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Ildikó von Kürthy

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Beschreibung

Werd endlich unvernünftig! Geschafft! Jetzt muss ich nur noch «Ja» sagen. Happy End, endlich. Gäbe es da nicht ... … meine beste Freundin. Die betrügt ihren Mann aus Überzeugung. … meine Cousine. Die übergibt sich während einer Beerdigung, ist schwanger, weiß aber nicht genau, von wem. … meinen Schulfreund. Der will unbedingt Vater werden, ist schwul, hat sich aber trotzdem schon mal beim Geburtsvorbereitungskurs angemeldet. … meine geliebte, tote Tante. Die ist nicht totzukriegen, liebt das Leben in Wolkenkratzern und schreibt einen beunruhigenden Brief aus dem Jenseits. Und ich frage mich plötzlich, ob «Ja» die falsche Antwort ist … «Amüsant und trotzdem nachdenklich.» (Joy) «Eine herrlich komische Geschichte. Fazit: charmante, kluge Unterhaltung!» (Für Sie)

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Ildikó von Kürthy

Schwerelos

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Werd endlich unvernünftig!Geschafft! Jetzt muss ich nur noch «Ja» sagen. Happy End, endlich. Gäbe es da nicht ...… meine beste Freundin. Die betrügt ihren Mann aus Überzeugung.… meine Cousine. Die übergibt sich während einer Beerdigung, ist schwanger, weiß aber nicht genau, von wem.… meinen Schulfreund. Der will unbedingt Vater werden, ist schwul, hat sich aber trotzdem schon mal beim Geburtsvorbereitungskurs angemeldet.… meine geliebte, tote Tante. Die ist nicht totzukriegen, liebt das Leben in Wolkenkratzern und schreibt einen beunruhigenden Brief aus dem Jenseits.Und ich frage mich plötzlich, ob «Ja» die falsche Antwort ist …«Amüsant und trotzdem nachdenklich.» (Joy)«Eine herrlich komische Geschichte. Fazit: charmante, kluge Unterhaltung!» (Für Sie)

Vita

Ildikó von Kürthy ist freie Journalistin und lebt in Hamburg. Ihre Bestseller wurden mehr als sechs Millionen Mal gekauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ihr Roman «Mondscheintarif» wurde fürs Kino verfilmt, «Freizeichen» und «Blaue Wunder» werden folgen.«Ildikó von Kürthy ist die Spezialistin für den schlauen Frauenroman.» (Welt am Sonntag)«Kürthy ist eine glänzende Beobachterin!» (Buchjournal)

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2011

Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung any.way, Hannah Krause, Sarah Illenberger (Umschlaggestalter Entwurf), any.way, Hannah Krause nach einem Entwurf von Sarah Illenberger

Coverabbildung Illustration: © Tomek Sadurski

ISBN 978-3-644-20531-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Zitat

«Solange man noch unglücklich sein kann,

kann man auch noch glücklich sein.»

MARTIN WALSER

Meiner Tante Hilde zum Abschied.

«Hauptsache Liebe?»

Auf dem Grabstein steht mein Name – und das ist schon mal kein guter Anfang. Was mir die Stimmung zusätzlich vermiest: Mein Name ist auch noch falsch geschrieben. Ich bin bei so was normalerweise wirklich nicht kleinlich, aber bei einer derart existenziellen Angelegenheit, also ich weiß nicht, ich finde, da darf man doch etwas mehr Sorgfalt erwarten.

Meine Füße fühlen sich taub an, ich möchte fast sagen wie abgestorben, und durch den Schnee dringen Geräusche nur gedämpft zu mir.

Ich habe nie darüber nachgedacht, wie das aussehen würde: mein Name auf einem Grabstein. Warum auch? Erst neulich habe ich mir den Kopf über neue Visitenkarten zerbrochen. Ich bin nicht in dem Alter, wo man sich fragt, wie sich der eigene Name auf poliertem schwarzem Granit machen würde.

Aber wie so häufig im Leben war auch in diesem Fall der Tod ungebeten und überraschend hereingeschneit und hatte den Beteiligten keine Zeit gelassen, sich über ein ansprechendes Grab-Design zu verständigen.

Ich muss es ganz klar so sagen: Diese Grabstätte sieht unmöglich aus.

Meine Eltern, als nächste Verwandte verantwortlich für die Beerdigung, hatten sowohl Kosten als auch Mühen gescheut und im Internet bei «traurigaberguenstig.de» für 499 Euro einen Kiefernsarg für Selbstabholer gekauft.

Den Grabstein hatte meine Mutter ausgesucht. Sie ist eine wunderbare Frau, die mit einem aufsehenerregend schlechten Geschmack ausgestattet ist und dem Wunsch, in ihrem Leben möglichst viele Schnäppchen zu ergattern.

Die Prospekte mit den Sonderangeboten, die dem «Wiesbadener Kurier» beiliegen, liest sie noch aufmerksamer als die Todesanzeigen. Ihre Lieblingsseiten kommentiert sie dann gerne beim Frühstück, was bis heute zu gewöhnungsbedürftigen Äußerungen führt wie: «Eins achtzig für hundert Gramm Leberkäse? Haben wir noch Platz in der Kühltruhe? Das ist ein Jahrhundert-Tiefstand!»

Ich glaube nicht, dass ich, solange ich finanziell von meinem Elternhaus abhängig war, jemals ein Kleidungsstück getragen habe, das nicht runtergesetzt war oder aus einer fragwürdigen Aktion stammte wie «Nehmen Sie vier, bezahlen Sie zwei».

Auch bei der Grabsteinbeschaffung war es meiner Mutter gelungen, sich an ihrem bewährten Prinzip «günstig und geschmacklos» zu orientieren. Sie hatte sich für das Auslaufmodell «Tower of Trauer» entschieden: einen hohen, schmalen Stein, angeblich nur «mit kleinen Mängeln», der aussieht wie ein ausgebranntes Hochhaus.

Was meine Mutter ganz offensichtlich nicht bedacht hatte, war: Mein Name braucht viel Platz, und zwar mehr, als dieses spindeldürre Grabmal bietet. Ein langer Name trifft hier also auf einen schmalen Stein, und beide gehen, ähnlich wie Dick und Doof, eine recht unansehnliche Paarung ein.

Um alle wesentlichen Informationen unterzubringen, hatte der Steinmetz in seiner Not sowohl meinen Vor- als auch meinen Nachnamen in der Mitte getrennt – und dabei leider einen Bindestrich vergessen. Irgendwie sieht es jetzt so aus, als hätten in diesem Einzelgrab zwei zwergwüchsige Schwestern platz- und kostensparend ihre letzte Ruhe gefunden.

ROSE

MARIE

GOLD-

HAUSEN

Das hat man eben davon, wenn man sich nicht selbst um alles kümmert, denke ich verbittert, während jemand, für meinen Geschmack etwas zu schwungvoll, ein Bund frühe Tulpen in die offene Grube schmeißt.

Die Eiseskälte kriecht mir in alle Knochen. Neben meinen frierenden Eltern bin ich die Einzige, die hier ausharren muss, bis die Schlange der Beileidsbekunder abgearbeitet und auch der letzte zum Leichenschmaus unterwegs ist.

Ein unappetitliches Keuchen reißt mich aus meinen düsteren Überlegungen. Zunächst sehe ich nur einen Haufen Rosen auf zwei knöchrigen Säbelbeinchen. Ein dürrer, alter Mann, der unter der Last eines riesigen Blumenkranzes beinahe zusammenbricht, bahnt sich seinen Weg durch die Trauergemeinde.

Es ist Heinz-Peter. Der alte Angeber hat sich seinen Auftritt bis fast zum Schluss aufgehoben. Nach der Scheidung keinen Cent rausrücken wollen, aber dann bei der Beerdigung mit einer Tonne roter Rosen anrücken. Die langstieligen, versteht sich. Auf der Trauerschleife steht: «Ein letzter Gruß für dich, liebe Rosemarie. In tiefer Trauer. Dein Heinz-Peter.»

Du Lump, denke ich, das Einzige, worum du trauerst, ist doch die Abfindung, die sie dir aus deinen maroden Rippen geleiert hat. Ich muss mich zurückhalten, ihn nicht ins offene Grab zu schubsen. Aber ich weiß, das wäre das Letzte, was meine geliebte Tante gewollt hätte. Sie hat sich ja wohl kaum nach sechs Monaten von Heinz-Peter scheiden lassen, um dann eine Ewigkeit mit ihm auf engstem Raum verbringen zu müssen.

«Heinzelmann» hatte sie ihn nach vier Wochen Ehe getauft. Und das war nicht nett gemeint, sondern die angemessene Bezeichnung für den albernen Gernegroß, als den sie ihn zunehmend empfand.

«Heinzelmann war ein Fehler», hatte sie zu mir vor einem Jahr gesagt, als sie übers Wochenende nach Berlin gekommen war. «Ist es nicht absurd, dass ich mit siebenundsiebzig Jahren tatsächlich nochmal an den falschen Mann gerate? Als hätte ich in all den Jahren nichts gelernt.» Sie schüttelte den Kopf, eher belustigt als zornig, denn sie hatte es sich abgewöhnt, sich zu ärgern. «Das kostet Zeit und Kraft, und von beidem habe ich nicht mehr viel. Was ich aber gelernt habe, ist, die Fehler, die ich mache, schnell zu korrigieren. Die Scheidung läuft bereits. Ich kann unmöglich mit diesem selbstgefälligen Gockel zusammenbleiben.»

Wir hatten in Hamburg auf einer Bank an der Alster gesessen. Rosemarie hatte den Ehering von ihrem schmalen Finger gestreift, gegen die Wintersonne gehalten und mich gefragt: «Was meinst du, Marie, einer meiner Backenzähne braucht eine neue Goldkrone. Soll ich den Ring einschmelzen lassen?»

Seit acht Jahren trafen wir uns immer im Januar, um gemeinsam zurückzuschauen und Vorsätze zu fassen. Wir lachten von morgens bis abends, jammerten, fluchten und durchlebten die Freuden und Kümmernisse des vergangenen Jahres noch einmal gemeinsam. Meine Wünsche und guten Absichten schrieb ich in eines dieser potthässlichen, in chinesische Billigseide gebundenen Notizbücher, in die ich schon meine Träume notiert hatte, als sie sich noch hauptsächlich um Ferien auf dem Ponyhof, die Liebe zu meinem Grundschullehrer, die Liebe zu meinem Flötenlehrer und die Liebe zu meinem Turnlehrer drehten.

Meine Tante und ich erstellten Listen, was wir in Zukunft besser machen wollten, was wir lassen wollten und was wir zwar lassen wollten, aber ehrlicherweise niemals lassen würden. Die Liste mit den guten Vorsätzen, die man sich nicht mehr guten Gewissens machen kann, wurde im Laufe der Jahre immer länger. Tante Rosemarie fand, das sei ein gutes Zeichen. «Eine Liste mit guten Vorsätzen ist wie ein Kleiderschrank: Beide muss man regelmäßig ausmisten. Eine Hose, die du länger als zwei Jahre nicht getragen hast, gehört in die Altkleidersammlung. Jeder gute Vorsatz, den du nicht erfüllst, braucht eine Ausrede, warum du ihn nicht erfüllt hast. Das verschwendet Energie. Also sollten wir alle Kleider, Männer und Vorsätze loswerden, die nicht mehr zu uns passen. Ich kann wirklich von Glück sagen, dass mein erster Mann so zeitig gestorben ist und ich die letzten dreiundzwanzig Jahre Zeit hatte, das Leben, die Männer und mich selbst von anderen Seiten kennenzulernen. Deshalb tauge ich nicht mehr für die traditionelle Ehe.»

«Ich ja schon. Bloß will mich keiner heiraten.»

«Wie lange bist du jetzt mit Frank zusammen?»

«Fast acht Jahre.»

«Marie, tu mir bitte den Gefallen und sag nicht automatisch Ja, bloß weil dich jemand fragt, ob du ihn heiraten willst. Drei Monate Bedenkzeit sind das Minimum.»

«Nach fast acht Jahren könnte man wohl kaum von einer vorschnellen Entscheidung sprechen.»

«Je länger man auf etwas wartet, desto leichter vergisst man, ob das Warten überhaupt lohnt. Die Länge des Wartens ist kein Qualitätsbeweis. Ich hätte mir zwei meiner drei Ehen sparen können, wenn ich nicht im Überschwang der Gefühle vorschnell Ja gesagt hätte.»

«Du bist eben viel impulsiver als ich. Du weißt doch, wie rational ich bin. Ich habe noch nie etwas aus dem Überschwang meiner Gefühle heraus entschieden.»

«Im Grunde haben wir das gleiche Problem: Ich mache meine Fehler aus Unvernunft, du aus Vernunft. Lass dir Zeit, Marie, und so tantig das jetzt auch klingen mag: Bau nicht nur auf deinen Verstand. Hör auf dein Herz.»

«Mein Herz hat doch nie sprechen gelernt. Wozu auch? Es hätte ihm ja niemand zugehört.»

«Ach, Liebchen, wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, du seist immer noch das unsichere Mädchen mit der Zahnspange, das die Pausen auf dem Schulhof allein verbringt.»

«Wer einmal schüchtern und unsicher ist, bleibt es eben sein Leben lang.»

«Zum Glück irrst du dich. Bitte versprich mir etwas, Marie: Vergiss endlich die Zahnspange und sei ein bisschen mehr wie deine Haare!»

Ich hatte ja keine Ahnung, dass das ihr letzter Wunsch sein würde.

Mein Haar führt tatsächlich ein Eigenleben. Das war schon immer so. Völlig unbeeindruckt von meinen Styling-Versuchen, entscheidet es sich mehrmals am Tag für eine neue Frisur. Leider haben mein Haar und ich nicht den gleichen Geschmack.

Meine Güte, wie beneide ich Frauen mit glatten, gescheitelten Haaren, die immer gleich gut aussehen! So eine Frisur würde mich nicht ständig verunsichern und viel besser zu mir und meinem sicherheitsbedürftigen Gemüt passen. Man macht sich als unkompliziert behaarter Mensch ja keine Vorstellung, wie mühsam es ist, sich auf ein sachliches oder, schlimmer noch, romantisches Gespräch zu konzentrieren, wenn man andauernd befürchten muss, dass man auf dem Kopf aussieht wie ein Cockerspaniel unter Starkstrom.

Ich habe wirklich alles versucht, um die störrischen Dinger zur Vernunft zu bringen. Ich habe sie ausdünnen lassen, sie mit Glätteisen, Haarlack, Smoothing Lotion, Schaumfestiger, Wachs und Styling Gel der Sorte extra strong Control bearbeitet. Nichts half. Im Grunde führen meine Haare das wilde und unberechenbare Leben, vor dem es mir immer gegraut hat.

«So, auf Nimmerwiedersehen.»

Tante Rosemarie hob den Arm und warf ihren Ehering mit einer eleganten Bewegung in die Alster.

«Das Gute ist ja», sagte ich, «dass wir nach deiner Scheidung wieder beide Rosemarie Goldhausen heißen.»

«Da hast du recht. Und was mir auch sehr gut gefällt, ist die Vorstellung, dass auf meinem Grabstein mein Mädchenname stehen wird. Das ist doch für eine Frau meines Alters ziemlich emanzipiert. Ich habe eine eigene Wohnung, ein eigenes Auto und ein Grab ganz für mich allein!»

Jetzt bin ich die einzige Rosemarie Goldhausen. Und trage denselben Namen wie der Grabstein vor mir. Meine Tante hat mich mein ganzes Leben lang bemitleidet, dass ich genauso heißen musste wie sie.

Meine Eltern hatten so fest auf einen Jungen gehofft, dass sie sich über die unerwünschte Alternative keine Gedanken gemacht hatten.

«Negative Gedanken führen zu negativen Ergebnissen», hatte mein Vater geantwortet, als meine Mutter kurz vor der Niederkunft fragte, welche Mädchennamen er schön fände. Nach meiner Geburt wählte er den Namen aus, der ihm vertraut war: Rosemarie. Und das, obwohl er seine ältere Schwester nicht leiden konnte.

Meine Eltern haben es mir dann aber zügig verziehen, dass ich ein Mädchen geworden bin. Das liegt daran, dass ich drei jüngere Brüder habe: Horst, Dietmar und Ulrich. Diese Namen klingen zwar auch nicht so, als hätte jemand lange und wohlwollend nachgedacht, aber ich kann an dieser Stelle nur erneut auf den schlechten Geschmack meiner Mutter verweisen – hier in Kombination mit einem dankbaren Vater, dem es total egal war, wie seine Kinder heißen, solange es bloß Jungs waren.

 

Mürrisch betrachte ich Heinz-Peter, wie er den monströsen Kranz in Zeitlupe ablegt, damit auch wirklich alle ausreichend Gelegenheit haben, das finanziell hochwertige Gebinde bewundern zu können.

Ich schließe die Augen. Vor Kummer und Wut.

Und reiße sie erschrocken auf, als ich erst ein metallenes Scheppern höre und dann einen zornigen Ausruf: «Scheiße! Meine Uhr!»

Die Angeber-Rolex ist Heinzelmann übers mickrige Handgelenk gerutscht und liegt jetzt in der grabeskalten Tiefe. Das wütende Heinzelmännchen erinnert an Rumpelstilzchen, wie er schimpfend um das Grab herumhopst und sich teilweise gefährlich weit über den Rand beugt.

Es gibt eine kurze Diskussion mit dem Pfarrer, aber die Sargträger sind schon gegangen, und Heinz-Peter ahnt wohl, dass er sich den Versuch sparen kann, einen Bergungstrupp aus Freiwilligen zusammenzustellen, da keiner gut auf den geizigen Millionär zu sprechen ist.

So kommt Tante Rosemarie doch noch zu einer teuren Bestattung, denke ich grimmig.

«Zahlt das die Versicherung?», fragt Heinz-Peter den Pfarrer. Der lächelt geistlich. «Das glaube ich kaum. So etwas fällt wohl unter höhere Gewalt.»

Jetzt muss auch ich lächeln. Zum ersten Mal an diesem Tag, an dem mir von innen und außen schrecklich kalt ist.

Ich trete als Letzte ans Grab. Ich habe keinen Strauß in der Hand. Sie konnte Blumen nicht leiden. Sie mochte Bäume und Berge und Rapsfelder und Wüsten und Schlingpflanzen und Kakteen.

Aber in ihrer Wohnung irgendwelchen Sträußen beim Verwelken zuzuschauen, dazu hatte sie keine Lust: «Ich schau mir doch schon selber beim Verwelken zu. Das reicht.»

Ich habe ein Gedicht dabei, von dem ich weiß, dass sie es liebte, weil sie es mir oft aus dem «Tantenbuch» vorgelesen hat, ein wunderschön in hellblaues Ziegenleder gebundenes Notizbuch, in das sie alles notierte, was sie beeindruckte oder reizte. Ich kenne das Gedicht auswendig.

Ich gehe langsam aus der Welt heraus

in eine Landschaft jenseits aller Ferne,

und was ich war und bin und was ich bleibe,

geht mit mir ohne Ungeduld und Eile

in ein bisher noch nicht betretenes Land.

 

Ich gehe langsam aus der Zeit heraus

in eine Zukunft jenseits aller Sterne,

und was ich war und bin und immer bleiben werde,

geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,

als wär ich nie gewesen oder kaum.

Ich stoße die kleine Schaufel in den überfrorenen Erdhaufen. Die Klumpen schlagen hart auf das billige Kiefernholz. Und mit Schaudern und Herzschmerz mache ich mir klar, dass der Sarg von Rosemarie Goldhausen leer ist.

«Du brauchst Bedenkzeit? Ist das dein Ernst?»

Frank war offensichtlich sehr verdutzt. Verständlich, denn wir sind mittlerweile seit gut neun Jahren zusammen, und es hat sich zwischenzeitlich kein überzeugender Grund gefunden, warum wir nicht auch zusammenbleiben sollten.

Frank und ich sind das, was man ein gutes Team nennt. Und ich meine das überhaupt nicht abfällig, denn es ist genau das, was jemand wie ich von einer Beziehung erwartet. Manchmal wäre ich gerne gefühlsbetonter und romantischer, so wie meine Tante, aber ich war ein unansehnliches Mädchen mit einer riesenhaften Zahnspange im Gesicht gewesen, und das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte, war mein Verstand. Für meine Gefühle hat sich lange Zeit niemand interessiert, mich selbst eingeschlossen.

Nein, eine Prinzessin bin ich nicht und werde ich wohl auch nicht mehr. Und Frank ist kein Prinz, sondern Systemtechniker bei einem Pharma-Konzern. Er arbeitet viel und ist oft wochenlang weg, um bei ausländischen Tochterfirmen Computer zu warten.

Meine Beziehung ist kein Märchen und bietet keinen Stoff für einen Film. Unsere Nachbarn mussten sich noch kein einziges Mal über uns beschweren. Ich habe noch nie Franks Computer aus dem Fenster geschmissen, weil er erst spätnachts von der Arbeit kam. Ich habe noch nie aus Eifersucht seine Hemden mit Rotwein übergossen oder seine Unterhosen mit Spiritus in Brand gesetzt. Ich beanspruche nicht rund um die Uhr Rücksicht und Aufmerksamkeit. Problemgespräche gegen drei Uhr nachts oder tränenerstickte Anrufe am frühen Morgen gehören nicht zu meinem Standardbeziehungsprogramm.

Ich bewundere Hildegard Knef, die gesagt hat: «Ich habe ein einfaches Rezept, um fit zu bleiben: Ich laufe jeden Tag Amok.»

Aber ich bin nun mal keine Diva. Eine wie ich geht ins Fitnessstudio, um fit zu bleiben. Normal eben.

Ist das schlimm? Oder langweilig?

Nein, das ist Liebe! Wahre Liebe im echten Leben. Das ist genau das, was ich will. Und das ist auch genau das, was ich schon immer wollte.

Ich habe es als anmaßend empfunden, vom Märchenprinzen zu träumen, wenn man selbst nicht mal andeutungsweise an eine Märchenprinzessin erinnert. Das kann ja nur schiefgehen. Dann gehörst du irgendwann zu den Frauen, die mit deutlichen Zeichen von Abscheu ihren Mann betrachten, weil er weder annähernd so gut aussieht wie der junge Paul Newman, noch annähernd so reich ist wie der alte Aristoteles Onassis. Und du bekommst diese fiesen, ziegigen «Ich-hab-den-falschen-Ehemann»-Falten um den verkniffenen Mund und wirfst deinem armen, redlichen Durchschnittsgatten sein Leben lang vor, dass er nicht deinen unverschämten und unerfüllbaren Sehnsüchten entspricht.

Die wenigsten Frauen haben den falschen Mann. Die meisten haben die falschen Träume. Ich nicht. Ich habe mich von jeher bei meinen Sehnsüchten und Phantasien lieber an der Wirklichkeit und an meinen realistischen Möglichkeiten orientiert und mir auf diese Weise manch herbe Enttäuschung im Leben erspart.

Und so gesehen habe ich meinen Traummann gefunden.

Die Sache hat nur einen kleinen Haken. Seit mindestens achteinhalb Jahren hatte ich das Thema Hochzeit mehrfach nörgelig anmoderiert und in immer kürzer werdenden Abständen auf mein fortschreitendes Lebensalter aufmerksam gemacht.

Und seit Jahren bekam ich von Frank immer wieder die gleiche Antwort: «Warum sollen wir heiraten, solange wir keine Kinder haben? Du legst doch so viel Wert drauf, modern und emanzipiert zu sein. Ich verstehe nicht, warum du ausgerechnet in diesem Punkt so wenig rational bist.»

Was natürlich eine Frechheit und ein leicht durchschaubares Argument ist. Als könnte man nicht emanzipiert und gleichzeitig verheiratet sein. Es ist seine Art, mich unter Druck zu setzen. Er will nämlich Kinder haben und lockt mich mit der Aussicht aufs Heiraten, sobald ich schwanger werde.

Eizelle gegen Ring: Das war Franks Angebot.

Irgendwie unromantisch. Nun gut, nicht ganz so unromantisch, wie wenn du einen Typen erwischt hast, der sich durch dein Jawort berechtigte Hoffnungen auf eine günstigere Steuerklasse machen kann. Der Mann meiner Freundin Regina ist so einer. Der hat ihr am Ende eines unerwartet erfolgreichen Geschäftsjahres einen Antrag gemacht, weil er sich sechstausend Euro Steuerersparnis errechnet hatte.

Und das Schlimmste war, er hatte noch nicht mal so getan, als sei er plötzlich von romantischen Gefühlen übermannt worden.

«Stört es dich denn gar nicht, dass Kai so pragmatisch an die Sache herangeht?», fragte ich mit einer Vorsicht, die sich als absolut nicht geboten herausstellte.

«Aber überhaupt nicht», meinte Regina belustigt. «Ich kenne diesen Mann, und ich wäre total konsterniert gewesen, wenn ich an ihm eine romantische Seite übersehen hätte. Wenn du eine romantische Hochzeit willst, musst du nach drei Monaten heiraten, nicht nach sechs Jahren. Dafür werde ich mich aber auch nicht in ein paar Jahren wieder scheiden lassen, weil ich entsetzt feststelle, dass ich keinen Romantiker geheiratet habe. Ich weiß genau, worauf ich mich einlasse. Kai wird ein guter Vater und ein verlässlicher Partner sein. Es gibt Männer, die man heiratet, und solche, mit denen man die betrügt, die man geheiratet hat. Die Kunst ist, zwischen beiden zu unterscheiden.»

Das war vor vier Jahren. Regina hat einen dreijährigen Sohn, eine halbe Stelle als Redakteurin bei einer Talkshow und eine Affäre mit einem bekannten Hamburger Politiker.

Sie treffen sich heimlich in billigen Hotels und Restaurants, wo sich selbst seine beiden Bodyguards über das miserable Essen beschweren.

Ich bin nur eingeweiht, weil Regina mich regelmäßig als Alibi benutzt und ich mir immer die Kinofilme ansehen muss, in die sie angeblich mit mir geht.

«Selbstverständlich bin ich glücklich verheiratet», sagt Regina, wenn ich sie frage, wie es in ihrem Herzen aussieht – was meistens dann geschieht, wenn wir angetrunken auf dem Sofa liegen und zum hundertsten Mal einen an und für sich indiskutablen Film wie «Harry und Sally» angeschaut und streckenweise auswendig mitgesprochen haben.

«Ich habe einen Mann, ein Kind und einen Geliebten. Das sind die drei Zutaten für eine glückliche Ehe.»

Ich war mir da nicht so sicher. Natürlich nicht. Ich war ja noch nicht mal verheiratet.

Aber das sollte sich ja nun ändern – sobald eine gegenüber meiner Tante zu vertretende Bedenkzeit verstrichen sein würde.

«Lass mich noch ein wenig darüber nachdenken», hatte ich unter Aufbietung größtmöglicher Selbstdisziplin zu Frank gesagt. «Gib mir Zeit bis zu meinem Geburtstag.»

«Aber warum? Ich dachte, du wolltest unbedingt heiraten.»

Frank schien mein Zögern nicht als die damenhafte Zurückhaltung und Reaktion einer Erwachsenen zu empfinden, als die ich sie ihm hatte verkaufen wollen. Schade, die Sache lief keineswegs so elegant, wie ich es mir seit meinem zwölften Lebensjahr ausgemalt hatte. Damals hatten in «Dallas» Bobby Ewing und Pamela Barnes geheiratet.

Und in diesem Moment hatte ich mir einen einzigen rosafarbenen Kleinmädchentraum gestattet: Egal, wen ich heiraten würde, es sollte in Anwesenheit unzähliger weißer Tauben stattfinden.

Gab es bei Bobbys Hochzeit überhaupt Tauben? In meiner Erinnerung jedenfalls stiegen sie elegant in den wolkenlosen Himmel – wie es diese Scheißtauben sonst eigentlich nie tun.

«Marie? Ich rede mit dir. Du willst seit Jahren heiraten. Jetzt mache ich dir einen Antrag, und du bittest um Bedenkzeit. Könntest du mir das bitte erklären? Oder hast du bloß gerade wieder eine dieser romantischen Komödien gesehen?»

Meine Hochzeitsträume flatterten so unelegant davon, wie es Tauben eben tun, wenn sie erschrecken und zum Abschied noch ein paar ätzende Kackegeschosse abfeuern, die gerne auf Köpfen und Kaschmirmänteln landen.

So war es aber bei Bobby und Pamela nicht gewesen! Das wusste ich genau.

«Marie, bitte erinnere dich, als du ‹Stirb langsam 4› gesehen hast und eine Woche lang fandest, dein Leben sei viel zu langweilig. Oder als du ‹Ein liebender Mann› von Martin Walser gelesen hast und einen Monat der Meinung warst, unserer Beziehung würde Tiefe fehlen. Soll ich fortfahren? Sag mir lieber gleich, in welchem Film ich diesmal gelandet bin.»

«Du bist gemein.»

«Nein. Ich kenne dich nur besser, als dir lieb ist.»

«Ist das ein Grund, zu heiraten oder nicht zu heiraten?»

«Das werde ich ja dann an deinem Geburtstag erfahren. Das Ganze ist ja ohnehin eine Luxusdiskussion, solange wir keine Kinder haben.»

Wie ich diese perfide Benutzung des Plurals hasste! «Solange wir keine Kinder haben.» Kinder! Gleich mehrere davon!! Pfui!!! Das dient nur dazu, den Druck zu verstärken. Meine biologische Uhr vor ein Megaphon zu stellen, damit ich karriereorientiertes Mannweib das Ticken endlich höre.

Aber ich höre es doch. Sowieso und jeden Tag. Verdammte Biologie! Dieses unzeitgemäße Phänomen der sich frühzeitig verabschiedenden Fruchtbarkeit, das so gar nicht ins moderne Frauenleben passt.

Aber ist es nicht eigentlich so, dass sich auch die Biologie nach und nach den sich verändernden Gegebenheiten anpasst? Sind wir etwa noch immer über und über behaart? Ich habe gelesen, dass unser kleiner Zeh biologisch gesehen keine Funktion mehr hat und deswegen in ein paar hunderttausend Jahren verschwunden sein wird. Ähnliches müsste doch eigentlich auch für die weiblichen Fettdepots gelten sowie für brüchige Nägel, Frauen, die in Jeeps zum Shopping fahren, und Männer, die mit Rucksack ins Büro gehen, oder?

Ich bin mir jedenfalls absolut sicher, dass die Evolution ein Einsehen haben und die Phase weiblicher Fruchtbarkeit gehörig nach hinten verlängern wird. Ich muss nur noch eine halbe Million Jahre durchhalten.

Es wird doch nun wirklich jedem auffallen, wie absolut unzeitgemäß es ist, dass Frauen sich bis spätestens Mitte vierzig für oder gegen Kinder entscheiden müssen, während Männer noch jenseits der sechzig munter vor sich hin zeugen und dann Sätze sagen dürfen wie: «Für die Kinder aus meinen ersten drei Ehen hatte ich ja leider aus beruflichen Gründen viel zu wenig Zeit. Aber das hole ich jetzt alles nach, denn Kinder sind einfach das Wichtigste im Leben.»

Die Biologie und Eva Herman sind so verdammt unemanzipiert, dass es eine Frechheit ist.

Meine Güte, ich fühle mich ja schon wie eine Rabenmutter, ohne überhaupt Kinder zu haben. Kinder! Jetzt sage ich es ja schon selbst. Dieser bedrohliche Plural. Als hätte ich noch wie selbstverständlich die Zeit, mehrere zu kriegen. Ab fünfunddreißig zählst du zu den Spätgebärenden. Ab achtunddreißig ist die Wahrscheinlichkeit, dass du schwanger wirst, genauso hoch, wie in deinen Spaghetti Bolognese eine Rasierklinge zu finden.

Und ich? Ich werde in einem halben Jahr siebenunddreißig Jahre alt. Siebenunddreißig! Und nach einem Blick auf die Falten rund um meine Augen möchte ich echt nicht wissen, wie meine Gebärmutter aussieht.

«Alles bestens», hatte mein Frauenarzt neckisch und ungefragt bei meinem letzten Besuch gemeint. «Bei Ihnen spricht nichts dagegen, schwanger zu werden. Außer der Pille natürlich.» Noch so einer, der findet, er müsse mich mal subtil darauf hinweisen, dass der Zug in Richtung Kleinfamilie bald abfährt.

Aber was, wenn ich in dem Zug gar nicht sitzen will, sondern nur einsteige, um ihn nicht zu verpassen?

Ich bin sechsunddreißig, und meine Eierstöcke leeren sich so hurtig wie die Wühltische bei Karstadt kurz nach Weihnachten. Monat für Monat lässt mein braver Körper ein Ei springen, das ungenutzt bleibt.

Wie lange kann ich noch warten, bis ich als freie Lektorin Fuß gefasst habe? Bis ich mir einen Namen gemacht habe, den man in der Branche auch dann nicht vergessen wird, wenn ich für eine Weile hinter Wiege und Wickeltisch verschwände?

Frank fragt mich immer wieder, warum ich nicht einfach alles lasse, wie es ist. Das sei das Vernünftigste. Und da hat er absolut recht.

 

Ich bin seit sechs Jahren fest angestellt bei Kellermann & Stegele, einem Hamburger Verlag, der als höchst seriös gilt. «Spießig» und «sterbenslangweilig» trifft es aber auch ganz gut.

Vier Jahre lang habe ich dort fast unbemerkt meine Arbeit im Sachbuchlektorat verrichtet. Meine Vorgesetzte Petra Kern kaufte Bücher ein wie «Bachblüten und ihre Bedeutung in der modernen Medizin» oder «Die beliebtesten Vornamen für Hunde».

Ich bearbeitete die Bücher gründlich und gähnend und bewarb mich heimlich und erfolglos bei anderen Verlagen. Wieso sollten die mich auch nehmen, wo ich doch bei Kellermann & Stegele vor mich hin dorrte und nie die Chance bekam, mein Gespür für interessante Themen und gute Autoren zu beweisen?

Wenn ich meinem Verleger Dr. Ludwig Stegele auf dem Flur begegnete, wies er mich regelmäßig sehr höflich darauf hin, dass sich die Anmeldung für Besucher im Erdgeschoss befinde.

Einmal gab es ein paar Wochen, in denen er mich erkannte und bewusst nicht grüßte. Das war, nachdem ich in einer Konferenz vorgeschlagen hatte, einen Sexratgeber für in die Jahre gekommene Paare ins Programm aufzunehmen, um mal einen Titel von uns in die Bestsellerlisten zu bringen.

«Frau Goldhausen, ich bitte Sie, wir haben einen Ruf zu verlieren», belehrte mich der Verleger, und die blöde Kern beeilte sich zu sagen, ich sei ohnehin mit der überarbeiteten Neuauflage von «Bachblüten und Schüssler-Salze» beschäftigt.

Und so verschwand ich wieder in der Versenkung und aus dem Gedächtnis des Dr. Ludwig Stegele.

Das änderte sich grundlegend und nachhaltig, als ich aus Versehen eine Entdeckung machte. Es war vor zwei Jahren, und die olle Kern war übellaunig und unerträglich wie immer, wenn ihr vierwöchiger Sommerurlaub bevorstand. Sie machte mich persönlich dafür verantwortlich, dass ihr letzter Arbeitstag immer näher rückte, der Berg aus ungelesenen Manuskripten auf ihrem Tisch jedoch nicht wesentlich kleiner wurde.

So kam es mal wieder, dass ich am Tag nach ihrer Abreise einen riesigen Stapel Manuskripte auf meinem Tisch vorfand, darauf ein gelber Klebezettel mit der unwirschen Anweisung: «Habe alles gelesen. Nichts dabei. Allen Autoren absagen.»

Und mal wieder begann ich die Manuskripte mit Ehrfurcht und leicht beschleunigtem Herzschlag durchzusehen. Würde ich einen verborgenen Schatz entdecken? Ein Wahnsinnswerk, das ohne mich nie Leser finden würde? Würde ich einem begnadeten Autor zu unsterblichem Ruhm verhelfen – und er mir umgekehrt natürlich auch?

Es war mir völlig klar, dass die Kern nicht mal in ein Drittel der Manuskripte hineingeblättert hatte. Das merkte ich unter anderem daran, dass die meisten so sterbenslangweilig waren, dass meine Vorgesetzte sie mit Sicherheit in die engere Auswahl genommen hätte.

Wenn man nur Mist veröffentlicht, bekommt man eben auch nur Mist geschickt. Es war zum Verzweifeln: Die vier vielversprechenden Kern-losen Wochen waren fast vorüber und ich beim letzten Manuskript angelangt, Titel: «Wahrsagen mit Dinkelschrot und Melasse».

Das war doch alles nicht zu fassen. Der Verlag Kellermann & Stegele war zur ersten Adresse für Eso-Idioten und Körnerspinner geworden!

Entnervt schlug ich das Manuskript auf. Seltsam. Nur leere Seiten. Ganz am Ende ein Brief.

Verlag Kellermann & Stegele

Sachbuchlektorat

z.Hd. Frau Petra Kern

Alstertwiete 4 – 8

20 149 Hamburg

 

Sehr geehrte Frau Kern,

ich bin überaus froh, Ihnen das Buch «Wahrsagen mit Dinkelschrot und Melasse» nicht anzubieten. Ich habe es nicht geschrieben, obwohl es äußerst gut in Ihr Verlagsprogramm passen würde.

Stattdessen habe ich ein Buch geschrieben, das ganz und gar nicht in Ihr Programm passt – weil es höchst amüsant ist, außerordentlich klug und keine Sekunde langweilig.

Es geht um Liebe, Sex, Übergewicht und Untreue – Themen also, die in Ihrem Verlag vollkommen brachliegen.

Sollten Sie sich nicht bis zu Ihrem Sterbetag vorwerfen wollen, ein wirklich herausragendes Werk versäumt zu haben, freue ich mich, von Ihnen zu hören. Gern sende ich Ihnen dann eine Manuskriptfassung von «Hauptsache Liebe?».

 

Mit freundlichen Grüßen

Michael Conradi

Nun ja, ich bin wirklich kein Freund selbstverliebter Männer, die sich für begnadete Autoren halten und neckische Briefe schreiben. Aber da dieser Conradi offenbar meine Ansichten über den Verlag teilte und ich seit zwei Jahren nicht mehr auf Spesen essen war, verabredete ich mich mit ihm.

Was dann zusammenkam, war Glück, Entschlossenheit und die Tatsache, dass ich so gut wie nichts zu verlieren hatte.

Die blöde Kern fiel am letzten Tag ihres Urlaubs von einem Haflinger und zog sich einen außerordentlich komplizierten Beinbruch zu.

Ich übernahm für einige Wochen die Leitung des Sachbuchlektorats. Kurz bevor unsere Vorschau mit den neuen Büchern in Druck ging, stellte sich heraus, dass die Autorin von «Du glücklicher Pudel. Wie Sie Ihren vierbeinigen Liebling richtig verstehen und frisieren» ihr Buch fast komplett abgeschrieben hatte.

Mir persönlich fehlt ja sowieso der Zugang zu Pudeln und deren Besitzern. Es reicht mir völlig, an meinen eigenen Haaren zu verzweifeln, und ganz generell sind mir Tiere mit Frisuren suspekt. Ich mag auch keine Hunde, die im Winter warm angezogen werden müssen und beim Kacken aussehen, als würden sie sich ekeln.

Mir sind zwar keine statistischen Untersuchungen bekannt, aber ich könnte wetten, dass die meisten Pudelfrauchen keinen Mann und die meisten Mopsmütter kein Kind haben. So haben sie trotzdem jemanden, den sie herumkommandieren, zum Frisör schicken und ihrem Geschmack entsprechend anziehen können.

«Du glücklicher Pudel» flog jedenfalls aus dem Programm. Wir brauchten auf die Schnelle ein neues Buch – und ich hatte eines! Der Verlagsleitung verkaufte ich «Hauptsache Liebe?» in einer Blitzaktion als überaus seriöse und wissenschaftlich abgesicherte Abhandlung eines angesehenen Akademikers.

Als die ersten gedruckten Exemplare im Verlag rumgingen, musste ich mir täglich neue Drohungen der Kern anhören, und Dr. Stegele bestellte mich in sein Büro, um mir persönlich eine Abmahnung zu überreichen.

Eine Kollegin legte mir nahe, doch möglichst schnell schwanger zu werden und drei Jahre in Erziehungsurlaub zu verschwinden. Dann sei ich wenigstens unkündbar und könne mich in aller Ruhe nach etwas Neuem umsehen.

Trotz des Aufruhrs wurde «Hauptsache Liebe?» nicht aus dem Programm genommen. Ich hatte dem Buch einen prominenten Platz in der Vorschau gegeben, und es gab bereits etliche Journalisten, die nach Vorabdrucken und Interviews fragten.

«Hauptsache Liebe?» erschien vor anderthalb Jahren. Das Buch stand sechs Monate auf Platz eins der «Spiegel»-Bestsellerliste und ist bis heute unter den ersten zehn. Mittlerweile haben mehr als eineinhalb Millionen Käufer die Widmung auf der ersten Seite gelesen: «Den wichtigsten Frauen meines Lebens: meiner Mutter Thea Conradi, meiner Frau Gabriele und meiner mutigen Entdeckerin und Lektorin Rosemarie Goldhausen».

Seither vergeht kein Tag, an dem mein Verleger mich nicht ausgiebig und freundlich grüßt.

«Hurra, hurra, die Schule brennt!»

Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen, ein Einzelbüro mit Blick auf die Alster und zwei Angebote von anderen Verlagen. Und ich habe gerade so gar keine Lust, das alles gegen Kindergeld und einen Platz am Wickeltisch einzutauschen.

Ich muss sagen, dass mein eigener Erfolg mich nicht ganz kaltgelassen hat. So was wirkt ja wie Botox von innen.