Polizeiarbeit am erfolgreichsten.«

»Und am teuersten«, sagte der jüngere der Beamten mit angewidert verzogenem Gesicht.

»Also musste ich die Quadratur des Kreises versuchen«, fuhr Brandon unbeirrt fort. »Und ich dachte, wenn Polizeiapparate sich die Abläufe im Hintergrund teilen können, warum dann nicht auch die Arbeit im Vorderhaus? Warum sollte man nicht eine Ermittlungsgruppe aufstellen, die wie eine mobile Sondereinsatzgruppe agiert? Die Ghostbusters der komplexen Mordfälle sozusagen. Ein Team, das nicht zu irgendeinem bestimmten Polizeiapparat gehört und immer dorthin geht, wo es gerade gebraucht wird.«

Blake merkte, dass ihm während des Schweigens, das auf Brandons Worte folgte, die Kinnlade heruntergefallen war. Alle starrten ihn an und warteten auf seine Antwort. In seinem Gehirn drehten sich die Rädchen wie rasend, um die Bedeutung all dessen zu verarbeiten. Sie würden ihn bitten, sich als führender Kopf hinter diesen drastischen Vorschlag zu stellen. Es hörte sich völlig verrückt an. Es klang wie etwas, das man nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde. Aber andererseits, wenn es funktionierte … Nach oben würde es keine Grenzen geben für den Mann, der das Gesicht der britischen Polizei erfolgreich verändert hatte. Verzweifelt versuchte er auf etwas Vernünftiges zu kommen, das er sagen konnte. »Was ist, wenn innerhalb von ein paar Tagen mehr als ein komplizierter Mord passiert?« Das war keine dumme Frage, sagte er sich.

»Das kommt nicht vor.« Der jüngere der Beamten zog sein Smartphone heraus, tippte darauf herum und drehte es dann so, dass Blake den Bildschirm in all seiner Bedeutungslosigkeit sehen konnte. »Wir haben die Zahlen der letzten fünf Jahre analysiert. Nur bei einer Gelegenheit lagen zwei Fälle so nah beieinander, dass es für ein einziges Team hätte eng werden können.«

»John hat sich das genau angeschaut«, fügte der Staatssekretär hinzu.

»Stimmt. Und es scheint mir, dass das keine unlösbaren Probleme aufwirft«, sagte Brandon. »In einer digitalen Welt gibt es Möglichkeiten, Ressourcen auszuweiten, die vor zwei Jahren noch nicht einmal existierten.«

»Deshalb«, sagte Carver, »werden wir ein Pilotprojekt in die Wege leiten.« Er machte sich noch einmal über die Käseplatte her, diesmal schnitt er sich einen Brocken Ossau-Iraty ab und spießte mit der Spitze des Käsemessers zwei Datteln auf.

Blake spürte, wie die Befriedigung warm seinen Körper durchströmte. Ein Denkzettel für jeden, der jemals gesagt hatte, ihm fehle der Weitblick. »Das hört sich nach einer gewaltigen Herausforderung an«, sagte er eifrig.

Carvers Lächeln war dünn wie das Messer. »So ist es. Darum ist es so wichtig, dass wir die richtige Person am Steuer haben. Deshalb haben wir Sie heute Abend hierher gebeten: um uns zu helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.«

Blake war so beglückt darüber, wie der Abend sich zu entwickeln schien, dass er die Feinheiten dessen, was der Staatssekretär gesagt hatte, nicht ganz erfasste. »Auf jeden Fall«, stieß er hervor, »bin ich bereit zu übernehmen, was immer Sie von mir verlangen.«

Carver hob die Augenbrauen, was Blake verwirrte. Warum blickte er so überrascht? »Ich freue mich, das zu hören. Wir sind uns ganz im Klaren über die Person, die wir für diese Rolle im Sinn haben. Aber John bestand darauf, dass wir uns nicht auf seine Meinung allein verlassen sollten, wenn es darum geht, die Leitung der neuen regionalen Ermittlungsgruppe zu besetzen. Und deshalb wandten wir uns an Sie als die letzte Person, die direkt mit unserer Nummer eins für die Position zusammengearbeitet hat.«

Blake hörte ein leises Klingeln in seinen Ohren, wie eine Messingglocke, die jemand in weiter Ferne anschlug. Wovon zum Teufel redete Carver da? Wen konnte er meinen? Es gab niemanden in seiner Belegschaft in Bradfield, der für eine solche Aufgabe geeignet war, da könnte er wetten. »Entschuldigung? Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen«, stammelte er und drohte die Fassung zu verlieren.

Brandon legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich Blake entgegen, ein Lächeln ließ die Falten zu beiden Seiten seines Mundes wie Klammern erscheinen. »Er meint Carol Jordan. Der Staatssekretär möchte wissen, was Sie von Carol Jordan halten.«

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4

Tony Hill öffnete entgeistert den Mund. Aber das merkwürdige Krachen und Knistern ging trotzdem nicht weg. Die anderen drei am Tisch grinsten und amüsierten sich über sein Unbehagen. Der vierzehnjährige Torin McAndrew, und damit der Jüngste unter ihnen, fing an, so schallend zu lachen, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Detective Sergeant Paula McIntyre stieß ihm die Finger in die Rippen. »Zeig unserem Gast ein bisschen Respekt«, schalt sie scherzhaft.

Ihre Partnerin Dr. Elinor Blessing erbarmte sich Tonys. »Es ist Popping Candy – das knistert«, sagte sie. »Ich hab es auf den Schokoladenguss gestreut, bevor er fest wurde.«

Tony machte den Mund zu und runzelte die Stirn. »Und die Leute mögen das … dieses komische Zeug im Mund?«

»Die meisten Leute schon«, meinte Elinor.

»Aber Tony ist nicht wie die meisten Leute«, sagte Torin, immer noch kichernd.

»Er kennt dich erst seit ein paar Monaten, aber er hat dich schon durchschaut, Tony«, sagte Paula.

Tony lächelte. »Anscheinend.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ein ganz merkwürdiges Gefühl.« Vorsichtig nahm er noch einen Löffel von der Schokoladentorte, die Elinor zum Nachtisch serviert hatte. Diesmal war er vorbereitet auf das knisternde Zuckerzeug, aber weiterhin konnte er nichts Angenehmes daran finden. Allerdings musste er zugeben, dass es interessanter war als alles, was er sich selbst zum Abendessen gemacht hätte. Und interessant war in seiner Welt immer ein Pluspunkt.

»Elinor wollte es schon die ganze Zeit unbedingt ausprobieren, seit sie es bei Masterchef gesehen hat«, verriet Torin.

»Das kann ich nicht abstreiten«, gab Elinor zu. »Ich habe nicht oft Gelegenheit, ein Abendessen mit drei Gängen zu kochen, und wenn ich es dann mal mache, dann will ich möglichst viel dabei herausschlagen.«

»Vermutlich stehen die Arbeitszeiten bei der Notaufnahme kulinarischen Experimenten im Weg«, sagte Tony. »Was sehr schade ist in Anbetracht des tollen Essens, das wir gerade hinter uns haben. Trotz der sonderbaren Note.«

»Wem sagst du das!«, seufzte Elinor. »Warum meinst du denn, hat es so lang gedauert, bis wir dich endlich mal zu einem Essen eingeladen haben?«

Tony fielen jede Menge Gründe ein, warum die meisten Leute einen großen Bogen um die Idee machen würden, ihn zum Dinner einzuladen. Er hatte nie die Gabe besessen, Freundschaften zu knüpfen. Es war, als fehle ihm das Gen für Geschicklichkeit im sozialen Miteinander. In seinem Beruf kannte und respektierte man ihn wegen seiner Fähigkeit, sich in Patienten einzufühlen. Innerhalb der Mauern einer Klinik für forensische Psychiatrie oder in einem Sprechzimmer wusste er immer, wohin die Reise ging. Was zu sagen war, wie er sich geben musste. Aber draußen war er unbeholfen, viel zu direkt und linkisch. Während seiner jahrelangen Zusammenarbeit mit der Polizei war er von der lässigen Kameradschaft umgeben gewesen, die Männer mit ihren Kollegen verbindet. Irgendwie hatte er jedoch nie dazugehört.

Abgesehen von Paula. Sie war anders. Mit ihr hatte er Freundschaft geschlossen, dachte er. Anfangs waren sie Verbündete, die sich zur Verteidigung und für den Schutz Carol Jordans einsetzten. Er hatte den Verdacht, dass Paula ein wenig in ihre Chefin verliebt gewesen war. Was sie dann wahrscheinlich beide gemeinsam hatten. Aber ihre Verbindung war gewachsen und hatte sich vertieft, denn sie hatten jeweils ein Bedürfnis des anderen erfüllt. Und schließlich hatte sie Elinor kennengelernt, wodurch sie von ihrem sinnlosen Verlangen nach Carol erlöst wurde. Zwischen Tony und Paula blieb eine gegenseitige Zuneigung erhalten, die durch das unerwartete Auftauchen Torins in ihrer Mitte nur noch bereichert wurde.

Der Junge stand nach der Ermordung seiner Mutter allein, seine einzigen Verwandten wohnten weit weg und waren ihm fremd. Er hatte sich wie ein Ertrinkender an Elinor geklammert, eine Freundin seiner Mutter. Obwohl ihre anstrengenden Berufe ihnen nur wenig Zeit ließen, hatten Elinor und Paula in ihrem Leben Raum für Torin geschaffen. Die emotionale Verletzung des Jungen hatte Tony wie einen Magneten angezogen; zu seiner Überraschung wurde er plötzlich in etwas hineingezogen, das fast einem Familienleben gleichkam.

Paula unterbrach seinen Gedankengang. »Bist du sicher, dass ich dich nicht mit einem Dessertwein in Versuchung führen kann? Das zählt ja kaum als Alkohol.«

Tony winkte ab, sein Daumen schien durch einen Verband doppelt so groß wie normal. Mit einer Kopfbewegung wies er auf Elinor. »Ihr habt mir in der Notaufnahme Angst eingejagt. Wirklich.« Er imitierte einen ernsten Gesichtsausdruck und sagte mit tiefer Stimme: »›Septikämie ist eine sehr gefährliche Infektion, Dr. Hill. Nehmen Sie die Antibiotika bis zum Ende und trinken Sie keinen Alkohol.‹« Er grinste und war wieder sein normales Ich. »Ich halt mich also mal an das, was man mir befohlen hat.«

»Und das ist auch ganz richtig so«, sagte Elinor.

Paula schüttelte den Kopf. »Ich kenne niemanden, der so unwahrscheinliche Verletzungen hat wie du. Sich den Daumensattel aufzureißen beim Abschrauben der Kappe von einer Weinflasche! Wer hätte gedacht, dass Pinot Grigio so hochriskant sein kann?«

Tony schaute auf den Tisch hinunter. »Es war kein Pinot Grigio.«

Ein Moment der Stille trat ein. Sie wussten alle, wer Pinot Grigio trank. Paula sah man kurz an, dass sie sich über sich selbst ärgerte. »Nein. Tut mir leid.«

»Es war ein dreister kleiner Primitivo«, sagte Tony und war selbst überrascht, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, den Augenblick aufzuhellen.

»Verdammt dreist«, sagte Elinor. »Wie geht’s jetzt damit?«

»Es klopft ’n bisschen, wenn ich die Hand bewege.«

»Das ist normal. Böse Sache, infizierte Schnittwunden. Also, wer will noch Torte?«

Als die Zerstreuung durch den Nachtisch vorbei war, kehrte Torin in seinen Teenagermodus zurück, nahm sein Handy heraus und überließ sich der Verführung durch seinen Bildschirm. Während die Erwachsenen die Neuigkeiten der vergangenen Woche aufwärmten, tanzten seine Daumen über das Handy, nur ein Piepsen unterbrach hin und wieder die Stille, die ihn umgab. Aber dann hielt er plötzlich inne und starrte den Bildschirm an. »Wow«, sagte er. »Das hätt ich aber nicht gedacht.«

»Was denn?« Elinor schaute zu ihm hinüber.

»Sag bloß, irgendeine Teen-Ikone hat seine Haartolle abgeschnitten«, meinte Paula und schnippte mit den Fingern nach Torins sorgfältig zurechtgemachter Frisur.

»Ha! Nein, viel schlimmer«, sagte er. »Erinnerst du dich an die Frau, die wir bei The Big Ask vor ein paar Wochen gesehen haben? Jasmine Burton?«

»Der Name sagt mir nichts«, antwortete Elinor.

Paula legte die Stirn in Falten. »Doch, du erinnerst dich bestimmt. Die, die das Argument brachte, verurteilte Vergewaltiger hätten nach Absitzen ihrer Strafe kein Recht, in Berufen zu arbeiten, in denen sie Kontakt mit Frauen oder Kindern haben.«

»Kann man so sehen«, sagte Tony. »Nach meiner Erfahrung mit Serienvergewaltigern würde ich meinen, dass das durchaus Vorteile hat. Allerdings wäre es ziemlich unmöglich durchzuführen, ohne die Menschenrechte zu missachten.«

»Jetzt erinnere ich mich. Sie hat das sehr überzeugt vertreten. Was ist mit ihr?«, fragte Elinor.

»Sie hat sich umgebracht«, antwortete Torin. »Nach der Sendung wurde sie total heftig von Trollen niedergemacht. Ihr kennt das ja: ›Du bist zu hässlich für ’ne Vergewaltigung‹, ›Ich hoffe, du bekommst Krebs und stirbst langsam und unter Schmerzen‹, ›feministische Lesbenschlampe mit Kastrationsphantasien, du brauchst einen richtigen Mann‹. Solche Sachen.« Er lächelte bedauernd und verlegen. »Und noch schlimmer.«

»Aber das ist ja furchtbar«, sagte Elinor.

»Kommt laufend vor«, meinte Tony. »Heutzutage ist das die erste Ausflucht für Männer, die meinen, dass sie zu kurz kommen. Sie sind frustriert, sie haben meistens das unrealistische Gefühl, machtlos zu sein, weil sie nicht gelernt haben, das zu schätzen, was sie haben und was sie erreichen können. Deshalb verwenden sie ihre Energie darauf, Frauen zu Opfern zu machen, wo immer sich eine Gelegenheit bietet. Die Anonymität im Netz ist ihr natürliches Zuhause.«

»Drecksäcke«, sagte Paula. »Aber ich bin ihr auf Twitter gefolgt seit The Big Ask. Sie hat das nicht tatenlos hingenommen. Die Leute sagen, man solle diese Arschlöcher nicht beachten. Den Trollen keine Nahrung bieten. Sie anzeigen, blockieren und weiterziehen. Aber so war sie nicht. Sie ging direkt auf sie los.«

Torin nickte. »Das stimmt. Sie hat darüber in verschiedenen Blogs als Gast geschrieben. Es war, als hätte sie das, wovon sie ursprünglich redete, hinter sich gelassen, und jetzt war ihr Thema Redefreiheit und ›Je suis Charlie‹. Sie hat den Cyberbrutalos Paroli geboten. Sie war so drauf: ›Versucht’s doch mal. Ich bin stark genug, und ihr seid lächerliche kleine Trauerklöße.‹«

»Aber jetzt haben sie ihr Ziel erreicht. Sie haben sie dazu getrieben, sich umzubringen«, sagte Elinor geradeheraus und empört.

Toni runzelte die Stirn. »Das scheint mir nicht plausibel. Ich meine, das ist doch ein recht langer Weg, oder? Den Mut haben, gegen das anzukämpfen, was immer die Leute einem entgegenschleudern, und sich dann in den Fluss werfen.«

»Ich glaube, es ist so ähnlich wie das, was man bei schwerkranken Patienten erlebt.« Elinor strich sich ihr langes dunkles Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen schienen ihren Glanz verloren zu haben. »Sie reden sich ein, dass es Hoffnung gibt. Sie sprechen von einem Kampf, den sie gewinnen können. Aber darum geht es dabei nicht. Die Krankheit ist unerbittlich. Sie lässt einen nicht los. Es gibt keine Ruhepause. Und eines Tages wacht der Patient auf und glaubt an eine andere Geschichte, eine, in der Kämpfen keinen Unterschied macht, weil es kein Licht am Ende des Tunnels gibt. Sehr oft sterben sie innerhalb von Stunden oder Tagen, nachdem sie diesen Punkt erreicht haben. Vielleicht hat es sich so angefühlt für die arme Jasmine Burton.«

»Oder jemand hat zu ihrem Unglück einfach die eine Schwachstelle erwischt, an der sie wirklich verwundbar war. Vielleicht hat er eine ungeschützte Stelle in ihrer Rüstung erwischt und sie direkt ins Herz getroffen«, überlegte Paula. »Wir haben alle solche geheimen Stellen.«

»Ist das so?«, fragte Torin. »Ich glaub, ich hab das nicht.«

Da war Tony nicht so sicher. Die Ermordung seiner Mutter hatte vermutlich für immer einen Knacks in Torins Psyche hinterlassen. Nur Stunden nach Bev McAndrews Tod hatte Paula die Verantwortung für seinen Schutz übernommen, hatte seine Accounts in den sozialen Medien geschlossen und dafür gesorgt, dass zunächst nur wenige vertrauenswürdige Freunde Zugang zu ihm hatten. Bis ein größerer Kreis ihn fand, hatte dessen Gehässigkeit seine Mutter weitgehend vergessen und sich hauptsächlich auf die Tatsache konzentriert, dass er bei zwei Lesben wohnte. Und das war etwas, wogegen Torin ziemlich gut gewappnet war. »Vielleicht noch nicht«, antwortete Tony und versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Aber früher oder später wirst du etwas tun, das niemand erfahren soll.«

Von ihm angeregt, gluckste Paula: »Darum geht es doch, wenn man ein Teenager ist.«

»Hörst du oft von Mobbing im Netz von deinen Schulkameraden?«, fragte Elinor, die stets die Rolle der besorgten Mutter einnahm und nicht bemerkt hatte, dass die anderen versuchten, das Thema zu wechseln.

Der Junge rutschte unbehaglich hin und her und schaute zu Tony, als erwarte er ein Stichwort. Tony hob eine Schulter zu einem leichten Achselzucken und lächelte ihm ermutigend zu.

»Ich glaube, ich kenne keine Leute, die so etwas machen«, antwortete Torin.

»Das glaub ich dir gern«, sagte Elinor. »Nur hab ich mich gefragt, ob vielleicht jemand von deinen Freunden belästigt worden ist.«

Torin zog eine Grimasse. »Niemand hat etwas gesagt.« Er seufzte frustriert. »Wir reden nicht wirklich über so was, Elinor. Wenn einer meiner Kumpel sich über etwas aufgeregt hätte, würde er es vielleicht sagen. Aber, na ja. Vielleicht auch nicht. Und außerdem würden wir es ja selbst auf Instagram oder Snapchat oder Facebook oder was auch immer sehen.«

Elinor lächelte. »Okay. Du darfst nicht vergessen, dass deine Online-Welt für uns fremdes Territorium ist. Als wir aufwuchsen, war es noch so, dass man fast immer direkt miteinander sprach.«

»Ja, wenn ich mehr als fünf Minuten mit einer meiner Freundinnen telefonierte, stand mein Vater schon im Flur, tippte auf die Uhr und nörgelte wegen der Telefonrechnung«, sagte Paula. »Wenn man jemanden schikanieren wollte, musste man zu ihm hingehen und es persönlich mit ihm aufnehmen. Nicht dieses anonyme Trollen.«

Tony hantierte mit seinem Messer herum. »Deshalb können wir oft nicht einmal die richtigen Fragen stellen.« Er schaute auf und gewahrte Torins emotionslosen Blick. »Wir müssen uns darauf verlassen, dass du uns die Richtung weist.«

Torin rieb mit den Fingern der rechten Hand über die feinen, kurzen Haare über seinem Ohr. »Gut. Na ja, ich weiß nicht, was in Jasmine Burtons Kopf vor sich ging. Aber es gibt welche in meinem Alter, die durchdrehen, weil ein paar Leute an ihrer Schule gemein zu ihnen sind. Ich nehme also an, es waren sehr viele Leute sehr gemein zu ihr. Und sie wusste nicht, ob es Leute waren, die sie noch nie gesehen hatte, oder Leute, die bei der Arbeit neben ihr saßen. Das wäre das Schreckliche dabei, oder? Dass man nicht weiß, wer einen so sehr hasst. Zumindest weiß man beim Mobbing in der Schule in etwa, wer das macht, da kann man vielleicht sagen: ›Ich weiß, dass du ein Schwachkopf bist. Warum sollte es mich kümmern, was du von mir denkst?‹ Aber nicht zu wissen, ob es dein sogenannter bester Freund ist oder irgendein total gestörter fremder Mensch, das wäre der Hammer.«

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5

Der Abend hatte ihren Erfahrungshorizont gewaltig erweitert. Unter anderem wusste sie nun, dass eine Gewahrsamszelle ganz anders aussah für den, der eingesperrt wurde, als für den, der jemanden einsperrte. Carol hatte sich nie an der quasi eingebauten Unbehaglichkeit gestört; die Leute, die sie einbuchtete, waren dort, weil sie Kriminelle waren, die in eine Warteschleife gesteckt wurden, bis man sie zweifelsfrei festnageln konnte. Sie verdienten keine Bequemlichkeit.

Offenbar traf dies nun auch auf sie zu. Eine Kriminelle, die nichts Besseres verdient hatte. Zementgraue Wände, die einen schwachen Film Schwitzwasser ausdünsteten. Ein Betonsockel, auf dem eine mit Plastik überzogene Matratze von der Stärke einer Yogamatte lag. Eine Decke, die so dünn war, dass sie auf einem Langstreckenflug für die Economyclass beschämend gewesen wäre. Eine Stahltoilette ohne Brille, eine halbe Rolle Klopapier auf dem Boden daneben. Der Mief von altem Schweiß und Pisse. Da war sie angelangt. Das hatte sie verdient.

Jetzt, da sie drinsaß, begann sie die tückische Macht der Zelle zu begreifen. Es war bedrückend, das stand fest. Niemand landete hier aus Versehen. Das war die Botschaft, und alles war darauf ausgerichtet, den Selbstekel zu nähren, der aus dieser Erkenntnis erwuchs.

Carol hatte ein Wechselbad von Gefühlen hinter sich, als ihr klargeworden war, dass das Blaulicht ihr galt, nicht einem dringlichen, weit entfernten Notfall. Es ging nicht um einen Blitz, der das Haus eines anderen getroffen hatte, sondern um den Tornado, der sie selbst entwurzelte. Zuerst meldete sich Empörung – was machte die Verkehrspolizei da auf einer leeren kleinen Landstraße, wenn es jede Menge wichtiger Straßen in der Grafschaft gab mit Dutzenden von möglichen Verkehrssündern, die eine Gefahr für andere darstellten? Dann kam Angst – sie wusste, dass sie zu viel Alkohol im Blut hatte; wenn sie ins Röhrchen pusten musste, kamen nicht nur Schande, sondern auch fürchterliche Unannehmlichkeiten auf sie zu. Als Nächstes eine Trotzreaktion – bis vor kurzem hatte sie rangmäßig haushoch über diesen Kollegen gestanden und genau gewusst, wie sie sie in die Schranken weisen konnte. Aber als sie den Gang rausnahm und wartete, dass sie an der Tür des Land Rovers ankamen, musste sie schließlich akzeptieren, dass sie auf der ganzen Linie geliefert war.

Hier konnte sie keine Strippen ziehen, Beziehungen zu alten Freunden nützten ihr nichts. Sie war hier nicht auf dem Terrain der Bradfield Metropolitan Police. Dies war fremdes Gebiet. In den letzten Jahren hatte sie einige Zusammenstöße mit den Kollegen in West Yorkshire gehabt, und diese hatten auf keiner Seite freundliche Gefühle hinterlassen. Mehr als einmal hatte Carol ihnen ihre Misserfolge unter die Nase gerieben; damit machte man sich niemals Freunde.

Als der Verkehrspolizist an ihre Scheibe klopfte und ihr zu verstehen gab, sie solle aussteigen, fühlte sie nichts als müde Resignation. »Darf ich Sie fragen, warum Sie mich angehalten haben?«, fragte sie, sobald sie draußen war, und klammerte sich an die schwache Hoffnung, dass er etwas Nebensächliches sagen könnte, das ihr aus der Patsche half. Sie hatte ein bisschen was getrunken, meine Güte. Sie war nicht betrunken. Sie wusste, dass es eine winzige Chance gab, damit durchzukommen.

»Wir sind Ihnen gefolgt, seit Sie aus der Einfahrt dort hinten herausgefahren sind«, sagte er mit dem lässigen Auftreten eines Mannes, der das nun anstehende Prozedere auch im Tiefschlaf perfekt abwickeln konnte. »Ihre Fahrweise war sprunghaft. Sie sind an der Kurve zu weit ausgeschwenkt und haben dann zu drastisch gegengesteuert. Sie sind Schlangenlinien gefahren, so dass es den Eindruck machte, Sie hätten getrunken.«

Carol richtete sich auf, fröstelte in der Nachtluft und neigte den Kopf, um ihn besser anschauen zu können. Er hatte wohl die vorgeschriebene Größe gerade so erreicht und das mit häufigem Training im Fitnessstudio ausgeglichen. Er füllte seine Sicherheitsjacke aus, und sein Hals war eine dicke Säule aus Muskeln. Von seinem Haar schauten unter seiner Mütze nur dunkle Borsten an den Seiten des Kopfes hervor. Er sah nicht aus wie jemand, der auch nur einen Zentimeter zurückweichen würde. »Ich habe zwei Gläser Wein getrunken«, sagte sie. »Ich bin nicht betrunken.«

Er nickte und presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Das lassen wir mal das Maschinchen entscheiden«, sagte er und hob den Arm, um das Alkoholtestgerät zu zeigen.

Sie wusste, dass es keine Möglichkeit gab, den Tester auszutricksen. Ihre einzige Hoffnung war, dass sie in zwei Stunden, wenn sie noch einmal getestet würde, genug Alkohol verstoffwechselt hatte, um damit durchzukommen. Wie viel hatte sie letztendlich getrunken? Nicht allzu viel, selbst nach Maßstäben der Cops, Gott bewahre. Und also wappnete sich Carol und unterzog sich dem entwürdigenden Atemalkoholtest.

Der Beamte streckte ihr das gelb-schwarze Kästchen entgegen, und sie legte die Lippen um das dünne weiße Plastikröhrchen, holte tief Luft und atmete dann aus. Er hielt das Gerät schräg, damit sie den Bildschirm sehen und mit Schrecken verfolgen konnte, wie die Anzeige über fünfunddreißig stieg, die magische Zahl.

Verdammt noch mal, hält das irgendwann mal an? Neunundvierzig, fünfzig, einundfünfzig. Und das war’s. Scheiße, einundfünfzig! Irgendwas zwischen einem Jahr und achtzehn Monaten ohne Führerschein. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie das gehen sollte.

Carol merkte, dass der Polizist mit ihr sprach. Sein Kollege stand beim Streifenwagen und hielt die hintere Tür auf. »Wir nehmen Sie im Auto mit, und ich fahre Ihren Land Rover ein Stück weiter, bis ich ihn sicher abseits von der Straße abstellen kann. Etwa eine halbe Meile von hier ist ein Haus, bei der Einfahrt wird die Straße breiter.«

»Ich weiß«, sagte sie bitter. »Das ist mein Haus. Da wollte ich hin. Zwei Minuten, und ich wäre dort gewesen. Nichts wäre passiert.«

»Mit Verlaub, das wissen Sie nicht, wenn Sie sich mit Alkohol im Blut ans Steuer setzen. Es hätte sehr gut sein können, dass Sie nicht die einzige Person hier auf der Straße gewesen wären. Jetzt müssen Sie einsteigen.«

»Verhaften Sie mich?«

»Das werden wir, sobald wir Ihre Daten haben. Wir werden Sie zum Revier in Halifax bringen, wo Sie bis zu einem zweiten Alkoholtest in eine Zelle kommen. Sobald wir dort sind, steht Ihnen ein Anruf zu.« Während er das sagte, legte er ihr eine Hand auf den Arm, um sie zum Wagen zu führen. Sie hätte ihn am liebsten abgeschüttelt und geschrien, dass das lächerlich sei, sie sei Carol Jordan, der Schrecken der Mörder und Vergewaltiger, Königin des Tatorts. Aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben.

Es fühlte sich so seltsam an, diejenige zu sein, die auf dem Rücksitz des Streifenwagens Platz nehmen sollte; eine Hand lag auf ihrem Kopf, damit die Polizisten sich nicht dem Vorwurf der Fahrlässigkeit oder absichtlich gewaltsamen Vorgehens aussetzten. Während der Beamte, der sie festgenommen hatte, ihren Land Rover wegfuhr, gab sein Kollege ihr Autokennzeichen in die nationale Datenbank ein. »Ist der Wagen auf Sie zugelassen?«

»Ja.«

»Dann sind Sie also Carol Jordan?«

»Ja.«

Und so ging es weiter. Geburtsdatum. Adresse. Ja, wirklich. Gleich hier vorn an der Straße. Die ganze Zeit biss sie sich auf die Lippe, damit ihr kein besserwisserischer Spruch herausrutschte. Als alles überprüft war, fuhren sie hinter dem Land Rover her. Nach weniger als drei Minuten hielten sie schon an ihrer Einfahrt. »Mein Hund«, sagte sie, sich an die Ausrede erinnernd, mit der sie George Nicholas’ Dinnerparty entkommen war. »Sie ist den ganzen Abend im Haus gewesen. Kann ich sie kurz rauslassen, damit sie pinkeln kann, bevor Sie mich mitnehmen?«

Der Polizist am Steuer drehte sich um, schaute sie forschend an und versuchte abzuschätzen, ob sie etwas vorhatte. »Sie stehen kurz davor, verhaftet zu werden. Da gibt’s keine Extratouren wie Gassigehen.«

Währenddessen öffnete sein Kollege die Tür und schaute in den Wagen hinein. »Gassigehen? Ich hab’s drinnen bellen hören.«

»Mein Hund. Sie muss raus. Nur ein paar Minuten.«

»Ich hab ihr gesagt, wir lassen niemanden von der Leine, der gleich verhaftet wird«, sagte sein Kollege und lachte über seinen eigenen faden Witz.

Der erste Polizist achtete nicht auf ihn, beugte sich ins Fenster und schaute Carol direkt an. »Wie ist der Hund im Umgang mit Fremden? Umgänglich?«

»Ja, sehr.«

»Hat er eine Leine?«

Carol nickte, sie wusste schon, wie das enden würde. Er war kein schlechter Mensch, nur jemand, der seine Arbeit korrekt erledigte. Ihr Pech.

»Hängt neben der Tür. Rechts. Der Schlüssel zur Tür ist am selben Ring wie der Autoschlüssel, den Sie da in der Hand haben. Könnten Sie sie rauslassen?«

»Andy«, protestierte sein Kollege.

»Der Hund hat ja nix falsch gemacht, der braucht doch nicht zu leiden.« Andy ging auf die umgebaute Scheune zu, wo Flash bestimmt schon hinter der schweren Holztür auf und ab sprang.

Als sie die beiden herauskommen und hundert Meter zum Moor hochgehen sah, war das ihr letzter tröstlicher Moment für Stunden.

Man hatte sie verhaftet, im trübseligen, aber chaotischen und geschäftigen Polizeirevier von Halifax abgefertigt und in die Zelle eingeschlossen, wo sie einen zweiten Alkoholtest abwarten sollte. Man hatte ihr angeboten, zu telefonieren, aber Carol hatte sich entschlossen, bis nach dem zweiten Test zu warten. Sie klammerte sich immer noch an die Hoffnung, dass es vielleicht nicht nötig sein werde, jemanden über das blamable Ende ihres Abends zu informieren.

Einen Schritt zu ihrer Rettung hatte sie unternommen. Als sie vom diensthabenden Sergeant registriert wurde, hatte sie ihm ihr schönstes Lächeln des Bedauerns geschenkt und gesagt: »Könnten Sie vielleicht John Franklin wissen lassen, dass ich hier bin? Detective Chief Inspector Franklin.«

Der Sergeant hatte sie angestarrt. »Warum? Was hat eine Verhaftung wegen Alkohol am Steuer mit dem CID zu tun?«

Carol behielt ihr Lächeln bei. »Eigentlich nichts. Aber ich bin sicher, er würde es lieber direkt von Ihnen erfahren als durch die Gerüchteküche.«

Er hatte sie misstrauisch angesehen, aber nichts weiter gesagt. Sie hatte keine Ahnung, ob er Franklin angerufen hatte oder ob eine Reaktion folgen würde, falls er es getan hatte. Aber es war die einzige Trumpfkarte, die ihr geblieben war.

Sie zog die Schuhe aus und ging in der winzigen Zelle auf und ab, in der Hoffnung, dass die Bewegung ihrem Körper helfen werde, den Alkohol schneller zu verarbeiten. Wenn es schlecht lief, würde sie jemanden anrufen müssen, der ihr aushalf. Sie hatte das Haus verlassen und nichts außer dem Handy und den Schlüsseln mitgenommen. Kein Geld für ein Taxi, keine Karte, die sie in einen Geldautomaten stecken konnte. Und kein Taxi aus Halifax würde sie mitten in die Pampa fahren, wenn sie kein Bargeld vorzeigen konnte.

Sie könnte Bronwen Scott anrufen, die beste Strafverteidigerin in Bradfield, eine frühere Gegnerin, die in letzter Zeit eine Art Verbündete geworden war. Aber Bronwen war zu erstklassig, um sie wegen eines Falls von Alkohol am Steuer den weiten Weg hierherzuzitieren. Denn es gab keine Entschuldigung für das, was Carol getan hatte. Niemand hatte ihr heimlich etwas in die Drinks geschüttet. Sie hatte nicht um ihr Leben fürchten müssen oder war ernsthaft bedroht worden. Sie war auch kein medizinischer Notfall. Keine dieser Rechtfertigungen konnte sie für sich geltend machen. Sie war nichts weiter als eine nicht mehr ganz junge Frau, die an einem Samstagabend zu viel getrunken hatte. Nichts von beruflichem Interesse für Bronwen. Und ihre persönliche Beziehung war nicht belastbar genug, um das zu schultern.