Schwarzlicht - Horst Eckert - E-Book
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Eckert Horst

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Beschreibung

Walter Castorp ist tot. Der Ministerpräsident von NRW, ertrunken in seinem Swimmingpool. Sechs Tage vor der Wahl. Vincent Veih leitet die Ermittlungen. Der Hauptkommissar ist gerade erst zum Leiter des KK11 ernannt worden. Nicht alle Kollegen sind davon begeistert. Auch seine Mutter nicht. Die Ex-Terroristin hat den Großteil ihres Lebens in Haft verbracht. Sein Großvater hingegen wäre stolz auf ihn gewesen – doch das ist eine andere Geschichte … Als alle Spuren auf einen Mord deuten, gerät Vincent auch unter politischen Druck. Doch er ermittelt gegen alle Widerstände. Denn Gerechtigkeit geht Vincent über alles. Auch wenn es bedeutet, dass er sich seiner eigenen Vergangenheit stellen muss …

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Horst Eckert

Schwarzlicht

Thriller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Walter Castorp ist tot.

 

Der Ministerpräsident von NRW, ertrunken in seinem Swimmingpool. Sechs Tage vor der Wahl.

 

Vincent Veih leitet die Ermittlungen. Der Hauptkommissar ist gerade erst zum Leiter des KK11 ernannt worden. Nicht alle Kollegen sind davon begeistert. Auch seine Mutter nicht. Die Ex-Terroristin hat den Großteil ihres Lebens in Haft verbracht. Sein Großvater hingegen wäre stolz auf ihn gewesen – doch das ist eine andere Geschichte …

 

Über Horst Eckert

Inhaltsübersicht

MottoTeil eins Montag, 13. Mai1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelTeil zwei Dienstag, 14. Mai11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. KapitelTeil drei Mittwoch, 15. Mai32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. KapitelTeil vier Donnerstag, 16. Mai54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. KapitelTeil fünf Freitag, 17. Mai74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. KapitelTeil sechs Montag, 20. Mai81. KapitelDanksagungLeseprobe: WolfsspinnePrologTeil Eins Der Überfall

Das Vergangene ist nicht tot.

Es ist nicht einmal vergangen.

WILLIAM FAULKNER REQUIEM FÜR EINE NONNE

Teil einsMontag, 13. Mai

1

Für die Handvoll Demonstranten hinter der Absperrung war der Fall klar: Profitgier, Ausbeutung, die korrupte Politik.

Vincent stapfte durch aufgeweichte Erde. Kein Grün, so weit er blicken konnte. Die Seestern-Arkaden sollten hier entstehen, ein von Beginn an umstrittenes Projekt der Osterkamp-Entwicklungsgesellschaft. Das Schild an der Zufahrt zeigte eine Computergraphik mit transparenten Fassaden, Bäumen und blauem Himmel. Dazu den Slogan: Die Zukunft beginnt jetzt.

Der Wind trug Protestparolen herüber und das Rauschen der nahen Schnellstraße. Davon abgesehen war es still, seit der Nacht ruhte die Arbeit, wo sonst die Maschinen rund um die Uhr dröhnten. Uniformierte suchten das Gelände ab – vielleicht lag irgendwo ein weggeworfener Benzinkanister.

Vincent vergrub die Fäuste in den Taschen seiner Lederjacke. Es war Mai, aber kalt, die Eisheiligen. Löschwasser hatte Pfützen gebildet, der Matsch schmatzte unter Vincents Schritten und verdreckte seine Schuhe. Warum hatte er nicht an Gummistiefel gedacht? Auf keiner Großbaustelle ging es sauber zu, auf dieser schon gar nicht.

Keine zwanzig Meter von der Grube der künftigen Tiefgarage entfernt, bogen sich verrußte Zeltstangen wie die Rippen eines skelettierten Riesen dem Himmel entgegen und markierten den Ort des Unglücks. Dazwischen zwei Reihen schwarzer Stahlgestelle – einst Stockbetten, in denen Menschen schliefen. Vincent stellte sich die Flammen vor und den Qualm, der das Atmen unmöglich machte. Drei ukrainische Arbeiter waren hier ums Leben gekommen, am gestrigen Sonntagabend kurz nach zehn.

Eigentlich kein Fall für eine Mordkommission, aber es gab Gerüchte: Die Konkurrenz habe gezündelt. Linke Gegner des Projekts. Oder Neonazis, Ausländerfeinde.

Vincent erblickte Anna, die Kollegin trug die Montur der Spurensicherung, Overall und Handschuhe. Ihr erster Tag im Dienst, nachdem sie letzte Woche krankheitshalber gefehlt hatte.

Er ging zu ihr hin. «Und?»

Anna zuckte mit den Schultern.

«Wo sind die anderen?»

«Zeugen befragen. Im Krankenhaus, im Präsidium.»

«Und der Sachverständige?»

«Stell dir vor, Vincent, es gab nur einen Feuerlöscher für das ganze Zelt, und der war leer!»

«Grobe Fahrlässigkeit. Darum kümmern sich die Brandsachbearbeiter.»

«Weißt du, was eine Befüllung kostet? Schlappe zwanzig Euro.»

«Spuren von Brandbeschleunigern?»

«Zwanzig Euro! Da riskiert man lieber das Leben von Bauarbeitern. Auf diese Art verdient sich Osterkamp seine Millionen!»

«Du kannst das System nicht überwinden», antwortete Vincent.

«Das System? Worin besteht es deiner Ansicht nach?»

«Keine Ahnung.»

«Wie willst du dann behaupten, dass du es nicht überwinden kannst?»

Er nickte zu den Leuten hinüber, die hinter dem Flatterband Plakate hochhielten. «Wetten, die können es auch nicht?»

Anna zog die Handschuhe aus. «Ich bin hier fertig.»

Sie gingen zu den Wohncontainern, die man in drei Etagen übereinandergestapelt hatte, noch näher an der riesigen Grube. Die weißen Kisten waren vom Feuer verschont geblieben, nur an der Seite gab es Spuren von Ruß. Hier hatten sie beide geparkt.

«Der Sachverständige hat seine Proben genommen», sagte Anna und beantwortete damit endlich seine Frage. «Keine Ahnung, wann er damit fertig ist und ob er etwas findet. Aber um ein Verbrechen handelt es sich so oder so. Das Zelt war lediglich für das Unterstellen von Baumaschinen zugelassen. Nur eine Stunde später wäre es voll belegt gewesen. Nicht auszudenken, wie viele Arbeiter dann …» Sie öffnete den Kofferraum ihres Dienstwagens, zog den Overall aus und warf ihn hinein. «Weißt du, was der Mehrpreis für eine feuerfeste Plane gewesen wäre? Ganze hundertdreißig Euro. So hoch ist der Gegenwert für drei Menschenleben auf einer Osterkamp-Baustelle für ein weiteres Einkaufszentrum, das keiner braucht!»

«Woher weißt du das so genau?»

Die Kollegin strich eine Strähne hinter ihr Ohr. Dunkelrot gefärbt – er fragte sich, ob das neu war oder ihm jetzt erst auffiel. Anna musterte ihn. «Warum bist du hier, Vincent?»

«Mir ein Bild machen.»

«Wird das der kommende Führungsstil? Ein Kommissariatsleiter, der selbst an jeden Tatort fährt?»

Vincent schüttelte den Kopf. «Wetten, dass Thilo Becker die Stelle kriegt? Er ist länger MK-Chef als ich.»

«Da halte ich dagegen.» Anna holte einen Zehneuroschein aus ihrem Portemonnaie. «Komm schon. Oder ist etwa schon alles entschieden?»

Vincent kramte nach seinem Geld. Sie steckten die Scheine in einen Spurenbeutel, den Anna beschriftete. Chefwette.

Vincents neues Smartphone spielte Musik.

«Was ist das?», fragte Anna, während er in der Jackentasche nach dem Gerät fischte.

«London Calling, The Clash.»

«Kenne ich nicht.»

«Ende der Siebziger. Dafür bist du zu jung.»

Das Display zeigte die Nummer von Nina, seiner Freundin. Die Erinnerung an den Streit beim Frühstück sprang ihn an. Vincent suchte Abstand zur Kollegin und versank nach ein paar Schritten bis zu den Knöcheln im Schlamm.

Er war wütend auf Nina, die ihn vor ein paar Wochen mit einem Anwalt betrogen hatte, den sie auch beruflich ab und zu traf. Nina hatte den Seitensprung gestanden und glaubte, damit sei alles aus der Welt. Seitdem warf sie ihm seine Verletztheit vor – verkehrte Welt, fand Vincent.

Schon nach den ersten Worten wurde ihm klar, dass Nina nicht daran dachte, etwas zu bereuen. Ruhig bleiben, ermahnte er sich. Anna brauchte nicht alles mitzubekommen.

«Ich werde für ein paar Tage zu einer Kollegin ziehen», sagte Nina.

«Bitte?»

«Ich brauche Abstand. Ich muss mir klar darüber werden, ob das eine Krise ist, die vorbeigeht, oder so etwas wie unsere Schlussphase.»

Vincent spürte, wie es in seinem Magen rumorte. «Wetten, dass die Kollegin in Wirklichkeit männlich ist und auf den Namen Jens hört? Viel Spaß!» Er tippte auf die rote Taste und stapfte zu Anna Winkler zurück.

Erneut das Handy.

«Geiler Song», bemerkte die Kollegin.

Vincent nahm das Gespräch an und konnte nicht verhindern, etwas lauter zu werden. «Weißt du, was du mich kannst?»

«Ich find’s schön, wie du heute deinen Charme spielen lässt.» Die Stimme am Telefon gehörte Ela Bach, seiner Noch-Chefin. Es war ihr letzter Tag in der Dienststelle, am Nachmittag würde es einen Umtrunk geben. Sie hatte sich auf einen Posten beim Landeskriminalamt beworben, und plötzlich war alles ganz schnell gegangen. Keiner im KK11 hatte so recht begriffen, was Ela zu dem Wechsel bewegte, und bislang hatten die Obermuftis die Nachfolgefrage nicht geklärt – die Stelle war noch nicht einmal ausgeschrieben.

«Entschuldige, Ela, ich hab dich verwechselt.»

«Wie sieht’s aus?»

«Bis jetzt kein Hinweis auf einen Vorsatz.»

«Mach das bitte der Behördenleitung klar. Die drehen völlig am Rad, als hätte der nationalsozialistische Untergrund wieder zugeschlagen. Und außerdem soll ich dir ausrichten, dass Thann dich um vierzehn Uhr in seinem Büro sehen will.»

«Der Inspektionsleiter? Mich?»

«Ja, die Würfel sind offenbar gefallen.»

Anna hatte seine Worte aufgeschnappt. Sie wedelte mit dem Beutel, der die zwanzig Euro enthielt.

Vincent winkte ab. Er würde es erst glauben, wenn er die Beförderung schriftlich hatte. Es wäre die Krönung einer Polizistenlaufbahn im gehobenen Dienst – dass Ela ihn vorgeschlagen hatte, wusste er, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sich die Chefs so entscheiden würden.

Er musste an seinen Großvater denken, der stets getan hatte, was man von ihm erwartete. An seine Mutter, die stolz darauf war, genau das Gegenteil zu tun.

«Glückwunsch, Vincent!», kam Elas Stimme aus dem Handy.

Er bedankte sich.

Die Mahnwache an der Absperrung hatte Zulauf bekommen. Etwa fünfzig Menschen jeden Alters waren es jetzt, hüpfend trotzten sie dem kalten Wind. Lieder und bunte Transparente. Vincent konnte Kamerateams ausmachen. Ein VW-Bulli fuhr vor und entließ Uniformierte, die das Flatterband sicherten. Noch ein Transporter, Beamte der Einsatzhundertschaft mit Schild und Helm.

Vincent gefiel nicht, was er sah. Es wirkte, als stünde die Polizei für die Bösen. Als sei das Gesetz nicht neutral.

Ein Journalist, den er vom Sehen kannte, eilte auf ihn zu. Atemlos, eine Hand auf der Kamera, die an seinem Hals hing. Weiß der Geier, wie der Kerl auf diese Seite des Geländes gefunden hatte.

«Ist schon bekannt, wer das Feuer gelegt hat?», rief der Zeitungsfritze herüber.

Vincent drehte sich weg und stieg in sein Auto.

Der Typ von der Presse hatte ihn fast erreicht. «Warten Sie! Was soll es denn sonst bedeuten, wenn Sie von der Mordkommission ermitteln? Lassen Sie uns reden!»

«Da gibt’s nichts zu reden», antwortete Vincent und zog die Tür zu.

Beim Starten wühlten sich die Räder in den Dreck. Er nahm das Gas zurück, erreichte die Baustellenausfahrt und die Brücke über den Rhein. Schafe grasten am Ufer. In der Strömung mühte sich ein Frachter ab und kam kaum von der Stelle.

Vincent raste auf die Innenstadt zu, deren Bürotürme im Dunst flimmerten. Er musste an einen Spielfilm von Dominik Graf denken, der mit genau dieser Fahrt begann. Man müsste den Streifen noch einmal drehen, dachte er. Damals war noch alles überschaubar gewesen. Die Zukunft hatte noch nicht begonnen.

2

Auf der anderen Rheinseite bog Vincent nach Norden ab und steuerte die Gneisenaustraße an, wo er in zweiter Reihe parkte, vor seiner Haustür. Er ging hinauf und wechselte die Schuhe. Die alten säuberte er grob mit Lappen und Bürste, stopfte sie mit Zeitungspapier aus und stellte sie zum Trocknen auf den Balkon.

Als er die Wohnung wieder verlassen wollte, fand er einen Zettel, den Nina ihm offenbar hingelegt hatte, bevor sie zur Arbeit gegangen war. Ihr Psychologendeutsch, das ihn in letzter Zeit so nervte.

Ich habe keine Lust, für deine verkorkste Kindheit in Haftung genommen zu werden. Deine Verlustängste musst du anderswo therapieren. Ich kann das nicht mehr.

Er lief ins Schlafzimmer und öffnete die Schranktür auf ihrer Seite. Tatsächlich: Ein guter Teil der Kleiderbügel war leer. Der große Koffer fehlte. Vincent starrte auf das Bett und wusste schon jetzt, dass er sich heute Abend verloren fühlen würde.

Magengrimmen. Vincent verriegelte die Wohnungstür. Auf dem Weg nach unten meldete sich sein Handy – die Nummer auf dem Display gehörte zur Festung, wie sie das Präsidium polizeiintern nannten.

Dominik Roth, der Neue im Team. Er sei im Moment allein, und der Ukrainer, der gestern Abend den Notruf gewählt hatte, stehe zur Vernehmung an. Der Dolmetscher warte bereits.

«Ela meint …»

Vincent unterbrach ihn. «Ist der Bericht des Sachverständigen schon eingetroffen?»

«Nein.»

«Kannst du die Vernehmung nicht allein machen?»

«Die Chefin meint …»

«Na gut.» Vincent hatte die Straße erreicht, mit dem Funkschlüssel entriegelte er den Wagen. «Gib mir zehn Minuten.»

 

Autoradio, die Elf-Uhr-Nachrichten auf WDR2: Die Landesregierung führungslos. Ministerpräsident Castorp, vor drei Tagen abgetaucht, sei von Journalisten in der Schweiz gesichtet worden. Vincent fiel Genf ein, das Beau-Rivage, ein anderer Politiker, der sich zum Sterben in eine Wanne gelegt hatte. Oder gelegt worden war – schlampige Ermittlungen der dortigen Kollegen. Wie lange war das her?

Die zweite Meldung behandelte den Brand auf der Baustelle am Seestern. Die Details waren bereits durchgesickert: die leicht entflammbare Zeltplane, nur ein einziger Feuerlöscher, obendrein leer, kein zweiter Ausgang. Tote und Verletzte in einer Unterkunft, die es nie hätte geben dürfen. Ein Politiker der Opposition beklagte Schlendrian und Profitgier, ohne Osterkamps Baufirma konkret zu benennen. Die Mahnwache wurde erwähnt – bislang verlaufe der Protest friedlich.

Mit Knopfdruck wechselte Vincent zum Deutschlandfunk. Noch einmal der Castorp-Skandal. Ein Sprecher der Regierungspartei beteuerte, der Ministerpräsident sei allein für den Lauschangriff auf die Oppositionsbüros verantwortlich. Typisch, dachte Vincent. Wenn es herauskommt, will keiner etwas gewusst haben.

Dann ging es um Syrien, Spanien, um den Euro. Der übliche Irrsinn.

Der Verkehr stockte, Schneckentempo, irgendeine Messe in der Stadt. Vincent fielen Plakate auf der anderen Straßenseite auf. An jeder Laterne das gleiche Frauengesicht in Schwarz-Weiß, das ernst herüberblickte, irgendwie vorwurfsvoll. Er las den Text, zuoberst der Name seiner Mutter:

Brigitte Veih, Schwarzlicht.NRW-Forum Düsseldorf, 28. März bis 13. Mai.

Die Ausstellung lief also nur noch bis heute.

Nina hatte die Einladung zum Eröffnungsabend wahrgenommen, aber er war zu Hause geblieben. Es missfiel ihm, dass seine Mutter aus ihrer Vergangenheit Kapital schlug.

Das Handy. Benedikt Engel, der Kripochef. Die Nummer drei in der Hierarchie der Behörde – Vincent wunderte sich, dass sich der Mann direkt an ihn wandte.

«Bei mir läuft das Telefon heiß», sagte Engel und klang nach schlechter Laune. «Alle Welt will wissen, wie es zu dem verdammten Feuer kommen konnte. Außerdem machen Osterkamps Leute Druck. Angeblich kostet es pro Stunde zigtausend Euro, wenn die Arbeit auf der Baustelle ruht. Haben Sie etwas Konkretes, Veih?»

«Dafür ist es noch zu früh.»

«Wann können wir den Tatort freigeben?»

«Sobald wir sicher sind, nichts mehr zu finden.» Eigentlich eine Binsenweisheit, dachte Vincent.

«Okay, Ihre Entscheidung», sagte Engel, und es hörte sich wie eine Drohung an.

3

Vincent verließ den Paternoster im zweiten Stock der Festung. Er tippte den vierstelligen Code in das Kästchen neben der Glastür, drückte sie beim Summton auf und steuerte Dominiks Büro am Ende des Flurs an.

Stickige Luft. Dem Neuling hatte man das kleinste Kabuff zugeteilt, mit vier Leuten war es hoffnungslos überfüllt. Dominik war von den Betrügern gekommen und war noch keine dreißig. Ein pfiffiger Kerl, Grübchen im Kinn, krauses dunkelblondes Haar. Es hieß, der Kripoleiter protegiere ihn. Vermutlich bloß ein Gerücht – die Kollegen zerrissen sich gern die Mäuler.

Vincent zog die Lederjacke aus. Der Junge überließ ihm den Platz hinter dem Schreibtisch und baute sich vor dem Zeugen auf. Der Ukrainer, Anfang zwanzig, helles Haar, helle Augen, war in Odessa zu Hause und hieß Alinew mit Nachnamen. Er saß mit krummem Rücken auf dem Besucherstuhl, klemmte die Hände unter die Schenkel und hielt die Füße nach innen gedreht – ein deutliches Zeichen dafür, dass er sich unbehaglich fühlte.

Der Dolmetscher, ein Mittvierziger im grauen knittrigen Anzug, sprach deutsch mit sächsischem Einschlag. Einer der beiden Männer roch unangenehm, mangelnde Körperhygiene. Vincent blätterte in der Akte und entdeckte nichts, was er noch nicht wusste.

Mehrere Bauarbeiter hatten ausgesagt, Alinew habe vor Ausbruch des Feuers eine verdächtige Person um das Zelt schleichen gesehen, doch als Dominik ihn jetzt darauf ansprach, schüttelte Alinew den Kopf. Er habe sich lediglich wichtig machen wollen. Als er das Zelt erreichte, habe es bereits lichterloh gebrannt. Aber wirklich gelogen habe er nicht, denn dass jemand das Feuer gelegt haben musste, sei doch klar.

Vincent tippte das Protokoll in den Computer und überließ es Dominik, die Fragen zu stellen. Er war gespannt, wie sich der Neuling anstellte.

Dominik spielte die Aufnahme des Notrufs ab. Ein aufgeregtes, kaum verständliches Gestammel in gebrochenem Deutsch. Der Kollege in der Leitstelle musste mehrfach nachfragen. Dann waren im Hintergrund Schreie zu hören. Vincent lief es kalt den Rücken hinunter.

Der Ukrainer verschränkte die Arme und steckte die Hände unter die Achseln. Er räusperte sich und bestätigte, dass er der Anrufer gewesen sei.

Dominik hielt ihm noch einmal vor, was andere Zeugen berichtet hatten. Der Bauarbeiter kaute auf seiner Unterlippe. Vincent fiel auf, dass Alinews Blick immer wieder den Wandkalender fixierte. Picassos Zwei Frauen, am Strand laufend. Wuchtige Körper, ausgestreckte Arme – Vincent erinnerte sich, wie er einst mit Nina in Paris vor dem Original gestanden hatte. Was löste das Bild in Alinew aus? Die Erinnerung an einen Strand am Schwarzen Meer, an eine Freundin, die zu Hause auf ihn wartete?

Schließlich unterbrach Vincent die Befragung und bat Dominik hinaus auf den Flur.

Der junge Kollege wirkte zerknirscht. «Was meinst du, wo sollen wir noch einmal ansetzen?»

«Lass ihn gehen.»

«Aber der Typ lügt doch. So nervös, wie der ist. Womöglich hat er das Feuer gelegt!»

«Dir würden an seiner Stelle auch die Nerven flattern, wenn dich die deutsche Polizei in die Mangel nehmen würde.» Vincent vermutete, dass Alinew von der Stadt kaum etwas zu sehen bekam. Die meisten Arbeiter wohnten auf der Baustelle, Alinew zum Glück in einem Container.

«Bist du dir sicher?», fragte Dominik.

«Es gibt Anhaltspunkte. Wenn jemand erst mitten im Gespräch Stresssymptome zeigt, dann spricht das für eine Lüge. Wenn aber einer von Anfang an … Ich meine, beim nächsten Mal solltest du zuerst für eine entspannte Atmosphäre sorgen.»

«Also hab ich’s vergeigt.»

«Nicht so schlimm.»

Dominik fuhr sich durch die Locken. «Ela behauptet, du hättest Psychologie studiert.»

«Ein paar Semester.»

«Warum bist du zurückgekommen?»

«Die pure Sehnsucht.»

Sie lachten.

Anna Winkler trat aus dem Geschäftszimmer am Ende des Flurs, bemerkte Vincent und eilte mit raschen, kurzen Schritten herbei. Sie drückte ihm einen Stapel Papiere in die Hand. «Der vorläufige Bericht des Sachverständigen, frisch aus dem Fax. Fahrlässiger Umgang mit einem Heizlüfter. Kein Brandbeschleuniger. Vorsatz können wir demnach mit größter Wahrscheinlichkeit ausschließen.»

«Du hattest recht», sagte Dominik zu Vincent und räusperte sich. «Ich schick den Zeugen dann wieder zurück.»

«Im Protokoll fehlt noch die Uhrzeit», antwortete Vincent. «Wann wir die Vernehmung beendet haben.»

«Mach ich.»

Vincent bedankte sich, und Dominik verschwand in seinem Zimmer.

«Neuer Führungsstil, sag ich doch», bemerkte Anna.

«Wie kommst du darauf?»

«Du musst dich überall einmischen, oder?»

«Sagen wir: Ich bringe meine Erfahrung ein. Wieso stört dich das?» Vincent erinnerte sich daran, dass «Kontrollsucht» einer von Ninas Lieblingsvorwürfen war.

Alinew und der Dolmetscher verließen Dominiks Büro und steuerten wortlos auf das Treppenhaus zu.

«Wer war das?», fragte Anna. Die rote Strähne war ihr wieder ins Gesicht gerutscht.

«Der Hagere hat die Feuerwehr gerufen. Die Schreie im Hintergrund hättest du hören sollen.»

Vincents Handy spielte London Calling.

«Übrigens, so viel jünger als du bin ich gar nicht», bemerkte Anna.

Vincent blickte ihr hinterher. Er hätte sie fragen sollen, was ihr gefehlt habe und wie es ihr gehe.

Er nahm das Gespräch an.

Es war die Sekretärin von Inspektionsleiter Thann, die ihn noch einmal an seinen Termin am Nachmittag erinnerte.

4

Im Treppenhaus traf Vincent auf Ingo Ritter vom Rauschgift. Langes Haar, Dreitagebart, das Hemd wie immer um einen Knopf zu weit geöffnet. Ingo hatte es im KK15 schon vor einiger Zeit zum Leiter gebracht.

«Hey, Vinnie, kennst du den schon?», fragte der Kollege gut gelaunt. «In der Staatskanzlei werden die Frauen befragt, ob sie sich vorstellen könnten, mit Walter Castorp ins Bett zu gehen. Zehn Prozent sagen ja, zehn Prozent nein. Achtzig Prozent der Befragten antworten: Nicht noch einmal!»

Vincent lachte mit, obwohl es ihm billig vorkam, auf einem Politiker herumzuhacken, dessen Tage an der Macht offenbar gezählt waren.

«Einer vom Personenschutz hat mir den gerade erzählt.»

«Sollte der Mann nicht lieber bei Castorp sein?»

«Wie denn, wenn sich der Ministerpräsident einfach aus dem Staub macht? Mit seiner neuesten Sekretärin, einer scharfen Braut, heißt es. Zum ersten Mal seit Jahren ohne Fahrer unterwegs, Shit, ey, stell dir das vor! Weit kommt er nicht, wenn du mich fragst.»

«Schweiz, hieß es im Radio, immerhin.»

Im ersten Stock, wo sich ihre Wege trennten, hielten sie inne. Ingo zuckte mit den Schultern. «Wir werden von Verbrechern regiert.»

«Hauptsache, wir schnappen sie.»

Vincent hatte die Nachrichten zur Castorp-Affäre verfolgt. Ein Skandal, der die Republik in Atem hielt. Es gab Ermittlungen wegen Einbruchs in die Büros der Opposition und wegen einiger Abhörwanzen. Ein Zeuge belastete Castorp als Auftraggeber, ein Typ aus seinem eigenen Wahlkampfteam.

Anfang letzter Woche hatten die Medien erstmalig darüber berichtet. Kurz darauf hatte der Ministerpräsident öffentlich seine Unschuld beteuert, aber jeder fand seine Ehrenworterklärung nur peinlich. Der sicher geglaubte Wahlsieg der CDU stand mit einem Mal auf der Kippe.

«Da hab ich wenig Hoffnung», antwortete Ingo. «Zumindest bis zum Wahlsonntag darf das KK14 nichts Entscheidendes ausgraben, heißt es. Weil unser Behördenleiter der Regierungspartei angehört und der Minister Druck macht.»

«Ach, komm. Die Kollegen lassen sich das doch nicht gefallen, oder?»

«Du wirst schon merken, wie das ist. Jetzt, wo sie dich auch zum K-Leiter machen.»

«Da weißt du mehr als ich.»

Ingo lachte. «Man hat so seine Informanten.»

Zum Abschied klatschten sie sich ab – wie früher, als sie beide in der Kriminalwache ihren Dienst getan hatten, nachdem Vincent sein Studium abgebrochen und zur Polizei zurückgekehrt war. Das Team der B-Schicht, eine gute Truppe: Marietta, Onkel Jürgen und der Kanzler, der eigentlich Gerd Schröder hieß. Ingo Ritter und der Kanzler hatten nebenbei mit Aktien spekuliert. Zu jener Zeit platzte die Internetblase, die beiden verloren eine Menge Geld und zockten unverdrossen weiter. Daneben vermakelte Ingo Wohnungen in seiner Freizeit, ein Hansdampf in allen Gassen. Auch in puncto Frauengeschichten brauchte er sich nicht hinter dem zu verstecken, was man über Ministerpräsident Castorp munkelte.

«Shit, ey, wir sollten es mal wieder krachen lassen», sagte Ingo. «Das Notorious hat neu eröffnet.»

«Bist du noch in der Immobilienbranche?»

«Warum fragst du? Auf Wohnungssuche?»

«Vielleicht brauche ich demnächst etwas Kleineres.» Wenn es mit Nina auseinander ging, wäre es ihm ein Gräuel, in der Wohnung zu bleiben, in der ihn alles an sie erinnerte.

«Krach mit der Alten? Ist es immer noch diese Psychotante?»

«Ich weiß, du konntest sie schon vor zwölf Jahren nicht leiden.»

Ingo kramte ein Kärtchen hervor und reichte es Vincent. «Kannst mich jederzeit anrufen.»

5

Die Sekretärin bat ihn zu warten, der Inspektionsleiter telefoniere noch. Vincent setzte sich und genoss den Moment der Ruhe.

Die Telefonanlage weckte sein Interesse. Ein Kasten mit Tasten und Knöpfen, unter einem davon flackerte ein rötliches Lämpchen. Es erfüllte Vincent mit Befriedigung, dass sich auch die Chefetage mit antiquierter Technik abmühen musste.

Das Lämpchen erlosch.

«Sie können jetzt», sagte die Sekretärin.

Vincent stand auf und öffnete die Verbindungstür. Kriminaloberrat Thann kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen, untersetzt, höchstens eins siebzig, Nester von Bartstoppeln an Kinn und Hals, als hätte er am Morgen keine Zeit gehabt.

«Wissen Sie, dass ich Ihren Großvater noch gekannt habe? Setzen Sie sich, Kollege Veih!» Thann wies auf einen Stuhl am Besprechungstisch und nahm seinen Kaffeebecher vom Schreibtisch mit herüber, Vincent bot er nichts an.

Eine Hierarchiestufe unter Kripochef Engel, stand der Leiter der Kriminalinspektion eins den Kommissariaten vor, die für Gewaltdelikte, Rauschgift und Einbruch zuständig waren. Thann war dafür bekannt, dass er sich zehnmal absicherte und dann immer noch keine Entscheidung traf. Vincent fragte sich, ob die Behörde so etwas aus einem machte.

«Gerhard Veih», fuhr Thann fort. «Ein Urgestein. Alte Schule. Er hat Sie großgezogen, nicht wahr?»

Vincent nickte. Auf einem Teller lagen Kekse und erinnerten ihn daran, dass er nichts zu Mittag gegessen hatte.

«Streng?»

«Geht so.» Es berührte Vincent unangenehm, mit dem Inspektionsleiter über seinen Großvater zu sprechen. «Normal, nehme ich an.»

Er griff nach einem Keks und bereute es beim ersten Bissen. Das Zeug schmeckte wie Pappe. Er behielt den Rest in der Hand und wusste nicht, was er damit machen sollte.

«In meiner Zeit als junger Schupo hatte ich ihn zum Chef», sagte Thann und lachte. «Einmal hat er mich mit Donnerwetter zum Friseur geschickt. Und wehe, man hat die Dienstmütze im Streifenwagen liegen gelassen. Ende der Siebziger. Da waren wir keine Dienstleister, nicht wahr, sondern noch so etwas wie staatliche Autorität.»

Vincent musste an Opas heisere Stimme denken, an den Geruch von Zigarettenrauch, der den Alten stets umgeben hatte. An einen Spruch, der oft gefallen war: Ordnung führt zu allen Tugenden. Auch zu Hause hatte Gerhard Veih strenge Regeln aufgestellt. Die Haare kurz, das Zimmer stets aufgeräumt, keine Jeans an Sonntagen. Saubere Schuhe, die Vincent als Junge selbst putzen musste. Ihm fielen Redewendungen ein, die er zuvor bei seiner Mutter nie gehört hatte: jüdische Hast, polnische Wirtschaft.

Er war acht Jahre alt gewesen, als er zu den Großeltern nach Uedesheim kam. Zehn, als Opa pensioniert wurde, und sechzehn, ein wilder Bursche, als der Krebs den Alten besiegte. Die letzten Wochen war der große, unbeugsame Gerhard Veih stumm gewesen – man hatte ihm den Kehlkopf entfernt.

Gleich spricht mich der Inspektionsleiter auch noch auf meine Mutter an, fürchtete Vincent.

«Der Brand am Seestern war also ein Unfall», sagte Thann stattdessen und kratzte sich, wo über der Stirn sein Haaransatz zurückwich.

«Der Klassiker, meint der Sachverständige. Eines der Opfer hatte seine Klamotten zum Trocknen auf den Heizlüfter gelegt. Ich habe gerade in Absprache mit der Staatsanwaltschaft den Tatort freigegeben und eine Mail dazu geschrieben. Müsste in Ihrem Eingangsordner liegen.»

«Hab’s gesehen.» Die Antwort kam schroff, als sei mit der E-Mail etwas nicht in Ordnung.

«Auf jeden Fall hätte dieses Zelt nicht als Unterkunft genutzt werden dürfen», fasste Vincent zusammen. «Die Brandleute suchen jetzt den Verantwortlichen.»

Er hatte eben noch mit den zuständigen Sachbearbeitern gesprochen. Osterkamps Sicherheitskoordinator wusste angeblich von nichts. Es schien ein wirres Geflecht an Subunternehmern zu geben, eine Firma schob der anderen die Schuld zu. Womöglich hatte auch das Bauordnungsamt nicht genau hingeguckt.

«Einen Anschlag können wir also mit Sicherheit ausschließen?», fragte Thann noch einmal.

«Ja. Die Mordkommission ist wieder außen vor.»

«Gut.» Thann räusperte sich. «Da ist noch etwas, Sie betreffend.» Seine Zunge fuhr in seinem Mund herum wie ein Tier, das man nicht einfangen konnte. Er reckte das Kinn. «Hat Kollegin Bach es Ihnen schon gesagt?»

«Ela hat da etwas angedeutet.»

«Sie übernehmen vorläufig die Leitung Ihrer Dienststelle, Herr Veih.»

Vincent nickte. Vorläufig, klar.

«Als A13-Stelle wird der Posten in Kürze landesweit ausgeschrieben. Sicher werden Sie nicht der Einzige sein, der die Anforderungen erfüllt, nicht wahr, aber bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist können Sie vielleicht noch Punkte sammeln.»

Die Wortwahl und der herablassende Ton signalisierten Vincent, dass der Inspektionsleiter nicht allzu viel von der Entscheidung hielt, die vermutlich auf Engels Kappe ging.

«Viel Glück», fügte Thann hinzu, und es klang wie eine Aufforderung, sich zu verpissen.

Sie standen auf.

«Eines noch, Kollege Veih. Ihre Mail von vorhin.» Thanns Blick strich über den Boden, als sei ihm etwas unangenehm.

«Was ist damit?»

«Halten Sie in Zukunft den üblichen Weg ein und senden Sie Ihre Mails ausschließlich an mich. Der Kripochef zieht es vor, wenn er von diesem Büro aus informiert wird. Haben wir uns verstanden?»

«Alles klar.» Idiot, dachte Vincent.

Das Vorzimmer war verwaist. Das rote Birnchen der Telefonanlage begann wieder zu flackern. Unter dem Tisch der Sekretärin entdeckte Vincent einen Papierkorb und war froh, die Reste des Kekses entsorgen zu können.

6

Die Ausstandsfeier hatte bereits begonnen. Rund zwanzig Kollegen bevölkerten den Besprechungsraum des KK11. Nora, die rundliche Schreibkraft, drückte Vincent ein Glas in die Hand und füllte es mit dem lauen Rest aus einer Sektflasche. Ela Bach hielt gerade ihre Ansprache.

«Zehn Jahre lang durftet ihr mich als Chefin ertragen, und wir haben in dieser Zeit die Zumutungen der Controller und ihrer ‹ressourcenschonenden Leistungsoptimierung› ganz gut gemeistert, denke ich. Aber man soll bekanntlich aufhören, wenn es am schönsten ist.»

Ela trug eines ihrer verwaschenen Sweatshirts, das leger über die Jeans fiel. Um den Hals ein blassviolettes Tuch. Vincent musste daran denken, dass Ingo Ritter ihm einst intime Anekdoten über Ela ausgeplaudert hatte – die beiden hatten in grauer Vorzeit ein Techtelmechtel. Als Vincent aus der Kriminalwache in Elas Dienststelle gewechselt war, hatte er sich eine Zeit lang schäbig gefühlt, weil ihm bestimmte Bilder nicht aus dem Kopf gingen.

In diesem Moment des Abschieds schien jeder von Sentimentalität ergriffen, und Nora, die vermutlich am meisten unter der ruppigen Art der Chefin gelitten hatte, wischte sich sogar eine Träne aus dem Gesicht. Ela Bach war die erste Frau an der Spitze dieser Dienststelle gewesen und hatte stets mit Neidern zu kämpfen gehabt. Mit Stellvertretern wie Klaus Schranz und Thilo Becker, die länger dabei waren oder sich für geeigneter hielten.

«Ich weiß gar nicht, wer diese Woche Mordbereitschaft hat …»

Felix May reckte den Zeigefinger.

«Okay, Felix, wenn du heute Nacht einen Tatort bekommst und den Kommissariatsleiter in Kenntnis setzen musst, dann lässt du mich gefälligst schlafen und klingelt stattdessen Vincent aus dem Schlaf. Da ist er ja. Alles Gute, Vincent!»

Der Applaus war verhalten. Vincent registrierte erstaunte Gesichter, nicht jeder war vorab informiert gewesen. Er hob sein Glas, bedankte sich und wünschte der scheidenden Chefin für die Zukunft im Landeskriminalamt das Beste.

Thilo Becker griff nach dem üppigen Blumenstrauß, für den Nora in den letzten Tagen gesammelt hatte, küsste Ela auf beide Wangen und überreichte ihr die Blumen. Eigentlich meine Aufgabe, dachte Vincent.

Dominik gratulierte ihm, und Nora tat es dem Neuling nach. Bruno Wegmann kam herbei und quetschte ihm die Hand – ganz der ehemalige Boxchampion. Thilo verdrückte sich, ohne Vincent zu beachten. Klaus Schranz war erst gar nicht zur Party erschienen. Vincent war gespannt, wie sich die beiden in den nächsten Tagen verhalten würden.

«Ich wusste es», sagte Anna. «Wette gewonnen!»

Vincent wehrte ab: «Nur vorläufig. Wer weiß, wen das Bewerbungsverfahren am Ende nach vorn spült.»

«Am Seestern hat es übrigens Randale gegeben», sagte Dominik.

«Was war los?»

«Steinewerfer, heißt es.»

Vincent fragte sich, ob das Klima rauer wurde. Ein missglückter Anschlag auf den Vorstandsvorsitzenden der RheinBank AG lag erst ein paar Monate zurück. Eine arbeitslose Graphikerin saß in Untersuchungshaft. Eine Einzeltäterin, mutmaßte das Landeskriminalamt, das die Ermittlungen an sich gezogen hatte.

Der Fall hatte in Vincent ungute Erinnerungen geweckt: Fernsehbilder von Attentaten und Festnahmen in den Siebzigern. Ein zerschossener Mercedes, ein Arbeitgeberpräsident mit einem Pappschild vor der Brust – Bilder, die seine Jugend begleitet hatten.

Ela verabschiedete sich von ihm. Sie umarmten sich.

«Du fehlst mir jetzt schon», sagte Vincent.

«Grüß mir Nina.»

«Danke.»

«Arbeitet sie noch in der Kinderambulanz? Geht’s ihr gut?»

Vincent bejahte. Nina geht’s gut. Hat einen neuen Lover. Geht ihre eigenen Wege. Oder war alles nicht wahr, und er brauchte Nina nur anzurufen, damit sie zurückkehrte?

Nicht jetzt, beschloss er. Nina hatte erst später Feierabend, er wollte sie nicht in der Klinik stören.

Ela winkte mit dem Blumenstrauß in die Runde, dann war sie verschwunden.

7

Mit dem Motor sprang auch das Radio an. Vincent ließ das Auto vom Parkplatz rollen und zappte durch die Kanäle. Er blieb bei einer Magazinsendung hängen. Landespolitik, Castorp und die Abhöraffäre, was sonst.

Offenbar war der Politiker wieder aufgetaucht, denn es wurde für morgen eine Pressekonferenz angekündigt, auf der er sich noch einmal erklären wolle. Man rechnete mit seinem Rücktritt als Chef der Landesregierung und Spitzenkandidat seiner Partei, denn die Fakten, die bekannt geworden waren, schienen erdrückend zu sein. Oder würde der Ministerpräsident noch einmal versuchen, sich herauszureden?

Ausgerechnet knapp zwei Wochen vor der Wahl war der Skandal öffentlich geworden. Vincent schätzte, dass es bei den Kollegen vom Einbruch eine undichte Stelle gab. Oder bei der Staatsanwaltschaft. Vermutlich bezahlten die Medien gut. An Zufälle glaubte Vincent nicht.

Am Ende des Jürgensplatzes nahm er die Durchfahrt, die der Polizei vorbehalten war, fädelte sich in den dichten Verkehr ein und tauchte kurz darauf in den Rheinufertunnel. Der Radioempfang brach ab, nur noch Gekrächze, Vincent schaltete aus. Der Feierabendverkehr quälte sich langsam voran.

Am Ende der Tunnelrampe begann die Straße mit dem Plakat an jedem Laternenmast.

Brigitte Veih, Schwarzlicht.

Nur noch heute.

Rechter Hand ragte der wuchtige Backsteinkomplex auf, der einst für die größte Messe der Weimarer Zeit errichtet worden war und im Baustil ganz der Festung ähnelte. Jetzt wurde hier Kunst gezeigt.

Vincent setzte den Blinker und suchte eine Parklücke.

 

Im Innenhof standen zwei Lieferwagen einer Cateringfirma, Leute schleppten Edelstahlbehälter die Treppe hoch. Sie trugen hellblaue Sweatshirts, auf der Brust das gleiche Logo wie an den Transportern. Vincent trat mit ihnen durch den Eingang.

Betriebsamkeit im Foyer, offenbar wurde hier ein Buffet aufgebaut. Stühlerücken und Geklapper im Café dahinter. Vincent wich einem Mann aus, der eine Palme im Kübel vorbeischob. Kein Mensch hinter dem Ticketschalter. Vincent schnappte sich ein Faltblatt und ging nach links in den Ausstellungsraum.

An grauen Wänden hingen großformatige Porträtfotos in Schwarz-Weiß, gleißend hell beleuchtet. Ausschließlich Frauen. Und allesamt, wie er aus dem Flyer erfuhr, zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt. Die Künstlerin gibt Haftinsassinnen ihre Würde zurück und konfrontiert die Gesellschaft mit den Weg- und Ausgeschlossenen. Von den Taten, wegen deren die Frauen im Knast gelandet waren, verriet der Text nichts.

Augenpaare starrten ihn an. Direkte, provozierende Blicke. Diese Frauen wirkten, als gäbe es nichts, was sie noch beeindrucken könnte, als hätten sie alles erlebt. Keine von ihnen zeigte ein Lachen – hatte seine Mutter es verboten? Was bezweckte sie mit diesen Fotos?

Vincent fand das Gesicht, das auch auf den Plakaten war. Mittleres Alter, struppige Frisur. Jedes Fältchen, jedes einzelne graue Haar war zu erkennen. Wie die anderen Frauen posierte sie vor einer nackten Wand. Vincent trat an das Schildchen neben der Aufnahme, nur ein Spitzname stand darauf: Lucky.

Eine Frau erschien im Durchgang und rief herüber: «Soll ich Ihnen zeigen, wo Sie sich nachher postieren können? Brauchen Sie eine Akustikprobe?»

Vincent wandte sich um. Keiner da außer ihm.

«Meinen Sie mich?», fragte er zurück.

Die Frau kam mit energischen Schritten auf ihn zu. Schwarzer Anzug, schwarze Bluse, strenger Blick. «Sie sind doch der Cellist?»

«Schaue ich so aus?»

Sie lächelte und wirkte hübsch dabei. «Irgendwie schon.»

«Das hat noch niemand zu mir gesagt.»

«Also sind Sie nicht der Cellist?»

«Ich bin …», Vincent zögerte kurz, «Polizist.»

«Stimmt etwas nicht? Ich meine, Ihre Kollegen haben das Gebäude doch vorhin erst gecheckt!»

«Nein, ich bin privat da. Ich will mir nur die Ausstellung ansehen.»

«Oh!» Sie fasste sich an ihr silbriges Halskettchen, offenbar irritiert. «Wie sind Sie dann hereingekommen? Wir haben seit zwei Stunden geschlossen. Die RheinBank AG hat die Räumlichkeiten gemietet.»

«Ich dachte, Sie hätten bis zwanzig Uhr …»

«Nein, nicht heute. Wurden Sie am Eingang nicht kontrolliert? Wenn das die Leute von der RheinBank wüssten. Die sind so pingelig, als käme Obama zu Gast.»

Vincent wusste, warum. Der missglückte Anschlag auf den obersten Boss der Bank saß allen noch in den Knochen.

«Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?», fragte die Schwarzgewandete.

Vincent wollte sie darauf hinweisen, dass sie nicht das Recht habe, das zu verlangen. Doch er gab nach und reichte ihr seinen Dienstausweis, das grüne Kärtchen mit Foto und Landeswappen.

Sie blickte auf. «Vincent Che Veih?»

«Kann ich den Ausweis zurückbekommen?»

«Sind Sie etwa …»

Er nickte.

Für ein paar Augenblicke herrschte Schweigen. Die Frau streckte ihm sein Kärtchen hin, Vincent verstaute es.

«Und Sie sind ausgerechnet Polizist geworden?»

«Das versteht meine Mutter auch nicht.»

«Warum haben Sie nicht gleich verraten, dass Sie Brigittes Sohn sind?»

«Ich prahle lieber nicht damit.»

«Wenn ich Zeit hätte, würde ich Sie gern durch die Ausstellung …»

«Nicht nötig. Ich habe alles gesehen, das genügt.»

Sie begleitete Vincent in den Vorraum. Der Ticketschalter war noch immer unbesetzt, aber im Eingang standen jetzt zwei blau Uniformierte. Keine Kollegen, sondern Angestellte eines privaten Sicherheitsdienstes. Ihre festen Schuhe erinnerten Vincent an Einsatzstiefel, wie sie die Männer vom Spezialeinsatzkommando trugen.

«Warten Sie», bat die Museumsmitarbeiterin, lief hinter den Schalter und kehrte mit einem schmalen Buch zurück. Die Strafgefangene namens Lucky auf dem Titel. Vincent wollte für den Ausstellungskatalog bezahlen, aber die Angestellte wehrte ab.

«Eine Frage noch», sagte er.

«Gern auch drei oder vier, Herr Veih.»

«Warum haben Sie diese Ausstellung gemacht?»

Hochgezogene Augenbrauen, schräg gestellter Kopf, ein angedeutetes Schulterzucken – dabei fand Vincent, dass er keine dumme Frage gestellt hatte.

«Weil es Fotokunst ist, die hierher gehört», antwortete die Frau schließlich. «Eine spannende Fortschreibung der klassischen Porträttradition. Mit einer gesellschaftlichen Relevanz, der wir uns stellen sollten, meinen Sie nicht?»

Ähnliche Worte hatte Vincent im Faltblatt gelesen. Er bohrte nach: «Geht es Ihnen nicht bloß um den Namen Brigitte Veih, um das gruselige Gefühl, das er bei den Leuten auslöst?»

«Absolut nicht! Ihre Mutter ist eine Künstlerin von hohem Rang. Ich bin sehr stolz, dass ich die Ausstellung kuratieren durfte. Es war toll, mit Brigitte zu arbeiten. Eine wirklich interessante Frau.»

 

Draußen hatte ein feiner Sprühregen eingesetzt. Vincent klemmte sich den Katalog unter den Arm und beeilte sich, zu seinem Auto zu kommen. Ein Mann mit einem Cellokasten begegnete ihm und grüßte.

Als Vincent im Trockenen saß, schlug er das dünne Buch auf. Den künstlerischen Wert der Aufnahmen konnte er nicht beurteilen. Alltagsgesichter, fand er. Vielleicht war das Brigittes Aussage: Die Häftlinge sind Menschen wie du und ich. Aber stimmte das?

Vincent fielen ein paar Situationen ein, in denen nicht viel gefehlt hätte, und er wäre selbst auf der anderen Seite des Gesetzes gelandet. Mit fünfzehn. Mit vierunddreißig. Aber sollte er sich deshalb mit diesen Frauen identifizieren?

Den Fotos war ein mehrseitiger Text vorangestellt. Auch darin wurde eine gesellschaftliche Relevanz beschworen, aber nicht genauer benannt. Vincent las den Namen der Verfasserin: Dorothee König.

Sie hatte seine Mutter beim Vornamen genannt: Es war toll, mit Brigitte zu arbeiten. Eine wirklich interessante Frau.

Als Mutter ein Albtraum, dachte Vincent.

Die Scheibe beschlug, ihm wurde kalt, und er hatte Hunger.

 

Vierzig Minuten später leckte er sich die Finger ab, legte den Pizzakarton zum Altpapier und leerte den Rest der Bierflasche in sein Glas. Alkoholfreies Weizen – Sportlergetränk, behauptete die Werbung. Normales Bier wäre ihm jetzt lieber gewesen, doch er hatte nicht daran gedacht, etwas zu kaufen. Das Frühstücksgeschirr stand noch herum, er räumte es in die Spülmaschine.

Die Kücheneinrichtung hatte Nina ausgesucht. Sie kochte gern, wenn sie die Zeit dazu fand. Was sie jetzt gerade trieb, wollte sich Vincent lieber nicht ausmalen. Er hatte mehrfach ihre Handynummer gewählt, aber es hatte sich nur die Mailbox gemeldet.

Sein Blick fiel auf das große Bild an der Wand. Die Leinwand zeigte den Blick auf Santorins Steilküste und auf das Meer. Viel Blau in unterschiedlichen Tönen. Grobe Striche, scheinbar mit Leichtigkeit aufgetragen, aber Vincent wusste, dass Nina wochenlang vor der Staffelei gestanden hatte. Einige Jahre war das her, in letzter Zeit hatte sie oft geklagt, dass sie vor lauter Arbeit nicht mehr zum Malen komme.

Von wegen Überstunden, ging es Vincent durch den Kopf. Der einmalige Ausrutscher, die Karnevalslaune, die Nina angeblich selbst am meisten bereute, war in Wirklichkeit noch aktuell. Darauf hätte er wetten können, auch wenn sie noch so oft das Gegenteil behauptete.

Der Gedanke daran, in der gemeinsamen Wohnung auf Ninas Rückkehr zu warten, wurde Vincent mit jeder Minute unerträglicher. Er kam sich vor wie ein Auslaufmodell. Ich sollte ebenfalls Abstand gewinnen.

Im Speicher seines Handys fand Vincent die Nummer des Hotels gegenüber dem Präsidium, in das seine Dienststelle manchmal Zeugen einquartierte, die von auswärts kamen. Er rief an – ausgebucht. Der Mann an der Rezeption nannte als Grund die Drupa, die weltweit größte Messe für Druckmaschinen und Printmedien. Vincent ließ sich die Nummer der städtischen Touristeninformation geben und erkundigte sich dort.

Die letzten freien Zimmer wurden zu astronomischen Preisen feilgeboten und lagen weit außerhalb der Stadt. Oder in finsteren Absteigen, an deren Namen sich Vincent noch aus seiner Zeit bei der Kriminalwache erinnerte.

Ihm fiel Ingo Ritters Visitenkarte in die Finger. Ein Name und eine Handynummer auf weißem Karton.

Es klingelte bereits das siebte oder achte Mal und Vincent wollte schon auflegen, als Ingo in der Leitung war.

«Ich bin in einer momentanen Notlage», sagte Vincent.

Ein kurzer Moment der Stille, dann antwortete Ingo: «Shit, ey, wozu sind Freunde da?»

8

Die Adresse, die der Kollege ihm genannt hatte, entpuppte sich als Neubau südlich der Innenstadt, keine zwei Kilometer von der Festung entfernt, ruhig am Rand eines kleinen Parks gelegen. Vincent fand sogar einen Parkplatz vor dem Haus.

Ingo fuhr in seinem schwarzen BMW-Geländewagen vor. Der Kollege trug ein anderes Hemd als am Mittag, einen hellblauen Pullover über den Schultern, die Ärmel locker vor der Brust verknotet. Doch zugleich wirkte er verschwitzt, seine strähnigen Haare hätten zumindest einen Kamm nötig gehabt. «Gestatten, Immobilien-Ritter.»

«Ich hab dich gestört, stimmt’s?»

«Ach was. Wir waren ohnehin gerade fertig, als du anriefst.»

«Neue Freundin?»

«Nichts Festes. Eine süße Referendarin, die gerade bei der Staatsanwaltschaft Station macht. Wer weiß, vielleicht kommandiert sie uns eines Tages herum.»

Vincent holte seinen Trolley und die Laptoptasche aus dem Kofferraum und drückte dem Kollegen einen Beutel mit weiteren Klamotten in die Arme.

«Sagtest du, ein kleiner Krach?», fragte Ingo. «Das sieht mir eher nach einer handfesten Trennung aus!» Er griff nach der Sporttasche, konnte sie aber kaum über die Kante des Kofferraums heben, weshalb er sie wieder zurückstellte. Eisen klapperte. «Mein Gott, was hast du da drin?»

Es gab einen Aufzug. Die Bude lag unter dem Dach im vierten Stock, Ingo schloss auf und drückte sämtliche Lichtschalter. «Du wirst sehen, Vinnie, das Apartment ist wie für dich gemacht. Parkett aus Eichenstäben, Fußbodenheizung, Gegensprechanlage mit Videokamera.»

Die Räume waren komplett möbliert. Nicht nach Vincents Geschmack, aber gediegen. Im Flur eine barock wirkende Kommode, ein Wandspiegel in verschnörkeltem Holzrahmen. Ingo öffnete Türen und pries an: «Gäste-WC, modernes Bad, bodengleiche Dusche mit Jumbo-Rainshower-Kopfbrause.»

Maklerprosa, dachte Vincent. Im Eiltempo ging es weiter. Die Küche wirkte, als sei sie nie benutzt worden. Auch im Wohnzimmer gab es Antiquitäten. Silberne Kerzenleuchter, schwere Vorhänge, ein flauschiger Teppich. Eine wurmstichige Holzskulptur des heiligen Sebastian, leidend, von allerlei Pfeilen durchbohrt.

«Kein Fernseher?», fragte Vincent.

«Wirst du nicht vermissen.» Ingo deutete auf einen Beamer, der an der Decke hing. «Privatkino. Die Wand dient als Projektionsfläche, die Filmauswahl ist enorm.»

Schließlich das Schlafzimmer. Das Gemälde über dem Bett war modern und zeigte ebenfalls einen Sebastian. Doch dieser Heilige war athletisch und lehnte lasziv an seinem Pfahl, die drei Pfeile im Fleisch schienen ihn nicht zu stören. Offensichtlich hatte sich der Maler vor allem für das Geschlechtsteil des Gemarterten interessiert.

«Sagtest du, wie für mich gemacht?»

«Du kannst ja ein Laken über das Kunstwerk hängen.»

Sie stellten das Gepäck ab. Ingo verschwand in der Küche und brachte zwei Piccoloflaschen Sekt.

«Auf dein neues Zuhause!»

«Ich weiß nicht recht.»

«Hey, so schick wohnt man selten! Der Inhaber ist Designer. Sein Freund und sein Job sind in Mailand, aber er ist sich nicht sicher, ob beides von Dauer ist. Aus dem Grund gibt er das Apartment nicht auf und will es erst einmal vermieten. Hier stehen ein paar kostbare Stücke, ich nehme an, du bist haftpflichtversichert?»

Sie stießen an. Vincent setzte die kleine Flasche an die Lippen. Es perlte, mehr Kohlensäure als Flüssigkeit.

«Was verlangt der Mann?»

Ingo öffnete den Vorhang, dahinter eine Terrasse. «Park-View!»

Baumwipfel leuchteten in der beginnenden Dämmerung. Der Wind rauschte, Vogelgezwitscher drang herauf. Nette Lage, vermutlich unerschwinglich.

«Wie viel?»

Ingo rieb seinen Stoppelbart. «Sie heißt Nina, stimmt’s? Ihr habt es ganz schön lange ausgehalten. Bist du geflohen, oder hat sie dich rausgeworfen?»

«Es wird sich wieder einrenken, denke ich.»

«Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, das sag ich dir.»

Vincent dachte an Ninas Notiz: Ich kann das nicht mehr.

«Für ein paar Tage kannst du umsonst hier wohnen», erklärte Ingo endlich. «Der Typ muss es ja nicht mitkriegen. Wenn du länger bleiben möchtest, machen wir einen Vertrag bis Ende August. Dann will sich der Typ entschieden haben. Tausend pro Monat.»

«Also dreitausend insgesamt.»

«Echt supergünstig für eine voll möblierte Wohnung in dieser Stadt. Dafür kannst du alles nutzen. Musik, Filme …»

«Ich weiß nicht, ob ich den Geschmack des Besitzers teile.»

«Vielleicht findest du ja Gefallen daran.» Ingo lachte.

Die kleinen Flaschen waren geleert. Sie tratschten noch kurz über Festungs-Interna. Thann, der Korinthenkacker. Kripochef Engel, der Unberechenbare. Polizeipräsident Schindhelm, auch der Papst genannt, der nach außen den unfehlbaren Hardliner gab, aber nicht den geringsten Durchblick besaß.

Als Vincent den Weggang von Ela Bach erwähnte, fragte der Kollege: «Hab ich dir schon erzählt, dass sie beim Sex immer …»

«Ja, hast du.»

Ingo nickte. «Das Notorious hat übrigens wieder aufgemacht.»

«Hast du erwähnt.»

«Wir sollten mal hingehen.»

Warum nicht heute, dachte Vincent.

«War schön, mal wieder zu plaudern. Hier wirst du gut schlafen, garantiert. Total ruhig, Traumlage.»

«Ich schulde dir etwas.»

«Ach was. Alte Kollegen. Vergangenheit verbindet. Shit, ey, wir alle schulden einander etwas.»

Vincent begleitete Ingo zur Tür. Der Kollege drückte ihm den Schlüssel in die Hand.

Dann war Vincent allein.

Für einen Moment sah er eine zitternde Frau, die sich zum geöffneten Autofenster herunterbeugte. Verschmierter Lippenstift, rote Flecken im Gesicht, die von Schlägen stammten. Ingo Ritter auf dem Beifahrersitz – wie viele Jahre lag der Einsatz zurück?

Vincent blickte auf die Uhr. Es war gerade mal halb neun.

Er fand eine Steckdose, um sein Handy aufzuladen. Dann inspizierte er noch einmal die Unterkunft, die ihm fremd blieb. In einer Schublade entdeckte er die DVD-Sammlung des Besitzers: Klassiker der Filmgeschichte, amerikanische Krimiserien, Schwulenpornos.

Er betrat das Schlafzimmer und grüßte den seltsamen Heiligen mit erhobenem Daumen. Ein Schrank war abgesperrt, der andere leer. Ein gutes Dutzend Drahtbügel an der Stange. Vincent hängte seine Hemden auf und sortierte den Rest der Klamotten in die Fächer. Ihm fiel ein, dass die Sporttasche noch im Auto lag.

Nebenan gab sein Handy Laut. Er rannte hinüber. Wie sollte er reagieren, wenn es Nina war?

Felix May meldete sich. Der Kollege vom KK11, der in dieser Woche Mordbereitschaft hatte. «Castorp ist tot.»

Vincent glaubte, sich verhört zu haben.

«Walter Castorp, du weißt schon, unser Ministerpräsident … Ich bin gerade hier am Tatort eingetroffen.»

«Bitte, Felix, verarsch mich nicht!»

«Das ist kein Scherz und auch keine Verwechslung. Die Visage ist bekannt. Außerdem liegt die Brieftasche im Wohnzimmer. Ausweis, Führerschein, alles.»

«Was sagt der Arzt?»

«Sieht nach einem Unfall aus. Ich hab mir trotzdem gedacht, ich geb dir Bescheid, wo du jetzt der Chef bist, denn ich hätte gern Unterstützung. Immerhin ist Castorp ein hohes Tier. Die Obermuftis werden durchdrehen, so wenige Tage vor der Wahl.»

«Und ob sie das tun werden.» Vincent dachte an die Abhöraffäre, an Ingo Ritters Bemerkung über verschleppte Ermittlungen. Politik, ein Minenfeld: Du wirst schon merken, wie das ist.

Die Stimme des Kollegen May im Handy: «Soll ich Thilo Becker anrufen oder Klaus Schranz?»

«Nein, dieses Kreuz trage ich selbst.»

Vincent ließ sich die Adresse nennen, eine Straße im Hafenviertel.

9

Er fuhr möglichst nahe vor den Haupteingang des zehnstöckigen Bürohauses und parkte im Halteverbot. Seine Schritte hallten leise über den Platz, den die letzten Sonnenstrahlen bereits nicht mehr erreichten. Vom Fluss drang das Tuckern eines Frachters herüber. Am Himmel das Schnattern von Enten, die paarweise zu ihren Schlafplätzen flogen.

Das Gebäude war eines der modernen Bauwerke, die in den letzten Jahren an die Hafenbecken gesetzt worden waren und zwischen denen sich die denkmalgeschützten Reste der Getreidemühlen und Lagerhallen wie Zeugen untergegangener Kulturen ausnahmen. Vincent hielt seinen Ausweis gegen die Glastür und klopfte, um den Wachmann auf sich aufmerksam zu machen. Die große Scheibe glitt fast lautlos zur Seite.

Der Wachmann kam Vincent entgegen. Er trug ein marineblaues Sweatshirt, auf der Brust das Wappen seiner Sicherheitsfirma. «Was ist eigentlich los da oben im Penthouse?», fragte er.

«Weiß ich selbst noch nicht.»

«Sie kommen nur mit Schlüssel in die Zehnte. Drücken Sie die Neun und nehmen dann die Treppe. Oder soll ich mitfahren?»

«Nicht nötig.»

Die Aufzugtür stand offen. Vincent wandte sich noch einmal um. «Wann hat heute Ihr Dienst hier begonnen?»

«Neunzehn Uhr.»

«Und wie lange haben Sie Schicht?»

«Ganze Nacht. Um acht Uhr morgens löst mich die Rezeptionistin ab. Wie jeden Tag.»

«Wo treffe ich Sie, wenn ich Ihnen nachher ein paar Fragen stellen muss?»

«Hier, am Empfang. Ich rühr mich nicht von der Stelle, ich schwör’s!» Der Mann lachte.

Im Aufzug klebten Aluschilder neben den Tasten. Firmennamen: ein lokaler Radiosender, eine Werbeagentur, weitere GmbHs, die Vincent nichts sagten. Ganz oben nur ein Schlüsselloch, kein Name. Vincent fuhr in die neunte Etage und stieg das letzte Stück zu Fuß hoch.

Auf dem Treppenabsatz saß Marietta Köhler und las etwas auf ihrem Smartphone, das sie wegsteckte, als sie Vincent bemerkte.

«Gratuliere zur Beförderung», sagte die Kollegin.

Wetten, dass Felix May getratscht hatte. «Nur vorläufig», antwortete Vincent.

Er setzte seine Einsatztasche ab, die er aus dem Präsidium geholt hatte, und kramte einen Tyvek-Overall und Überzieher für die Schuhe heraus, die Handschuhe und den Mundschutz.

«Mensch, Vinnie», sagte Marietta. «Meinst du nicht, du übertreibst?»

Er beschloss, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. «Noch immer die hübscheste aller Kolleginnen», sagte er.

«Früher hast du nie so geredet. Ich wäre schwach geworden.»

«Du arbeitest nach wie vor in der Kriminalwache? Gerade hab ich noch mit Ingo über alte Zeiten geredet.»

Marietta verzog das Gesicht. «Ingo Ritter, alte Zeiten, soso.»

Der Reißverschluss des Overalls klemmte, Vincent versuchte es mit Gewalt. «Gibt es die anderen noch? Onkel Jürgen, den Kanzler?»

«Mein Gott, die legendäre B-Schicht! Nein, Schröder ist nicht mehr in der Fakultät. Betreibt eine Pferdepension am Niederrhein, wie man hört, und schiebt ’ne ruhige Kugel. Aber Jürgen sitzt mit dem Laptop im Auto und tippt schon mal unseren Bericht.» Marietta verschränkte die Arme. «Mach bloß kein Bohei um den Arsch da drinnen. Es gibt keinerlei Spuren für einen Einbruch oder Kampf. Ein Unfall, Castorp ist ertrunken, das ist alles. Alkohol, wenn du mich fragst.»

«Ertrunken?»

«Du wirst schon sehen. War nicht leicht, den Kerl da rauszuwuchten.»

«Habt ihr zuvor Fotos gemacht, zwecks Dokumentation?»

Die Kollegin seufzte. «Was denkst du denn?»

Vincent schaffte es, den Overall zu schließen, und schlüpfte in die Latexhandschuhe. «Wo ist der Kollege May?»

«Drinnen mit der Rechtsmedizinerin. Ist die neu? Hab sie noch nie gesehen.»

«Hoffentlich taugt sie was.»

«Du willst doch nicht das ganze Programm fahren, Vinnie!»

«Bleibt bitte erst einmal hier, du und Jürgen. Ich brauch euch vielleicht noch.»

Die Tür hinter Marietta war nur angelehnt, im Flur brannte Licht. Vincent fragte sich, wer den Schalter gedrückt hatte. Drinnen nahm er leichten Chlorgeruch wahr. Linker Hand eine Garderobe, daneben die geschlossene Aufzugtür. Wer den Schlüssel besaß, gelangte direkt in das Penthouse.

«Felix?», rief Vincent.

«Hier!»

Er folgte der Stimme und stieß auf den Kollegen, der ihm entgegenkam. May hatte beim Spezialeinsatzkommando gearbeitet, dann im Einsatztrupp der Altstadtwache. Wider Erwarten hatte er sich im KK11 als passabler Kriminalist erwiesen. Nur war er mit Ela nie zurechtgekommen, ein Macho, wie er im Buche stand. Sein schwarzer Blouson aus billigem Kunstfaserzeug, glänzend und knittrig, klaffte über dem Bauch. Vincent ärgerte sich, dass May keine Schutzkleidung trug.

Der Kollege formte Daumen und Zeigefinger zum Kreis. «Die Bude ist der absolute Wahnsinn.»

«Im Treppenhaus steht meine Tasche», erwiderte Vincent. «Dort findest du Überzieher und alles, was man sonst noch an einem Tatort braucht.»

«Okay, Chef.»

«Hast du wirklich die Brieftasche des Ministerpräsidenten mit bloßen Händen angefasst?»

Felix verzog sich.

Der nächste Raum war eine Schwimmhalle. Wegen des Geruchs hatte Vincent damit gerechnet, trotzdem staunte er, in diesem Gebäude auf einen so großen Pool zu stoßen.

Vor dem Einstieg in das Becken lag der tote Ministerpräsident. Wasserflecken auf den anthrazitfarbenen Fliesen, verschmierte Abdrücke von Straßenschuhen. Der Tote war Walter Castorp, kein Zweifel, trotz der leichten Verfärbung im Gesicht. Den Leichnam umhüllte ein schwarzer Bademantel, den die Medizinerin gerade aufschnitt, vom Körper zog und als nasses Bündel auf die Fliesen klatschen ließ.

Sie nickte Vincent einen Gruß zu, dann machte sie ihre Fotos und begann, den massigen Leib des Politikers zu inspizieren. Neunzig Kilo bei einer Größe von gut eins achtzig, schätzte Vincent. Mitte vierzig, nur wenig älter als er.

Vincent kannte den Mann zur Genüge, Castorps Konterfei lächelte von allen Wahlplakaten, mit denen seine Partei das Land seit Wochen zukleisterte. Zudem hatte ihn die Affäre um Einbruch und Bespitzelung in den Mittelpunkt der Medienberichterstattung gerückt. Ein hohes Tier, wohl wahr. Bis vor kurzem hatte er als einer der mächtigsten Politiker der Republik gegolten, gleich nach der Kanzlerin.

Quer über den Bauch des Toten verlief ein heller Streifen, wo der Gürtel des Bademantels stramm gesessen und die Ausbildung von Leichenflecken verhindert hatte. Vincent beobachtete, wie die Ärztin die Verfärbung an einigen Stellen wegdrückte und an den Händen die Totenstarre prüfte. Sie trug Schutzkleidung und arbeitete rasch. Nur mit dem Hinterkopf beschäftigte sie sich eingehender, tastete prüfend durch das dunkle Haar. Weitere Fotos, jetzt ging sie ganz nah ran, mit der einen Hand die feuchten Strähnen zur Seite streichend.

Dann gab sie Vincent ein Zeichen, und er half ihr, den Toten umzudrehen. Sie entnahm ihrer Tasche ein Thermometer und schob es Castorp in den Hintern.